NEW YORK TIMES, 14. September 2010, The Meaning of the Koran By ROBERT WRIGHT (Übersetzung: A. Hundertpfund) Testen Sie Ihre religiöse Kompetenz! Welcher heilige Text sagt, Jesus sei „Gottes Wort“? a) das Johannes-Evangelium, b) das Buch Jesaja, c) der Koran. Die richtige Antwort lautet: der Koran. Falls Sie jedoch auf das Johannes-Evangelium getippt haben, bekommen Sie dennoch einen Teil der zu vergebenden Punkte und zwar wegen der dort vorkommenden Eröffnungspassage: "Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott." Dieser Satz ist ein deutlicher und gewollter Hinweis auf Jesus. Wenn Muhammad nun aber Jesus als „Gottes Wort“ bezeichnet hat, hat er damit zweifellos bewusst die christliche Lehre bekräftigt. Bonusfrage: Welcher heilige Text sagt, dass Gott in seiner „Voraussicht“ die Kinder Israels erwählte und sie „über alle Völker“ stellte"? Ich gebe mir keine Mühe, Ihnen eine Liste mit Wahlmöglichkeiten zu offerieren, da Sie wahrscheinlich mein Spiel jetzt durchschaut haben. Ja, diese Zeile steht auch im Koran. Ich zitiere diese Passagen zum Wohle aller selbsternannten Wächter der jüdisch-christlichen Zivilisation, jener Leute also, die vielleicht noch immer planen, den Koran zu verbrennen. Ich möchte, dass sie sich bewusst sind, was alles in Rauch aufgehen würde. Aber ich muss zugeben, dass ich nicht die ganze Geschichte erzählt habe. Noch während Jesus als „das Wort Gottes“ und als "der Messias" – bezeichnet wird, leugnet der Koran, dass jener der Sohn Gottes oder sogar göttlich war. Und obwohl der Koran die Juden „das auserwählte Volk Gottes“ nennt, und das Lob des Moses singt und obwohl er sagt, dass Juden und Muslime denselben Gott verehren, finden sich auch anti-jüdische und in diesem Zusammenhang auch antichristliche Passagen. Die bedauerlichen Teile des Korans - die bedauerlichen Teile jeglicher religiösen Schrift – handeln denn auch nicht von der eigentlichen Botschaft, für die eine heilige Schrift eigentlich steht. Diese dunkle Seite des Korans, hat offenbar die Aufmerksamkeit der Möchtegern-KoranVerbrenner auf sich gezogen. Zudem berufen sich alle anti-muslimischen Amerikaner und zynische Politiker, wie z. B. Newt Gingrich, auf sie, um sie zu benutzen und zu verbreiten. Die andere Seite des Korans - jener Teil, der die Harmonie zwischen den Religionen betont – ist eher den liberalen Kreisen bekannt. Menschen, die sich mit beiden Seiten des Korans befassen und welche die ganze Geschichte gut kennen, sind nicht sehr zahlreich. Es ist für die zeitgenössische politische Auseinandersetzung typisch, nicht die ganze Geschichte zu kennen. Schliesslich geht es vor allem um Aufmerksamkeit. So gibt es die Liberalen, die sagen, dass sich der "Jihad" an den einzelnen Menschen richte, mit dem Auftrag, einen persönlichen Kampf zu kämpfen, um das zu tun, was richtig ist und um zur Wahrheit zu stehen. Und so ist es tatsächlich auch. Dann gibt es die Konservativen, die sagen der "Jihad" sei ein militärischer Auftrag. Nur: Das stimmt auch. Aber nur wenige Menschen erfassen das ganze Bild, das eigentlich aus den beiden Teilen zusammengesetzt wird. Der Koran ist bezüglich des Jihad eine Ermahnung im militärischen Sinn und im Ton manchmal brutal. Aber ebenso sicher ist, dass Muhammad keinen ewigen Krieg gegen die Ungläubigen proklamiert hat. Im Gegenteil: Er war offen für den Frieden mit ihnen. Die formale Lehre des militärischen Jihad, die gar nicht im Koran zu finden ist, entwickelte sich erst nach Mohammads Tod. Sie scheint einen endlosen Eroberungskrieg zu verlangen. Dieser Eindruck ist stärker als jener nach einem weltweiten Frieden. Man muss allerdings wissen, dass diese Quellen im Laufe der Geschichte immer wieder verändert und angepasst worden sind. Andererseits ist in den Hadithen, das sind die nicht-koranischen Aussagen des Propheten, die Tradition entstanden, dass Mohammad unter „heiligem Krieg“ den "kleineren Jihad" verstand. Der „grössere Jihad“ sei der Kampf gegen die tierischen Triebe in der Seele eines jeden Muslim. Warum neigen die Leute eigentlich dazu, nur die eine Seite der Geschichte hören? Eine gemeinsame Erklärung für beide Seiten, für die liberale wie die konservative, ist, dass das digitale Zeitalter es uns leicht macht, uns von lästigen Daten abzuschotten. Wir können unsere Zeit in ideologischen "Kokons“ verbringen, um in Blogs herumzuhängen, die Teil eines Chores sind, wo jenes gepredigt wird, woran wir bereits schon glauben. Allerdings spielt das Internet allein kaum die entscheidende Rolle. Es verstärkt nur ein menschliches Phänomen, nämlich die Tendenz zur Absicherung und Festigung von Beweisen im Einklang mit einer bereits vorhandenen Weltsicht. Gegenteilige Beweise werden gerne ignoriert oder heruntergespielt. Diese Seite der menschlichen Natur ist in der Regel eine schlechte Sache. Sie unterstützt eine Menge Scheinheiligkeit, Streit und Krieg. Aber sie hat tatsächlich ein Hauptmerkmal, nämlich, dass die versöhnlichen Teile des Korans – die versöhnlichen Teile jeglicher religiösen Schrift – keine Bedeutung haben. Man darf also festhalten, dass die Anhänger einer bestimmten Religion den Fokus auf Dinge richten, die ihre Einstellung bestätigen. Dinge, die diese Bestätigung nicht bieten, werden ausgeblendet. Fatalerweise führt so ein Tunnelblick bei den hasserfüllten Leuten dazu, in ihren eigenen Schriften den Hass zu suchen, den sie in ihren Herzen tragen. Sie werden entsprechend den hasserfüllten Teilen der Heiligen Schrift ihre Aufmerksamkeit widmen. Wer keinen Hass verspürt, macht das Gegenteil. Deshalb ist für die amerikanischen Muslime, die guten Willens sind, der Islam lediglich eine Religion der Liebe. Sie sehen die guten Teile ihrer Heiligen Schrift. Die anderen sehen sie nicht oder sie werden verharmlost. So verhält es sich auch mit jenen Menschen, die in der Bibel einen liebevollen und unendlich guten Gott sehen. Sie ignorieren jene Teile ihrer Schrift, die etwas anderes ausdrücken, oder spielen diese herunter. Es gibt zum Beispiel Stellen, in denen Gott die Hände ausbreitet, um das Todesurteil an Ungläubigen zu vollziehen oder vollziehen zu lassen. Im 5. Buch Mose wird den Israeliten aufgetragen, Völkermord zu begehen, indem sie nahe gelegene Völker vernichten, weil diese falsche Götter anbeten. Man soll dabei sicherstellen, dass alle Männer, Frauen und Kinder getötet werden (Man dürfe nicht zulassen, dass alles, was atmet, lebendig bleibe.) Im Neuen Testament gibt es jenen Moment, in dem Jesus eine Frau und ihre Tochter als "Hunde" beschimpft, weil sie nicht aus Israel stammen. Zwar ist dieses Verhalten das Gegenteil von Antisemitismus aber doch weit entfernt von einem guten Weg. Und wenn wir gerade von Antisemitismus sprechen: Das Neue Testament (wie auch der Koran) hat einige wenig schmeichelhafte Dinge über Juden zu sagen. Fromme Bibelleser, die nicht hasserfüllt sind, ignorieren solche Stellen oder spielen sie eher herunter, als dass sie diese Aussagen als Orientierungshilfe auffassen. Sie vertrauen auf einen guten Gebrauch ihres Tunnelblicks, der ein Teil der menschlichen Natur ist. Alle heiligen Schriften abrahamitischen Ursprungs haben alle Arten von Bedeutungen gute und schlechte - und die Frage ist, welche Bedeutungen aktiviert werden soll und welche Bedeutung die eigentliche Aussage ausmacht. Es hängt letztlich alles davon ab, welche Haltung die Gläubigen dem Text zumessen. Immer wenn wir Dinge tun, welche die Haltung der Gläubigen beeinflusst, gestalten wir den lebendigen Sinn der Schriften. In diesem Sinne steht es eigentlich in der Macht der nichtmuslimischen Amerikaner einen Beitrag zu leisten, um die Bedeutung des Korans zu entdecken. Wenn wir dessen Bedeutung im Sinne von so-gutartig-wie-möglich steigern wollen, empfehle ich, dass wir nicht davon reden, ihn zu verbrennen. Und wenn wir die Imame in den Moscheen mit Botschaften der brüderlichen Liebe füllen wollen, empfehle ich, dass wir ihnen nicht verbieten ihre Moscheen zu bauen. Natürlich verläuft die Strasse in beide Richtungen. Muslime können Einfluss auf die Haltung der Christen und Juden und damit auf die Bedeutung ihrer Texte nehmen. Je weniger bedrohlich die Muslime sich verhalten, desto entgegenkommender erscheinen ihnen Christen und Juden und umso gutartiger erscheinen das Christentum und das Judentum. Es wäre ein guter erster Schritt, wenn Amerikaner mehr in Kontakt mit jenen Muslimen kommen würden, die zur überwältigenden Mehrheit der Muslime gehören, mit jenen also, die in Wirklichkeit keinesfalls bedrohlich sind. Man könnte sich sogar eine Art positiven Teufelskreis vorstellen: Je weniger bedrohlich eine Seite erscheint, desto weniger bedrohlich wird die anderen Seite - was wiederum die erste Seite noch weniger bedrohlich erscheinen lässt usw.. Die Bedeutung der abrahamitischen Schriften würde, im Sinne einer heiligen Schrift, besser und besser und besser. In letzter Zeit, so scheint es, haben sich die Dinge in die entgegen gesetzte Richtung bewegt: Der Kreislauf wurde immer bösartiger. Und es liegt in der Natur der Teufelskreise, dass sie schwer zu stoppen oder gar umzukehren sind. Auf der anderen Seite, wenn sich die Menschen guten Willens anstrengen, können sie einen Teufelskreis, der sehr an Dynamik zulegen wird, in die andere Richtung drehen lassen. Das wäre ein nachhaltiger Weg und „die Macht wird mit euch sein!“ (Zitat aus „Star Wars“. Anm. d. Übersetzers) Nachtrag: Die Zitate aus dem Koran: Sure 4:171 (wo Jesus „Gottes Wort“ genannt wird) Sure 44:32 (wo die "Kinder Israels" gelobt werden). Es wurde die RodwellÜbersetzung verwendet, aber der einzige Ort, wo es auf die Wahl des Übersetzers ankommt, ist der Teil, der Gott sagen lässt, dass er die Kinder Israels „vorausschauend“ vor allen anderen platziere. Andere Übersetzungen sagen: "zielstrebig" oder "wissentlich." Wer übrigens wissen möchte, was der Grund für die scheinbare Unvereinbarkeit des Korans gegenüber Christen und Juden sei, folgendes: Der Koran ist eigentlich Muhammads Versuch, das gesamte Gebiet der Christen, Juden und der arabischen Polytheisten in seine abrahamitischen Herde zu bringen. Er spiegelt, im Auf und Ab, sowohl seine bittere Enttäuschungen über die Misserfolge und offenbart zudem, mit vielen theologischen und rituellen Besonderheiten, diese Anstrengungen Muhammads. Es gab eine gewisse Zeitphase, während der die Muslime Jom Kippur feierten. Zu Beginn beteten sie sogar in die Richtung Jerusalems, nicht in jene Mekkas. Weil die Suren nicht chronologisch geordnet sind, verdunkelt sich diese zugrunde liegende Logik.