1 ___________________________ Hessischer Rundfunk hr2-kultur Redaktion: Volker Bernius hr2Wissen Reformislam 02 Eine andere Lesart des Korans von Ulrike Köppchen Sendung: xy.xy.2015, hr2-kultur Regie: Marlene Breuer Sprecherin Zitator (ein Zitat, bitte Haussprecher) hr2Wi 14-49 Copyright Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Verwendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. 2 1. O-Ton: Abu Zaid It was surprising and shocking at the same time to find how the meaning of the Qu’ran was also subject to manipulation by different theological schools. Overvoice (deutsche Übersetzung/Zitator: (liegt schon vor) Es war gleichzeitig überraschend und schockierend zu sehen, wie verschiedene theologische Schulen die Bedeutung des Korans manipuliert haben. Sprecherin: Der ägyptische Koranwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid 2010, kurz vor seinem Tod, in einem Interview. 2. O-Ton: Abu Zaid That was annoying for me. I believed in the message of Islam, the message of equality and justice and all this stuff. As someone from an ordinary, poor family I needed this, you know. So I embarked in Islamic studies by checking the different schools in classical Islamic thought. Overvoice: Das hat mich geärgert. Ich glaubte an die Botschaft des Islam, die Botschaft von Gleichheit und Gerechtigkeit und diese ganzen Dinge. Als jemand, der aus einer gewöhnlichen, armen Familie stammt, brauchte ich das. Also fing ich an, die klassischen Schulen der Koraninterpretation zu studieren. Sprecherin: Nasr Hamid Abu Zaid wurde 1943 in einem ägyptischen Dorf geboren. Nach einer technischen Ausbildung studierte er Arabistik an der Universität Kairo, an der er später auch lehrte. Sein Forschungsgegenstand war der Koran, dessen Ästhetik ihn seit seiner Kindheit fasziniert hatte. Als Abu Zaid sich mit den unterschiedlichen Korandeutungen beschäftigte, stieß er auf die Mut’aziliten. Diese hatten bereits im 9. Jahrhundert dafür plädiert, bestimmte Koranverse metaphorisch und aus dem Geist der Vernunft auszulegen. Allerdings konnten sich die Mutaziliten nicht gegen die konservativen Aschariten durchsetzen, die auf einer buchstabengetreuen Lesart des Korans beharrten. Bis heute beherrscht deren Denken die islamische Welt, während die Schule der Mut’azila nach dem 11. Jahrhundert mehr oder weniger ausstarb. 3 3. O-Ton: Katajun Amirpur Man knüpft heute an viele Positionen an, die sie formuliert hat. Also beispielsweise bei der Idee, die von der Mut’azila stark gemacht worden ist, dass der Koran nicht, wie die Ascharia sagt, schon immer da war, auf einer wohlverwahrten Tafel, sondern dass er viel kontextueller gesehen werden muss, also dass es nicht von Anfang an den Koran und Gott gab, sondern dass es nur Gott gab und Gott eben den Koran in der Zeit erschaffen hat; das ist eine Idee, wenn man sie weiterdenkt, die sehr viel mehr Raum für Interpretation lässt, und da knüpfen beispielsweise heutzutage sehr viele Reformer wieder an, deswegen bezeichnet man sie als Neo-Mut’azila. Sprecherin: Die Hamburger Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur. Von außen betrachtet, mag die Frage, ob der Koran sozusagen schon immer da war und nur „entdeckt“ werden musste oder ob er in einem bestimmten historischen Kontext erschaffen wurde, wie eine theologische Spitzfindigkeit erscheinen. Für die Muslime entscheidet sich an dieser Frage jedoch, inwieweit der Koran buchstäblich Gottes Wort ist und entsprechend auch buchstabengetreu befolgt werden muss. Auch Abu Zaid war zeitlebens überzeugt, der Koran sei Gottes Wort. Das hieß für ihn allerdings nicht, dass auch tatsächlich jede Formulierung von Gott selbst stammt. Zitator: „Allerdings gibt es bis heute, möglicherweise sogar vor allem heute, Gläubige, die den Koran in einem noch strikteren Sinne als Gottes eigenes Wort verstehen, nämlich als ob Gott genau diese Worte geäußert habe. So weit verbreitet diese Auffassung ist, so wenig zwingend ist sie. Man muss sich nur einmal die Konsequenz vorstellen: Hat Gott etwa Arabisch gesprochen?“ Musikakzent: Koranrezitation Sprecherin: Denker wie Abu Zaid gehen davon aus, dass der Koran nur aus seinem historischen Kontext heraus verständlich ist und dass er zwar viele allgemeine und überzeitlich 4 gültige Prinzipien enthält, aber eben auch speziell auf die Gesellschaft des 7. Jahrhunderts zugeschnittene Botschaften. Diese müssen an die heutigen Verhältnisse angepasst und neu interpretiert werden. Aussagen zur Kleiderordnung beispielsweise – oder zur Stellung der Frau. Gudrun Krämer, Leiterin des Islamwissenschaftlichen Instituts an der FU Berlin: 4. O-Ton: Gudrun Krämer Also das berühmte, das Geschlechterverhältnis Betreffende in der Sure 4 zum Beispiel, wo steht, man solle sich – es ist natürlich an Männer gerichtet – um die Waisen kümmern und eins, zwei, drei oder vier von ihnen – gemeint sind weibliche Waisen – heiraten oder das, was man zur rechten Hand besitzt, das sind Sklavinnen. Es gibt in der Moderne keine Sklavinnen, jedenfalls nicht, wenn es rechtens zugeht. Sprecherin: Solche Aussagen des Korans stellen auch die konservative Mehrheit innerhalb der islamischen Theologie vor ein Problem. Denn diese wollen genauso wenig zurück zur Sklaverei. Wörtlich lässt sich diese Sure also auch von ihnen nicht verstehen. 5. O-Ton: Gudrun Krämer Bis jetzt sind Muslime so vorgegangen, dass sie sagen, ja, das gilt jetzt nicht mehr, ohne dann aber zu sagen, das ist aber nicht die einzige Aussage im Koran, die zeitgebunden ist, sondern wir müssen das grundsätzlich anwenden als Zugang. Sprecherin: Diejenigen, die diesen grundsätzlich anderen Zugang fordern, gelten in der islamischen Welt schnell als Ketzer. 6. O-Ton: Gudrun Krämer Die Kritik ist die immer gleiche: ihr macht den Koran kaputt, ihr glaubt nicht an die Verbindlichkeit des Gotteswortes, ihr seid schon infisziert gewissermaßen von westlichem Denken. Sprecherin: Als Abu Zaid 1992 in seinem Buch „Kritik des religiösen Diskurses“ sowohl die offiziellen Religionsgelehrten als auch die islamistische Opposition in Ägypten angriff, 5 wurde er als Apostat gebrandmarkt, als einer, der vom Glauben abgefallen ist. Er erhielt Morddrohungen und seine Gegner veranlassten vor einem Scharia-Gericht, dass er von seiner Frau zwangsgeschieden wurde. Als „Ungläubiger“ dürfe er nicht mit einer Muslimin verheiratet sein. Darauf ging Abu Zaid mit seiner Frau ins holländische Exil und lehrte bis zu seinem Tod im Juli 2010 an der Universität Utrecht „Humanismus und Islam“. 7. O-Ton: Nasr Hamid Abu Zaid „… not being afraid of questioning. And All this life I have never felt any kind of threat to my faith. On the contrary: I feel my faith becomes stronger. Zitator: deutsche Übersetzung Ich hatte keine Angst, die Dinge in Frage zu stellen. Und mein ganzes Leben lang habe ich dadurch keine Bedrohung meines Glaubens erfahren. Im Gegenteil. Ich habe das Gefühl, mein Glaube wird stärker.