SWR2 Aula

Werbung
SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Aula
Neuronaler Dschungel
Die Grenzen der Hirnforschung
Von Dr. Matthias Eckoldt
Sendung: Sonntag, 5. Oktober 2014, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2014
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des
Urhebers bzw. des SWR.
Service:
SWR2 Aula können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de
oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/aula.xml
Die Manuskripte von SWR2 Aula gibt es auch als E-Books für mobile Endgeräte im
sogenannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende
"App" oder Software zum Lesen der Dokumente. Für das iPhone oder das iPad gibt es z.B.
die kostenlose App "iBooks", für die Android-Plattform den in der Basisversion kostenlosen
Moon-Reader. Für Webbrowser wie z.B. Firefox gibt es auch sogenannte Addons oder
Plugins zum Betrachten von E-Books:
Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Aula sind auf CD erhältlich beim SWR
Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro.
Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030
Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2?
Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen
Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen.
Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen
Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.
Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de
Ansage:
Mit dem Thema: „Neuronaler Dschungel – Die Grenzen der Hirnforschung“.
Die modernen Neurowissenschaften haben mindestens zwei Nüsse zu knacken:
Erstens gibt es völlig neue Erkenntnisse über die Funktions- und Arbeitsweise des
Gehirns, die bisherige Konzepte ad absurdum führen und zu einem Umdenken
zwingen. Zweitens gibt es deutliche Grenzen dieser Disziplin: Sie wird es wohl
niemals schaffen, das Rätsel des Bewusstseins, des Selbstbewusstseins zu lösen,
was ja auch logisch ist: Neurowissenschaft geht es um Neuronen und biochemische
Prozesse im Gehirn, nicht um so etwas Unfassbares wie das Selbstgefühl.
Der Philosoph Matthias Eckoldt über die Grenzen der Hirnforschung.
Matthias Eckoldt:
„Kann eigentlich ein Gehirn ein Gehirn verstehen?“ Mit dieser Frage provozierte der
österreichisch-amerikanische Kybernetiker Heinz von Foerster seine Kollegen, die
sich in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts mit der
Erschaffung der Künstlichen Intelligenz befassten und vollmundig erklärten, dass sie
in absehbarer Zeit das menschliche Hirn nachbauen könnten. Diese Hoffnungen
bremste von Foerster, der wegen seiner enthüllenden Fragemethodiken auch des
öfteren als der moderne Sokrates bezeichnet wurde. Denn um eine Sache
nachbauen zu können, muss man sie erste einmal verstanden haben. Kann also ein
Gehirn ein Gehirn verstehen?
Formallogisch ist das nicht möglich. Denn zum Verständnis einer Sache braucht der
Verstehende einen zumindest etwas höheren Komplexitätsgrad als die Sache selbst.
Spielen wir das also durch: Ein Gehirn würde ein Gehirn verstehen und hätte damit
einen höheren Komplexitätsgrad als das Gehirn. Damit jedoch wäre das Gehirn kein
Gehirn mehr. Von Foersters Frage führt also direkt in die Paradoxie hinein. Und der
gegen seinen Willen als Erfinder des Konstruktivismus in die Philosophiebücher
eingegangene Kybernetiker sollte auch – zumindest bis heute – recht behalten. Das
Gehirn zu verstehen ist eine paradoxe Angelegenheit, die der
Computerwissenschaftler Emerson Pugh Ende der Siebziger Jahre in folgenden
Apercu goss: "Wenn das Hirn so einfach wäre, daß wir es verstehen könnten, dann
wären wir so einfach, daß wir es nicht könnten."
Trotzdem ist nicht zu übersehen, dass die Hirnforschung boomt, seit George Bush –
wohlgemerkt der Vater von George W. Bush – 1990 das letzte Jahrzehnt des zweiten
Jahrtausends zur Dekade des Hirns erklärt hat. Neuro-Konzepte grassieren unter
Beratern Psychologen und Pädagogen, ebenso wie unter Philosophen und anderen
Geisteswissenschaftlern. So ist jüngst gar von der „Neurosoziologie“ und NeuroTheologie die Rede, an Neuro-Education hat man sich bereits gewöhnt. Die
Neurowissenschaft ist dabei, zu einer Art Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts zu
werden. Und das, obwohl sie selbst in einer handfesten Krise steckt. Dass man von
der Krise nur wenig hört, mag daran liegen, dass die Massenmedien im Fall der
Neurowissenschaften eine Ausnahme von ihrem sonstigen Sendemotto zu machen
scheinen. Wenn es um Hirnforschung geht, heißt es nicht: „Bad news are good
2
news“. Hier zählt nur der Erfolg, auf dass die Hoffnung auf ein umfassendes
Verständnis unseres Denkorgans weiterhin genährt wird.
Dabei wurde längst aus dem Herzen der Neurowissenschaften selbst Skepsis laut.
Bereits vor zehn Jahren veröffentlichten führende Hirnforscher ein Manifest zum
Stand ihres Faches, indem sie für Naturwissenschaftler untypische Töne
anstimmten. Fast melancholisch klingen Aussagen wie – Zitat: „Nach welchen
Regeln das Gehirn arbeitet, wie das Gehirn die Welt so abbildet, dass unmittelbare
Wahrnehmung und frühere Erfahrung miteinander verschmelzen und wie es
zukünftige Aktionen plant, ist nicht einmal in Ansätzen klar. Und es ist nicht klar, wie
man dies überhaupt erforschen könnte. In dieser Hinsicht befinden wir uns noch auf
dem Stand von Jägern und Sammlern.“
Zehn Jahre später sieht die Sache nicht besser aus. Viele, zum Teil wirklich
bahnbrechende Erkenntnisse sind seitdem gewonnen worden, aber die
Hirnforschung erweist sich als eine Art Wunderbrunnen, der immer tiefer wird, je
mehr man schöpft. Die Neurowissenschaftler bekommen in vielen Bereichen nicht
Antworten auf ihre Fragen, sondern müssen einsehen, dass die Fragen, die sie an
ihren Forschungsgegenstand hatten, falsch gestellt waren.
So markiert der Nachweis der Plastizität des Gehirns einen entscheidenden
Einschnitt in der Geschichte der Neurowissenschaft. Mit Plastizität benennen die
Hirnforscher die erstaunliche Eigenschaft des Gehirns, die es ihm ermöglicht,
lebenslang seine neuronale Struktur in Abhängigkeit von seiner Benutzung zu
verändern. Das heißt im Umkehrschluss: Die Fähigkeiten, die wir entwickeln, sind
nicht von vornherein in unserem Hirn angelegt, sondern werden im Prozess des
Erlernens in die neuronalen Muster eingeschrieben.
Diese Erkenntnis arbeitete sich nur langsam durch die scientific community, da ihr
ein ganz entscheidendes Dogma des Faches widersprach. So war es bis zum Ende
des 20. Jahrhunderts Konsens in den Neurowissenschaft, dass sich Neuronen nicht
neu bilden können. Man ging davon aus, dass unser Hirn wesentlich von
genetischen Programmen bestimmt ist. Der genetische Bauplan, so die Vorstellung,
legte fest, was auf welche Weise im Hirn verdrahtet wird. Im Prinzip seien also alle
Vorgänge im Hirn determiniert. Vom ersten Feuern der Neurone bis zum langsamen
Absterben stünde alles fest. Eine naturwissenschaftliche Art der
Schicksalsgläubigkeit, die mit purer Mathematik ausgehebelt werden kann: Denn die
Gesamtverschaltung in unserem Gehirn hat eine Informationstiefe von 1016 Bit. In
unserem Genom sind hingegen lediglich 109 Bit vorhanden. Insofern kann es rein
rechnerisch überhaupt keine genetische Festlegung der Verschaltungen geben. Die
genetischen Programme legen eher die Spielregeln des Selbstorganisationsprozess
im Gehirn fest, sie schaffen die Bedingungen der Möglichkeit seiner Entwicklung.
Erst ab Ende des 20. Jahrhunderts gelangen durch die Einführung bildgebender
Verfahren erste Durchbrüche, als man beobachten konnte, dass sich im Hirn
Strukturen umbauen, wenn die Probanden neue Erfahrungen machten oder
bestimmte Fertigkeiten trainierten. Eine Studie an Londoner Taxifahrern war
ausschlaggebend für die Entdeckung der Neuroplastizität beim Menschen. Mithilfe
bildgebender Verfahren konnte man nachweisen, dass sich bei dieser Berufsgruppe
der Hippocampus vergrößerte – also die unter anderem für das Gedächtnis sowie
3D-Bewegungen zuständige Gehirnregion. Tests jeweils vor und nach dem
3
mehrjährigen Taxi-Schein-Kurs ergaben, dass die maßgebliche Veränderung der
Hirnstruktur erst beim von den Prüfern geforderten Einprägen von 25.000 Straßen
geschieht. Das hieß erstens, dass sich Erfahrungen in die neuronale Architektur
einschreiben, und zweitens, dass Neurone tatsächlich vom Hirn neu gebildet werden
können. Anders sind auch die teilweise erstaunlichen Rehabilitationsleistungen von
Schlaganfallpatienten nur schwer zu erklären.
In diesem Kontext befreite ausgerechnet die harte Naturwissenschaft auch die
Psychotherapie von allen Zweifeln an ihrer Wirksamkeit, da man nun subjektiv
empfundene Heilungserfolge tatsächlich mit Veränderungen in den Hirnstrukturen
objektivieren konnte.
Neue Erfahrungen können uns Menschen in jedem Alter auf andere Lebens- und
Gehirnbahnen katapultieren. Das gilt auf individueller, aber ebenso auf kultureller
Ebene. So kommt auch der Altmeister der Medientheorie Herbert Marshall McLuhan
zu seinem neurobiologischen Recht. McLuhan ging bekanntlich davon aus, dass sich
das Medium zur Botschaft macht. Die Hirnforschung eröffnet nun den Blick dafür,
dass sich mediale Erfahrungen – jenseits ihrer Inhalte – in die Hirnstrukturen
einschreiben und die Wahrnehmung von Wirklichkeit verändern. So lief
Wahrnehmung im Gutenberg-Zeitalter nach Maßgabe der Zerlegung der Welt gemäß
des typografischen Prinzips ab. Auf A folgte B, folgte C, folgte D. Alles nacheinander,
alles an seinem Platz. Die Welt bestens geordnet. Das detailversessene Kleinklein
des Gutenbergszeitalters wurde von den elektronischen Medien aufgelöst, die Raum
und Zeit zusammenschmelzen lassen im so genannten Globalen Dorf. Doch die
jeweiligen medialen Erfahrungen, die wir machen, schreiben sich als
Wahrnehmungsmuster ins Hirn ein.
Die Hirnforscher sprechen bei dem Prozess der Neuronenbildung und –verbindung
von Bahnung. Gebahnt werden nach neustem Kenntnisstand eben jene Strukturen,
die wir besonders intensiv benutzen. „Im Hirn eines Menschen“, sagt der
Neurobiologe Gerald Hüther, „werden immer dann entsprechende Netzwerke
stabilisiert, wenn ihm die Sache unter die Haut geht“.
Die Plastizität scheint im evolutionären Sinn eine noch verhältnismäßig junge
Strategie zu sein. Anzeichen sprechen dafür, dass bis zu den Dinosauriern die Hirne
der Wirbeltiere fest verdrahtet waren. Sie kamen mit einem arteigenen Programm auf
die Welt, das die neuronalen Bahnen im Gehirn bis in die kleinste Gabelung
vorschrieb. Eine derart determinierte Struktur ist in sich sehr stabil. Die Kehrseite
dieser Stabilität liegt jedoch in einem nur geringen Entwicklungspotenzial. Genau das
aber ist in einer sich ständig wandelnden Umwelt lebensgefährlich. Die
Festverdrahteten hatten keine Chance, in existentiellen Situationen wie plötzlicher
Nahrungsknappheit oder dramatischer Klimaveränderung kreativ zu werden und
neue Strategien auszuprobieren. Das Resultat ist bekannt.
Die neue evolutionäre Strategie der eher losen Verdrahtung wird nun mit einer
längeren Verweildauer im elterlichen Nest bezahlt, da alles, was zum Überleben in
der Umwelt nötig ist, erst erlernt werden muss. Je plastischer das Hirn, so könnte
man sagen, desto länger muss sein Träger bei den Eltern bleiben. So erklärt sich
auch die im gesamten Tierreich beispiellos lange Nesthockerzeit des Menschen.
Keine andere Art verbringt fast ein Viertel seines Lebens als Schutzbefohlene. Dieser
Umstand zeigt zugleich, wie extrem formbar die neuronalen Strukturen des
4
Menschen sind. Unser Hirn kommt in gewissem Sinne als ein leeres Gefäß zur Welt,
das im Laufe der Entwicklung erst gefüllt werden muss.
Die Entdeckung der erfahrungsabhängigen Plastizität des menschlichen Hirns ließ
nicht nur das auf der Genetik ruhende Paradigma platzen, das davon ausging, dass
die neuronalen Strukturen determiniert sind und keine Neuronen neugebildet werden.
Auch die als unhintergehbar angesehene Lokalisationstheorie der
Neurowissenschaft geriet in den letzten Jahren arg ins Wanken. Diese fußt auf der
Idee der Hirnkarten, die bestimmte Funktionen in eng umschriebenen Arealen
verorten. Sie geht zurück auf den Beginn der modernen Hirnforschung im 19.
Jahrhundert, als die Biologen mit dem Studium neurologischer Ausfallerscheinungen
begannen.
Prominent wurde in diesem Zusammenhang der Fall des amerikanischen
Sprengmeisters Phineas Gage, dem bei einer Sprengung unglücklicherweise eine
drei Zentimeter dicke und ein Meter lange Eisenstange durch den Kopf schoss. Sie
trat am linken Wangenknochen ein und oben am Kopf wieder aus.
Erstaunlicherweise überlebte Gage diesen Unfall und blieb sogar die ganze Zeit über
bei vollem Bewusstsein. Er brauchte nur wenige Wochen zur Erholung. Intellekt,
Wahrnehmung, Sprachmächtigkeit und Motorik blieben in vollem Maße erhalten.
Allerdings veränderte sich sein Wesen nach und nach. Dass aus dem
verantwortungsbewussten Mann ein impulsiver Kindskopf wurde, legte nahe, dass
die von der Eisenstange getroffene Hirnregion etwas mit dem Charakter zu tun hatte.
Die Idee der Hirnareale, die jeweils verschiedene Zuständigkeiten haben, war damit
in der Welt.
Wenig später entdeckte Paul Broca das Sprachzentrums. Erste Hirnkarten
entstanden und wurden durch die Untersuchung der zahllosen
Hirnschussverletzungen im Ersten Weltkrieg immer ausgefeilter. Nicht von ungefähr
schreibt der Soziologe Dirk Baecker, dass sich der Entwicklungsschub der
Neuroanatomie der Protokollierung von Gehirnläsionen verdankt, mit denen – Zitat:
„die Ärzte in den Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts großzügig versorgt wurden.“
Die Entdeckung der Neuroplastizität des Hirns kratzte an der Lokalisationstheorie.
Denn wenn sich Strukturen im Hirn allein aufgrund gemachter Erfahrungen auf- und
umbauen konnten, musste die Hirnarchitektur doch wesentlich dynamischer sein als
es die Hirnkarten suggerierten. Hinzu kam in den letzten Jahren noch eine zweite
Entdeckung. Die bunten Bilder vom Hirn, die seit der Karriere der bildgebenden
Verfahren die Zeitschriften füllen, scheinen der Lokalisationstheorie erst einmal recht
zu geben. Dabei muss man jedoch im Hinterkopf haben, wie diese Bilder entstehen:
Mit den MRT-Untersuchungen, die zu diesen Bildern führen, werden Hirnaktivitäten
nämlich sehr indirekt gemessen. Letztlich geben die Bilder weder über Gedanken
noch über elektrische Potenziale Auskunft, sondern lediglich über Veränderungen
der Sauerstoffaufnahme im Blut in verschiedenen Bereichen. Daraus wird dann auf
die Aktivität der einzelnen Areale geschlossen. Um nun aussagekräftige Ergebnisse
zu bekommen, nimmt man nur die Aktivitäts-Spitzen, die in den Hirnbildern bunt
eingefärbt werden. Was man dabei methodisch übersieht, ist die Aktivität in den
anderen Hirnstrukturen. Denn der Unterschied im Aktivitätsniveau der eingefärbten
und der nicht eingefärbten Stellen ist gering. Wesentlich geringer als es die
leuchtenden Farben in den Aufnahmen suggerieren.
5
Als man nun die Perspektive umgedreht und den sogenannten Ruhe-Zustand
untersucht hat, zeigte sich, dass auch während das Hirn vermeintlich nichts tut,
enorm viel Aktivität da ist. Im Grunde genommen ist das Hirn andauernd aktiv.
Versuche am Max-Planck-Institut für Neurowissenschaften bei Angelika Friederici in
Leipzig zeigten, dass der Unterschied zwischen den aktiven Arealen und dem Rest
des Hirns bei lediglich fünfzehn bis zwanzig Prozent liegt. Wenn das aktive Areal
also zu einhundert Prozent aktiv ist, stellt man im Rest des Hirns immer noch eine
Aktivität von achtzig bis fünfundachtzig Prozent fest. Somit ist aber die Annahme,
dass ein bestimmtes Areal allein eine bestimmte Leistung vollbringt, irrig. Die
spezifische Funktion und Leistung ist immer das Resultat eines Netzwerkes und nicht
eines einzelnen Areals. Aber es kam noch schlimmer: Denn es wurde weiterhin
deutlich, dass sich die einzelnen Areale nicht nur auf Netzwerke von Aktivitäten
stützen, um ihre Funktionen vollbringen zu können, sondern dass diese Areale auch
gar nicht unbedingt exklusiv für bestimmte Leistungen zuständig sind. So scheint das
Broca-Areal nicht, wie bisher angenommen, exklusiv für die Sprachverarbeitung
zuständig zu sein, da sich in entsprechenden Experimenten herausgestellt hat, dass
es auch bei der Handlungsplanung innerhalb eines Netzwerkes aktiv ist. Schaut man
sich die Gemeinsamkeiten von Sprachverarbeitungs- und
Handlungsspanungsprozessen an, so könnte das Broca-Areal bei beiden Prozessen
die Funktion der Sequenzierung und Hierarchisierung leisten. Somit steht die
Hirnforschung momentan vor der gewaltigen Aufgabe, das statische
Hirnkartenmodell der verschiedenen Zentren zu den Akten der
Wissenschaftsgeschichte zu legen und durch ein neues, dynamisches Modell der
Funktionen zu ersetzen.
Die Entdeckung der Neuroplastizität und die vermehrten Zweifel an der
Lokalisationstheorie gingen mit einem dritten fundamentalen Erkenntnisschock in der
Hirnforschung einher. Bis tief in die Neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts ging
die scientific community noch mehrheitlich davon aus, dass man es beim Gehirn –
wie bei anderen Organen auch – mit einem passiven, informationsverarbeitenden,
reizabhängigen System zu tun hat. Das Scheitern dieser Vorstellung gestehen die
Hirnforscher heute ein und sind sich weitestgehend einig, dass unser Gehirn so
ziemlich das Gegenteil ist: Nämlich ein aktives System, das in Eigenregie seine
inneren Zustände selbst erzeugt. Damit aber ist auch klar, wie der Bremer
Hirnforscher Gerhard Roth formuliert – Zitat: “... dass das Hirn die Welt nicht so
wahrnimmt, wie sie ist, sondern so, wie sie für das Überleben des Organismus
relevant ist.“
Damit aber stürzt eine ganze sehr wirkmächtige Wissenschaftsrichtung zusammen.
Unter dem Stichwort Behaviorismus ging man in vielen Varianten davon aus, dass
Menschen im Prinzip – wie der berühmte Pawlowsche Hund – als Reiz-ReaktionsMaschinen zu beschreiben sind. Das würde jedoch in letzter Konsequenz bedeuten,
dass menschliche Gehirne auf denselben Reiz immer dieselbe Reaktion auslösen.
Allein schon die Alltagsbeobachtung spricht dagegen. Menschen sind, wie es Heinz
von Foerster so schön sagte, nichttriviale Maschinen, die eben nicht wie triviale,
programmierte Roboter auf immer dieselbe Weise vorhersehbar reagieren, sondern
für Überraschungen gut sind. Und dem ist so, weil nichttriviale Maschinen – wie
menschliche Hirne – innere Zustände ausbilden.
6
Genau darin liegt offensichtlich die Besonderheit des menschlichen Hirns: Es nimmt
die Welt nicht einfach so wahr, wie sie ist, sondern berechnet selbst nach inneren
Parametern ein Bild von der Welt. Diese in den letzten Jahren innerhalb der
Hirnforschung immer plausiblere erkenntnistheoretische Position ist mittlerweile unter
dem Stichwort Konstruktivismus auch in der Philosophie und Gesellschaftstheorie
prominent geworden. Wahrnehmung ist demnach kein Reiz-ReaktionsZusammenhang, kein Bild-Abbild-Vorgang, sondern eine aktive Leistung des Hirns.
Wir müssen uns die Welt – nichts anderes ist ja genauer betrachtet auch unsere
tägliche Erfahrung – wir müssen uns die Welt erarbeiten, müssen und können unsere
inneren Zustände nur selbst erzeugen. Das Gehirn ist kein offenes System, in das
man nach Lust und Laune hineinwirken könnte, sondern es ist im Gegenteil ein
geschlossenes, selbstorganisierendes System.
So könnte die Hirnforschung, Eltern und Pädagogen eine drastische Lektion erteilen:
Beide müssen von der lieb gewordenen Vorstellung Abschied nehmen, dass man
den Kindern Wissen und Verhaltensweisen eintrichtern könne. Im Hirn werden
offensichtlich nur längerfristige synaptische Bahnungen angelegt, wenn man selbst
etwas versteht, für sinnvoll erachtet und sich dafür begeistert. Tatsächlich
bezeichnete der Neurobiologe Gerald Hüther Begeisterung denn auch als eine
„neuronale Gießkanne“. Die Wirksamkeit der inneren Beteiligung am Lernprozess ist
nicht zu überschätzen. Eltern und Lehrer können lediglich die bestmöglichen
Bedingungen schaffen. Was die Lernenden aber daraus machen, mit welchen
Schätzen sie ihr Hirngefäß befüllen, das obliegt einzig und allein ihrer eigenen
Verantwortung, ihrer Selbstorganisation.
Das Konzept der Selbstorganisation, wie es von Heinz von Foerster, Ilya Prigogine,
Francisco Varela, Humberto Maturana und anderen entwickelt wurde, befasst sich
mit dem Phänomen, dass unter bestimmten Bedingungen aus Chaos Ordnung
entsteht. Und das auf verschieden Ebenen: Aus einer Ansammlung von
Aminosäuren kann plötzlich eine lebendige Zelle werden. Aus einer Fülle von GeldTransaktionen kann eine Bank oder ein ganzes Finanzsystem entstehen. Eine
Vielzahl gesellschaftlicher Handlungen kann bestimmte soziale Systeme wie das
Rechts-, das Politik- oder das Kunstsystem herausbilden. Bei
Selbstorganisationsphänomenen sticht ins Auge, dass das Ganze mehr ist als die
Summe seiner Teile. So wie der menschliche Körper weitaus mehr ist als seine
einhundert Billionen Zellen, ist eine Firma mehr als ihre Mitarbeiter. Selbst das
differenzierteste Wissen über die Körperzellen reicht nicht aus, um einen Menschen
zu kreieren. Ebenso genügt es nicht, die Mitarbeiter zu befragen, um ein
Unternehmen zu verstehen.
Es tritt etwas hinzu, um die neue Struktur zu ermöglichen. Das Konzept der
Selbstorganisation beschäftigt sich mit jenem Etwas, das aus der Vielheit von
Ereignissen eine neue Einheit zu schaffen vermag. Eben einen Menschen oder eine
Firma. Für die Neurowissenschaft heißt das, es genügt nicht mehr, die einzelnen
Teile – Neurone, Netzwerke, Areale – zu beschreiben, um das Phänomen Gehirn zu
verstehen, sondern man muss das Hinzutretende finden. Auf der Suche danach, was
im Hirn das Hinzutretende ist, wie aus dem Chaos neuronaler Zustände die Ordnung
von Wahrnehmungen und Gedanken entsteht, befinden sich die Forscher noch am
Anfang.
7
Damit verbunden gibt es, metaphorisch formuliert, so etwas wie eine offene Wunde
am Leib der Hirnforschung. Die besteht in der Frage nach dem Bewusstsein. In
seltener Einhelligkeit erklären die Neurowissenschaftler ihre Ratlosigkeit bei der
Beantwortung der Frage, was die biologische Grundlage von Bewusstsein ist. Die
Ratlosigkeit der Hirnforscher ist vor allem deshalb prekär, weil die Frage nach dem
Wesen und der Funktion des Bewusstseins so drängend ist. Das
Wissenschaftsmagazin „science“ führte eine repräsentative Umfrage unter Forschern
weltweit zu den 125 Fragestellungen durch, deren Lösung für Wissenschaft und
Gesellschaft von eminenter Bedeutung ist. Auf dem zweiten Platz – gleich hinter der
Frage, woraus das Universum besteht – landete eben jene Frage nach dem
Bewusstsein.
Ein hartnäckiger Stolperstein auf dem Weg zur Enträtselung des Bewusstseins stellt
das sogenannte Bindungsproblem dar, also die Fähigkeit des Gehirns, aus einer
Vielzahl von Sinneseindrücken eine einheitliche Wahrnehmung zu konstruieren. Zum
Hintergrund: Fundamentale Prozesse wie beispielsweise Hören, Sehen, Schmecken
und dann deren Abgleich mit den jeweiligen Erinnerungen werden im Hirn an ganz
verschiedenen Orten und in unterschiedlichen Geschwindigkeiten verarbeitet. Das
kann man gut messen. Trotz dieser verschiedenartigen Verarbeitungsmodi stellen
sich uns die Sinnesempfindungen als ein einziger, kontinuierlicher
Bewusstseinsstrom dar, der gewissermaßen durch uns durchfließt. Da gibt es kein
Stocken, kein Warten auf ausstehende Daten, keine Sanduhr vor unserem inneren
Auge wie etwa auf dem Computerbildschirm, wenn noch Rechenprozesse zu
erledigen sind.
Wie diese Einheitlichkeit des Bewusstseinsstroms zustande kommt, ist den
Hirnforschern völlig rätselhaft. Wolf Singer vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung
in Frankfurt am Main sagt dazu – Zitat: „Die Intuition legt nahe, dass es irgendwo im
Gehirn ein Zentrum gibt, in dem alle Informationen zusammengefasst werden, wo
Entscheidungen fallen, wo Bewusstsein entsteht und das agierende, bewertende,
entscheidende Ich sich konstituiert. Wenn man nun jedoch in die Gehirne
hineinschaut und sich die Organisationsprinzipien anschaut, dann findet man diesen
Ort nicht.“
Völlig unklar ist damit auch, in welcher Weise Informationen im Hirn überhaupt
gespeichert werden, wenn gar kein Zentrum auszumachen ist, in dem Informationen
zur Bewertung zusammengeführt werden. Damit platzte auch noch die
Bibliotheksmetapher, mit Hilfe derer sich die Neurowissenschaft die
Informationsspeicherung lange Zeit zu verdeutlichten versuchte. Wenn es jedoch
keinen neuronalen Bibliothekar gibt, der weiß, wie die Bücher geordnet sind, taugt
die ganze Bibliothek nichts. Ohne die wissende und ordnende Hand, würden wir ewig
nach Informationen suchen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. In unerklärbar
rasantem Tempo wissen wir beispielsweise auch über unser Nichtwissen Bescheid.
Wissen Sie, welches Spurenelement auf dem Saturn am häufigsten vorkommt?
Nein? Ich auch nicht. Warum wissen wir so schnell, dass wir es nicht wissen? Wenn
die Informationen in unserem Hirn wie in einer Bibliothek angeordnet wären, müsste
doch erst einmal recherchiert werden, ob nicht doch in irgendeiner der grauen Zellen
etwas diesbezüglich hängen geblieben ist. Doch die Informationsverarbeitung im Hirn
stellt sich nicht nur als Abruf-, sondern auch als Repräsentationsproblem dar.
8
Die Vorstellung, dass die Informationen in einzelnen Neuronen hinterlegt sind, kann
nach heutigem Stand der Hirnforschung nicht mehr gehalten werden. Prominent
wurde diese Idee unter dem Stichwort “Großmutterneuron”. Demnach sollte je ein
Neuron für ein Außenweltobjekt – eben die Großmutter oder den Fernseher oder das
Fahrrad – verantwortlich sein. Allerdings sterben pro Tag 85.000 Nervenzellen ab.
Da dürfte man mit ziemlicher Sicherheit irgendwann einige Objekte nicht mehr
erkennen.
Doch zurück zur Bewusstseinsproblematik: Wenn die Neurowissenschaften ihr
Objekt auf dem Seziertisch oder im MRT erforschen, dann schauen sie aus der
objektivierenden Er-Perspektive der dritten Person auf das Hirn. Aus dieser
Perspektive kann man zwar neuronale Zustände sehen, jedoch kein Bewusstsein –
weder Gedanken noch Empfindungen. Diese kann man nur aus der ersten Person,
der Ich-Perspektive, wahrnehmen, aus der heraus man jedoch wiederum keines
einzigen Neurons habhaft wird. Man kommt zu völlig anderen Schlüssen, wenn man
subjektiv in sich hineinschaut, als wenn man objektiv das Gehirn als
Untersuchungsgegenstand vor sich hat. In dieser Differenz gründet auch der derzeit
teils heftig ausgefochtene Disput zwischen Neurowissenschaft und Philosophie, in
dem die Philosophen den Hirnforschern Vulgärmaterialismus vorwerfen, da sie die
erste und dritte Personenperspektive vermischen und geistige Zustände mit
neuronalen Aktivitäten gleichsetzen. Den Philosophen wird, wenn sie auf diese
Problematik hinweisen, von den Hirnforschern ein verkappter Dualismus
vorgeworfen, der vorwissenschaftlich sei. Diese Debatte wird hier und heute kein
versöhnliches Ende finden. Sie soll auch lediglich als Beleg dafür dienen, dass es in
der Erkenntnistheorie der Hirnforschung ernste Lücken gibt.
Bei der Erforschung des Bewusstseins nun kommt die Differenz zwischen der ersten
und der dritten Person besonders zum Tragen, da es dabei ja um – wie auch immer
geartetes – inneres Erleben geht. Jenes innere Erleben, das der kleinste
gemeinsame Nenner in der Bewusstseinsforschung ist, bezeichnet man auch als
Quale, Plural Qualia. Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel gab eine
eingängige Definition der Qualia – Zitat: „Grundsätzlich hat ein Organismus bewusste
mentale Zustände dann und nur dann, wenn es irgendwie ist, dieser Organismus zu
sein – wenn es irgendwie für diesen Organismus ist.“
Damit aber stellt sich ein für die Hirnforschung geradezu unüberbrückbarer Abgrund
in methodischer Hinsicht dar. Denn was immer sie auch über das Hirn
herausbekommen wird, die Erste-Person-Perspektive – wie es sich anfühlt, der und
der Mensch zu sein – wird ihr verborgen bleiben. Wie es ist, einen Farbton, ein
Geräusch oder einen Geschmack wahrzunehmen, wird sie nicht erschließen können,
egal wie präzise sie auch die elektrischen und biochemischen Aktivitäten von den
Rezeptoren bis hinein ins Hirn mit seinen weit verteilten Netzwerken zu registrieren
vermag.
Das ist möglicherweise eine schlechte Nachricht für die Hirnforschung. Für uns
Menschen ist diese Nachricht zweifelsohne gut. Unser inneres Erleben – unsere
Wahrnehmungen und Empfindungen und Gedanken, unser Bewusstseinsstrom –
bleibt auf absehbare Zeit ein von den Wissenschaften unantastbares Privateigentum.
Vielleicht kann diese Einsicht zusammen mit den Krisenerfahrungen der
Hirnforschung dazu beitragen, die Neuro-Manie ein wenig zu beruhigen.
9
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen schönen Sonntag.
*****
Zum Autor:
Dr. phil. Matthias Eckoldt, Jahrgang 1964, lehrt an der Berliner Freien Universität
im Fachbereich Geschichte und Kulturwissenschaft. Er veröffentlichte zahlreiche
Features, Essays und Hörspiele.
Arbeitsgebiete: Systemtheorie der Massenmedien, Machtanalytik moderner
Gesellschaften, Konstruktivistische Paradigmen, Moralphilosophie
Bücher (Auswahl):
- Kann das Gehirn das Gehirn verstehen? Gespräche über Hirnforschung und die
Grenzen der Erkenntnis (zusammen mit Matthias Baxmann). Verlag Carl Auger.
2013
- Woanders ist auch Alltag: Auslandskorrespondenten über die Tücken in der
Fremde. Verlag Bastei-Lübbe (erscheint im Oktober 2014)
10
Herunterladen