1 SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen

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SÜDWESTRUNDFUNK
SWR2 Wissen - Manuskriptdienst
Graecomania
Von der Liebe zu Hellas
Autor: Rolf Beyer
Redaktion: Anja Brockert
Regie: Maria Ohmer
Sendung: Donnerstag, 28.02.2013, 8.30 Uhr, SWR 2
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Dieses Manuskript enthält Textpassagen in [Klammern], die aus Zeitgründen in der
ausgestrahlten Sendung gekürzt wurden.
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Regie: Musik, schwebend, geheimnisvoll, unterlegen
Sprecherin:
Im Jahr 1775 berichtet der Kunstgelehrte Johann Joachim Winckelmann von einem
Erweckungserlebnis, das sich ereignete, als er sich in altgriechische Bildwerke vertiefte. Als
er der antiken Götterstatue des Apoll von Belvedere ansichtig wurde, geschah es:
Zitator:
Eine schöne Entrückung hob mich, und leicht suchte ich mich bis zum Thron der höchsten
Schönheit zu schwingen. Über die Menschlichkeit erhaben ist sein Gewächs; Stand, Gang
der Statue zeuget von der ihn erfüllenden Größe, und sein Gang ist wie auf flüchtigen
Fittichen des Windes.
Ansage:
Graecomanía [Betonung: letzte Silbe]. Von der Liebe zu Hellas.
Eine Sendung von Rolf Beyer.
Regie: Musik, schwebend, geheimnisvoll, unterlegen
Sprecherin:
Winckelmann sah auch das Bild einer monumentalen antiken Figurengruppe, die griechische
Bildhauer einst erschaffen hatten: der trojanische Priester Laokoon und seine beiden Söhne
werden von Schlangen umschlungen und grausam erwürgt. Gebannt von der
Laokoongruppe schrieb Winckelmann die berühmten Worte, in denen er das Griechentum
als apollinische Erhabenheit charakterisierte.
Zitator:
Das allgemeine Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt und
stille Größe. So wie die Tiefe des Meeres allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag auch noch
so wüten, ebenso zeigt der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften
eine große und gesetzte Seele.
Sprecherin:
Die Worte des Kunstgelehrten Winckelmann entfalteten eine ungeheure Wirkung. Sie zogen
die lebendigsten Geister seiner Zeit in ihren Bann. Zu ihnen gehörten Goethe, der sich als
Nachfolger Winckelmanns empfand, Lessing, der Winckelmann kritisierte, der Dichter
Hölderlin, der in poetischer Imagination sogar eine Wiederkehr der griechischen Götter
erwartete.
So entstand eine Bewegung, die wir heute kaum noch nachvollziehen können. Geradezu
leidenschaftlich hing man den Erfahrungen und Leistungen der antiken Lebenswelt an.
Diese galt als apollinisch, bestimmt von Schönheit, Maß und Harmonie, gemäß jenen
Worten, die am Tempel von Delphi angebracht waren:
„Gnôti sautón“ - „Erkenne dich selbst“. Und „mädèn ágan“ - „Handle niemals im Übermaß.“
Voller Sehnsucht schaute man auf diese vergangene Welt:
Regie: Musik unterlegen
Zitator:
Schöne Welt, wo bist du? Kehre wieder,
holdes Blütenalter der Natur!
Ach! Nur in dem Feenland der Lieder
lebt noch deine goldne Spur...
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Sprecherin:
Das sind ebenfalls berühmte Worte. Sie stammen von Friedrich Schiller. Etwas anders als
Winckelmann pries er nicht die erhabene Seite, sondern hob die heitere
Menschenfreundlichkeit der griechischen Götter hervor und stellte sie der jüdisch-christlich
geprägten Lebenswelt seiner Zeit entgegen, die – so Schillers Auffassung – von einem
intoleranten Monotheismus beherrscht wurde.
Zitator:
Da die Götter menschlicher noch waren,
waren Menschen göttlicher.
Sprecherin:
Eine Wendung ins Politische erhielt die Griechenverehrung bei Wilhelm von Humboldt. Der
preußische Universalgelehrte und Bildungsreformer konstatierte eine tiefe, kulturell
bestimmte Wesensverwandtschaft zwischen Deutschen und Griechen und förderte die
Antikenbegeisterung zu Beginn des 19. Jahrhunderts, indem er die Gründung altsprachlich
humanistischer Gymnasien beförderte.
In den Zeiten napoleonischer Fremdherrschaft pries Humboldt die freiheitliche Verfasstheit
der griechischen Poleis - der zahlreichen autonomen Stadtgemeinschaften - als Vorbild für
Deutschland.
Zitator:
Deutschland (zeigt) in Sprache, Vielseitigkeit der Bestrebungen, Einfachheit des Sinnes, in
der föderalistischen Verfassung und seinen neuesten Schicksalen eine unleugbare
Ähnlichkeit mit Griechenland.
Sprecherin:
Natürlich blieb - und bleibt - die idealistische Griechenlandverehrung nicht unwidersprochen.
Kai Trampedach, Professor für Alte Geschichte an der Universität Heidelberg:
O-Ton 1: (Kai Trampedach)
Ich würde gegenüber diesem alten - ich nenne es mal humanistischen Bild - festhalten, dass
es sehr einseitig ist. Im 19. Jahrhundert gab es aber dann schon Stimmen, die dieses Bild
ergänzt haben um eine andere Seite. Heinrich Heine spielt da eine Rolle, dann vielleicht
noch wirkmächtiger Friedrich Nietzsche, der eben dem apollinischen die dionysische, die
wilde, ekstatische Dimension hinzugefügt hat.
Regie:Musik unterlegen
Sprecherin:
Grausiger Mythos von Dionysos, wie er von den Titanen zerrissen wurde!
Zitator:
Sehet ihn, dem Hörner aufgesteckt,
sehet ihn mit seiner Schlangenkrone,
Dionysos, Dionysos!
Den griffen die Titanen
und zerrissen ihn in Stücke.
Und vom Blute, das vergossen,
entsprießte der Granatenbaum.
Doch da nahte Rhea, Göttermutter,
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sammelt auf und fügt zusammen,
was Titanenhass zerriss.
Regie: Musik unterlegen
Sprecherin:
Die Griechenlanddeutungen des 18. und 19. Jahrhunderts berühren uns noch heute und
regen unsere Phantasie und Imagination an.
Doch merkwürdig: keiner der großen Philhellenen hatte jemals griechischen Boden betreten.
Weder Winckelmann noch Goethe, weder Schiller noch Hölderlin, und auch nicht Wilhelm
von Humboldt und Friedrich Nietzsche. Sie interessierten sich zwar für das antike
Griechenland, aber das Griechenland ihrer eigenen Zeit nahmen sie entweder gar nicht wahr
oder nur am Rande, wenn sie wie etwa Friedrich Hölderlin und Wilhelm vom Humboldt den
damaligen Freiheitskampf der Griechen gegen die osmanische Fremdherrschaft begrüßten.
Heute – angesichts der desolaten Lage Griechenlands – fällt die Begeisterung immer
schwerer. Doch manch einer beklagt den Umgang der Politiker und Ökonomen mit der
„Wiege der europäischen Kultur“:
Zitator:
Dem Chaos nah, weil dem Markt nicht gerecht, bist fern Du dem Land, das die Wiege Dir
lieh.
Was mit der Seele gesucht, gefunden Dir galt, wird abgetan nun, unter Schrottwert taxiert.
Als Schuldner nackt an den Pranger gestellt, leidet ein Land, dem Dank zu schulden Dir
Redensart war.
Sprecherin:
So klagt Günter Grass 2012 in seinem umstrittenen Gedicht „Europas Schande“. Doch
Klagen allein hilft nicht, ebenso wenig wie idealisierende Graecomania. Lohnenswert
hingegen erscheint nach wie vor ein eher unsentimentaler Blick in die Lebens-und
Gedankenwelt der griechischen Antike, deren Spuren sich bis heute in Politik und
Philosophie, in Literatur, Kunst und Wissenschaft finden. Vor über 2.500 Jahren entstand hier
ein Menschenbild, das von Individualität und Selbstbestimmung geprägt war.
Einer, der in diesem Sinne das Erbe der antiken Griechen ganz neu bedenkt, ist der
Historiker Kai Trampedach. Wie für die Gelehrten des 18. und 19. Jahrhunderts spielen auch
für ihn die griechischen Götter eine wichtige Rolle. Aber er idealisiert und verklärt sie nicht,
sondern nimmt sich einfach die Göttergeschichten vor, wie sie beispielsweise in Homers Ilias
erzählt werden, dem Epos über den Trojanischen Krieg.
Regie: Musik unterlegen
Zitator:
Als aber die Morgenröte heraufkam, gingen hin zum Olymp die ewig lebenden Götter, alle
zumal, Zeus führte. Und es flehte zu Zeus Thetis, die silberfüßige Tochter des Alten im
Meere, sie flehte um das Leben ihres gemeinsamen Sohnes Achilleus. Da nahte sich die
eifersüchtige Hera, Gemahlin des Zeus, und mit stichelnden Worten begann sie: „Mit wem
hast du dich, du Schlauer, Listenreicher und Hinterlistiger, wieder beraten? Immer ist es dir
lieb, dir Heimliches auszudenken und zu entscheiden, und niemals hast du gewagt, mir offen
zu sagen, was du im Sinn hast!“ Ihr antwortete Zeus, der Wolkensammler: „Setze dich hin
und schweig und folg meinen Geboten.“ Da kam Hephaistos, der kunstfertige Sohn, seiner
Mutter zur Hilfe. „Wahrlich, heillos wird das noch und nicht zu ertragen, wenn ihr beiden um
der sterblichen Menschen euch streitet.“ Unauslöschliches Lachen entstand da bei den
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seligen Göttern, als sie Hephaistos sahen, wie er sich durch die Gemächer humpelnd herum
schob.
Sprecherin:
Solche Szenen ließen sich endlos vermehren. Sie zeigen Götter, die sich menschlich, allzu
menschlich verhalten. Die launisch sind und intrigant, unablässig miteinander rivalisieren,
den Menschen gegenüber aber unzuverlässig sind.
[O-Ton 2: (Kai Trampedach)
Dieser schillernde Charakter, der liegt ja darin, dass sie auch die Unwahrheit sagen können,
dass sie betrügen können, dass sie Neid empfinden auf Menschen, die ihnen zu nahe
kommen. Und alle diese Faktoren, dass macht sie zu idealen Projektionen dichterischer
Phantasie.
Sprecherin:
Das kann auch gar nicht anders sein.] Denn die griechischen Götter wurden nicht durch
Offenbarung gestiftet, sondern von Dichtern gefunden – oder besser gesagt: erfunden.
[OC O-Ton 3:
(Kai Trampedach)
Die griechischen Götter sind natürlich Künstlergötter...
Sprecherin:
(Die griechischen Götter sind Künstlergötter). Geschaffen von Homer, dem ersten großen
Epiker des Abendlandes, und von dem Dichtergelehrten Hesiod. Das wussten schon die
antiken Griechen selbst. Herodot, der Vater der griechischen Geschichtsschreibung, sagt es
jedenfalls unmissverständlich.
Zitator:
Homer und Hesiod sind es, welche den Griechen ihre Theologie geschaffen und den Göttern
ihre Beinamen und Ehren und Fächer zuerteilt, auch ihre Gestalten beschrieben haben.
Sprecherin:
Diese erdichtete Religion entstand wohl irgendwann im 8. Jahrhundert vor Christus. Welche
Folgerungen sind aus ihr zu ziehen? Der Althistoriker Kai Trampedach vertritt eine radikale
These:]
O-Ton 4: (Kai Trampedach)
Die griechischen Götter sind individuelle Göttergestalten, also nicht Götter, die für die
Stabilität einer Ordnung stehen, auch wenn die Stadtgöttin Athena später auch für diese
Funktion in Anspruch genommen wird oder auch wenn Hesiod den Zeus versucht, in Stellung
zu bringen, aber das hat ja letztlich keine durchschlagende Kraft entfaltet. In der Kunst treten
uns die Götter als ideale Entitäten entgegen und darüber bleibt natürlich ihre Funktion für die
Aufrechterhaltung einer stabilen Ordnung.
Sprecherin:
Kurzum: mit den griechischen Göttern war kein Staat zu machen. Und das unterscheidet die
altgriechische Religion von allen damaligen Religionen, von denen im pharaonischen
Ägypten, im mesopotamischen und persischen Kulturraum, von den monotheistischen
Religionen im damaligen Judentum und auch im späteren Christentum und Islam.
O-Ton 5: (Kai Trampedach)
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Religion hat ja in vielen Kulturen die Funktion, Stabilität zu verleihen. Und diese Funktion
erfüllt Religion in Griechenland jedenfalls nicht in dem gleichen Maße. Wir haben in
Griechenland auch keine Institutionen, die diese Sicherung übernehmen. [Wir haben keine
Priesterschaft, die einen eigenen Stand darstellt; wir haben auch keine zentrale Macht, kein
Königtum, das dann wiederum die Priesterschaft alimentiert, das für Archive sorgt] – das
alles fehlt.
Sprecherin:
Und wo die Religion als normierendes Ordnungssystem weitgehend ausfällt, entsteht eine
weitgehend säkulare Gesellschaft, in der Menschen auf sich selbst gestellt sind.
Regie: Musik unterlegen, ggf. Chor-Atmosphäre schaffen
Zitator:
Vielgestaltig ist das Ungeheure,
und nichts ist ungeheurer als der Mensch.
Sprache und windschnelles Denken
und staatenlenkenden Trieb lehrte er sich, (der Mensch);
schwer heilbare Krankheiten hat er im Griff;
als klug anwendbar besitzt er die Kunst der Erfindung
über alles Erwarten,
und er schreitet bald zum Schlechten und zum Guten.
Wer sich (aber) dem Unrecht ergibt,
ausgeschlossen sei er mir als Gast an (heimischem) Herde.
Regie: Musik kurz frei, dann weg
Sprecherin:
Das sind Worte aus dem Chorlied der Antigone, einer Tragödie, die der athenische Dichter
Sophokles im Jahre 442 v. Chr. aufführen ließ.
Sie künden von der Freiheit des Menschen, vom auf sich selbst gestellt Sein, von
Selbstverantwortung, frei von religiöser Bevormundung.
Sie feiern die kreativen Möglichkeiten eines von Religion unbeschwerten Lebens.
Das hier erstmals vorausleuchtende Menschenbild gehört zum unauslöschlichen Erbe der
antiken Lebenswelt – der klassische Grieche, ein Wesen, das dem modernen Menschen in
vielem vergleichbar ist.
Doch dieser Freiheit sind auch Grenzen gesetzt, wie Sophokles in den letzten Sätzen des
Chorgesangs hervorhebt:
O-Ton 6: (Kai Trampedach)
Er sagt ja am Ende, dass der Mensch ethisch unbestimmt ist, dass er sich sowohl zum Guten
als auch zum Schlechten wenden kann, [und am Ende schließt er mit der Aufforderung: der
dieses Böse tut, der die Grenzen überschreitet, die ihm als Mensch gesetzt sind, der möge
fern bleiben von meinem Herd].
Sprecherin:
Und zum Schlechten könnte man einiges rechnen: die unsäglichen Gewaltsamkeiten
innerhalb der antiken aristokratischen Familien, die oftmals mit Verrat, Mord und Totschlag
endeten. Die immerwährenden größeren und kleineren Fehden zwischen verfeindeten
Städten, jede gegen jede, manchmal Allianzen bildend, etwa den Attischen Seebund nach
den siegreichen Perserkriegen unter der Herrschaft Athens, oder den Peleponnesischen
Bund unter Spartas Führung.
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O-Ton 7: (Kai Trampedach)
Die Verhältnisse in Griechenland sind geprägt von einer sehr hohen Konfliktualität, d. h. der
Bürgerkrieg ist eine latente Gefahr. In der Odyssee endet das Ganze mit einem Bürgerkrieg;
der Massenmord des Odysseus an den Freiern führt ja unmittelbar in den Bürgerkrieg.
Regie: Musik, aggressiv, unterlegen
Sprecherin:
[OC Die Odyssee, geschrieben irgendwann im 8. Jahrhundert v. Chr. in homerischem Stil,
erzählt von den Irrfahrten des Odysseus, der neun Jahre nach Beendigung des Trojanischen
Krieges auf die Insel Ithaka zurückkehrt und dort seine ihm treu gebliebene Ehefrau
wiedertrifft. Sie wird von Freiern bedrängt, die Hab und Gut des Odysseus verprassen.]
Zitator:
(Da) sprang er dann, der listenreiche Odysseus, hinauf auf die mächtige Schwelle, Bogen
und Köcher in Händen, traf mit bitterem Pfeil er die Kehle des Freiers, der drang durch den
zarten Nacken. So traf er immer einen der Freier im Hause mit gezieltem Schuss. Und er sah
sie alle, die vielen im Kampfe Gefallnen, liegen in Blut und Staub, wie Fische, also lagen die
Freier dort, übereinander geschüttet.
Regie:Musik kurz frei, dann weg]
Sprecherin:
Es gehört nun zu den geschichtlichen Wundern, dass Griechenland nicht in Mord und
Totschlag versank. Es war aber nicht die Religion, die zu Befriedungen, zu Ordnungen und
Institutionen führte.
O-Ton 8:(Kai Trampedach)
Die Götter tragen wenig zur konkreten Ausgestaltung von Ordnung in Griechenland bei. Die
Menschen müssen die Ordnung selber herausfinden.
Sprecherin:
Das führt dann dazu, dass zum ersten Mal in der Geschichte Individuen in eigenem Namen
sprechen. Ein Beispiel etwa ist Sappho, die Dichterin der Liebe, die schon im 7. Jahrhundert
v. Chr. individuelle Töne findet, die man so in der antiken Welt noch nie gehört hat:
Regie: Musik (verspielt, vielleicht Harfe, bitte keine Flöte) unterlegen
Zitatorin:
Ganz im Ernst, ich wäre lieber tot!
Herzzerreißend geschluchzt hat beim Abschied sie damals,
als sie zu mir so sprach:
„O, wie schrecklich ist unser Los,
Sappho! Wirklich, nur ungern verlass ich dich.“
Ihr erwiderte drauf ich dies:
„Zieh getrost nun hinaus,
an mich denk bisweilen!
Du weißt, wie umsorgt du warst.“
Sprecherin:
Individuelles Selbstbewusstsein findet sich aber nicht nur in Gedichten.
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O-Ton 9: (Kai Trampedach)
In der altorientalischen, einschließlich der hebräischen Literatur gibt es kein solches
Autorenbewusstsein. Die wichtigsten Werke werden letztlich auf Offenbarungen Gottes
zurückgeführt. Dieses existiert in der griechischen Literatur nicht gleicherweise, weil die
Autoren sich sehr selbstbewusst schon im ersten Satz outen, d.h. sich vorstellen, und sich
dann häufig absetzen von anderen Autoren. Das finden wir in der Historiographie, das finden
wir in der Philosophie, das finden wir auch in der medizinischen Literatur – und da ließen sich
noch viele andere Beispiele nennen.
Sprecherin:
An den altgriechischen, von der Religion emanzipierten Individualismus konnte man erst
zweitausend Jahre später wieder anknüpfen, in Renaissance und Neuzeit. Doch der
altgriechische Individualismus hat eine andere Quelle; er musste nicht – wie der moderne –
gegen starke religiöse Mächte erkämpft werden, sondern erwuchs aus einer
religionsschwachen Lebenswelt, in der stattdessen der Wettbewerb eine alles entscheidende
Rolle spielte. Aber der Wettbewerb war anders als heute nicht primär ökonomisch bestimmt.
Man spricht deshalb lieber von Agonalität, denn alle Lebensbereiche waren von einem
Messen um beste Leistungen geprägt. Die kreative Agonalität war sozusagen die friedliche
Umwandlung der aggressiven Konfliktbereitschaft, welche die altgriechische Lebenswelt
immer bedrohte.
O-Ton 10: (Kai Trampedach)
Ich glaube, dass das ein ganz entscheidender Punkt ist, dass auf allen Feldern sich
Menschen miteinander messen. Diese Wettbewerbsmentalität findet sich ja auch im Sport,
bei den olympischen Spielen oder auch bei den pythischen Spielen, wo es auch musische
Wettbewerbe gab, sie findet sich in der Tragödie, in der Komödie, wo jedes Mal am Ende
ermittelt wird, welcher Dichter die beste Aufführung geboten hat.
Regie: Musik unterlegen
Sprecherin:
Aus dem Siegeslied Pindars für Aristómenes, den Sieger im Ringkampf bei den pythischen
Spielen in Delphi, geschrieben im Jahr 446 v. Chr.:
Zitator:
Freundliche Ruhe, Tochter des Rechts, welche die Städte groß macht,
zeige dich (dem) Aristómenes geneigt. Auf vier Leiber warfst du von oben dich,
(Aristómenes), um ihnen eine Niederlage zu schaffen. Wem aber jüngst ein Erfolg zufiel, der
erhebt sich in hoffnungsbeflügeltem Mannesmut zu überquellender Wonne. Schnell wächst
bei den Menschen die Freude, ebenso schnell (aber) fällt diese auch (wieder) zu Boden.
Sprecherin:
Das sind berühmte Verse, und Pindar dichtete viele, auch für die Sieger bei den olympischen
Spielen. Wie blass wirkt daneben die heutige Sprache der olympischen Sportreporter! Und
dann die Anrufung der freundlichen Ruhe, Hinweis auf die Friedenspflicht während der Spiele
im unfriedlichen Griechenland.
Und erst recht das tiefe Wissen, das sportlicher Ruhm nicht alles ist, dass der Mensch sich
nicht überheben soll. Denn was ist der Mensch? Pindars Antwort: ein Jemand, der auch in
seinen Erfolgen von trauriger Tragik begrenzt wird. Ist dies nicht ein Bild des Menschen, in
dem wir uns bis heute wieder erkennen können?
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Regie: Musik, unterlegen
Zitator:
Eintagswesen!
Was ist einer, was ist einer nicht?
Eines Schattens Traum ist der Mensch...
Sprecherin:
Agonalität beherrschte nicht nur die Körperkultur der Griechen, auch andere Lebensbereiche
waren von Wettbewerb geprägt. Und wo es Wettbewerb gibt, gibt es auch Pluralismus der
Meinungen, und wo es Pluralismus gibt, da gibt es auch Kritik, auch schärfste Kritik.
So machte etwa der Dramendichter Euripides im Jahr 415 v. Chr. mit seiner Tragödie „Die
Troerinnen“ gegen die damals in Athen grassierende Kriegsbegeisterung mobil. Er – der
Grieche – stellte sich ganz auf die Seite der nichtgriechischen Kriegsopfer. Ergreifend lässt
er die Königsmutter Hékabe klagen:
Regie: Musik, klagend, unterlegen
Zitatorin:
(Ich) Unselige, vom Boden erhebe das Haupt, den Nacken:
Es gibt kein Troja mehr...
Das Schicksal wandelt sich: Ertrag's!
Ach, ach!
O mächtiger Ahnenstolz, zerfallend nun.
Wie bist du doch (nur) ein Nichts...
Weh, weh mein Haupt,
es schmerzen meine Schläfen...
(Es bleibt nur) der Gesang für die Unglücklichen,
hinauszuschreien das Unheil..
Sprecherin:
Dem Publikum in Athen hat diese radikale Kriegskritik damals wohl nicht besonders gefallen,
denn Euripides erhielt beim Dichterwettstreit nicht den ersten Preis.
Später jedoch sah man das anders. Vielfältig sind die modernen Bearbeitungen der
„Troerinnen“. So knüpfte zum Beispiel Jean Paul Sartre 1965 an Euripides an:
Zitator:
Führt nur Krieg, ihr blöden Sterblichen, verwüstet nur die Felder und die Städte, schändet nur
die Tempel und die Gräber und foltert die Besiegten. Ihr werdet dran verrecken. Alle.
Sprecherin:
Doch den Griechen ist nicht nur das tragische Drama, sondern auch die Komödie zu
verdanken, beides übrigens vom Staat hoch subventioniert. In der Komödie wurde ebenfalls
kritisiert.
O-Ton 11: (Kai Trampedach)
Diese Kritik ist häufig eine sehr stark persönliche Kritik an wichtigen Politikern.
Sprecherin:
So geschah es Perikles, für die meisten der herausragende Repräsentant des klassischen
Griechenlands im 5. Jahrhundert v.Chr. Erfolgreicher Stratege des athenisch-attischen
Seebundes, ein großartiger Redner, Bauherr der Akropolis, Freund von Philosophen, den
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Musen zugetan. Die Komödianten hingegen verspotteten ihn wohl seiner merkwürdigen
Kopfform wegen, schalten ihn sogar einen Tyrannen.
Regie: Musik, unterlegen
Zitator:
(spöttisch, übertreibend) Die Zwietracht und Gott Kronos,
der Alte, in Liebe vereinigt,
zeugten zusammen den mächtigsten aller Tyrannen.
Die Götter verliehen ihm den Namen „Köpfeversammler“.
Komm her, du Großkopferter.
Niedergedrückt von der Last der Geschäfte,
sitzt Perikles da in der Stadt, schweren Hauptes, ganz allein.
Schaut seinen Kopf, der elf Speisesofas umfasst,
aus dem ein lautes Getümmel hervorbricht.
Sprecherin:
Geradezu kabarettistisch konnte es in Athen zugehen, damals etwas ganz Neues, denn
Vergleichbares gab es nicht im zeitgenössischen Ägypten, auch nicht in Babylon, Persien
oder Israel.
Und dort gab es auch das nicht, was bei den Griechen auf höherer Ebene geschah, auf der
Ebene intellektueller, philosophischer Auseinandersetzungen. Nämlich der Durchbruch zum
wissenschaftlichen Denken.
O-Ton 12: (Kai Trampedach)
Auch hier spielt das Agonale, der Wettbewerbsgedanke eine ganz zentrale Rolle. Die
Philosophen treten von Anfang an in eigenem Namen auf. Sie versuchen nicht sozusagen
hervorzuholen, was die Götter als Offenbarung den Menschen mitgegeben haben, sondern
sie selber finden heraus.
Sprecherin:
Das war auch mit persönlichen Risiken verbunden, wie man an Sokrates sehen kann, der im
Jahre 399 v. Chr. zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Seitdem weiß man, dass
freies, eigenständiges Denken gefährlich sein kann. [OC Aber was hatte Sokrates eigentlich
gemacht? Auf dem Marktplatz herumschlendernd, befragte er einfach die Leute über das
Gute und Wahre, über die Tugenden und was sie bedeuteten. Sokrates setzte dabei allein
auf rationale Argumentation, was zur Folge hatte, dass angebliche Wahrheitsansprüche und
Sicherheiten in Frage gestellt wurden. Geleitet wurde er allein von einer inneren Stimme,
seinem Daimónion, einer Art Gewissensinstanz. Er selbst jedoch bekundete ganz
bescheiden sein eigenes Nichtwissen: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“.
Zitator:
Daraus, ihr Männer von Athen, sind mir viele Feindschaften erwachsen, und zwar sehr
schlimme und schwere. Wenn ihr mich tötet, werdet ihr nicht so sehr mir Schaden zufügen
als vielmehr euch selbst. (Denn) ich bin jemand, der euch unentwegt aufrüttelt, mahnt und
schimpft. Und natürlich kann man mich töten oder in die Verbannung schicken, oder man
kann mir die bürgerliche Ehre nehmen. Diese Dinge hält man gemeinhin für große Übel, ich
aber halte sie nicht dafür.]
O-Ton 13: (Kai Trampedach)
Sokrates verkörpert eine anthropologische Innovation. Das hört sich sehr hochtrabend an,
aber dahinter verbirgt sich eigentlich eine ganz einfache Beobachtung, nämlich: Was die
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anderen über mich denken und sagen, ist für mich gleichgültig; für mich kommt es darauf an,
dass ich meinen eigenen Normen gerecht werde, und diese Normen sind Normen, die sich
aus der Vernunft ergeben. Das ist eine Haltung, die heute selbstverständlich ist, aber die
zum ersten Mal in dieser Weise von Sokrates formuliert wurde.
Sprecherin:
Die ungeheuer kreative Agonalität in Sport, Spiel und Gesang, in Theaterkunst und
Philosophie - sie wäre wohl nicht möglich gewesen, wenn nicht auch das politische Leben
der Stadtgemeinschaften agonal verfasst gewesen wäre. Aus dem politischen Wettstreit ging
dann das hervor, was die Griechen als erste Demokratie nannten. [Und wieder gilt, was Kai
Trampedach besonders betont:
O-Ton 14: (Kai Trampedach)
Die gesamte Ordnung (ist) nicht in dem Maße an Traditionen gebunden, wie das in anderen
Kulturen der Fall ist, sondern es bildet sich eine Dynamik: Die Menschen sind gleichsam
gezwungen, sich über die Möglichkeiten einer stabilen Ordnung Gedanken zu mache, und
sie entdecken und entwickeln aus dieser Not heraus Institutionen, die dann zu dem führt,
was im Endeffekt Demokratie ist.]
Regie: Musik, feierlich
Sprecherin:
Aus der Totenrede, die Perikles 431 v. Chr. in Erinnerung an die Gefallenen zu Beginn des
Peloponnesischen Krieges hielt:
Zitator:
Wir leben in einer Staatsverfassung, die nicht den Gesetzen der Nachbarn nachstrebt,
sondern wir sind eher das Vorbild für andere. Ihr Name ist Demokratie, weil sie nicht auf
einer Minderzahl, sondern auf der Mehrzahl der Bürger beruht. Vor dem Gesetz sind alle
Bürger gleich. Auch den Armen ist der Weg nicht durch Unscheinbarkeit seines Standes
versperrt. Und wie in unserem öffentlichen Leben die Freiheit herrscht, so halten wir (es)
auch in unserem Privatleben. Wir lieben die Schönheit und bleiben doch einfach, wir lieben
die Weisheit und werden doch nicht schlaff und weichlich. Es scheint mir, dass jeder einzelne
Mann bei uns sich wohl in den mannigfaltigsten Formen und mit Anmut in höchster
Gewandtheit zu einer unabhängigen Persönlichkeit ausbildet. Kurz gesagt, unsere Stadt ist
eine Bildungs- und Erziehungsstätte für ganz Hellas
Sprecherin:
So lauten einige der Sätze, die bis heute als Gründungsworte der Demokratie gefeiert
werden. Überliefert wurde die Rede von dem Historiker Thukydides, der sie vermutlich etwas
idealisiert hat. Denn täuschen sollte man sich nicht.
O-Ton 15: (Kai Trampedach)
In gewisser Weise könnte man sagen ist die athenische Demokratie defizitär. Frauen haben
kein Mitspracherecht, Sklaven natürlich auch nicht. Ein weiterer Punkt ist auch noch, dass
die wichtigste Verfahrensform nicht die Wahl ist. Für sie war die eigentliche Verfassungsform
das Los, die Losung. Das führt dazu, dass die Regierung schwach ist. Und je schwächer die
Regierung, umso stärker ist das Volk.
Sprecherin:
Es ist erstaunlich, dass diese direkte Art von Demokratie – ohne repräsentative Delegierte,
ohne Gewaltenteilung, ohne starke Bürokratie - etwa hundertvierzig Jahre relativ erfolgreich
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funktionierte. Nur zwei Ämter wurden damals nicht durch Auslosung, sondern durch Wahl
besetzt. Das eine war das Amt des militärischen Strategen, das andere das Amt des
Finanzministers, würde man heute sagen. So löste das antike Griechenland die Frage, wer
notfalls für die Schulden und Risiken des Staates haftet:
O-Ton 16: (Kai Trampedach)
Die Athener waren der Meinung, dass ein Verwalter einer solchen Kasse notfalls auch für
Defizite geradestehen musste, d. h. man hat dann eben nur Leute herangezogen, die sehr
reich waren und gegebenenfalls solche Defizite ausgleichen konnten aus ihrem
Privatvermögen. Das wäre so, wie wenn man Bill Gates zum Finanzminister der Vereinigten
Staaten machen würde.
Regie: Bitte Musik noch einmal frei, dann weg
*****
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