1 Hessischer Rundfunk Hörfunk – Bildungsprogramm Redaktion: Christiane Knauf WISSENSWERT Schulpflicht contra Homeschooling Von Birgitta M. Schulte Sendung: Dienstag, 30.01.2007, 08:30 Uhr, hr2 Sprecherin: Zitatorin: Zitator: O-Ton: 07-002 COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Verwendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/ der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. 2 ZITATORIN Das erste Wort, das ich schreibe, ist AME, mein chinesischer Name. Ich bin fünf Jahre alt, und wir leben in Nanking. Bisher habe ich nur mit Inbrunst gemalt: unsere Tiere, Sonne, Mond und ungelenke Männchen, die meine Geschwister und die Eltern darstellen sollten. Jetzt endlich zeigt mir mein Vater, wie ich meinen eigenen Namen schreiben kann, und es wirkt wie geheimnisvolle Magie. Es ist ein außergewöhnlicher Zaubertrick, den er mir beibringt. Ich sehe die drei Zeichen und weiß: Das bin ich. Es ist Hexerei. Neben meinen Bildern ist nun eine zweite Welt entstanden. Ich lerne lesen und schreiben, und beginne, diese Welt für mich zu erobern, denke mir Geschichten aus und schreibe sie heimlich auf. SPRECHERIN So erinnert sich die Krimi-Autorin Ingrid Noll. Ihre Kindheit liegt lange zurück. Als Tochter eines deutschen Arztes wurde sie in Shanghai geboren und verbrachte die ersten 14 Jahre ihres Lebens in China. Ihren Kindheitsort empfand sie als Paradies: ZITATORIN Unser Haus in Nanking, wo wir mit Puppen Theater spielen, malen und gemeinsam singen. Ich lese früh, was mir von den Schätzen unserer Bibliothek in die Hände fällt, auch wenn ich vieles noch gar nicht verstehe. Ich bin etwa zehn, als ich mich in einen jungen Mann mit feinem Gesicht und hübschen Locken verliebe. Er heißt Heinrich Heine und lächelt mir aus einem Buch entgegen. Es heißt, er habe kein Glück mit den Frauen gehabt, aber ich weiß genau, dass ich ihn verstanden hätte und er mit mir glücklich geworden wäre. Als wir 1949 China verlassen, zerreiße ich alle meine Geschichten und vergrabe die Papierfetzen im Garten. 13 Jahre lang hab ich in unserer chinesischen Familienversion des Gartens Eden gelebt. Ein überaus schöpferisches und lehrreiches Leben. Fast ohne Schule. 3 SPRECHERIN Mit Schule wäre die Kreativität der Ingrid Noll vielleicht nicht so angeregt worden. Es kann also gelingen, das Aufwachsen ohne Schule. Aber es ist die Ausnahme. In bestimmten Fällen dürfen Diplomaten im Ausland zum Beispiel ihre Kinder selbst unterrichten, allerdings nach vorgeschriebenen Lehrplänen. Aber es gibt auch andere Motive, die Eltern dazu bewegen, ihre Kinder selbst zu unterrichten. Oft ist ein erzieherisches Interesse der Grund, aus dem Eltern sich der Homeschooling-Bewegung anschließen. Vor allem in den USA. Die Schulen, auch die privaten, sind ihnen zu voll, die staatlichen Schulen zu schlecht, die Konformität stört sie, die Betreuung reicht ihnen nicht aus. ZITATOR Eltern, die zu Hause unterrichten, sind entweder Pädagogen oder Ideologen. SPRECHERIN In Deutschland fallen die Ideologen auf. Sie stören sich an bestimmten Unterrichtsinhalten: Am Sexualkundeunterricht, an einem zu körperbetonten Sportunterricht, an der Darwinschen Evolutionslehre, in der ihnen die Hand des Schöpfers fehlt. Der Unterricht ist ihnen zu wenig religiös grundiert oder transportiert ihrer Meinung nach die falsche Glaubensauffassung. Nicht selten schicken christliche Fundamentalisten ihre Kinder von Schule zu Schule, weil sie selbst in ausgewählten Privatschulen nicht die richtige Lehre vertreten finden. So unterrichten sie ihre Kinder lieber selbst und kämpfen vor Gericht um die Erlaubnis dazu. Ihr Feindbild heißt “Schulpflicht”. Tatsächlich begründen Gerichte ihre Entscheidungen so: die Schulpflicht habe grundsätzlich Vorrang vor dem Erziehungsrecht der Eltern. Denn in Deutschland gibt es eine Schulpflicht, nicht nur eine Unterrichtspflicht wie in anderen, auch europäischen Ländern. 4 ZITATOR “Wir vernehmen missfällig und wird verschiedentlich von denen Inspectoren und Predigern bey Uns geklaget, dass die Eltern, absonderlich auf dem Lande, in Schickung ihrer Kinder zur Schule sich sehr säumig erzeigen, und dadurch die arme Jugend in große Unwissenheit, so wohl was das lesen, schreiben und rechnen betrifft, als auch in denen zu ihrem Heyl und Seligkeit dienenden höchstnötigen Stücken aufwachsen lassen. SPRECHERIN Das Edikt des Soldatenkönigs, Preußen 1717 ZITATOR “... Weshalb wir umb diesem hoechst verderblichen Uebel auff ein mahl abzuhelffen in Gnaden resolviret, dieses Unser General Edict ergehen zu lassen, und darinn allergnaedigst und ernstlich zu verordnen, daß hinkuenftig an denen Orten wo Schulen seyn, die Eltern bey nachdruecklicher Straffe gehalten seyn sollen Ihre Kinder gegen Zwey Dreyer Wochentliches Schuel Geld ...zum wenigsten ein oder zweymal die Woche, ... in die Schuel zuschicken. Falß aber die Eltern das Vermoegen nicht haetten; So wollen wir daß solche Zwey Dreyer aus jeden Orts Allmosen bezahlet werden sollen.” O-TON PETER LUNDGREEN Man muss bei diesen frühen Edikten eigentlich noch weiter zurückdenken bis zu Martin Luther, sprich also frühes 16. Jahrhundert, seit dieser Zeit besteht die Absicht, den guten Christen im protestantischen Deutschland zunächst auch schon über die Schulbildung heranzuziehen, so dass also eine der wichtigsten Wurzeln dessen, was man später Volksschule nennt, die Idee ist, der heranwachsende Junge, das heranwachsende Mädchen soll vor der Konfirmation, vor dem 14 Lebensjahr bereits christliche Unterweisung in der Schule haben. Das ist die erste Wurzel. SPRECHERIN sagt Professor Peter Lundgreen, Bildunghistoriker in Göttingen. Der Hinweis auf Luther ist ihm sehr wichtig, 5 O-TON PETER LUNDGREEN weil Luther eben wollte, dass der einzelne individuelle Christ selber die Heilige Schrift lesen können soll. Daher stammt der in weltgeschichtlicher Sicht hochbedeutsame Impuls, dass jeder Mensch lesen können soll, eine Sache, die überhaupt nicht selbstverständlich ist. Bis dahin gab es überhaupt keinen Grund, dass jeder Mensch lesen können sollte. SPRECHERIN In katholischen Ländern wie Spanien oder Italien lehrten Bilder, die Ausmalung der Kirchen zum Beispiel, die Heilsgeschichte. Luther aber wollte den selbständigen Christen O-TON PETER LUDGREEN Und das ist ein ganz, ganz wichtiger Impuls, auch wenn man ihn nicht mit einem bestimmten Gesetzesdatum fixieren kann. Wenn man nämlich diese Texte alle liest und die Gesangbuchverse alle auswendig lernt, dann hat man eine über Jahrhunderte laufende mündliche Kultur, die aber schriftlich fixiert ist, internalisiert, und auch das ist von einer unglaublichen, über Jahrhunderte laufenden Prägung des Menschen. Nicht nur Untertanenerziehung, nicht nur Steuerstaat und Militär, sondern eben auch Bildung, Bildung, Massenbildung. SPRECHERIN Schulordnungen des 17. und 18. Jahrhunderts sprechen zunehmend von Schulpflicht und Schulerhaltungspflicht auf dem Lande. Während es 1717, zur Zeit des Schuledikts des Soldatenkönigs, nur 320 Dorfschulen hab, waren es am Ende seiner Regentschaft fast 1500. O-TON PETER LUDGREEN Spätere Etappen, wenn Sie nach der Schulpflicht fragen, ist sicherlich das Generallandschulreglement von 1763, und dann die Vorstellung des allgemeinen Landrechts in Preußen, dass die Schule eine Veranstaltung des Staates sei, aus dem späten 18. Jh. Und dann natürlich die Bildungsreformen, die mit dem Namen Wilhelm von Humboldt verknüpft sind im frühen 19. Jh. SPRCHERIN zählt Peter Lundgreen auf, um noch einmal zu betonen: 6 O-TON PETER LUNDGREEN aber auch das sind alles Daten, die noch immer den feinen Unterschied aufrecht erhalten zwischen Schulpflicht und Unterrichtspflicht. Man hat auch damals noch konzediert, nicht jeder Knabe, nicht jedes Mädchen muss zur Schule gehen, es muss nur sichergestellt sein, dass Unterricht gewährleistet ist. Eine formelle Etablierung der Schulpflicht ist erst mit dem Ende des Kaiserreichs und dem Beginn der Weimarer Republik 1919 überhaupt festgestellt worden. SPRECHERIN Die Schulpflicht sorgt in Deutschland dafür, dass alle Kinder Zugang zu Bildung erhalten, auch die, deren Eltern selbst nicht viel lernen durften. Bildung ist ein Tor zur Welt, zu Geld, zur Freiheit. Eine Grundlage der Entscheidungsfreiheit: beim Wählen zum Beispiel. So nimmt der deutsche Staat seine Erziehungsgewalt wahr, “um das Kind zu einem selbstverantwortlichen Mitglied der Gesellschaft heranzubilden”. Daran müsste eigentlich auch der amerikanische Staat Interesse haben, er pocht aber nicht auf eine Schulpflicht. Wendelin Sroka vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung: O-TON SROKA In der Tat haben wir ganz unterschiedliche Kulturen mit Blick auf das Verhältnis von Staat und Erziehung, von Staat und Eltern. In Deutschland haben wir die Tradition, dass es einmal das Recht der Eltern auf Erziehung und auch die Pflicht der Eltern zur Erziehung ihrer Kinder gibt, aber gleichwertig dazu eben die Pflicht des Staates, sich um die Erziehung und Bildung der Kinder zu kümmern. Man beruft sich in der Regel auf Artikel 7 des Grundgesetzes, leitet daraus auch dann eine Schulpflicht der Kinder ab und das Recht des Staates, diese Schulpflicht einzufordern. In den USA, und übrigens auch in der Mehrzahl der europäischen Länder, gibt es diese Tradition, diese Sichtweise nicht, jedenfalls nicht in dieser Ausprägung, und man findet immer Wege zu sagen, dass die Eltern eine große Verantwortung und auch eine große Freiheit haben, um die Erziehung und Bildung der Kinder zu betreiben. ZITATOR “Der Unterricht zu Hause leistet einen bedeutsamen Beitrag zu diesem wichtigen Anliegen, indem er es Eltern ermöglicht, eine 7 aktivere und unmittelbare Rolle bei der Bildung ihrer Kinder zu übernehmen.” George W. Bush 2001 SPRECHERIN Sagt der amerikanische Präsident das, weil er selbst ein christlicher Fundamentalist ist? Eltern, die in den USA ihre Kinder zu Hause unterrichten, seien zunehmend religiös, konservativ, weiß und akademisch gebildet, so eine amerikanische Studie. Und die Werbung verspricht Bücher wie ZITATOR “Always Evolution-free” – frei von Evolutionslehre SPRECHERIN Home-Schooling findet aber nicht nur bei christlichen Fundamentalisten Akzeptanz. Der amerikanischen Studie nach stieg die Zahl der Befürworter von 16 Prozent im Jahr 1985 auf 41 Prozent im Jahr 2001. Es werden auch immer mehr Kinder zu Hause unterrichtet. Wendelin Sroka bezieht sich auf Zahlen des US Department for Education aus dem Jahr 2005: O-TON SROKA danach sind es gegenwärtig 1,1 Millionen Kinder, das entspricht etwa zwei Prozent einer Altersgruppe, die einer Unterrichtspflicht unterliegen, wobei allerdings diese Zahlen - und das sagt auch das Department - sehr stark ansteigen. Man hat einen Anstieg, der zehn Mal höher ist als der Anstieg der Zahl der schulpflichtigen Kinder. Man muss an dieser Stelle noch dazu sagen, und das unterscheidet die Situation sicher von Deutschland auch, wo wir ja eine sehr kleine Homeschooling-Bewegung haben, könnte man sagen, jedenfalls wenn man die Zahlen betrachtet, dass in den USA diese Bewegung sehr vielfältig ist und durchaus nicht nur aus religiösen Gründen Eltern ihre Kinder zu Hause erziehen, sondern es gibt eine ganze Reihe unterschiedlichster Motive, und soweit es eine Forschung gibt, auch in den USA, stellt man fest, dass die Eltern, die diese Entscheidung treffen, allmählich sich dem mainstream dessen, was Eltern und Gesellschaft bedeuten, auch anschließen. Das heißt, wir haben eine ganz andere Situation als in Deutschland. 8 SPRECHERIN In den USA hat Homeschooling schon deshalb eine Tradition, weil das Land im 18. und 19. Jahrhundert wenig besiedelt war und die Entfernungen zu Schulen viel zu groß gewesen wären. Heute sind die Lehrkräfte der öffentlichen Schulen oft weniger qualifiziert als in Deutschland. Zudem fürchten die Eltern Aggression, Alkohol, Drogen und sexuelle Gewalt. Manchen aber passt die Schule einfach nicht zu ihrem Lebensstil. Die New York Times berichtet von einem Vater, der sein Geld mit dem Verkauf von schnellen Booten verdient und daher ständig auf dem Wasser unterwegs ist. Er hat, wie immer mehr Väter, einen Hauslehrer angestellt. Das erinnert an die Welt, in der Ingrid Noll aufgewachsen ist: ZITATORIN Wir haben Diener, die in einem eigenen Trakt unter sich leben. Einen Koch, einen Boy, einen Kuli zum Putzen, eine Frau, die für uns wäscht. Wir Kinder schleichen uns abends häufig in die Küche des Dienerhauses, wo man gemeinsam auf Holzböcken sitzt und gut gewürzte Happen verzehrt. Hier ist es interessanter als in unserem Zimmer. SPRECHERIN Eine anregende Lernumgebung eben. Grund genug, auf Homeschooling umzusteigen? O-TON RENATE STUBENRAUCH Es ist ein Grund, die Schule anders zu gestalten. SPRECHERIN meint Renate Stubenrauch, Mitbegründerin der Freien Schule Frankfurt, O-TON RENATE STUBENRAUCH Denn ich denke, Kinder brauchen Kinder. Das ist eine meiner wichtigsten Thesen, dass Kinder nicht immer nur durch die Erwachsenen, dass sie durch andere Kinder sehr viel lernen. Also wenn ich mir den Garten vorstelle, in dem die Ingrid Noll groß 9 geworden ist, dann stell ich mir das schon als eine außergewöhnlich tolle Situation vor, aber so wünschte ich mir die Schule.