WOLFHART PANNENBERG Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie Siebte Auflage V&R VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525331873 — ISBN E-Book: 9783647331874 Wolfhart Pannenberg Geb. 1928 in Stettin. Studium der Theologie in Berlin, Göttingen, Basel und Heidelberg. Promotion 1953, Habilitation 1955. Von 1955 bis 1958 Dozent für Systematische Theologie in Heidelberg, dann bis 1961 Prof. an der Kirchl. Hochschule Wuppertal. Seit 1961 o.Prof. in Mainz, von 1967 ab in München Wissenschaflliche Veröffentlichungen: „Die Prädestinationslehre des Duns Skotusu 1954, „Offenbarung als Geschichte“ (Hrsg.) 4. Aufl. 1970, „Grundzüge der Christologie“ (1964), 2. Aufl. 1966, Grundfragen systematischer Theologie, 2. Auflage 1971. Gottesgedanke und menschliche Freiheit. 1972. Meiner Frau CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Pannenberg, Wolßart: Was ist der Mensch? : Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie / Wolfhart Pannenberg. - 7. Aufl. - Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 1985. (Kleine Vandenhoeck-Reihe; 1139) ISBN 3-525-33187-8 NE:GT Kleine Vandenhoeck-Reihe 1139 7. Auflage 1985-32.-35. Tausend Umschlag: Hans Dieter Ullrich. - © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1962. - Printed in Germany. - Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. - Gesamtherstellung: Hubert 6c Co., Göttingen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525331873 — ISBN E-Book: 9783647331874 VORWORT Die elf Vorträge dieses Bandes sind erwachsen aus Vorlesungen über theologische Anthropologie, die ich 1959/60 in Wuppertal und 1961 in Wuppertal und Mainz vorgetragen habe. Es handelte sich dabei um die Aufgabe einer theologischen Verarbeitung der verschiedenartigen anthropologischen Forschungen der Gegenwart hinsichtlich ihrer Methoden und Resultate. Einige Themen aus diesen Vorlesungen wurden zu einer Sendereihe des N D R zusammengestellt und bearbeitet, die im Winter 1961/62 gesendet worden ist. Die Vorträge erscheinen hier so gut wie unverändert. Die beigegebenen Anmerkungen, die äußerst knapp gehalten werden mußten, verdeutlichen kritische oder zustimmende Bezugnahmen im Text auf bestimmte Arbeiten. Daneben stehen einige wenige Hinweise auf einführende Literatur. V O R W O R T Z U R 3. A U F L A G E Für die Neuauflage wurde der Anmerkungsteil etwas erweitert, um die Beziehungen zur soziologischen und tiefenpsychologischen Forschung deutlicher hervortreten zu lassen, das Verhältnis der theologischen Perspektive zur verhaltensanthropologischen Deutung der „Weltoffenheit“ des Menschen genauer zu bestimmen und die methodischen Voraussetzungen meiner Betrachtungsweise noch besser kenntlich zu machen. Alle Zusätze sind in eckige Klammern gesetzt. Mainz, im Oktober 1967 W.P. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525331873 — ISBN E-Book: 9783647331874 I N H A L T 1. Weltoffenheit und Gottoffenheit 2. Daseinsbewältigung mit Phantasie 3. Sicherung statt Vertrauen? 4. Hoffnung über den Tod hinaus 5. Die Ichhaftigkeit und die Bestimmung des Menschen 6. Zeit, Ewigkeit, Gericht 7. Person in Gesellschaft 8. Recht durch Liebe 9. Der Gesellschaftsprozeß 10. Tradition und Revolution 11. Der Mensch als Geschichte Anmerkungen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525331873 — ISBN E-Book: 9783647331874 5 13 22 31 40 49 58 67 77 86 95 104 1. W E L T O F F E N H E I T U N D GOTTOFFENHEIT Wir leben in einem Zeitalter der Anthropologie. Eine umfassende Wissenschaft vom Menschen ist ein Hauptziel der geistigen Bestrebungen der Gegenwart. Eine ganze Anzahl wissenschaftlicher Forschungszweige haben sich dazu vereinigt. Gerade ihre je besondere Problematik hat sie in dieser Frage in oft unerwartete Berührung mit andern Forschungen gebracht. Biologen und Philosophen, Juristen und Soziologen, Psychologen, Mediziner und Theologen haben in der Frage nach dem Menschen verwandte Einsichten und zum Teil auch eine gemeinsame Sprache gefunden. Die spezialisierten Methoden scheinen vor unsern Augen zur Überwindung ihrer eigenen Zersplitterung beizutragen, indem sich ein neues, umfassendes Verständnis des Menschen herausbildet. Die mit dem Menschen beschäftigten Wissenschaften sind heute auf dem besten Wege, im allgemeinen Bewußtsein den Platz einzunehmen, den in früheren Jahrhunderten die Metaphysik innehatte. Darin äußert sich der tiefgreifende Wandel, den das Bewußtsein der Menschen in der Neuzeit erfahren hat: Der Mensch will sich nicht mehr in eine Ordnung der Welt, der Natur, einfügen, sondern er will über die Welt herrschen. Die Metaphysik hatte umgekehrt seit ihren Anfängen in der griechischen Philosophie dem Menschen seinen Platz im Kosmos, in der Ordnung der Gesamtheit alles Seienden, angewiesen. Ihren charakteristischen Ausdruck hat diese Haltung in der Auffassung des Menschen als Mikrokosmos gefunden: Der Mensch galt als die Welt im Kleinen; denn er hat an allen Schichten des Kosmos Anteil, am körperlichen, wie am seelischen und geistigen Sein. Darin liegt für diese Auffassung die Besonderheit des Menschen unter allen Wesen. Aber der Mensch ist hier ganz von der Welt her verstanden, dazu bestimmt, ihren Aufbau in seinem Dasein abzubilden. Das ist ein Gedanke, der weit in die religionsgeschichtliche Vorzeit zurückreicht, aber von der griechischen Metaphysik ist er besonders klar ausgebildet worden. Heute ist die alte Auffassung des Menschen als Mikrokosmos uns so fremd geworden wie das antike Bild des Kosmos selbst, wie die Vorstellung von Himmelssphären, die um die Erde kreisen. Heute erschiene es als sinnlos, wollte jemand irgendein Bild von einer alles umfassenden 5 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525331873 — ISBN E-Book: 9783647331874 und unveränderlichen kosmischen Ordnung ein für allemal festlegen. Schon eine derartige Zielsetzung wäre der Arbeitsweise neuzeitlicher Naturwissenschaft und Technik entgegengesetzt. Weltbilder sind heute nur noch Modelle der Natur, die der Mensch im Dienste seiner technischen Naturbeherrschung entwirft und wieder verwirft. Die Welt ist kein Zuhause mehr für den Menschen, sondern nur noch Material für seine umgestaltende Tätigkeit. Der Erfolg dieser Bemühungen, der früheren Jahrhunderten unvorstellbar war, zeigt, daß die in ihnen wirksame Lebenshaltung zumindest teilweise wirklichkeitsgerecht ist. Angesichts dieser Situation, angesichts der gestaltenden Freiheit des Menschen gegenüber der Welt, erhebt sich heute mit besonderer Dringlichkeit die Frage, wer denn der Mensch selbst ist. Die Menschheit hat den alten Halt an festen Ordnungen verloren, seien es nun die Ordnungen des Kosmos oder die angeblich den Kosmos abbildende Ordnung der Gesellschaft. Die Geistesgeschichte der Neuzeit ist von Pascal bis in die Gegenwart gezeichnet durch das Erschrecken vor der schrankenlosen Freiheit des modernen Menschen. Sind wir nicht so weit gelangt, das Leben auf dieser Erde und die Menschheit selbst vernichten zu können? Die Existenzphilosophie hat diese Situation des ins Nichts hinausgreifenden, schöpferischen Menschen so beschrieben, daß nur noch die Entscheidung des Menschen selbst entscheidet, wer oder was der Mensch eigentlich ist. In solcher Zuspitzung ist die existenzialistische These freilich allzu abstrakt. Wo ein Mensch schöpferische Entscheidungen trifft, da bleiben sie immer auf die biologischen und soziologisch-geschichtlichen Bedingungen seiner Situation bezogen, auf die eigene Lebensgeschiente wie auf den Geist seiner Zeit. Und das gilt gerade auch von den kritischen Entscheidungen, in denen jemand sich abstößt von allem, was er vorfindet. Aber in der Tat ist heute die Frage, was der Mensch ist, nicht mehr aus der Welt zu beantworten, sondern auf den Menschen selbst zurückgeschlagen. Dadurch ist die Wissenschaft vom Menschen zu einer noch nie dagewesenen Bedeutung aufgestiegen. In der Anthropologie heißt die von der Neuzeit entdeckte eigentümliche Freiheit des Menschen, über alle vorfindliche Regelung seines Daseins hinauszufragen und hinwegzuschreiten, seine „Weltoffenheit “1 . Dieser Ausdruck soll mit einem Wort den Grundzug angeben, der den Menschen zum Menschen macht, ihn vom Tier unterscheidet und ihn über die außermenschliche Natur überhaupt hinaushebt. Recht verstanden läuft dieser Ausdruck nämlich nicht darauf hinaus, den Menschen einseitig von der außermenschlichen Natur her zu charakterisieren. Was aber ist mit „Weltoffenheit“ gemeint? 6 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525331873 — ISBN E-Book: 9783647331874 Zunächst geht es hier allerdings um den Unterschied von Mensch und Tier. Man sagt, der Mensch hat Welt, während jede Tierart auf eine erblich festgelegte, arttypische Umwelt beschränkt ist. Nach allem, was wir wissen, nehmen Tiere ihre Umgebung nicht in der reichen Fülle wahr, in der sie uns erscheint. Tiere bemerken von ihrer Umgebung nur das, was für ihre Art triebwichtig ist. Alles übrige dringt gar nicht in ihr Bewußtsein. Die Weite oder Enge, Einfachheit oder Kompliziertheit der Umwelt ist natürlich bei den einzelnen Tierarten sehr verschieden. Aber von allen gilt, daß ihr Verhalten umweltgebunden ist. Bestimmte Merkmale der Umgebung wirken wie Signale und lösen ein Verhalten aus, das in seinem Grundbestand nicht erst erlernt zu werden braucht, sondern angeboren ist. Auf die Wahrnehmung solcher Merkmale sind die Sinnesorgane der Tiere spezialisiert, und wenn sie auftreten, so erfolgt die im Instinkt vorgesehene Reaktion. Bei gewissen primitiven Arten besteht die Umwelt nur aus sehr wenigen Merkmalen. So hat, um ein einfaches Beispiel zu nennen, die Zecke nur drei Sinne: Lichtsinn, Geruchssinn, Temperatursinn. Mit Hilfe des Lichtsinns ihrer Haut findet sie den Weg auf einen Ast. Geruchs- und Temperatursinn melden ihr, wenn ein warmblütiges Tier sich unter dem Ast befindet. Auf dieses Signal hin läßt sich die Zecke fallen, um dem Tier das Blut abzusaugen. Das ist die Umwelt der Zecke. Augen, Ohren und Geschmack besitzt sie nicht. Sie bedarf ihrer auch nicht. Die Umwelt der Zecke ist natürlich ein besonders einfaches Beispiel. Die Umwelt der meisten Tierarten ist sehr viel komplizierter. Aber gemeinsam scheint allen Tierarten zu sein, daß sie nur einen Ausschnitt der unserem Wissen zugänglichen Welt kennen, bestimmte Merkmale, die für die Art triebwichtig sind, auf die ihre Sinnesorgane spezialisiert sind und auf die sie instinktiv reagieren. Auch wo das instinktive Verhalten elastischer ist, erleben Tiere von der Welt nur das, was sie eigentlich schon vorher kennen, in den erblichen Formen ihrer Wahrnehmung und ihres Verhaltens, ganz ähnlich, wie sich Kant das menschliche Erkennen vorgestellt hat. Gerade der Mensch ist aber nicht auf eine bestimmte Umwelt für sein Erleben und Verhalten beschränkt. Wo bei Menschen so etwas wie eine Umwelt erscheint, da handelt es sich um Einrichtungen seiner Kultur, nicht um angeborene Schranken. So ist zwar der Wald für den Jäger etwas anderes als für den Holzfäller oder für den sonntäglichen Ausflügler. Aber die Weise, wie der Jäger den Wald erlebt, ist nicht durch seine biologische Organisation festgelegt, sondern hängt mit seinem Beruf zusammen, den er gewählt hat, und an dessen Stelle er auch einen andern hätte wählen können. Sobald 7 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525331873 — ISBN E-Book: 9783647331874 er Ingenieur wird, erlebt auch er den Wald aus dem Blickwinkel des Sonntagsausflüglers. Der Mensch bleibt auch als Jäger offen für andere Möglichkeiten des Menschseins. Das ist beim Tier anders. Tiere kennen nur ihre angeborene Umwelt. Der Mensch ist nicht umweltgebunden, sondern weltoffen. Das heißt: Er kann immer neue und neuartige Erfahrungen machen, und seine Möglichkeiten, auf die wahrgenommene Wirklichkeit zu antworten, sind nahezu unbegrenzt wandelbar. Das entspricht bis in Einzelheiten hinein dem Besonderen der menschlichen Leiblichkeit. So sind unsere Organe im Vergleich zu denen der Tiere kaum spezialisiert, dafür aber — wie etwa die Hand — erstaunlich vielseitig. Der Mensch kommt im Vergleich zu andern Säugetieren viel zu früh und unfertig zur Welt, und er bleibt für eine lange Jugendzeit bildsam. Die Antriebe der Menschen richten sich nicht von Geburt an eindeutig auf bestimmte Merkmale, sondern sind verhältnismäßig unbestimmt. Sie werden erst durch individuelle Wahl und Gewohnheit sowie durch Erziehung und Sitte eindeutiger ausgeprägt. Das bedeutet: Die tierisches Verhalten steuernden Instinkte sind beim Menschen weitgehend zurückgebildet, nur noch in Resten vorhanden. Dies hat nun sehr einschneidende Folgen für das Ganze unserer Daseinserfahrung und unseres Verhaltens: Weil die Richtung seiner Antriebe nicht von vornherein festliegt, darum ist der Blick des Menschen auf die Wirklichkeit eigentümlich offen. Wer von einem klar bestimmten Trieb ganz beherrscht wird, der blickt nicht mehr rechts noch links, sondern schaut nur nach den Merkmalen aus, die das Erstrebte ankündigen. Das normale Verhalten des Menschen ist das nicht. Vielmehr erfährt er die Dinge als etwas für sich, das er erst nachträglich in seine Pläne einordnen wird. Und weil er die Dinge so in Distanz sich gegenüber hat, darum sieht er auch nicht nur eine Seite, sondern viele Seiten, viele Eigenschaften an ihnen, viele Möglichkeiten, mit ihnen umzugehen. Erst der Mensch erfährt überhaupt in diesem genauen Sinne des Wortes Gegenstände, wie selbständig ihm gegenüberstehende, fremdartige und staunenerregende Wesen. Es ist spezifisch menschlich, neugierig bei den Dingen zu verweilen, von ihrer Seltsamkeit uird Eigenart in gleichsam atemlosem Interesse benommen zu sein. Die Dinge sind dem Menschen gerade nicht, wie Heidegger gemeint hat, ursprünglich zuhanden 2 . Solche natürliche Vertrautheit mit der Umgebung ist nur den Tieren beschieden, soviel auch romantische Schwärmerei nach einem solchen Zustand sich sehnen mag! Erst nachträglich, indem er sich eine Kulturwelt, eine künstliche Welt, aufbaut, macht der Mensch sich seine Umgebung so zurecht, daß sie ihm zuhanden wird. Ursprünglich und immer 8 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525331873 — ISBN E-Book: 9783647331874 wieder aber ist er so benommen von der aufregenden Fremdheit der Dinge um ihn her, daß er von ihnen her sich selbst mit ganz anderen Augen, wie ein fremdes Wesen, betrachten lernt. Erst von der Welt her erfährt der Mensch sich selbst, indem er seinen eigenen Leib in bestimmten Zusammenhängen mit den andern Dingen vorfindet. Darum ist die Erforschung der Welt der Weg, den der Mensch einschlagen muß, um seine Bedürfnisse kennenzulernen und um sich darüber klarzuwerden, worauf er selbst eigentlich hinaus will. Nur auf dem Umweg über die Welterfahrung vermag er seine zunächst richtungslosen Antriebe zu orientieren, legt er sich Interessen und Bedürfnisse zu. Und mit fortschreitender Erfahrung werden die Bedürfnisse selbst verwandelt. Nur auf diesem mühevollen Weg kann der Mensch versuchen, Klarheit über sich selbst zu gewinnen. Man versteht, wie die Griechen dazu kamen, die Frage nach dem Menschen vom Kosmos her zu beantworten. Aber freilich vermag die Welt nie, eine endgültige Antwort auf die Frage des Menschen nach seiner Bestimmung zu geben. Das ist schon in der Antike da und dort gefühlt worden. Mit unwiderstehlicher Gewalt jedoch hat sich dem neuzeitlichen Menschen die Erfahrung aufgedrängt, daß er über jeden Horizont, der sich ihm auftut, immer noch hinausfragen kann, so daß sich geradezu durch ihn, den Menschen, erst entscheidet, was aus der Welt werden soll. Damit wird nun aber die Frage nach dem genauen Sinn des Wortes „Weltoffenheit“ dringend. Wofür ist der Mensch da eigentlich offen? Die Antwort muß gewiß zunächst lauten: Er ist offen für immer neue Dinge, frische Erfahrungen, während die Tiere nur für eine beschränkte und arttypisch festliegende Anzahl von Merkmalen offen sind. Hier erhebt sich nun aber erst das eigentliche Problem: Ist etwa die Welt für den Menschen das, was den Tieren ihre Umwelt ist? Ist er angelegt auf die Welt, auf sie hin geöffnet? Meint das der Ausdruck Weltoffenheit? Es liegt von seinem Wortlaut her sehr nahe, ihn so mißzuverstehen. Dann wäre unsere Welt nur eine riesenhafte und sehr komplizierte Umwelt. Das Verhältnis der Menschen zur Welt wäre nicht grundsätzlich von dem der Tiere zu ihrer Umwelt verschieden. Der festbegrenzte Kosmos des antiken Denkens war in der Tat ein derartiges Gehäuse für den Menschen. Aber insofern hat man damals eben den tieferen Unterschied des Menschen von allen Tieren noch nicht verstanden. Die Weltoffenheit, die die moderne Anthropologie im Blick hat, ist nicht nur dem Grade nach, sondern grundsätzlich von tierischer Umweltgebundenheit verschieden. Darum kann es sich hier nicht nur um eine Offenheit für die Welt handeln. Sondern Weltoffenheit muß heißen: Der 9 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525331873 — ISBN E-Book: 9783647331874 Mensch ist ganz und gar ins Offene gewiesen. Er ist über jede Erfahrung, über jede gegebene Situation hinaus immer noch weiter offen. Er ist offen auch über die Welt hinaus, nämlich über sein jeweiliges Bild von der Welt; aber auch über jedes mögliche Weltbild hinaus und über das Suchen nach Weltbildern überhaupt, so unerläßlich es ist, bleibt er offen im Fragen und Suchen. Solche Offenheit über die Welt hinaus ist sogar Bedingung der Welterfahrung selbst. Drängte unsere Bestimmung uns nicht über die Welt hinaus, dann würden wir nicht, auch ohne konkreten Anlaß, immer weiter suchen. H a t die Offenheit des Menschen über die Naturwelt hinaus dann vielleicht den Sinn, daß er nur an seiner eigenen Schöpfung Genüge finden kann, indem er die Naturwelt in eine künstliche Welt verwandelt? Ist der Mensch bestimmt zur Kultur? Diese Meinung scheint heute verbreitet zu sein8. Aber auch bei ihren eigenen Gebilden finden die Menschen keine dauernde Ruhe. Sie wandeln nicht nur die Natur zur Kultur, sondern setzen unablässig neue Kulturgestaltungen an die Stelle der früheren. Daß so der Mensch auch durch seine eigenen Schöpfungen keine endgültige Befriedigung findet, sondern sie als bloße Durchgangspunkte seines Strebens alsbald wieder hinter sich läßt, das setzt voraus, daß seine Bestimmung auch über die Kultur hinausgeht, über die vorhandene wie über jede noch zu gestaltende. Wieder wird der Prozeß kultureller Gestaltung selbst in seinem schöpferischen Reichtum nur verständlich, wenn man sieht, daß seine treibenden Kräfte über jedes Werk hinausschießen, daß die Werke nur Stufen sind auf einem Wege zu unbekanntem Ziel. Was ist der Motor dieses Strebens ins Offene? Man hat gesagt, daß der Mensch ständig unter dem Druck eines Antriebsüberschusses lebe4. Dieser Druck ist nicht der gewöhnliche Zwang tierischen Trieblebens. Der tierische Triebzwang setzt nur ein, wenn der auslösende Gegenstand gegenwärtig ist. Der menschliche Antriebsdruck hingegen richtet sich ins Unbestimmte. Er entsteht, weil unsere Antriebe keine Ziele finden, die ihnen ganz Genüge tun. Er äußert sich in dem für den Menschen so charakteristischen Drang zu Spiel und Wagnis, in der Distanzierung von der Gegenwart durch ein Lächeln. Er treibt ins Offene, scheinbar ziellos. Arnold Gehlen hat treffend von einer „unbestimmten Verpflichtung“ gesprochen5, die das Blut der Menschen in Unruhe versetzt und sie hinaustreibt über jede erreichte Stufe der Lebens Verwirklichung. Und er hat auch gesehen, daß diese Unruhe eine Wurzel alles religiösen Lebens ist. Das bedeutet nun freilich nicht, daß der Mensch sich selbst Religionen schafft, indem er jenem unbestimmten Drang durch seine Phan10 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525331873 — ISBN E-Book: 9783647331874