1 ___________________________ Hessischer Rundfunk hr2-kultur Redaktion: Volker Bernius hr2Wissen Reformislam 01 … im Spektrum der muslimischen Welt von Ulrike Köppchen Sendung: xy.xy.2015, hr2-kultur Regie: Marlene Breuer Sprecherin: hr2Wi 14-48 Copyright Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Verwendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. 2 Collage aus IS-Nachrichten, Boko Haram und Koranrezitation Sprecherin: Wenig gute Nachrichten gibt es aus der muslimischen Welt derzeit zu vermelden: Stattdessen Terror, Gewalt und Blutvergießen, ob im Irak, in Syrien, in Nigeria oder in Pakistan. Wie nicht zuletzt die antiislamischen Demonstrationen der sogenannten „Pegida“ zeigen, meinen viele, damit offenbare der Islam sein wahres Gesicht. 1. O-Ton: Gudrun Krämer Er tut es natürlich nicht, genauso wenig wie das Christentum in den Kreuzzügen oder in der Zwangsmissionierung von Indianern sein wahres Gesicht gezeigt hat. Er zeigt ein Gesicht, und ich würde sagen, eine Fratze, ein Zerrbild. Sprecherin: Gudrun Krämer, Leiterin des Islamwissenschaftlichen Instituts an der Freien Universität Berlin. 2. O-Ton: Gudrun Krämer Das Problem ist sowohl für die Muslime, die gar nicht in diese Richtung gehen als auch für wissenschaftliche und andere Beobachter, dass sie nun ständig in die Defensive gedrängt werden und immer gegen diese Fratze argumentieren müssen. Es bleibt uns im Moment aber nichts anderes. Sprecherin: Frustrierend ist das nicht nur für die große Masse der Muslime, die mit Gewalt und Extremismus nichts zu tun haben will, auch wenn sie nicht unbedingt die liberalen Werte der Gesellschaften Westeuropas teilt. Noch problematischer ist die Situation für diejenigen Muslime, die sich für einen Islam einsetzen, der mit Demokratie kompatibel ist, genauso wie mit Menschenrechten, Säkularismus und religiösem Pluralismus. Solche Reformer gibt es überall in der islamischen Welt – aber nicht überall in gleichem Maße, sagt die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur von der Universität Hamburg: 3 3. O-Ton: Katajun Amirpur Man findet sie besonders viel an der Peripherie. Nasr Abu Zaid hat mal gesagt, dass vermutlich die Reform eher von der Peripherie ausgehen wird und nicht von den arabischen Ländern, also man sieht es besonders stark in Iran, in Indonesien und in der Türkei. Sprecherin: Es sind Theologen wie der Südafrikaner Farid Esack, Literaturwissenschaftler wie der Ägypter Nasr Amid Abu Zaid, Philosophen wie der Iraner Abdolkarim Soroush. Aber auch Akademiker anderer Fachrichtungen wie zum Beispiel Khaled Abou El Fadl, der an der University of California in Los Angeles Islamisches Recht lehrt. In ihren Heimatländern leben diese Intellektuellen mitunter gefährlich: So wurde der sudanesische Ingenieur und Sufi-Theologe Mahmoud Muhammad Taha 1985 wegen seiner fortschrittlichen Koraninterpretation als Apostat, als Glaubensabtrünniger verurteilt und hingerichtet. Kurzer Musiktrenner Sprecherin: Auch in Ländern, in denen reformorientierte Muslime nicht um Leib und Leben fürchten müssen, sind sie oft nicht sonderlich populär. Man wirft ihnen vor, vom „wahren“ Islam abgefallen zu sein und die Gläubigen zu verunsichern. Vor allem aber mangelnde Authentizität: 4. O-Ton: Gudrun Krämer Das ist das Totschlagargument: du bist hier dem Westen auf den Leim gegangen, du bist ein Papagei, du bist ein Lakai des Westens und du machst dich zum Handlanger westlicher Interessen. Das wird immer wieder Reformern, aufgeschlossenen Leuten ins Gesicht geschleudert. Sprecherin: Die Berliner Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer. Das ist das vielleicht größte Problem für den Reformislam: Dass die Auseinandersetzung darüber, wie die Religion und die muslimische Gesellschaft 4 verfasst sein sollen, ausgetragen wird auf dem Minenfeld einer zumindest imaginären Konfrontation mit dem Westen. Und das schon seit langem: Zwar haben Muslime zu allen Zeiten über eine Verbesserung der Religion und der Gesellschaft nachgedacht. Doch diese Reformbemühungen gewannen an Dynamik und Schärfe erst mit der Kolonialisierung der islamischen Welt im 19. Jahrhundert. 5. O-Ton: Katajun Amirpur Es war ja nun jahrhundertelang die islamische Welt führend, aber zu diesem Zeitpunkt eben nicht mehr, und da hat man sich gefragt, woran kann das gelegen haben? Was können die Ursachen dazu sein? Und kann es vielleicht auch daran liegen, dass beispielsweise unser religiöses Bildungswesen vollkommen erstarrt ist? Dass wir quasi immer nur nachplappern, was die Altvorderen gesagt haben. Dass da kein Raum ist für Innovation, für neue Gedanken, und da müssen wir was tun; also insofern war das tatsächlich dann erstmal der Anstoß… Sprecherin: … für eine Vielzahl von Reformbewegungen, auch Bewegungen wie den Islamismus, in gewisser Weise der feindliche Bruder der fortschrittlichen Reformmuslime: Denn auch der Islamismus basiert auf modernen Ideen und verkörpert keineswegs den ursprünglichen Islam, wie seine Anhänger behaupten: 6. O-Ton: Gudrun Krämer Ihre Vorstellung von einem islamischen Staat, von einer islamischen Ordnung und die Art und Weise, wie sie sie durchsetzen, sind ja auch nicht aus dem Koran geradezu gewachsen, sondern sind Produkt unserer heutigen Zeit mit allem, was dazu gehört: Die Kommunikationstechnologie, die Waffentechnik, derer sie sich bedienen, die hat ja nun nicht der Prophet Mohammed benutzt, und nochmals: einige ihrer Vorstellungen sind eindeutig modernen Ursprungs, und modernen Ursprungs heißt dann auch, in der einen oder anderen Weise vom Westen beeinflusst. Kurzer Musiktrenner Sprecherin: Derzeit sieht es so aus, als hätten vor allem die Islamisten die Deutungshoheit darüber erobert, was unter dem sogenannten „wahren“ Islam zu verstehen sei. Dagegen scheinen die fortschrittlichen Reformkräfte auf verlorenem Posten zu stehen und können ihre Wirkung nur auf Universitätssymposien und in den 5 Talkshows westlicher Fernsehsender entfalten. Doch für hoffnungslos hält die Hamburger Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur die Sache der Reformmuslime nicht. Sie nennt als Beispiel den Iran. Gerade weil man sich dort schon seit 1979 mit einer Theokratie auseinandersetzen musste, die den Koran äußerst restriktiv auslegt, seien die intellektuellen Reformer dort sehr stark vertreten und einflussreich: 7. O-Ton: Katajun Amirpur Dass Iran inzwischen eine ausgesprochen aufgeschlossene und sehr offene Bevölkerungsmehrheit hat, das hat sicherlich auch mit diesen Debatten und mit diesen Intellektuellen zu tun, die da federführend waren. Das hat sich im Staat alles noch nicht so umgesetzt, aber was die Bevölkerung anbelangt, da gibt es ja inzwischen genug Umfragen zu, wie die eigentlich zum Thema Politik und radikalere Lesarten stehen, und da sieht man eben, dass es eine sehr, sehr offene und eine sehr säkulare Gesellschaft ist, einfach eine Gesellschaft, die sagt, Theokratie ist nicht das richtige Modell, sondern westliche Demokratie.