NZfM_2011_03_Leseprobe

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Leseprobe aus: Neue Zeitschrift für Musik 3/2011 © Schott Music, Mainz 2011
n THEMA
neue musik als abenteuer
AKTUELLE VERMITTLUNGSPROJEKTE MIT KINDERN UND JUGENDLICHEN
VON SILKE EGELER-WITTMANN
s ist erstaunlich, dass gerade das Thema
Musikvermittlung im Nischenbereich
der neuen Musik boomt. In den letzten Jahren gab es eine Fülle von Veranstaltungen für Kinder und Jugendliche, scheinen Veranstalter, Festivals, Konzerthäuser,
Ensembles und sogar Komponisten diese
neue Zielgruppe für sich zu entdecken. Dabei
ist viel Spannendes und Innovatives entstanden und es scheint sich eine neue musikpädagogische Kultur zu etablieren, die sich
nicht mehr zaghaft hinter ihren Neue MusikÜbervätern verstecken muss, denen sie vermeintlich vermittelnd zuarbeitet. Auch ist
sie nicht mehr nur funktionalisierter, lästiger
Appendix zum Zwecke der Publikumsgenerierung, sondern sie kann inzwischen ganz
selbstbewusst eigene künstlerisch anspruchsvolle sehens- und hörenswerte Ergebnisse
vorweisen. Viele der in den letzten Jahren
entstandenen Projekte und Ensembles haben
eine erstaunliche Nachhaltigkeit erreicht und
sich zu nicht mehr weg zu denkenden Institutionen in Sachen Vermittlung neuer
Musik etabliert.
Warum aber soll man überhaupt neue
Musik an Kinder und Jugendliche vermitteln? Vielleicht weil sie sich noch mehr als
alle andere Musik dazu eignet, an aktuellen
kulturellen Strömungen, am Jetzt, am Hier
und Heute kulturell zu partizipieren, ohne
sich dabei auf Historisches, auf Klassik,
Mainstream, Pop-Kultur zu beschränken.
Vielleicht weil sie die Wahrnehmung von
Welt durch Kultur mit den Mitteln der Öffnung, Befreiung, die die neue Musik vielfach
für sich beansprucht, ermöglicht. Vielleicht
weil sie ein Musiklernen durch aktive Musikerfahrung in einem kulturerschließenden
Musikunterricht aufgrund der Vielfalt ihrer
kreativen Erscheinungsweisen weit mehr als
andere ermöglicht.
Natürlich spielen hier Erkenntnisse aus
jahrzehntelanger musikpädagogischer For-
E
schung eine Rolle. Man weiß inzwischen,
vielfach und zunehmend unterfüttert mit
den Erkenntnissen der modernen Hirnforschung, dass musikalische Erfahrungen nur
auf der Grundlage von musikalischem Handeln möglich sind. Eine selbstverantwortliche produktive Betätigung ist für einen
erfolgreichen Lernprozess im Umgang mit
Musik unumstrittene Voraussetzung. Die
neue Musik, und dabei besonders die experimentelle Musik, ermöglicht ein Musikmachen, das nicht nur im Zustand der (wenn
auch geistig und motorisch anspruchsvollen) Reproduktion verharrt. Denn hier wird
den Kindern und Jugendlichen einiges abverlangt: Sie werden eingebunden in einen
kreativen Gestaltungsprozess innerhalb der
Leerstellen einer Komposition – beispielsweise mit grafischer Notation oder verbalen
Improvisationskonzepten – und sie müssen
ästhetische Entscheidungen treffen, kompositorisch handelnd eingreifen.
Das setzt Kompetenzen voraus bzw. ermöglicht deren Entwicklung, die im herkömmlichen Instrumental- und Schulmusikunterricht kaum gefördert werden. Auch
von den Musikpädagogen wird verlangt, dass
sie solche kreativen Prozesse in Gang setzen
können, dass sie in ihrem Unterricht nicht
nur reproduktiv, sondern vor allem schöpferisch und gestaltend mit Musik umgehen
können. Es besteht also ein offensichtlicher
Bedarf an der Ausbildung dieser essenziellen Fähigkeiten bereits während des Musikstudiums und in der Lehrerfortbildung.
Wenn auch bisher eine dringend notwendige Didaktik der Komposition und eine
Didaktik der Kompositionslehre fehlen (so
das Resümee von Philipp Vandré und Benjamin Lang in ihrem gerade erschienenen,
höchst empfehlenswerten Buch Komponieren mit Schülern. Konzepte · Förderung ·
Ausbildung1), so gibt es doch positive Entwicklungen und Ansätze, etwa die des «Re-
sponse»-Projekts in Hessen über Jahrzehnte
gewachsene Erfahrung, die nun im Rahmen
der musikpädagogischen Ausbildung institutionalisiert wurde. Dieses und weitere bedeutende Projekte und Initiativen in Sachen
Vermittlung neuer Musik sollen (ohne den
Anspruch auf Vollständigkeit) im Folgenden vorgestellt werden.
«RESPONSE» UND KONZERTPÄDAGOGISCHE PROJEKTE
Bereits 1990 wurde in Hessen die aus England stammende «Response»-Methode aufgegriffen. Ein Team aus Komponisten, Interpreten und Musiklehrern filtert aus einem
Referenzstück (einem zeitgenössischen Werk,
das im Rahmen eines öffentlichen Konzerts
aufgeführt wird) die Grundidee heraus und
entwickelt passende Übungen, Konzepte,
Aufgaben für die Lerngruppe (eine Schulklasse oder einen Oberstufen-Kurs), die von
diesem Team über den Zeitraum eines halben Jahres betreut wird. Angeregt durch die
Impulse des Teams entwickeln die SchülerInnen in der Gruppe eine eigene Komposition, die zum Abschluss des Projekts auch
öffentlich aufgeführt wird. Erst dann werden die SchülerInnen mit der Originalkomposition, aufgeführt von einem professionellen Ensemble, konfrontiert. Im Laufe der
Jahre wurde diese Methode weiterentwickelt und modifiziert: Nicht mehr nur das
Referenzstück, sondern auch eine ästhetische
Position, ein Komponist, eine Gattung oder
ein außermusikalischer Gegenstand können
nun als Referenz dienen. «Response» entfaltet Wirkungen nach zwei Seiten hin: Nicht
nur die teilnehmenden Schüler machen tiefgreifende Erfahrungen mit neuer Musik, sondern auch die Mitglieder des Teams profitieren von der Zusammenarbeit mit den Kindern und Jugendlichen, von deren Perspektiven und Umgang mit der Materie.
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Durch die Einbindung unterschiedlichster Vertreter und Institutionen in die «Response»-Arbeit bildete sich ein intensiver
Erfahrungstransfer innerhalb eines lebendigen Netzwerks. Dieses personal-, arbeitsund kostenaufwändige Modell konnte im
Laufe der letzten zwei Jahrzehnte institutionell etabliert und vor allem erfolgreich in die
Ausbildung an der Musikhochschule eingebunden werden. So erkennt die Frankfurter
Musikhochschule die Teilnahme an einem
Response-Projekt als Studienleistung an,
und das hessische Kultusministerium gewährt Lehrern bei einer Teilnahme erhebliche Weiterbildungspunkte.2
Das 1997 gegründete Kölner «Büro für
Konzertpädagogik» hat die dem «Response»Modell zugrunde liegende Idee handlungsorientierter Vermittlung zeitgenössischer
Musik aufgegriffen und sich in jahrelanger
Vernetzungs- und Überzeugungsarbeit zu
einer der erfolgreichsten und innovativsten
Institutionen in Sachen Musikvermittlung
in Deutschland entwickelt. Im Auftrag der
Kölner Philharmonie führte das «Büro» von
1997 bis 2003 in regelmäßigem Turnus eigene
«Response»-Workshops an Kölner Grundschulen durch. Darüber hinaus wurde die
Grundidee von «Response» vielfach weiterentwickelt und modifiziert und mit einem
umfassenden Fortbildungsprogramm in vielen anderen Regionen Deutschlands bekannt
gemacht.
Das Kernteam, bestehend aus den Komponisten Bernhard König und hans w. koch
sowie der Konzertpädagogin Anke Eberwein, hat zusammen mit ihrem inzwischen
beträchtlich angewachsenen Mitarbeiterkreis eine Fülle von neuartigen und beispielhaften Projekten umgesetzt, die sich längst
nicht nur auf die Vermittlung zeitgenössischer Musik beschränken.3 «Statt auf eingeschliffene didaktische Modelle zurückzugreifen, erfinden wir für verschiedenste
Ausgangssituationen die passende Veranstaltungsform und Methodik». Interessant
ist dabei auch der multiplikatorische Ansatz: «An die Stelle des zuvor praktizierten
künstlerisch-pädagogisch-organisatorischen
‹Rundum-Service› tritt seither zunehmend
die konzertpädagogische Ausbildung und
Betreuung von Orchester- und Ensemblemusikern, die in wachsendem Maße aktiv in
die Arbeit eingebunden werden: Hilfe zur
Selbsthilfe.»
Nicht unerwähnt bleiben soll hier ein
jüngeres Vermittlungsprojekt, das der Komponist Burkhard Friedrich in Hamburg
mit initiiert hat. Im Rahmen der Initiative
«Klangradar 3000» werden in drei verschiedenen Konzepten («Reise 21», «KlangWellen», «Komponisten mobil») Schüler, Lehrer
und Komponisten zeitgenössischer Musik
zusammengebracht und eine Nachhaltigkeit
erzielende, qualitativ anspruchsvolle Vermittlungsarbeit ermöglicht.4
KINDER- UND JUGENDENSEMBLES
FÜR NEUE MUSIK
Einen nicht mehr weg zu denkenden Platz
in der deutschen Ensemble-Landschaft haben
einige Formationen, die sich auf die professionelle Erarbeitung und Uraufführung
neuer Musik für nicht-professionelle Interpreten spezialisiert haben und die teilweise
bereits seit mehreren Jahrzehnten auch Auftraggeber neuer Kompositionen für dieses
Genre sind. Die bedeutendsten Arbeitsgemeinschaften für neue Musik in der Schule
sollen hier kurz porträtiert werden:
Die «AG Neue Musik» am LeiningerGymnasium in Grünstadt besteht seit 1970
und ist damit die erste und dienstälteste Arbeitsgemeinschaft ihrer Art in Deutschland.
Zu einer Zeit, in der es zwischen Schule und
musikalischer Avantgarde noch keinerlei
praktische Berührungspunkte gab, gingen
von ihrem Gründer und langjährigen Leiter
Manfred Peters die entscheidenden Impulse
für eine gänzlich neue Gattung aus: Für eine
«neue Musik» für Schülerinnen und Schüler,
die sich künstlerisch und pädagogisch auf
der Höhe ihrer Zeit befindet. Zahlreiche
Stücke namhafter Komponisten, die heute als
«Klassiker» in diesem Bereich gelten, wurden durch Peters angeregt und von der Grünstädter AG uraufgeführt. Auf zahlreichen
Konzertreisen und Musikfestivals sorgte die
AG für Aufsehen und ungeteilte Zustimmung in Fachkreisen. Seit 1996 wird die
Leitung der AG durch die Autorin dieses
Beitrags fortgeführt. Seither ist durch die
Zusammenarbeit mit jüngeren Komponisten ein Schwerpunkt im Bereich des Musiktheaters gesetzt worden. In enger Zusammenarbeit mit dem Komponisten Bernhard
König wurden zudem seit 1999 mehrere
Projekte entwickelt, in denen verstärkt auch
die fächerübergreifende Auseinandersetzung
mit politischen Themen und der jüngeren
deutschen Geschichte gesucht wurde – darunter die Plenarmusik für den Mainzer
Landtag und das Schloss-Spektakel Hotel
Bellevue für den Amtssitz des Bundespräsidenten. Ein weiterer Schwerpunkt in der
AG-Arbeit, maßgeblich geprägt durch die
inzwischen verstorbene Mainzer Choreo-
grafin Nancy Seitz-McIntyre, ist die experimentelle Musik-Tanz-Performance, bei der
Tanz und vokale Improvisation eine enge
Verbindung eingehen.
1995 gründete Bernhard Zörner am
Hertzhaimer-Gymnasium im bayrischen
Trostberg eine «AG Neue Musik». Durch
die intensive Zusammenarbeit mit dem Komponisten Werner J. Gruber erfolgte bereits
ab 1996 die regelmäßige Teilnahme an Josef
Anton Riedls Münchener «KlangAktionen»
mit einer Reihe von Uraufführungen. Es
folgten zahlreiche Rundfunkaufnahmen und
Auszeichnungen, so beim Bundeswettbewerb
«teamwork: neue musik (er)finden».
Im April 2002 gründete der Klangkünstler und Komponist Erwin Stache am Gymnasium Brandis nahe Leipzig eine Schülergruppe, mit der er zusammen auf der Basis
seiner Klangobjekte verschiedene Stücke und
Konzepte erarbeitete. Die mittlerweile aus
Schülern der Klasse 8 bis 12 sowie Studenten bestehende Gruppe, die heute «ATONOR» heißt, erarbeitet ständig neue Programme, mit denen sie in ganz Deutschland
auftritt.
Die jüngste der hier vorgestellten AGs
für neue Musik und ebenfalls vielfach preisgekrönt ist die von Matthias Handschick gegründete und geleitete «Klangbaustelle» des
Hochrhein-Gymnasiums Waldshut und des
Hans-Thoma-Gymnasiums Lörrach, die
musikalisch-gestalterische Tätigkeiten von
Schülerinnen und Schülern fördert. In wechselnden Formationen, gelegentlich auch unter
Mitwirkung ganzer Schulklassen, Kurse
oder anderer Arbeitsgemeinschaften, sind in
der «Klangbaustelle» Waldshut/Lörrach seit
dem Schuljahr 2003/04 Schülerinnen und
Schüler der Klassenstufen 5 bis 13 aktiv, die
in Kooperationsprojekten mit herausragenden Künstlern und Kulturinstitutionen
grundsätzlichen ästhetischen Fragestellungen auf den Grund zu gehen versuchen.
Einen anderen Schwerpunkt als die schulischen Arbeitsgemeinschaften setzen die drei
Landesjugendensembles für neue Musik aus
Rheinland-Pfalz/Saarland, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. Die Formationen bilden sich jeweils aus Preisträgern
des Wettbewerbs «Jugend musiziert» und
sind somit als eine Fördermaßnahme hochbegabter junger Instrumentalisten auf die
Interpretation zeitgenössischer Instrumentalmusik spezialisiert. In jährlich ein bis
zwei Arbeitsphasen …
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in Heft 3/2011
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