9 Diätverhalten und Körperbild im gesellschaftlichen Wandel Romuald Brunner, Franz Resch 2.1 Körperbildprobleme und Diätverhalten – 10 2.2 Einstellung zum Körper und Essverhalten in der Adoleszenz – 12 2.3 Soziokulturelle Einflüsse – 12 2.3.1 2.3.2 2.3.3 Anorexia nervosa – 12 Bulimia nervosa – 13 Prävalenzraten im kulturellen Vergleich – 13 Literatur – 14 S. Herpertz et al. (Hrsg.), Handbuch Essstörungen und Adipositas, DOI 10.1007/978-3-642-54573-3_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 2 10 2 Kapitel 2 • Diätverhalten und Körperbild im gesellschaftlichen Wandel Unzufriedenheit mit der körperlichen Erscheinung, allem voran, sich zu dick zu fühlen, ist ein weitverbreitetes Phänomen, das häufig mit einem gestörten Essverhalten einhergeht. Der Wunsch, die Idealnorm – häufig ein unrealistisches Gewicht, das v. a. durch soziokulturelle Einflüsse definiert ist – zu erreichen, führt zu Diätversuchen. Die Kombination von einem gestörten Körperbild und Diätverhalten hat nicht selten eine manifeste Essstörung mit anorektischen und/oder bulimischen Symptomen zur Folge, insbesondere bei Jugendlichen und jungen erwachsenen Frauen, jedoch auch – wenn auch deutlich weniger häufig – beim männlichen Geschlecht. Erklärungsmodelle der ungleichen Geschlechtsverteilung reichen von soziokulturellen bis zu biologischen Faktoren, ohne dass es bislang eine hinreichende Erklärung für diese auch kulturübergreifenden Geschlechtsunterschiede gibt. Der geschlechtsspezifische Unterschied ist jedoch deutlich geringer bei partiellen Essstörungen. Auch anderweitige gewichtsbezogene Probleme wie Übergewicht, ein gestörtes Essverhalten sowie ungesunde gewichtskontrollierende Maßnahmen und »BingeEating« (wiederholte Episoden von Essanfällen mit Kontrollverlust) stellen vor dem Hintergrund der hohen Prävalenz und der negativen Folgen für die körperliche und seelische Gesundheit ein bedeutsames Problem im Gesundheitswesen dar. 2.1 Körperbildprobleme und Diätverhalten Nach einer Übersicht von Ricciardelli u. McCabe (2001) zeigen epidemiologische Untersuchungen im angloamerikanischen Sprachraum, dass 38,2‒49,9 % der Mädchen und 12,5‒26 % der Jungen versuchten, ihr Gewicht durch Diäten oder andere Methoden zu reduzieren. Die Häufigkeit der verschiedenen Strategien zur Gewichtsreduktion wurde untersucht: 20‒49 % der Mädchen (7‒8 % der Jungen) ließen Mahlzeiten aus; Sport trieben 51‒71 % der Mädchen (30‒40 % der Jungen) mit der Intention, Gewicht zu reduzieren und nicht, um Fitness zu erreichen. Der Gebrauch von Diätpillen wurde bei bis zu 17 % der Mädchen und 5 % der Jungen angetroffen, der Missbrauch von Laxanzien bei ca. 2 % der Mädchen und Jungen. Selbstinduziertes Erbrechen wurde bei 1‒8,3 % der weiblichen Jugendlichen und bei 0,4‒1,7 % der Jungen berichtet. Die Häufigkeit eines Binge-Eating-Verhaltens gilt als nicht hinreichend untersucht; es liegen bislang nur Schätzungen vor, dass Jungen und Mädchen in 7–33 % ein solches Verhalten episodisch zeigen. Empirische Untersuchungen belegen, dass Sporttreiben mit dem Ziel der Gewichtsreduktion und nicht der Fitnessbesserung mit einem manifest gestörten Essverhalten einhergeht. Eine Sportabhängigkeit ist beschrieben worden mit Gefühlen von Depression und Schuld, wenn die Aktivität unterbrochen wird. Dieses problematische Verhalten könnte durch die zunehmende Verbreitung von Fitnessstudios weiter gefördert werden. Männliche Jugendliche mit einer ausgeprägten Aufmerksamkeit/Besorgnis bzgl. ihrer Muskularität sind besonders anfällig für die exzessive Einnahme künstlicher Ersatznahrung sowie einen Substanzmissbrauch (Field et al. 2014). Zur Häufigkeit von Diätversuchen und Störungen des Körperbildes liegen Daten auf der Basis von 5849 Jugendlichen (Durchschnittsalter 15,2 Jahre) vor, die im Rahmen der Heidelberger Schulstudie untersucht wurden (Haffner et al. 2007). Bei dieser repräsentativen Untersuchung im Rhein-NeckarKreiswurden die Schüler der 9. Jahrgangsstufe über alle Schultypen hinweg (Förderschule bis Gymnasium) untersucht. So berichteten 48 % aller befragten Mädchen, sich zu dick zu fühlen, obwohl sie normalgewichtig waren (Body-Mass-Index, BMI 17,5–24,5). Damit zeigt sich bei beinahe der Hälfte der Schülerinnen eine Diskrepanz zwischen dem wahrgenommenen und dem gewünschten Körperbild. Hingegen fühlten sich nur 16,7 % der männlichen Jugendlichen zu dick. 15 % der untergewichtigen Mädchen (BMI < 17,5) fühlten sich immer noch zu dick (1,6 % Gesamtprävalenz). Das subjektiv empfundene Körperbild bestimmt insbesondere bei den Mädchen auch das Diätverhalten und nicht das objektive Gewicht. Fast alle Übergewichtigen (85,7 %, BMI > 24,5) wiesen Diäterfahrungen auf, aber auch ca. die Hälfte der normalgewichtigen Mädchen hatten Diäten zur Gewichtsreduktion durchgeführt. Auch konnte diese Studie nachweisen, dass die Zufriedenheit mit dem Aussehen stärker von der subjektiv empfundenen körperlichen 2.1 • Körperbildprobleme und Diätverhalten Attraktivität abhing als vom tatsächlichen Gewicht. Generell waren nur 24 % der Mädchen (im Vergleich 45 % der Jungen) mit dem eigenen Aussehen zufrieden. >> Nicht das tatsächliche Gewicht, sondern die Vorstellung, übergewichtig zu sein, ist für die Vulnerabilität im Hinblick auf die Entstehung eines gestörten Essverhaltens verantwortlich. Es zeigten sich in der Heidelberger Schulstudie auch deutliche Zusammenhänge zwischen einem negativen Körperbild und psychosozialen Faktoren (Selbstwert; Akzeptanz durch Gleichaltrige etc.). >> Die Zufriedenheit mit dem äußeren Erscheinungsbild geht mit besseren Beziehungen zu Gleichaltrigen und mit weniger sozialen und emotionalen Problemen einher. Die Entstehung einer Unzufriedenheit mit dem körperlichen Erscheinungsbild als Vulnerabilitätsfaktor für die Entwicklung eines gestörten Essverhaltens wurde – auch empirisch – vor dem Hintergrund der soziokulturellen Theoriebildung geprüft. So postulierten Halliwell u. Harwey (2006), dass der wahrgenommene Druck bezüglich des Aussehens, vermittelt durch Medien, Familie und Gleichaltrige, zu einer entsprechenden Internalisierung kultureller Ideale führe. Diese Internalisierung der kulturellen Ideale führe nicht nur bei Mädchen, sondern auch bei Jungen (überwiegend bei Jungen mit niedrigem Selbstwert) zu Unzufriedenheit mit der körperlichen Erscheinung mit nachfolgenden gewichtsreduzierenden Maßnahmen. >> Das Vergleichsverhalten von Jugendlichen mit Gleichaltrigen der Peergroup und den Idealen in den Medien führt sowohl bei Mädchen als auch bei Jungen zur Unzufriedenheit mit dem Aussehen und ist verbunden mit einer Anfälligkeit für ein gestörtes Essverhalten. Die Entwicklung körperlicher Unzufriedenheit und eines gestörten Essverhaltens in der Adoleszenz wird nicht nur mit der biologischen Ent- 11 2 wicklung im Rahmen der Pubertätsentwicklung gesehen, sondern dem Umstand zugeschrieben, dass das Adoleszenzalter diejenige kritische Periode darstellt, in der die Internalisierung kultureller Ideale bezüglich der körperlichen Attraktivität gelernt wird. Empirische Studien zeigen jedoch, dass Mädchen in der Adoleszenz im Vergleich zu Jungen größeren Druck verspüren, ihr Gewicht zu regulieren, sich mehr mit den Peers vergleichen, eine höhere körperliche Unzufriedenheit sowie eine höhere Internalisierung von soziokulturellen Einstellungen bezüglich des Erscheinungsbildes sowie ein nachfolgend gestörtes Essverhalten zeigen. Der Einfluss von Peers erscheint insbesondere auf Mädchen, die bereits ausgeprägte Körperbildprobleme aufweisen, besonders bedeutsam und weniger einen direkten Einfluss auf die Entwicklung einer körperlichen Unzufriedenheit auszuüben (Rayner et al. 2013). Während das tatsächliche oder wahrgenommene Körpergewicht v. a. bei Mädchen einen deutlichen Einfluss auf die körperliche Zufriedenheit hat, wirken sich kulturelle Internalisierungen geschlechtsübergreifend auf die Zufriedenheit der körperlichen Erscheinung Jugendlicher aus (Lawler u. Nixon 2011).Selbstkonzept und Selbstwert scheinen bei Mädchen enger mit der körperlichen Attraktivität zusammenzuhängen als bei Jungen. Überraschenderweise zeigten sich bei Untersuchungen im Altersspektrum von 11–16 Jahren bei Mädchen keine altersabhängigen Unterschiede – ein Hinweis darauf, dass sich schon im frühen Alter Körperbildprobleme und die assoziierten Probleme entwickeln. >> Die Konfrontation mit Vorbildern von schlanken Frauen kann schon ausreichen, um bei Mädchen gewichtsreduzierende Maßnahmen einzuleiten, ohne dass sie bereits zuvor unzufrieden mit ihrem Gewicht waren. Jungen vergleichen sich ähnlich häufig wie Mädchen mit ihren gleichgeschlechtlichen Peers bezüglich ihres Aussehens. Jungen möchten ebenso gut aussehen wie die attraktiven Peers, Mädchen wollen diese jedoch übertreffen. Präventive Ansätze müssten daher realistische Vergleichsobjekte vermitteln, um die Jugendlichen vor der Entwick- 12 Kapitel 2 • Diätverhalten und Körperbild im gesellschaftlichen Wandel lung einer Unzufriedenheit mit ihrem Körper zu schützen. 2 >> Die problematischen Einstellungen und Verhaltensweisen entwickeln sich bereits in der frühen Adoleszenz. Von daher müssen präventive Bemühungen bereits in der Vorpubertät ansetzen, bevor die Internalisierung der soziokulturellen Werte beginnt und die Körperbildprobleme sich entwickeln. 2.2 Einstellung zum Körper und Essverhalten in der Adoleszenz Eine Abnahme der problematischen Verhaltensweisen im weiteren Entwicklungsverlauf wurde postuliert unter der Annahme, dass Erwachsene ihren Selbstwert weniger aus körperbezogenen Variablen beziehen, sondern aus anderen stabilen Quellen. Heatherton et al. (1997) argumentierten, die Abnahme gestörten Essverhaltens verlaufe auch vor dem Hintergrund einer Änderung in den Lebenszielen und die Bedeutung der körperlichen Attraktivität verringere sich im Entwicklungsverlauf. In einer Längsschnittuntersuchung konnten Keel et al. (2007) nachweisen, dass ein gestörtes Essverhalten beim weiblichen Geschlecht von der späten Adoleszenz bis ins mittlere Lebensalter im Vergleich zum männlichen Geschlecht deutlich abnimmt. Heirat und Mutterschaft erscheinen als starke Vorhersagefaktoren für die Abnahme der Unzufriedenheit mit dem körperlichen Aussehen. Entwicklungsverläufe zeigen aber, dass es sich nur um eine relative Abnahme handelt und Frauen im Vergleich zu Männern weiterhin ein größeres Ausmaß an Unzufriedenheit mit dem Gewicht haben, Diäten durchführen und ein gestörtes Essverhalten zeigen. 2.3 Soziokulturelle Einflüsse Die offensichtliche Beziehung zwischen dem im westlichen Kulturkreis verbreiteten Schlankheitsideal, gestörtem Körperbild und gestörtem Essverhalten insbesondere bei Mädchen und jungen Frauen hat zur Frage geführt, ob diese Phänome- ne sowie auch die manifesten Essstörungen, Anorexia nervosa (AN) und Bulimia nervosa (BN), kulturgebundene Symptome bzw. Syndrome (culture-bound syndromes) darstellen. Obwohl zahlreiche Studien mögliche genetische Einflüsse in der Entstehung manifester Essstörungen nachweisen konnten, wird weiterhin die These eines kulturbezogenen Syndroms aufrechterhalten. 2.3.1 Anorexia nervosa Eine quantitative Metaanalyse von Keel u. Klump (2003) kam zu dem Ergebnis, dass die Inzidenz der AN in den vergangenen Jahrzehnten nur sehr geringfügig angestiegen ist, während die Inzidenz der BN in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich zugenommen hat. Systematische Analysen historischer Fälle der AN weisen jedoch darauf hin, dass die AN bereits vor dem Einsetzen des westlichen Schlankheitsideals bzw. Schlankheitskults häufig vorkam, wenn auch mit einer anders akzentuierten Phänomenologie. So waren nur selten Fälle beschrieben, die explizit eine Angst vor dem Zu-dickWerden beinhalteten. Dieses Phänomen scheint sich spät oder unter dem Einfluss des westlichen Schlankheitsideals entwickelt und globalisiert zu haben. So zeigen Untersuchungen zur Prävalenz der AN in anderen Kulturen, dass viele Länder auch ohne eine Orientierung an dem westlich geprägten Kulturkreis ähnlich hohe Prävalenzzahlen der AN aufweisen. Die Prävalenz der AN in vielen westlich und nichtwestlich orientierten Kulturkreisen war jedoch nur unter dem Ausschluss des Diagnosekriteriums der »Angst, zu dick zu werden« annähernd gleich hoch. Mögliche Unterschiede in den Prävalenzraten von Essstörungen könnten jedoch auch mitbedingt sein durch eine kulturspezifische Phänomenologie, da sich die etablierten diagnostischen Klassifikationsschemata, ICD-10 und DSMIV, eher an den Entwicklungen in industrialisierten Gesellschaften orientieren. Eine Studie auf den Fidji-Inseln konnte nachweisen, dass sich das Phänomen der Angst vor dem Zu-dick-Werden als Grund zur Gewichtsabnahme erst unter dem Einfluss des westlichen Körperideals entwickelt hatte. Die Betonung auf das Kriterium des Sich-zu-dick-Fühlens hat scheinbar andere Motive zur Gewichtsabnahme 13 2.3 • Soziokulturelle Einflüsse in den Hintergrund treten lassen und zur Postulierung des Western culture-bound syndrome geführt. Keel u. Klump (2003) schließen daraus, dass sich Gewichtsprobleme kulturspezifisch im soziokulturellen Kontext des Schlankheitsideals entwickeln, dass jedoch auch andere vielfältige Motive und Ursachen der Entwicklung der Essstörungen existieren. Untersuchungen im asiatischen Raum zeigen, dass »Gewichtssorgen« mehr in Regionen existieren, die unter einem hohen Medieneinfluss stehen und dass grundlegende Unterschiede im Stadt-Land-Verhältnis existieren. Untersuchungen zum sozialen Wandel in China legen nahe, dass durch eine Konfrontation mit dem westlichen Schlankheitsideal über den Zugang zu westlichen Medien die Entwicklung von Körperbildproblemen und Diätverhalten bei Mädchen begünstigt wurde. Aktuelle Longitudinalstudien (u. a. Jackson u. Chen 2013) in China zeigen, dass sich die charakteristischen Risikofaktoren zur Ausbildung einer Essstörung im Jugendalter den bekannten Faktoren im europäischen und nordamerikanischen Raum angeglichen haben: prämorbider erhöhter BMI, negativer Affekt, selbst wahrgenommener Schlankheitsdruck von Eltern und Peers sowie Orientierung an dem in den Medien verbreiteten Körperideal. Untersuchungen zum Körperbild bei jungen Frauen in 26 Ländern aus 10 verschiedenen geografischen Regionen der Welt (Swami et al. 2010) weisen auch auf den hohen überregionalen Zusammenhang zwischen erhöhtem sozioökonomischen Status und Schlankheitsstreben sowie körperlicher Unzufriedenheit hin. Unabhängig von direkten medialen und kulturellen Einflüssen erscheint bei Jugendlichen zunehmend die Kommunikation in sozialen Netzwerken auch mit dem Auftreten eines gestörten Essverhaltens assoziiert (Becker et al. 2011). 2.3.2 Bulimia nervosa Im Gegensatz zur AN scheint das Auftreten der BN deutlich an eine Konfrontation mit dem westlichen Körperideal gebunden. Die Kulturbezogenheit könnte erklären, warum es keine BN ohne essbezogene Probleme gibt. Während die selbstintendier- 2 ten Gewichtsabnahmen in verschiedenen Kulturkreisen auftreten können, scheint die Entwicklung der bulimischen Symptomatik an die Verfügbarkeit von Lebensmitteln und an die Konfrontation mit einem Körperbild im Kontext des westlichen Schlankheitsideals gebunden. Ein Binge-Eating-/ Purging-Verhalten scheint überwiegend nur normgewichtige Frauen mit »Gewichtsproblemen« zu betreffen. Der Kontext eines westlichen Körperideals und die Selbstwahrnehmung von Gewichtsproblemen werden zur Voraussetzung für die Entwicklung einer BN. 2.3.3 Prävalenzraten im kulturellen Vergleich Kulturvergleichende Studien zeigen in nichtwestlich orientierten Ländern höhere Prävalenzraten der AN als der BN. Die Konfrontation mit der westlichen Körperidealnorm, das Leben in städtischen Zentren, ein früherer Aufenthalt in westlichen Ländern und ein höherer sozioökonomischer Status stehen häufig im Kontext der Entwicklung von Essstörungen bei Mädchen bzw. jungen Frauen in nichtwestlich orientierten Gesellschaften. Untersuchungen an Migranten weisen auf ein »culture-change syndrome« hin, d. h., v. a. junge Frauen entwickeln nach einem Wechsel in den westlichen Kulturkreis häufiger Körperbildprobleme und Essstörungen. Neben der Internalisierung des Schlankheitsideals erscheint auch eine Interaktion mit den auf die Migration bezogenen Belastungen für die Genese der Anorexia nervosa bei Migranten bedeutsam (van Hoeken et al. 2010). Während die soziokulturellen Einflüsse für ein gestörtes Körperbild und ein gestörtes Essverhalten als gesichert gelten, ist dies nur sehr bedingt für die manifesten Essstörungen nachweisbar. Während für das Auftreten der BN der Einfluss der soziokulturellen Faktoren sehr bedeutsam ist, erscheint das Auftreten der AN vom restriktiven Typus nur sehr eingeschränkt kulturabhängig. Fazit Körperbildprobleme sowie das Durchführen von Diäten sind ein häufiges Phänomen, insbesondere bei weiblichen Kindern, Jugendlichen und jungen 14 2 Kapitel 2 • Diätverhalten und Körperbild im gesellschaftlichen Wandel Erwachsenen. Dieses Phänomen scheint deutlich gekoppelt zu sein an gesellschaftliche Faktoren, insbesondere die Vermittlung eines unrealistischen Schlankheitsideals. Das unterschiedliche soziokulturelle Bedingungsgefüge erfordert eine exakte Analyse der Risikofaktoren, die auch Ansatzpunkte für präventive Strategien darstellen könnten (Keel u. Forney 2013). Risikofaktoren, die insbesondere auch den Übergang von einer subklinischen Essstörungsproblematik in eine manifeste Essstörungspathologie markieren, sollten insbesondere beachtet und Gegenstand weiterer Untersuchungen sein (vgl. Stice et al 2010). Da sich das Diätverhalten und das gestörte Essverhalten im Kontext einer Körperbildstörung auch ohne die Manifestation einer Essstörung im Sinne einer nosologischen Klassifikation gesundheitsschädlich auswirken, sollten Initiativen der primären Prävention (z. B. schulbasierte Intervention bereits in der Vorpubertät unter Berücksichtigung des Peer-Kontextes) sowie der Sekundärprävention (frühzeitiges Angebot von Hilfe durch professionelle Beratung und Therapie an betroffene Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene) forciert werden. 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