1 SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen - Manuskriptdienst Graecomania Von der Liebe zu Hellas Autor: Rolf Beyer Redaktion: Anja Brockert Regie: Maria Ohmer Sendung: Donnerstag, 28.02.2013, 8.30 Uhr, SWR 2 _________________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen/Aula (Montag bis Sonntag 8.30 bis 9.00 Uhr) sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für 12,50 € erhältlich. Bestellmöglichkeiten: 07221/929-6030 SWR 2 Wissen können Sie ab sofort auch als Live-Stream hören im SWR 2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml Manuskripte für E-Book-Reader E-Books, digitale Bücher, sind derzeit voll im Trend. 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Regie: Musik, schwebend, geheimnisvoll, unterlegen Sprecherin: Winckelmann sah auch das Bild einer monumentalen antiken Figurengruppe, die griechische Bildhauer einst erschaffen hatten: der trojanische Priester Laokoon und seine beiden Söhne werden von Schlangen umschlungen und grausam erwürgt. Gebannt von der Laokoongruppe schrieb Winckelmann die berühmten Worte, in denen er das Griechentum als apollinische Erhabenheit charakterisierte. Zitator: Das allgemeine Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt und stille Größe. So wie die Tiefe des Meeres allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag auch noch so wüten, ebenso zeigt der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele. Sprecherin: Die Worte des Kunstgelehrten Winckelmann entfalteten eine ungeheure Wirkung. Sie zogen die lebendigsten Geister seiner Zeit in ihren Bann. Zu ihnen gehörten Goethe, der sich als Nachfolger Winckelmanns empfand, Lessing, der Winckelmann kritisierte, der Dichter Hölderlin, der in poetischer Imagination sogar eine Wiederkehr der griechischen Götter erwartete. So entstand eine Bewegung, die wir heute kaum noch nachvollziehen können. Geradezu leidenschaftlich hing man den Erfahrungen und Leistungen der antiken Lebenswelt an. Diese galt als apollinisch, bestimmt von Schönheit, Maß und Harmonie, gemäß jenen Worten, die am Tempel von Delphi angebracht waren: „Gnôti sautón“ - „Erkenne dich selbst“. Und „mädèn ágan“ - „Handle niemals im Übermaß.“ Voller Sehnsucht schaute man auf diese vergangene Welt: Regie: Musik unterlegen Zitator: Schöne Welt, wo bist du? Kehre wieder, holdes Blütenalter der Natur! Ach! Nur in dem Feenland der Lieder lebt noch deine goldne Spur... 4 Sprecherin: Das sind ebenfalls berühmte Worte. Sie stammen von Friedrich Schiller. Etwas anders als Winckelmann pries er nicht die erhabene Seite, sondern hob die heitere Menschenfreundlichkeit der griechischen Götter hervor und stellte sie der jüdisch-christlich geprägten Lebenswelt seiner Zeit entgegen, die – so Schillers Auffassung – von einem intoleranten Monotheismus beherrscht wurde. Zitator: Da die Götter menschlicher noch waren, waren Menschen göttlicher. Sprecherin: Eine Wendung ins Politische erhielt die Griechenverehrung bei Wilhelm von Humboldt. Der preußische Universalgelehrte und Bildungsreformer konstatierte eine tiefe, kulturell bestimmte Wesensverwandtschaft zwischen Deutschen und Griechen und förderte die Antikenbegeisterung zu Beginn des 19. Jahrhunderts, indem er die Gründung altsprachlich humanistischer Gymnasien beförderte. In den Zeiten napoleonischer Fremdherrschaft pries Humboldt die freiheitliche Verfasstheit der griechischen Poleis - der zahlreichen autonomen Stadtgemeinschaften - als Vorbild für Deutschland. Zitator: Deutschland (zeigt) in Sprache, Vielseitigkeit der Bestrebungen, Einfachheit des Sinnes, in der föderalistischen Verfassung und seinen neuesten Schicksalen eine unleugbare Ähnlichkeit mit Griechenland. Sprecherin: Natürlich blieb - und bleibt - die idealistische Griechenlandverehrung nicht unwidersprochen. Kai Trampedach, Professor für Alte Geschichte an der Universität Heidelberg: O-Ton 1: (Kai Trampedach) Ich würde gegenüber diesem alten - ich nenne es mal humanistischen Bild - festhalten, dass es sehr einseitig ist. Im 19. Jahrhundert gab es aber dann schon Stimmen, die dieses Bild ergänzt haben um eine andere Seite. Heinrich Heine spielt da eine Rolle, dann vielleicht noch wirkmächtiger Friedrich Nietzsche, der eben dem apollinischen die dionysische, die wilde, ekstatische Dimension hinzugefügt hat. Regie:Musik unterlegen Sprecherin: Grausiger Mythos von Dionysos, wie er von den Titanen zerrissen wurde! Zitator: Sehet ihn, dem Hörner aufgesteckt, sehet ihn mit seiner Schlangenkrone, Dionysos, Dionysos! Den griffen die Titanen und zerrissen ihn in Stücke. Und vom Blute, das vergossen, entsprießte der Granatenbaum. Doch da nahte Rhea, Göttermutter, 5 sammelt auf und fügt zusammen, was Titanenhass zerriss. Regie: Musik unterlegen Sprecherin: Die Griechenlanddeutungen des 18. und 19. Jahrhunderts berühren uns noch heute und regen unsere Phantasie und Imagination an. Doch merkwürdig: keiner der großen Philhellenen hatte jemals griechischen Boden betreten. Weder Winckelmann noch Goethe, weder Schiller noch Hölderlin, und auch nicht Wilhelm von Humboldt und Friedrich Nietzsche. Sie interessierten sich zwar für das antike Griechenland, aber das Griechenland ihrer eigenen Zeit nahmen sie entweder gar nicht wahr oder nur am Rande, wenn sie wie etwa Friedrich Hölderlin und Wilhelm vom Humboldt den damaligen Freiheitskampf der Griechen gegen die osmanische Fremdherrschaft begrüßten. Heute – angesichts der desolaten Lage Griechenlands – fällt die Begeisterung immer schwerer. Doch manch einer beklagt den Umgang der Politiker und Ökonomen mit der „Wiege der europäischen Kultur“: Zitator: Dem Chaos nah, weil dem Markt nicht gerecht, bist fern Du dem Land, das die Wiege Dir lieh. Was mit der Seele gesucht, gefunden Dir galt, wird abgetan nun, unter Schrottwert taxiert. Als Schuldner nackt an den Pranger gestellt, leidet ein Land, dem Dank zu schulden Dir Redensart war. Sprecherin: So klagt Günter Grass 2012 in seinem umstrittenen Gedicht „Europas Schande“. Doch Klagen allein hilft nicht, ebenso wenig wie idealisierende Graecomania. Lohnenswert hingegen erscheint nach wie vor ein eher unsentimentaler Blick in die Lebens-und Gedankenwelt der griechischen Antike, deren Spuren sich bis heute in Politik und Philosophie, in Literatur, Kunst und Wissenschaft finden. Vor über 2.500 Jahren entstand hier ein Menschenbild, das von Individualität und Selbstbestimmung geprägt war. Einer, der in diesem Sinne das Erbe der antiken Griechen ganz neu bedenkt, ist der Historiker Kai Trampedach. Wie für die Gelehrten des 18. und 19. Jahrhunderts spielen auch für ihn die griechischen Götter eine wichtige Rolle. Aber er idealisiert und verklärt sie nicht, sondern nimmt sich einfach die Göttergeschichten vor, wie sie beispielsweise in Homers Ilias erzählt werden, dem Epos über den Trojanischen Krieg. Regie: Musik unterlegen Zitator: Als aber die Morgenröte heraufkam, gingen hin zum Olymp die ewig lebenden Götter, alle zumal, Zeus führte. Und es flehte zu Zeus Thetis, die silberfüßige Tochter des Alten im Meere, sie flehte um das Leben ihres gemeinsamen Sohnes Achilleus. Da nahte sich die eifersüchtige Hera, Gemahlin des Zeus, und mit stichelnden Worten begann sie: „Mit wem hast du dich, du Schlauer, Listenreicher und Hinterlistiger, wieder beraten? Immer ist es dir lieb, dir Heimliches auszudenken und zu entscheiden, und niemals hast du gewagt, mir offen zu sagen, was du im Sinn hast!“ Ihr antwortete Zeus, der Wolkensammler: „Setze dich hin und schweig und folg meinen Geboten.“ Da kam Hephaistos, der kunstfertige Sohn, seiner Mutter zur Hilfe. „Wahrlich, heillos wird das noch und nicht zu ertragen, wenn ihr beiden um der sterblichen Menschen euch streitet.“ Unauslöschliches Lachen entstand da bei den 6 seligen Göttern, als sie Hephaistos sahen, wie er sich durch die Gemächer humpelnd herum schob. Sprecherin: Solche Szenen ließen sich endlos vermehren. Sie zeigen Götter, die sich menschlich, allzu menschlich verhalten. Die launisch sind und intrigant, unablässig miteinander rivalisieren, den Menschen gegenüber aber unzuverlässig sind. [O-Ton 2: (Kai Trampedach) Dieser schillernde Charakter, der liegt ja darin, dass sie auch die Unwahrheit sagen können, dass sie betrügen können, dass sie Neid empfinden auf Menschen, die ihnen zu nahe kommen. Und alle diese Faktoren, dass macht sie zu idealen Projektionen dichterischer Phantasie. Sprecherin: Das kann auch gar nicht anders sein.] Denn die griechischen Götter wurden nicht durch Offenbarung gestiftet, sondern von Dichtern gefunden – oder besser gesagt: erfunden. [OC O-Ton 3: (Kai Trampedach) Die griechischen Götter sind natürlich Künstlergötter... Sprecherin: (Die griechischen Götter sind Künstlergötter). Geschaffen von Homer, dem ersten großen Epiker des Abendlandes, und von dem Dichtergelehrten Hesiod. Das wussten schon die antiken Griechen selbst. Herodot, der Vater der griechischen Geschichtsschreibung, sagt es jedenfalls unmissverständlich. Zitator: Homer und Hesiod sind es, welche den Griechen ihre Theologie geschaffen und den Göttern ihre Beinamen und Ehren und Fächer zuerteilt, auch ihre Gestalten beschrieben haben. Sprecherin: Diese erdichtete Religion entstand wohl irgendwann im 8. Jahrhundert vor Christus. Welche Folgerungen sind aus ihr zu ziehen? Der Althistoriker Kai Trampedach vertritt eine radikale These:] O-Ton 4: (Kai Trampedach) Die griechischen Götter sind individuelle Göttergestalten, also nicht Götter, die für die Stabilität einer Ordnung stehen, auch wenn die Stadtgöttin Athena später auch für diese Funktion in Anspruch genommen wird oder auch wenn Hesiod den Zeus versucht, in Stellung zu bringen, aber das hat ja letztlich keine durchschlagende Kraft entfaltet. In der Kunst treten uns die Götter als ideale Entitäten entgegen und darüber bleibt natürlich ihre Funktion für die Aufrechterhaltung einer stabilen Ordnung. Sprecherin: Kurzum: mit den griechischen Göttern war kein Staat zu machen. Und das unterscheidet die altgriechische Religion von allen damaligen Religionen, von denen im pharaonischen Ägypten, im mesopotamischen und persischen Kulturraum, von den monotheistischen Religionen im damaligen Judentum und auch im späteren Christentum und Islam. O-Ton 5: (Kai Trampedach) 7 Religion hat ja in vielen Kulturen die Funktion, Stabilität zu verleihen. Und diese Funktion erfüllt Religion in Griechenland jedenfalls nicht in dem gleichen Maße. Wir haben in Griechenland auch keine Institutionen, die diese Sicherung übernehmen. [Wir haben keine Priesterschaft, die einen eigenen Stand darstellt; wir haben auch keine zentrale Macht, kein Königtum, das dann wiederum die Priesterschaft alimentiert, das für Archive sorgt] – das alles fehlt. Sprecherin: Und wo die Religion als normierendes Ordnungssystem weitgehend ausfällt, entsteht eine weitgehend säkulare Gesellschaft, in der Menschen auf sich selbst gestellt sind. Regie: Musik unterlegen, ggf. Chor-Atmosphäre schaffen Zitator: Vielgestaltig ist das Ungeheure, und nichts ist ungeheurer als der Mensch. Sprache und windschnelles Denken und staatenlenkenden Trieb lehrte er sich, (der Mensch); schwer heilbare Krankheiten hat er im Griff; als klug anwendbar besitzt er die Kunst der Erfindung über alles Erwarten, und er schreitet bald zum Schlechten und zum Guten. Wer sich (aber) dem Unrecht ergibt, ausgeschlossen sei er mir als Gast an (heimischem) Herde. Regie: Musik kurz frei, dann weg Sprecherin: Das sind Worte aus dem Chorlied der Antigone, einer Tragödie, die der athenische Dichter Sophokles im Jahre 442 v. Chr. aufführen ließ. Sie künden von der Freiheit des Menschen, vom auf sich selbst gestellt Sein, von Selbstverantwortung, frei von religiöser Bevormundung. Sie feiern die kreativen Möglichkeiten eines von Religion unbeschwerten Lebens. Das hier erstmals vorausleuchtende Menschenbild gehört zum unauslöschlichen Erbe der antiken Lebenswelt – der klassische Grieche, ein Wesen, das dem modernen Menschen in vielem vergleichbar ist. Doch dieser Freiheit sind auch Grenzen gesetzt, wie Sophokles in den letzten Sätzen des Chorgesangs hervorhebt: O-Ton 6: (Kai Trampedach) Er sagt ja am Ende, dass der Mensch ethisch unbestimmt ist, dass er sich sowohl zum Guten als auch zum Schlechten wenden kann, [und am Ende schließt er mit der Aufforderung: der dieses Böse tut, der die Grenzen überschreitet, die ihm als Mensch gesetzt sind, der möge fern bleiben von meinem Herd]. Sprecherin: Und zum Schlechten könnte man einiges rechnen: die unsäglichen Gewaltsamkeiten innerhalb der antiken aristokratischen Familien, die oftmals mit Verrat, Mord und Totschlag endeten. Die immerwährenden größeren und kleineren Fehden zwischen verfeindeten Städten, jede gegen jede, manchmal Allianzen bildend, etwa den Attischen Seebund nach den siegreichen Perserkriegen unter der Herrschaft Athens, oder den Peleponnesischen Bund unter Spartas Führung. 8 O-Ton 7: (Kai Trampedach) Die Verhältnisse in Griechenland sind geprägt von einer sehr hohen Konfliktualität, d. h. der Bürgerkrieg ist eine latente Gefahr. In der Odyssee endet das Ganze mit einem Bürgerkrieg; der Massenmord des Odysseus an den Freiern führt ja unmittelbar in den Bürgerkrieg. Regie: Musik, aggressiv, unterlegen Sprecherin: [OC Die Odyssee, geschrieben irgendwann im 8. Jahrhundert v. Chr. in homerischem Stil, erzählt von den Irrfahrten des Odysseus, der neun Jahre nach Beendigung des Trojanischen Krieges auf die Insel Ithaka zurückkehrt und dort seine ihm treu gebliebene Ehefrau wiedertrifft. Sie wird von Freiern bedrängt, die Hab und Gut des Odysseus verprassen.] Zitator: (Da) sprang er dann, der listenreiche Odysseus, hinauf auf die mächtige Schwelle, Bogen und Köcher in Händen, traf mit bitterem Pfeil er die Kehle des Freiers, der drang durch den zarten Nacken. So traf er immer einen der Freier im Hause mit gezieltem Schuss. Und er sah sie alle, die vielen im Kampfe Gefallnen, liegen in Blut und Staub, wie Fische, also lagen die Freier dort, übereinander geschüttet. Regie:Musik kurz frei, dann weg] Sprecherin: Es gehört nun zu den geschichtlichen Wundern, dass Griechenland nicht in Mord und Totschlag versank. Es war aber nicht die Religion, die zu Befriedungen, zu Ordnungen und Institutionen führte. O-Ton 8:(Kai Trampedach) Die Götter tragen wenig zur konkreten Ausgestaltung von Ordnung in Griechenland bei. Die Menschen müssen die Ordnung selber herausfinden. Sprecherin: Das führt dann dazu, dass zum ersten Mal in der Geschichte Individuen in eigenem Namen sprechen. Ein Beispiel etwa ist Sappho, die Dichterin der Liebe, die schon im 7. Jahrhundert v. Chr. individuelle Töne findet, die man so in der antiken Welt noch nie gehört hat: Regie: Musik (verspielt, vielleicht Harfe, bitte keine Flöte) unterlegen Zitatorin: Ganz im Ernst, ich wäre lieber tot! Herzzerreißend geschluchzt hat beim Abschied sie damals, als sie zu mir so sprach: „O, wie schrecklich ist unser Los, Sappho! Wirklich, nur ungern verlass ich dich.“ Ihr erwiderte drauf ich dies: „Zieh getrost nun hinaus, an mich denk bisweilen! Du weißt, wie umsorgt du warst.“ Sprecherin: Individuelles Selbstbewusstsein findet sich aber nicht nur in Gedichten. 9 O-Ton 9: (Kai Trampedach) In der altorientalischen, einschließlich der hebräischen Literatur gibt es kein solches Autorenbewusstsein. Die wichtigsten Werke werden letztlich auf Offenbarungen Gottes zurückgeführt. Dieses existiert in der griechischen Literatur nicht gleicherweise, weil die Autoren sich sehr selbstbewusst schon im ersten Satz outen, d.h. sich vorstellen, und sich dann häufig absetzen von anderen Autoren. Das finden wir in der Historiographie, das finden wir in der Philosophie, das finden wir auch in der medizinischen Literatur – und da ließen sich noch viele andere Beispiele nennen. Sprecherin: An den altgriechischen, von der Religion emanzipierten Individualismus konnte man erst zweitausend Jahre später wieder anknüpfen, in Renaissance und Neuzeit. Doch der altgriechische Individualismus hat eine andere Quelle; er musste nicht – wie der moderne – gegen starke religiöse Mächte erkämpft werden, sondern erwuchs aus einer religionsschwachen Lebenswelt, in der stattdessen der Wettbewerb eine alles entscheidende Rolle spielte. Aber der Wettbewerb war anders als heute nicht primär ökonomisch bestimmt. Man spricht deshalb lieber von Agonalität, denn alle Lebensbereiche waren von einem Messen um beste Leistungen geprägt. Die kreative Agonalität war sozusagen die friedliche Umwandlung der aggressiven Konfliktbereitschaft, welche die altgriechische Lebenswelt immer bedrohte. O-Ton 10: (Kai Trampedach) Ich glaube, dass das ein ganz entscheidender Punkt ist, dass auf allen Feldern sich Menschen miteinander messen. Diese Wettbewerbsmentalität findet sich ja auch im Sport, bei den olympischen Spielen oder auch bei den pythischen Spielen, wo es auch musische Wettbewerbe gab, sie findet sich in der Tragödie, in der Komödie, wo jedes Mal am Ende ermittelt wird, welcher Dichter die beste Aufführung geboten hat. Regie: Musik unterlegen Sprecherin: Aus dem Siegeslied Pindars für Aristómenes, den Sieger im Ringkampf bei den pythischen Spielen in Delphi, geschrieben im Jahr 446 v. Chr.: Zitator: Freundliche Ruhe, Tochter des Rechts, welche die Städte groß macht, zeige dich (dem) Aristómenes geneigt. Auf vier Leiber warfst du von oben dich, (Aristómenes), um ihnen eine Niederlage zu schaffen. Wem aber jüngst ein Erfolg zufiel, der erhebt sich in hoffnungsbeflügeltem Mannesmut zu überquellender Wonne. Schnell wächst bei den Menschen die Freude, ebenso schnell (aber) fällt diese auch (wieder) zu Boden. Sprecherin: Das sind berühmte Verse, und Pindar dichtete viele, auch für die Sieger bei den olympischen Spielen. Wie blass wirkt daneben die heutige Sprache der olympischen Sportreporter! Und dann die Anrufung der freundlichen Ruhe, Hinweis auf die Friedenspflicht während der Spiele im unfriedlichen Griechenland. Und erst recht das tiefe Wissen, das sportlicher Ruhm nicht alles ist, dass der Mensch sich nicht überheben soll. Denn was ist der Mensch? Pindars Antwort: ein Jemand, der auch in seinen Erfolgen von trauriger Tragik begrenzt wird. Ist dies nicht ein Bild des Menschen, in dem wir uns bis heute wieder erkennen können? 10 Regie: Musik, unterlegen Zitator: Eintagswesen! Was ist einer, was ist einer nicht? Eines Schattens Traum ist der Mensch... Sprecherin: Agonalität beherrschte nicht nur die Körperkultur der Griechen, auch andere Lebensbereiche waren von Wettbewerb geprägt. Und wo es Wettbewerb gibt, gibt es auch Pluralismus der Meinungen, und wo es Pluralismus gibt, da gibt es auch Kritik, auch schärfste Kritik. So machte etwa der Dramendichter Euripides im Jahr 415 v. Chr. mit seiner Tragödie „Die Troerinnen“ gegen die damals in Athen grassierende Kriegsbegeisterung mobil. Er – der Grieche – stellte sich ganz auf die Seite der nichtgriechischen Kriegsopfer. Ergreifend lässt er die Königsmutter Hékabe klagen: Regie: Musik, klagend, unterlegen Zitatorin: (Ich) Unselige, vom Boden erhebe das Haupt, den Nacken: Es gibt kein Troja mehr... Das Schicksal wandelt sich: Ertrag's! Ach, ach! O mächtiger Ahnenstolz, zerfallend nun. Wie bist du doch (nur) ein Nichts... Weh, weh mein Haupt, es schmerzen meine Schläfen... (Es bleibt nur) der Gesang für die Unglücklichen, hinauszuschreien das Unheil.. Sprecherin: Dem Publikum in Athen hat diese radikale Kriegskritik damals wohl nicht besonders gefallen, denn Euripides erhielt beim Dichterwettstreit nicht den ersten Preis. Später jedoch sah man das anders. Vielfältig sind die modernen Bearbeitungen der „Troerinnen“. So knüpfte zum Beispiel Jean Paul Sartre 1965 an Euripides an: Zitator: Führt nur Krieg, ihr blöden Sterblichen, verwüstet nur die Felder und die Städte, schändet nur die Tempel und die Gräber und foltert die Besiegten. Ihr werdet dran verrecken. Alle. Sprecherin: Doch den Griechen ist nicht nur das tragische Drama, sondern auch die Komödie zu verdanken, beides übrigens vom Staat hoch subventioniert. In der Komödie wurde ebenfalls kritisiert. O-Ton 11: (Kai Trampedach) Diese Kritik ist häufig eine sehr stark persönliche Kritik an wichtigen Politikern. Sprecherin: So geschah es Perikles, für die meisten der herausragende Repräsentant des klassischen Griechenlands im 5. Jahrhundert v.Chr. Erfolgreicher Stratege des athenisch-attischen Seebundes, ein großartiger Redner, Bauherr der Akropolis, Freund von Philosophen, den 11 Musen zugetan. Die Komödianten hingegen verspotteten ihn wohl seiner merkwürdigen Kopfform wegen, schalten ihn sogar einen Tyrannen. Regie: Musik, unterlegen Zitator: (spöttisch, übertreibend) Die Zwietracht und Gott Kronos, der Alte, in Liebe vereinigt, zeugten zusammen den mächtigsten aller Tyrannen. Die Götter verliehen ihm den Namen „Köpfeversammler“. Komm her, du Großkopferter. Niedergedrückt von der Last der Geschäfte, sitzt Perikles da in der Stadt, schweren Hauptes, ganz allein. Schaut seinen Kopf, der elf Speisesofas umfasst, aus dem ein lautes Getümmel hervorbricht. Sprecherin: Geradezu kabarettistisch konnte es in Athen zugehen, damals etwas ganz Neues, denn Vergleichbares gab es nicht im zeitgenössischen Ägypten, auch nicht in Babylon, Persien oder Israel. Und dort gab es auch das nicht, was bei den Griechen auf höherer Ebene geschah, auf der Ebene intellektueller, philosophischer Auseinandersetzungen. Nämlich der Durchbruch zum wissenschaftlichen Denken. O-Ton 12: (Kai Trampedach) Auch hier spielt das Agonale, der Wettbewerbsgedanke eine ganz zentrale Rolle. Die Philosophen treten von Anfang an in eigenem Namen auf. Sie versuchen nicht sozusagen hervorzuholen, was die Götter als Offenbarung den Menschen mitgegeben haben, sondern sie selber finden heraus. Sprecherin: Das war auch mit persönlichen Risiken verbunden, wie man an Sokrates sehen kann, der im Jahre 399 v. Chr. zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Seitdem weiß man, dass freies, eigenständiges Denken gefährlich sein kann. [OC Aber was hatte Sokrates eigentlich gemacht? Auf dem Marktplatz herumschlendernd, befragte er einfach die Leute über das Gute und Wahre, über die Tugenden und was sie bedeuteten. Sokrates setzte dabei allein auf rationale Argumentation, was zur Folge hatte, dass angebliche Wahrheitsansprüche und Sicherheiten in Frage gestellt wurden. Geleitet wurde er allein von einer inneren Stimme, seinem Daimónion, einer Art Gewissensinstanz. Er selbst jedoch bekundete ganz bescheiden sein eigenes Nichtwissen: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“. Zitator: Daraus, ihr Männer von Athen, sind mir viele Feindschaften erwachsen, und zwar sehr schlimme und schwere. Wenn ihr mich tötet, werdet ihr nicht so sehr mir Schaden zufügen als vielmehr euch selbst. (Denn) ich bin jemand, der euch unentwegt aufrüttelt, mahnt und schimpft. Und natürlich kann man mich töten oder in die Verbannung schicken, oder man kann mir die bürgerliche Ehre nehmen. Diese Dinge hält man gemeinhin für große Übel, ich aber halte sie nicht dafür.] O-Ton 13: (Kai Trampedach) Sokrates verkörpert eine anthropologische Innovation. Das hört sich sehr hochtrabend an, aber dahinter verbirgt sich eigentlich eine ganz einfache Beobachtung, nämlich: Was die 12 anderen über mich denken und sagen, ist für mich gleichgültig; für mich kommt es darauf an, dass ich meinen eigenen Normen gerecht werde, und diese Normen sind Normen, die sich aus der Vernunft ergeben. Das ist eine Haltung, die heute selbstverständlich ist, aber die zum ersten Mal in dieser Weise von Sokrates formuliert wurde. Sprecherin: Die ungeheuer kreative Agonalität in Sport, Spiel und Gesang, in Theaterkunst und Philosophie - sie wäre wohl nicht möglich gewesen, wenn nicht auch das politische Leben der Stadtgemeinschaften agonal verfasst gewesen wäre. Aus dem politischen Wettstreit ging dann das hervor, was die Griechen als erste Demokratie nannten. [Und wieder gilt, was Kai Trampedach besonders betont: O-Ton 14: (Kai Trampedach) Die gesamte Ordnung (ist) nicht in dem Maße an Traditionen gebunden, wie das in anderen Kulturen der Fall ist, sondern es bildet sich eine Dynamik: Die Menschen sind gleichsam gezwungen, sich über die Möglichkeiten einer stabilen Ordnung Gedanken zu mache, und sie entdecken und entwickeln aus dieser Not heraus Institutionen, die dann zu dem führt, was im Endeffekt Demokratie ist.] Regie: Musik, feierlich Sprecherin: Aus der Totenrede, die Perikles 431 v. Chr. in Erinnerung an die Gefallenen zu Beginn des Peloponnesischen Krieges hielt: Zitator: Wir leben in einer Staatsverfassung, die nicht den Gesetzen der Nachbarn nachstrebt, sondern wir sind eher das Vorbild für andere. Ihr Name ist Demokratie, weil sie nicht auf einer Minderzahl, sondern auf der Mehrzahl der Bürger beruht. Vor dem Gesetz sind alle Bürger gleich. Auch den Armen ist der Weg nicht durch Unscheinbarkeit seines Standes versperrt. Und wie in unserem öffentlichen Leben die Freiheit herrscht, so halten wir (es) auch in unserem Privatleben. Wir lieben die Schönheit und bleiben doch einfach, wir lieben die Weisheit und werden doch nicht schlaff und weichlich. Es scheint mir, dass jeder einzelne Mann bei uns sich wohl in den mannigfaltigsten Formen und mit Anmut in höchster Gewandtheit zu einer unabhängigen Persönlichkeit ausbildet. Kurz gesagt, unsere Stadt ist eine Bildungs- und Erziehungsstätte für ganz Hellas Sprecherin: So lauten einige der Sätze, die bis heute als Gründungsworte der Demokratie gefeiert werden. Überliefert wurde die Rede von dem Historiker Thukydides, der sie vermutlich etwas idealisiert hat. Denn täuschen sollte man sich nicht. O-Ton 15: (Kai Trampedach) In gewisser Weise könnte man sagen ist die athenische Demokratie defizitär. Frauen haben kein Mitspracherecht, Sklaven natürlich auch nicht. Ein weiterer Punkt ist auch noch, dass die wichtigste Verfahrensform nicht die Wahl ist. Für sie war die eigentliche Verfassungsform das Los, die Losung. Das führt dazu, dass die Regierung schwach ist. Und je schwächer die Regierung, umso stärker ist das Volk. Sprecherin: Es ist erstaunlich, dass diese direkte Art von Demokratie – ohne repräsentative Delegierte, ohne Gewaltenteilung, ohne starke Bürokratie - etwa hundertvierzig Jahre relativ erfolgreich 13 funktionierte. Nur zwei Ämter wurden damals nicht durch Auslosung, sondern durch Wahl besetzt. Das eine war das Amt des militärischen Strategen, das andere das Amt des Finanzministers, würde man heute sagen. So löste das antike Griechenland die Frage, wer notfalls für die Schulden und Risiken des Staates haftet: O-Ton 16: (Kai Trampedach) Die Athener waren der Meinung, dass ein Verwalter einer solchen Kasse notfalls auch für Defizite geradestehen musste, d. h. man hat dann eben nur Leute herangezogen, die sehr reich waren und gegebenenfalls solche Defizite ausgleichen konnten aus ihrem Privatvermögen. Das wäre so, wie wenn man Bill Gates zum Finanzminister der Vereinigten Staaten machen würde. Regie: Bitte Musik noch einmal frei, dann weg *****