Hessischer Rundfunk Hörfunk – Bildungsprogramm Redaktion: Volker Bernius WISSENSWERT Entfernte Verwandte: Menschen und Tiere (3) Der Mensch und das Nutztier Von Hilde Weeg Mittwoch, 08.02.2006, 08.30 Uhr, hr2 Sprecherin: Sprecher: 06-021 COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Ver-wendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in 1 elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/ der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. Serien Bett, darüber: (O-Ton Collage) (Sounds: Mähen, Muhen, Grunzen, erst frei, dann im Hintergrund, darüber…) Sprecherin: Sie liefern Wolle, Leder, Pelze, damit wir uns warm anziehen können. Sie liefern täglich Milch, Quark, Butter, Eier, Käse und vieles andere. Vor allem aber liefern sie Fleisch. In unvorstellbaren Mengen. Etwa 500 Millionen Tiere werden allein in Deutschland pro Jahr geschlachtet, davon allein 250 Millionen Masthähnchen. Ein verbrauch von 90 Kilo Fleisch pro Kopf. Jedes Jahr. “Obszön” hat das ein Kritiker zu recht genannt. (Sounds Ende). Zitator (in Discounter-Stimme): 1 Kilo Schweinebraten aus der Keule sechs 6 €, 1 Kilo Schweine-Gehacktes 2,49 €, 1 Kilo grobe Bratwurst oder Thüringer Mett, herzhaft gewürzt, heute nur 1,97 (ausblenden) 1 Kilo Rinderbraten aus der Schulter 15,99 €, 1 Kilo Schweinskotelett.... Sprecherin: Wir sind eine allesfressende Spezies, im Fachjargon Omnivoren. Was das bedeutet, erklärt der Evolutionspsychologe Harald Euler: O-Ton Euler 1 Unsere Zähne, unser Verdauungstrakt –Wir können alles Mögliche essen. Wir können uns fast ausschließlich von Pflanzen ernähren, aber auch fast ausschließlich – wie die Innuit – von Tierischer Nahrung – und die sind auch gesund. Sprecherin: In Mitteleuropa müssten Menschen nicht, wie die Innuit, so viele Tiere essen. Sie tun es aber. In Deutschland steht Fleisch in irgendeiner Form fast täglich auf allen Speiseplänen. Ein Grund dafür – neben vielen anderen: das omnivore Dilemma, das der Mensch als Allesfresser hat. Er hat zwar fast unbegrenzt viele Nahrungsmittel zur Verfügung, aber keine Zeit: O-Ton Euler 2 Er muss sich entscheiden. Der Koala-Bär hat das Problem nicht. Und da gibt es Untersuchungen, die zu der Schlussfolgerung kommen: Konzentriere Dich auf wenige Nahrungsmittel, die am besten sind – und lass alles andere unberücksichtigt. Sprecherin: 2 Pech für die Nutztiere, denn hier in unserem Kulturkreis, besonders sogar in Deutschland, haben wir uns aus diesem Dilemma heraus vor allem auf Fleisch konzentriert. Es ist ein hochwertiges Nahrungsmittel, das uns offenbar umso attraktiver erscheint, je billiger es wird. Den Preis dafür aber zahlen die Tiere. Warum das so ist, erklärt der Tiermediziner Georg Ehrhardt von der Uni Giessen am Beispiel der Schweinehaltung. Die meisten Schweine stehen auf Spaltböden, die weder für ihre Gelenke, noch für ihren Spiel- und Erkundungstrieb angemessen sind. Stroh wäre besser für die Tiere. O-Ton Ehrhardt 3 Sie können diesen Schweinen natürlich die Abwechslung anbieten. Die Leistung auf Stroh ist die gleiche. Stroh macht aber zusätzliche Arbeit und damit zusätzliche Kosten und das kann sich der Landwirt nur leisten, wenn nicht eine entsprechende Nachfrage ist, die diesen erhöhten Aufwand bereit ist, zu finanzieren. Sprecherin: Hunderte Millionen Tonnen Billigfleisch sind auf dem Markt. Aber längst nicht alles davon essen die Menschen. O-Ton Ehrhardt 3 b Ein Großteil von diesem Fleisch geht letztendlich in den Bereich der Heimtiernahrung, und hier müssen wir nüchtern erkennen, dass der Verbraucher für seine Katze durchaus bereit ist, pro hundert Gramm Fleisch mehr zu bezahlen, als für das, was er letztendlich an Fleisch für sich in die Pfanne legt. Sprecherin: Noch ein Beispiel: O-Ton Susanne Hartmann 4 Wenn Sie eine Verbraucherin fragen, warum sie ein Ei aus Bodenhaltung kauft, dann sagt sie, das ist ihr Frühstücksei. Und wenn sie eine andere fragen, warum sie die aus der Käfighaltung kauft, dann sagt die – ich brauch die Eier ja nur zum Kuchenbacken. Es ist dem Huhn aber wurscht, was aus dem Ei wird. Sprecherin: Susanne Hartmann, Leiterin des Veterinäramtes in Karlsruhe. Die Konsequenz aus dem Verhalten der Verbraucher bedeutet immer noch Käfighaltung für Legehennen, Spaltböden für Rinder und Schweine und eine Zucht auf permanente Hochleistung, die an die physiologischen Grenzen der Tiere stößt. Eine unhaltbare Situation, bestätigt die Biologin Brigitte Rusche vom Deutschen Tierschutzbund am Beispiel Geflügelzucht. O-Ton Rusche 5 Das hat bei der Zucht dazu geführt, dass die Hühnerrasse, die viele Eier legt, Hähnchen produziert, die so dünn sind, dass man sie nicht mehr essen möchte. Und das hat dazu geführt, dass wir genauso 3 viele Hähnchen in den Mooser schmeißen und auf diese Weise töten, wie wir Legehennen in die Käfige setzen. Das ist mehr als eine Kulturschande, dass wir das hier einfach so hinnehmen. Sprecherin: Der Literaturnobelpreisträger Coetzee und weitere radikale Tierrechtler vergleichen das Leiden der Tiere sogar mit dem Holocaust: Zitator: Rings um uns herrscht ein System der Entwürdigung, der Grausamkeit und des Tötens, das sich mit allem messen kann, wozu das Dritte Reich fähig war, ja es noch in den Schatten stellt, weil unser System kein Ende kennt. Sprecherin: Dieser Vergleich ist hochgradig provokativ und hat heftige Diskussionen ausgelöst. Wir wissen: Tiere sind leidens- und empfindungsfähige Geschöpfe. Aber ist dieser Vergleich gerechtfertigt? Der Philosoph Raimond Gaita schreibt dazu: Zitator: Der Vergleich ist abwegig. (…) Der Vergleich zwischen Auschwitz und einem Schlachthof hat etwas Verletzendes, (…) weil wir das, was in einem Schlachthof geschieht, weder als Mord erleben, noch so erleben können. (…) Man braucht derlei hergeholte Vergleiche nicht, um zu der Überzeugung zu kommen, dass unsere Grausamkeit Tieren gegenüber widerwärtig ist, und um zu wünschen, dass dies zukünftigen Generationen in vollem Umfang bewusst werden wird. Sprecherin: Ein ganzes Volk aus ideologischer Verblendung heraus systematisch vernichten zu wollen und auf brutalste Weise zu demütigen, zu foltern und zu ermorden, gehört zu einer anderen Kategorie menschlicher Grausamkeit. Zwischen dem Mord an Menschen und der Tötung von Tieren wird aber auch juristisch unterschieden: Die Tötung von Tieren ist erlaubt, wo sie notwendig erscheint, die von Menschen aber nicht. Das, was Menschen Tieren schuldig sind und wo sie schuldig werden, liegt auf einer anderen Ebene: Sie haben viel zu lange vermocht, die Leidensfähigkeit von Tieren auszublenden. Die Logik des Philosophen René Descartes bringt diese Haltung den Tieren gegenüber auf den Punkt. Ihm zufolge können Tiere nicht denken – und also auch nicht fühlen. Er nahm an, dass sie wie Automaten funktionierten, durch eine “Maschinerie des Körpers”. Neben anderen Faktoren war es auch eine solche Haltung, die in der Landwirtschaftspolitik der westlichen Welt nach Kriegsende zu vielen Missständen führte. Der Agrarsoziologe Franz Kromka nennt ein Beispiel aus den Hochschulen: O-Ton Kromka 6 4 Bezeichnenderweise wurden die Lehrstühle, die man für die Tierhaltung hatte, in den Nachkriegsjahrzehnten allerorten umbenannt, in Deutschland und in Mitteleuropa generell, und teilweise heißen diese Lehrstühle bis heute Lehrstuhl für Tierproduktion usw. usw. Sprecherin: Aber Menschen sind nicht erst seit Descartes oder im Wirtschaftswunder dem Leid der Nutztiere gegenüber taub geworden. Dass es Schweinen, Rindern oder Milchkühen früher besser ging, ist eine Illusion, die auch mit den Sehnsüchten nach einer heilen Welt zusammen hängt. Norbert Benecke schreibt in seiner “Geschichte der Haustiere”: Zitator: Archäozoologische Befunde, so vor allem verheilte Frakturen an Schienbeinen an Schweinen im Zeitraum vom Neolithikum bis ins Mittelalter lassen vermuten, dass Schweine angebunden waren und sich im Umkreis des Stricks ihr Futter suchen mussten. Das Tüdern, wie diese Art des Anbindens auch bezeichnet wird, erfolgte offenbar unterhalb des Sprunggelenks und konnte so bei einem Aufschrecken der Schweine zu den erwähnten Frakturen führen. O-Ton Ehrhardt, 7 Ich erinnere mich noch gut an meine Jugendzeit, wo die Kälber in der Stallgasse gehalten wurden. Die waren angebunden und haben die Wände abgeleckt, weil sie kein Trinkwasser hatten. Das ist sicher noch für den einen oder anderen heute noch die idealisierte Form der Tierhaltung, und wir müssen heute erkennen, dass die noch weniger tiergerecht war, also sie heute ist, wenn die Kälber in entsprechendenn Boxen stehen, Trinkwasser haben...,Gruppenhaltung ist vorgeschrieben – es gibt also auch positive Entwicklungen für das Tier. Sprecherin: Dennoch ist der Handlungsbedarf in vielen Bereichen offensichtlich. Was kann man für eine Verbesserung der Situation tun? O-Ton Hartmann 8 Ich bin überzeugt, dass nicht die Gesetzesflut nötig ist, sondern eine sehr gute Überwachung – und da haben wir das Personal nicht und es wird weiter abgebaut. Und zweitens ist notwendig, dass der Tierhalter ein sehr gutes Fachwissen hat. Sprecherin: Bedeutet Massentierhaltung automatisch eine für das Tier schlechte Haltungsform? O-Ton Ehrhardt 9 Nein, die Populationsgröße ist nicht die entscheidende Größe. Und das wird auch unterschiedlich empfunden, 500 Tiere beim Schäfer werden nicht als Masse empfunden, das wird akzeptiert. 3 bis 4000 Mastschweine dagegen werden als Massentierhaltung empfunden. Bei der Zahl der Tierhaltung kann immer aber sichergestellt sein, dass das Tier den entsprechenden Stellenwert hat. 5 Sprecherin: Der Philosoph Peter Kunzmann hat ein ethisches Bewertungsmodell für den Umgang mit Nutztieren entwickelt: O-Ton Peter 10 Jede Handlung, die man an einem Nutztier vollzieht, muss sich einer Reihe von Tests unterziehen. Und nur, wenn es diese Tests überstanden hat, dann ist die Handlung gerechtfertigt. Sprecherin: Als Ideal werden die fünf Freiheiten angesehen für Nutztiere, die das Farm Animal Welfare Council so beschreibt: (evtl. akustisch einbinden, mit Tiergeräuschen?) Zitator: Freiheit von Hunger und Durst durch Zugang zu Wasser und gesunder Nahrung Freisein von Unbehagen – durch eine angemessene Umgebung Freisein von Schmerzen, Verletzungen und Krankheiten – durch Prävention oder Behandlung Freisein zum Ausleben normaler Verhaltensweisen – durch angemessene Einrichtungen und Kontakt zu Artgenossen Freisein von Angst und Leiden – durch Vermeiden von psychischem Leiden und Stress. Sprecherin: Bis es soweit ist, wird es noch lange dauern. Das Bild der Nutztierhaltung, das auch die Lobby der Landwirte und viele andere gerne aufrecht erhalten, ist das vom idyllischen Kleinbauernhof. Es wird Zeit, dieses Bild zurecht zu rücken: O-Ton Kunzmann 11 Es gibt immer noch keine Kinderbücher, in denen ein Bauer 50 Kühe hat, oder 100, oder 200 Muttersauen. Das Kinderbuch ist immer noch genau das, was dieses Idyll transportiert, dass da ein paar Hühner rumlaufen, und ein Hund fröhlich bellt, so hats halt früher auch nicht ausgesehen, üblicherweise. Und es ist die Neigung des kulturgestressten Mitteleuropäers, diese Vergangenheit zu glorifizieren. (Serien-Bett Ende) hr2-Entfernte Verwandte 6.2.-10.2.06 Literatur (Auswahl): Norbert Benecke: Der Mensch und seine Haustiere, Theiss Verlag 1994 Roger Busch/Peter Kunzmann: Leben von und mit Tieren, Ethisches Bewertungsmodell zur Tierhaltung in der Landwirtschaft, Utz Verlag, 2. Aufl. 2005 6 J.M. Coetzee: Das Leben der Tiere, Fischer Verlag 3. Aufl. 2003 Hellmut von Cube: Tierskizzenbüchlein, Fischer 2005 (Erstauflage 1935) Raimond Gaita: Der Hund des Philosophen, Verlag Rogner & Bernhard 2003 Corinna Gericke und Astrid Reinke: Was sie immer schon über Tierversuche wissen wollten, Echo Verlag 2005 Robert Gernhardt: Lichte Gedichte, Fischer Verlag 1999; Und: Was Deine Katze wirklich denkt, Heyne 2000 Peter Hamm: Welches Tier gehört zu Dir?, Hanser Verlag 1999 Franz Kromka: Mensch und Tier, BLT/Lübbe 2000 Thomas Mann: Herr und Hund, z.B: Fischer Verlag 2005 Elizabeth Marshall Thomas: Die Hundegesellschaft, vom Glück mit Vierbeinern, Rowohlt 2002 Michel de Montaigne: Essais, z.B. Insel Verlag 2001 Robert Musil: Nachlass zu Lebzeiten, Rowohlt 1957 Dominik Perler, Markus Wild (Hrsg.): Der Geist der Tiere, philosophische Texte zu einer aktuellen Diskussion, Suhrkamp 2005 Cord Riechelmann: Bestiarium – Der Zoo als Welt – die Welt im Zoo, Eichborn 2003 Monty Roberts: Das Wissen der Pferde, Lübbe 2002; Und: Der mit den Pferden spricht, Lübbe 1999 Arthur Schopenhauer: Über das Mitleid, z.B. dtv 2005 Gabriele Spengler, Joachim Kallinich (Hrsg.): Tierische Kommunikation, Edition Braus im Wachter Verlag, 2004 Albert Schweitzer: Die Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus fünf Jahrzehnten Frans de Waal: Der Affe und der Sushimeister, dtv Und: Der kluge Affe, dtv 7 Tierschutzbericht des Verbraucherschutzministeriums Error! Reference source not found. Tierschutzgesetz www.gesetze-im-internet.de/ bundesrecht/tierschg/gesamt.pdf 8