Hessischer Rundfunk hr2-kultur Redaktion: Dr. Karl-Heinz Wellmann Wissenswert Charles Darwin zum 200. Geburtstag (4): Evolutionsforschung heute Von Dagmar Röhrlich Donnerstag, 12.02.2009, 08.30 Uhr, hr2-kultur Sprecherin: Sabine Weithöner Sprecher: Jochen Nix Erzähler: Marian Funk 09-015 COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Verwendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/ der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. Seite 2 Regie Musik, kurz freistehend, danach unterm Text Erzähler: Die Bouvet-Insel am Ende der Welt, irgendwo im Südatlantik, zwischen dem Kap der Guten Hoffnung und der Antarktis. Die wütende Brandung hat steile Klippen aus dem Basalt geschnitten. Ansonsten sieht man nichts von den Steinen: ein Gletscher hüllt die Bouvet-Insel ein. Hier ist es immer kalt, und Besucher sind selten. 1928 ist ein norwegisches Forschungsschiff vorbei gekommen, und der Schiffsbiologe Ditlaf Rustad fing ein paar seltsame Fische. Sie hatten große Augen und einen langen, vorstehenden Kiefer voller Zähne. Sie waren völlig blass, fast durchsichtig – und sie hatten farbloses Blut. Regie Musik, kurz freistehend, dann weg Sprecherin: Aber alle Wirbeltiere besitzen rote Blutkörperchen; in ihnen steckt das eisenhaltige Atempigment Hämoglobin! So stand es in den Lehrbüchern, bis 1954. Dann veröffentlichte der Tierphysiologe Johan Ruud, dass im Blut der antarktischen Eisfische kein bisschen Hämoglobin steckt. Jedes andere Wirbeltier würde ohne diesen roten Farbstoff sofort sterben, denn das Hämoglobin bindet in Kiemen oder Lungen reichlich Sauerstoff an sich, und im Blutstrom gelangt der Sauerstoff bis in die entlegendsten Ecken des Körpers. O-Ton 2, Leinfelder Nichts ist kategorisch in der Biologie, das würde auch gar nicht zur Theorie von Darwin passen, der da sagt: Alles ist im Fluss. Seite 3 Sprecherin: Reinhold Leinfelder, er ist Leiter des Deutschen Museums für Naturkunde in Berlin. Aber wie konnte im Verlauf der Evolution diese merkwürdige Eigenheit entstehen? Die Antwort lieferte die Untersuchung der Eisfisch-DNA, also ihrer Erbanlagen – eine Vorgehensweise, von der Darwin noch nicht einmal träumen konnte. Wie Vererbung funktioniert, das wusste damals niemand. O-Ton 3, Leinfelder Das waren Dinge, die Darwin nicht lösen konnte. Es war nicht bekannt, wie diese Informationen weitergegeben werden könnten. Sprecherin: Auch über die Zeit, die der Evolution zur Verfügung stand, um die Vielfalt des Lebens zu entwickeln, gab es nur Vermutungen. Mitte des 19. Jahrhunderts glaubte der gebildete Bürger, dass sein Planet einige Millionen Jahre alt sei, allenfalls einige zehn Millionen Jahre. Darwin erkannte, dass das für die Entwicklung der Arten nicht ausgereicht haben kann – und das bereitete ihm Ungemach beim Formulieren seiner Theorie. Heute hat sich dieses Problem in Wohlgefallen aufgelöst. Die Erde ist viereinhalb Milliarden Jahre alt, und wahrscheinlich ist sie schon seit dreieinhalb oder vier Milliarden Jahren belebt. Zeit für die Artenentstehung gab es also reichlich. Außerdem wissen wir heute, wie Vererbung funktioniert – auch durch Laborstudien. O-Ton 4, Caroll So I think Darwin would be delighted to learn about molecular biology. Sprecher: Darwin wäre begeistert gewesen, etwas über Molekularbiologie zu erfahren, weil viel von der Biologie im 21. Jahrhundert genau in seinem Geist durchgeführt wird und wir uns die Fragen stellen, mit denen er sich auch beschäftigen würde. Wir arbeiten heute noch immer an der Beantwortung von Fragen, die er aufgeworfen hat. Aber zu seiner Zeit gab es noch keine Technologie, mit der man diesen Fragen hätte nachgehen können. Seite 4 Sprecherin: Unsere Kenntnisse über einzelne Gene oder das komplette Erbgut bestimmter Organismen vermehren sich so rasch, dass man sogar kleinere Veränderungen im Erbgut nachvollziehen kann, erklärt Sean Carroll; er ist Molekular- und Evolutionsbiologe an der University of Wisconsin in Madison, USA. Jeder Evolutionsschritt findet in der DNA statt und hinterlässt verräterische Spuren in ihr. Auch im Erbgut der Eisfische. O-Ton 5, Carroll Well their red blood cell genes – Sprecher: Von den Genen, die die roten Blutkörperchen kodieren, ist eines völlig verschwunden und ein anderes nur noch ein Fragment. Wenn wir uns die DNA als einen Text mit vier Buchstaben vorstellen, sehen wir zwar noch ein Stück vom Text, aber er ist unvollständig, und das Gen funktioniert nicht mehr. Es ist zu einem Fossil innerhalb der DNA geworden, ein molekulares Fossil. Aber dieses Fossil erzählt uns, dass die Ahnen dieser Fische rote Blutkörperchen hatten und funktionierende Gene zur Herstellung von Hämoglobin, aber die heutigen Eisfische haben das nicht mehr. Sprecherin: Vor Neuseeland leben Verwandte der Eisfische, und die haben noch ihr rotes Blut. Die DNA der Eisfische verrät, wie und wann dieser Verlust abgelaufen ist – und andere wissenschaftliche Fakten unterstützen die Befunde aus der DNAAnalyse. Regie Musik, kurz freistehend, danach unterm Text Seite 5 Erzähler: Es beginnt vor mehr als 50 Millionen Jahren. Das Klima in der Antarktis ist noch subtropisch warm. Aber die Kontinente werden Jahr für Jahr und Zentimeter für Zentimeter ein wenig verschoben. Vor 30 Millionen Jahren zerreißt die letzte Landverbindung zwischen der Antarktis und Südamerika. Die Drake-Passage öffnet sich. Der sechste Kontinent liegt nun isoliert, weit unten im Süden. Plötzlich fließt ein Ring aus kaltem Wasser um die Antarktis, isoliert sie: Ein mächtiger Eispanzer beginnt zu wachsen – und der Meeresring wird kälter und kälter. Schließlich fallen die Wassertemperaturen unter den Gefrierpunkt. Regie Musik, kurz freistehend, danach weg Sprecherin: Das sind schwierige Verhältnisse für wechselwarme Tiere wie Fische: Ihr Blut wird bei Kälte zähflüssig, irgendwann kann es nicht mehr durch den Körper pulsieren. O-Ton 6, Carroll Most fish either migrated or died out in that ultracold water Sprecher: In diesem eiskalten Wasser starben die meisten Fische aus, die es nicht geschafft hatten, rechtzeitig wegzuwandern. Aber eine bestimmte Gruppe der Fische blühte auf. Diese Fische hatten eines gemeinsam: Sie entwickelten molekulare Frostschutzmittel, und einige verzichteten dabei sogar auf die roten Blutkörperchen. Seite 6 Sprecherin: Um ihr Blut so flüssig wie nötig zu halten, reduzierten viele Antarktisfische die Zahl ihrer roten Blutkörperchen – und dabei gingen die Eisfische weiter als die anderen. In der Wasserwelt, in der sie nun lebten, brauchten sie keine Spezialmoleküle zum Sauerstofftransport mehr, denn kaltes Wasser ist sehr viel sauerstoffreicher als warmes. Große Kiemen und große Blutgefäße, eine schuppenlose, gasdurchlässige Haut und ein besonders leistungsfähiges Herz reichten, um genügend Sauerstoff auch ohne rote Blutkörperchen ins Blut zu bringen. O-Ton 7, Caroll We can now reconstruct the time line of that by understanding Sprecher: Wenn wir die Beziehung der Eisfische mit ihren Verwandten verstehen, die noch rote Blutkörperchen haben; wenn wir dabei die molekularen Veränderungen als Zeitmesser verwenden, dann können wir die Zeitlinie rekonstruieren, auf der das alles passiert ist. Danach hat der Verlust der roten Blutkörperchen einige Millionen Jahre gedauert. Sprecherin: Genauer gesagt: 15 bis 25 Millionen Jahre. Diese Zeit ist seit den ersten Anpassungen an die Kälte vergangen, und vor sieben Millionen Jahren, als sie die Fähigkeit zur Hämoglobin-Produktion aufgaben, waren die Eisfische gleichsam perfekt an ihre kalte Umgebung angepasst. Aus einem ganz normalen Fisch war ein Eiswasserspezialist geworden – dank einer Vielzahl von Mutationen, von zufälligen Veränderungen im Erbgut, die ihren Trägern einen Vorteil im Überlebenskampf brachten und den sie daher an ihre Nachkommen weitergeben konnten. Alle Vielfalt in der Natur hat ihre Ursache in solchen Mutationen, in kleinen Veränderungen des Erbguts, die sich irgendwann einmal für die Vorfahren der heutigen Lebewesen als vorteilhaft erwiesen haben. Andernfalls verschwinden die Veränderungen schnell wieder aus der Population. Seite 7 Regie Musik, kurz freistehend, danach unterm Text Erzähler: Die Pinacate-Wüste in Arizona, an der Grenze zu Mexiko. Hier erhebt sich aus weiten, hellen Sanddünen eine Bergkette aus dunklem Vulkangestein. In dieser Wüste leben Taschenmäuse1, niedliche Fellknäuel mit Knopfaugen und großen Backentaschen, in denen sie ihre Nahrung verstauen und die sie ausklappen können, um sie zu reinigen. In der Pinacate-Wüste sind manche dieser Nager fast vollkommen schwarz, die anderen hell – ganz so wie die Wüste oder die Berge um sie herum. Regie Musik, kurz freistehend, danach weg Sprecherin: Heute entschlüsseln Darwins Erben das Entstehen von Veränderungen auf molekularer Ebene. Eines der Tiere, bei denen das sehr gut untersucht ist, ist die Taschenmaus. Bei ihr entscheidet vor allem die Fellfarbe über Leben und Tod. O-Ton 8, Carroll A light coloured mouse on dark rock is very easy for things like owls Sprecher: 1 Eine helle Maus auf einem dunklen Felsen ist für eine Eule, eine Schlange oder eine Eidechse eine leichte Beute. Deshalb haben vor allem jene Mäuse überlebt, die eine dunkle Färbung entwickelten – aber diese dunklen Mäuse finden wir nur auf den Lavafelsen, während selbst direkt neben den Felsen auf dem hellen Sand helle Mäuse leben. Biologen konnten die Veränderungen in der DNA haargenau nachvollziehen, die abliefen, damit die dunkle Form der Mäuse entstehen konnte. Chaetopidus intermedius Seite 8 Sprecherin: Ob die Maus schnell im Magen der Eule endet oder eine Chance hat, unentdeckt zu bleiben, hängt von einem einzigen Gen ab, das ein bestimmtes Eiweiß zu erzeugen hilft. „Befiehlt“ es die falsche Farbe, ist es bald aus mit der Maus. Wenn alles passt, erben die Nachkommen den Vorteil und können ihrerseits viele Nachkommen zeugen – solange sie nicht auf eine Fläche mit der falschen Farbe geraten. Die Biologen fanden auch heraus: Ob Höhlenfisch, Taschenmaus, Goldkopf-Löwenäffchen oder Schneegans – wenn es um die Körperfarbe geht, ist über alle Grenzen im Tierreich hinweg immer dieses eine Gen beteiligt. Die Evolution muss augenscheinlich oft auf ähnliche Methoden zurückgreifen, um ähnliche Ziele zu erreichen. Regie Musik, kurz freistehend, danach unterm Text Erzähler: Alle paar Monate werden gewaltige Lotto-Jackpots beworben, und dann pilgern plötzlich Menschen in die Annahmestellen, die sonst nie Lotto spielen. Voller Hoffnung setzen sie ihre Kreuzchen, obwohl die Wahrscheinlichkeit für einen Hauptgewinn winzig ist. Die Chance, mit der richtigen Zahlenkombination alles abzuräumen, liegt bei etwa 1:140 Millionen. Man könnte auch sagen: Es gilt als sechsmal wahrscheinlicher, von einem Blitz erschlagen zu werden, als den Jackpot zu knacken – und diese Todesart ist bekanntlich eine sehr seltene. Regie Musik, kurz freistehend, danach weg Seite 9 Sprecherin: Dennoch lockt der Jackpot, denn irgendwer wird ja tatsächlich gewinnen. Auch in der Evolution geht es um solche Wahrscheinlichkeiten – und um Zufälle. Dieses Wechselspiel zwischen Zufall, Selektion und Zeit erfassen die Molekularbiologen immer besser. Und in der Evolution gibt es durchaus auch wirklich große Zufälle. Ein Beispiel ist der arktische Kabeljau. Auch er ist frostfest, nur wie er es geworden ist, das erstaunt selbst die Forscher. Sie vermuten, dass sein Frostschutzgen aus einem Stück „Informations-Müll“ in der DNA entstanden ist, aus so genannter „Junk-DNA“. O-Ton 9, Leinfelder Man hat ja sehr abschätzig diese nicht automatisch in der Proteinsynthese aktiven Teile als Junk-DNA bezeichnet. Sprecherin: ... erklärt Reinhold Leinfelder. Junk-DNA besteht meist aus vielfach identisch wiederholten DNA-Abfolgen, aus denen keine Eiweiße abgeleitet werden können – deshalb galt sie als sinnlos, als genetischer Schrott. O-Ton 10, Leinfelder Da weiß man heute doch deutlich mehr, dass hier zum Teil Kopien drin sitzen, die dann nach dem Baukastensystem irgendwann mal wieder rausgeholt werden, dass da insbesondere Steuerungsgene drin sitzen oder auch Unterdrückungsvorgänge stattfinden. Dann ist da noch sehr, sehr viel Neues hier in diesen Abschnitten auch zu erwarten. Sprecherin: Wie eben beim Kabeljau, wo sich ein neues, funktionierendes Gen aus einem Stück sich rein zufällig wiederholender DNA-Abfolgen gebildet zu haben scheint. Der klassischen Vorstellung zufolge galt so etwas als unmöglich: Neue Seite 10 Gene sollten sich stets aus bestehenden entwickeln. Aber der Zufall und die astronomisch hohe Zahl an Kabeljaueiern, in denen Mutationen ablaufen können, machte auch diesen ungewöhnlichen Formenwandel möglich. Regie Musik, kurz freistehend, danach unterm Text Erzähler: Vor 75.000 Jahren erwacht der Supervulkan Toba auf der Insel Sumatra. Der größte Vulkanausbruch der vergangenen 500.000 Jahre beginnt. 40 Kilometer hoch speit der Supervulkan seine Asche, und drei Milliarden Tonnen Schwefelgase gelangen in die Luft. Ein Schleier aus Aerosolen entsteht, der die Sonne abschirmt. Es wird kalt auf der Erde. Um bis zu 15 Grad Celsius stürzen die Temperaturen ab. Eisbohrkerne aus Grönland verraten, dass dieser vulkanische Winter sechs Jahre dauert. Viele Lebewesen sterben in diesen Jahren, auch viele unserer eigenen Artgenossen. Beinahe sogar alle. Regie Musik, kurz freistehend, danach weg O-Ton 11, Carroll Natural selection isn´t imposing pressure… Sprecher: Die natürliche Selektion prägt nicht notwendigerweise jede Eigenschaft eines Lebewesens. Manche entwickeln sich ohne diesen stetigen Druck, sondern durch Zufall. Auf der Ebene der Arten und auf der molekularen Ebene können wir das sehen. Es ist eine Menge Zufall und Beliebigkeit in der Evolution. Seite 11 Sprecherin: Die Geschichte unserer eigenen Art ist ein Beispiel dafür. Der Ausbruch des Supervulkans Toba soll für die Menschheit bleibende Folgen gehabt haben, so lautet eine Theorie. Den weltweiten vulkanischen Winter sollen vielleicht nur 2000 unserer Vorfahren überstanden haben. Die Menschheit ging durch ein genetisches Nadelöhr – das bis heute bleibende Spuren hinterließ. Denn genetisch sind wir Menschen einheitlicher als die meisten anderen Arten – zugleich aber unterscheiden wir uns äußerlich viel stärker voneinander, als es bei anderen Arten der Fall ist. Für Darwins Urenkel ist daher beim Erbgut nicht Schluss, erklärt Ulrich Kutschera; er ist Evolutionsbiologe an der Universität Kassel: O-Ton 12, Kutschera Das wird immer völlig unterschätzt, dass mit der Sequenzierung der Genome, also mit dem was man als Genetik bezeichnet, was man als Molekularbiologie bezeichnet, noch überhaupt nicht geklärt ist, warum die Organismen diese und jene physischen wie auch psychischen Eigenschaften zeigen. Warum sind wir keine Schimpansen? Wir sind zu 98,5 Prozent auf dem Niveau proteinkodierender Gene identisch mit unser Schwesterart, den Schimpansen. Sprecherin: 150 Jahre nach Darwins Buch steuert die Evolutionsforschung wieder auf die Frage zu, die am Anfang seiner Überlegungen stand: Wie entwickelte sich die Vielfalt des Lebens? Wie entstehen neue Arten? Für Darwin war das die Frage aller Fragen. Noch heute sucht man nach Antworten, wenn auch mit viel feineren Instrumenten als vor 150 Jahren.