Abendmahlsgottesdienst mit Herbstthemenpredigt Acedia – Trägheit

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Abendmahlsgottesdienst mit Herbstthemenpredigt
in der Schlosskirche, Sonntag, 23. Oktober 2016
Acedia – Trägheit und Schwermut
Predigt im Rahmen der Herbstthemenpredigtreihe
"Die 7 Todsünden"
Liebe Gemeinde,
im 4. Jahrhundert breitete sich unter den Einsiedler-Mönchen in der ägyptischen Wüste, das
war die ersten großen Eremitenbewegung des frühen Christentums, eine gefährliche
Versuchung aus. Sie bedrohte - wie eine giftige Seuche - die Idee und das Projekt eines
gottgefälligen Lebens in ora et labora, im Gebet und in der Arbeit. Und zwar von innen heraus,
aus dem Herzen der Mönche selber kommend: die Acedia.
Was ist die Acedia? Die erste begriffliche Erwähnung dieser letzten und, wie ich finde, dieser
dramatischsten der sogenannten Sieben Todsünden findet sich ganz in der Nähe dieses
Geschehens, bei einem christlichen Mönch, Asketen und Schriftsteller im Ägypten jener Zeit
namens Euagrios Pontikos. Nicht ohne Unterton beschreibt Euagrios, wie sich das anfühlt, die
Acedia: "Das Auge des von Acedia erfüllten Einsiedlers blickt ununterbrochen auf die Fenster
seiner Mönchszelle. Sein Geist gaukelt ihm Besucher vor. Die Türe knarrt, er springt auf. Er hört
Stimmen. Schon beugt er sich aus dem Fenster und rührt sich lange Zeit nicht von dort weg.
Dann setzt er sich wie betäubt hin. Wenn er wieder liest, gähnt er viel. Schnell lässt er sich von
Schläfrigkeit hinreißen, reibt sich die Augen, streckt die Arme aus, wendet dann die Augen vom
Buch zur Wand. Bald wendet er sie wieder auf das Buch, liest ein wenig, schlägt es auf den
letzten Seiten auf, beschäftigt sich unnütz mit Worten, zählt die Seiten, glättet die Ecken, tadelt
die Schrift und den Schmuck des Buches. Darauf schlägt er es zu und legt es unter seinen Kopf.
Er schläft dann einen nicht sehr tiefen Schlaf, denn der Hunger weckt ihn bald wieder auf ...".
Kaum jemandem unter uns hier in der Schlosskirche, so vermute ich einmal, dürfte dieser
Zustand gänzlich fremd und unbekannt sein. Es sind die alten Mittagsdämonen, manchmal der
Weltschmerz, der Blues, der Caffard, es sind Überdruss und Unlust, das Fehlen von
Begeisterung, es ist l'ennui -, die Langeweile, Gleichgültigkeit, manchmal der Weltekel, es ist die
existenzielle Interesselosigkeit und Trägheit, die im Englischen "Sloth" heißt und die dort in der
Tierwelt ein bedauernswertes lebendiges Gegenüber gleichen Namens hat : das Faultier, Sloth,
dieses uralte, zottelige, griesgrämige, zahnarme Säugetier mit extrem langsamen Bewegungen,
das - als Geschöpf Gottes - zweifellos zu Unrecht seinen unglücklichen Namen trägt.
Was ist die Acedia? Es ist, um es noch einmal zu sagen, der schwierigste Begriff der Sieben
Todsünden - und zugleich der gefährlichste, weil er eine lange und komplizierte
Entwicklungsgeschichte mit Bedeutungsveränderungen bis in unsere Gegenwart hat.
In der Bibel gibt es den Begriff "Acedia" nicht. Im Mittelalter, wo man etwas lockerer mit dem
Latein umging, wurde das Wort von acida - "sauer" hergeleitet. Luther, auf der Schwelle zur
Neuzeit, notiert, dass der Teufel ein "saurer Geist" sei. Aber eigentlich ist Acedia ein lateinisches
Lehnwort aus dem Griechischen. ἀκήδεια heißt so viel wie ‘Nachlässigkeit, Nichtsmachenwollen,
Sorglosigkeit ‘ - von dem Wort κῆδος, ‘Sorge'.
Vielleicht ist der unnütze Knecht in Jesu Gleichnis von den anvertrauten Talenten so etwas wie
ein Prototyp: ein bitterer Mensch im Rückzugsmodus, dem die Bewegung - hin zum
begeisterten, zum engagierten Leben – irgendwie abhandengekommen ist. Einer, dessen Dasein
viel mehr schöpferische Möglichkeiten hätte, mehr Entfaltungsraum; einer, der verstehen
könnte, was Jesu Predigt von der aufblühenden Nähe Gottes, von der Königsherrschaft Gottes,
für ihn und für sein Leben bedeuten könnte ... und der überhaupt nichts daraus macht, der den
Kairos, den Augenblick des Lebendigseins nicht fassen kann - er vergräbt, was da ist - und
deshalb, dramatisch formuliert, schon zu Lebzeiten das Leben verspielt. Heulen und
Zähneklappern und Lamentationen schon im Hier und Jetzt.
Noch einmal zurück zu dieser Mönchskrankheit aus dem 4. Jahrhundert. Der Direktor der
Züricher Psychiatrischen Universitätsklinik, Daniel Hell, hat diese Wüstenväter gewürdigt nicht
nur als die sensiblen Begründer eines Verständnisses für depressive Verstimmungen, er hat sie
auch wahrgenommen als engagierte Seelsorger auf der Suche nach Wegen aus solcher
Seelennot. Sie, diese Seelsorger, helfen den Tag ordnen. Sie hören zu. Sie begleiten. Sie geben
den Menschen in Not Worte und Gedanken, die sie ins Weite führen. Sie zeigen den Menschen
auch wie ein Lasttier, das von vorne vom Wunsch nach Befriedigung angetrieben und von hinten
von Enttäuschung und Wut über die frustrierten Erwartungen traktiert wird. Sie zeigen, wie der
Mensch apathisch wird. Und sie versuchen, ihm wieder einen freien Blick und einen weiten
Horizont zu schenken.
Wir alle wissen, dass die Erfahrungen dieser Mönche in ein hoch sensibles Territorium führen.
Da geht es nicht nur um Langeweile oder Gleichgültigkeit, um Trägheit oder Faulheit. Bei der
Acedia geht es um die 'schweren' Zustände unserer Seele. Oft um Ohnmachtserfahrungen, die
uns an den schmalen Grat führen, an dem uns die Gefühle des Versagens, der Traurigkeit, der
Melancholie zu Boden drücken und uns hemmen, zu "werden". Werdehemmung. Diesen Begriff
verdanke ich der Lektüre des lesenswerten Buches von Dr. Rolf Steinhilper über Depression.
Acedia - das ist die Kraft, die uns klein und unmöglich macht. Wenn diese Zustände dann auch
noch mit dem Begriff der Sünde verbunden werden, mit Todsünde sogar, ist das eine Chemie,
die hochgefährlich ist.
Nun denken wir an diesem Abend nicht über Depression nach - obwohl das sehr wohl
hierhergehören könnte, vielleicht sogar müsste. Aber das müsste dann eine andere Rede sein.
Wir reden von peccata capitalis, von den Todsünden, von Hoffart und Geiz und Unkeuschheit
und Neid und Unmäßigkeit im Essen und Trinken, von Zorn und heute eben von der Trägheit. In
dieser Reihenfolge notiert bei einem katholischen Zeitgenossen Luthers, bei Petrus Canisius.
Canisius seinerseits beruft sich auf den mittelalterlichen Sortierer der Welt, Thomas von Aquin,
aus dem 13. Jahrhundert; und er wiederum auf Papst Gregor den Großen aus dem 6.
Jahrhundert und dieser schließlich auf Johannes Cassianus im 4. Jahrhundert, der übrigens nicht
7, sondern 8 Todsünden erwähnt. Und dieser wieder auf Euagrios Pontikos, der gar nicht von
Todsünden redet, sondern von Kräften, die die menschlichen Leidenschaften wirksam werden
lassen, die sie geradezu aufwecken. Also: Energien, die auf den Menschen einwirken und ihn
niederdrücken oder in Beschlag nehmen oder einfangen.
Allen diesen Versuchen, diese Sieben Todsünden inhaltlich zu füllen, ist eines gemeinsam:
nämlich die Erfahrung, dass da Kraft sind, die den Menschen mit seinem ganzen Wesen
besetzen und einspinnen können. Und dass sie deshalb das Gegenstück sind zu der Freiheit, zu
der uns Gott beruft und die Gott uns schenken will.
Faulheit, jetzo will ich dir
Auch ein kleines Loblied bringen. –
O – wie – sau – er – wird es mir, –
Dich – nach Würden – zu besingen!
Doch, ich will mein Bestes tun,
Nach der Arbeit ist gut ruhn.
Höchstes Gut! Wer dich nur hat,
Dessen ungestörtes Leben –
Ach! – ich - gähn - ich - werde matt –
Nun – so – magst du – mirs vergeben,
dass ich dich nicht singen kann;
Du verhinderst mich ja dran.
Gotthold Ephraim Lessing, Lob der Faulheit. Genau genommen die aufklärerische Entlarvung
unserer Faulheit und Tatenlosigkeit. Im Leben. Faulheit ist ein ‚no-go‘ für den aufgeklärten
Menschen.
Jesus von Nazareth. Er begegnet uns in den biblischen Erzählungen, in den Evangelien des
Neuen Testaments, immer wieder als einer, der sehr wohl um die Seelenzustände des
Menschen weiß. Um die Not, in die Menschen geraten können. Um die Dämonen, die unser Ich
besetzen können. Um unsere Ohnmacht. Er begegnet als Heiler und als Therapeut.
Er begegnet aber auch als ein Lehrer. Als einer, der sehen lehrt. Der überaus präzise zeigen
kann, dass man diese zerstörerischen Dynamiken des Lebens, das Böse, nicht einfach nur als ein
Schicksal, als eine Krankheit ansehen kann, sondern dass es auch darum geht, dagegen initiativ
zu werden, zu kämpfen, das Leben zu gestalten.
Darauf hat vor ein paar Jahren hat der kanadische Politikwissenschaftler und Philosoph Charles
Taylor hingewiesen. Er sagt: wir leben in einer Zeit, in der eigentlich all die Dinge, die den
Menschen in seinem Inneren bedrohen: Ohnmacht, Gespaltenheit, Angst, Bedrücktheit,
Melancholie, innere Leere, Unvermögen - Acedia also - therapeutisch bewältigt werden können
müssten.
Aber in Wirklichkeit wimmelt es zunehmend von diesen Phänomenen. Und wenn wir ehrlich
sind, dann wissen wir: Diese Phänomene sind nicht nur unsere seelische Schwäche, unserer
persönlichen Labilität, unser Nicht-Genügen. Wir leben in einer Welt, die uns faktisch ständig
überfordert. Wir leben in einer Berufs- und Arbeitskultur, die uns immer wieder erschöpft. Die
uns keine Sicherheit bietet und uns immer wieder zu einem Nichts macht. Wir leben in einer
Zeit, in der die Sinnfragen des Lebens ihre Horizonte verloren haben. Wir leben in einer Kultur,
in der jeder Mensch sich selber erfinden zu müssen scheint. Wir leben schließlich in einer
Epoche, in der uns weder die Arbeit, noch das schiere Streben nach Glück und Lust, noch die
individuellen Befreiungsschläge erlösen können. Sie können uns bestenfalls für kurze Zeit
befriedigen oder betäuben. Deshalb suchen wir sie. Wir leben in einer Situation, in der die
Acedia, wenn man so will, die Lebensbitterkeit, die Traurigkeit, die Erschöpfung des Herzens den
besten Boden hat.
Die Frage ist, mit welcher Kraft, mit welcher Tapferkeit sich ein Mensch dagegen wappnen kann.
Es gibt, um es nüchtern zu sagen, nichts Anderes als die tägliche Arbeit an der Hoffnung.
In einem Brief an seinen Freund Eberhard Bethge schreibt Dietrich Bonhoeffer aus dem
Gefängnis in Tegel: "Du bist der einzige Mensch, der weiß, dass die 'acedia - tristitia' (also die
Traurigkeit) mit ihren bedrohlichen Folgen mir oft nachgestellt hat, und hast Dir vielleicht – so
fürchtete ich damals – in dieser Hinsicht Sorgen um mich gemacht. Aber ich habe mir von
Anfang an gesagt, dass ich weder den Menschen noch dem Teufel diesen Gefallen tun werde;
dieses Geschäft (also mich in die Tiefe zu stürzen) sollen sie selbst besorgen, wenn sie wollen;
und ich hoffe, immer dabei bleiben zu können". - und er meint damit die Nachfolge Jesu Christi
auch … noch aus dem Gefängnis heraus.
Es ist eine persönliche, manchmal einsame Arbeit, der Kampf gegen die Acedia. Aber wir können
bei Jesus in die Lehre gehen. Ich erinnere noch einmal an das schöne Buch von Rolf Steinhilper.
Wir können, schreibt er, von Jesus einiges lernen: nämlich mild und sanft und freundlich zu sein.
Einfühlung zu entwickeln, Raum schenken, zu hören, empathisch zu sein. Und wir werden uns
damit in einer großen Schar von Schwestern und Brüdern über alle konfessionellen Grenzen
hinaus wiederfinden – gegen die Acedia.
Es ist eine einsame Arbeit - aber es ist mehr noch eine gemeinschaftliche Arbeit. Weil wir in der
Kirche Jesu Christi ja eine Gemeinschaft von Hoffenden und Suchenden und Vertrauenden sind.
Es ist eine Arbeit gegen die Acedia, Trostlosigkeit, Faulheit, die wir miteinander und manchmal
auch stellvertretend füreinander tun können. Wir können von Jesus lernen, den Niedrigen, den
Mühseligen und Beladenen zugewandt zu bleiben. Wir können von ihm lernen, die Spannungen
und die Lasten des Lebens anzunehmen – sein Joch – anzunehmen und zu tragen. Auch
miteinander zu tragen.
Oder wir könnten es auch Worten des Apostels Paulus hören und lernen, aus dem Römerbrief,
mit dem ich diese Predigt schließe:
9 Die Liebe sei ohne Falsch. Hasst das Böse, hängt dem Guten an.
10 Die geschwisterliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit
Ehrerbietung zuvor.
11 Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brennend im Geist. Dient dem Herrn.
12 Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet.
13 Nehmt euch der Nöte der Heiligen an. Übt Gastfreundschaft.
14 Segnet, die euch verfolgen; segnet, und flucht nicht.
15 Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden.
16 Seid eines Sinnes untereinander. Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch
herunter zu den geringen. Haltet euch nicht selbst für klug.
17 Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann.
(Römer 12,9-18)
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in
Christus Jesus. Amen.
Pfarrer Eberhard Schwarz
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