Informationen zur politischen Bildung (Heft 299) Internationale

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Informationen zur politischen Bildung (Heft 299)
Internationale Wirtschaftsbeziehungen
Seiten
66
Erscheinungsdatum 01.08.2008
Erscheinungsort
Bonn
Inhalt
1. Weltwirtschaftliche Entwicklungen zu Beginn des 21.
Jahrhunderts Klaus-Peter Kruber Meyer
2. Theoretische Grundlagen des internationalen Handels
3. Institutionen und Instrumente der internationalen
Handelspolitik
4. Strukturen der internationalen Währungs- und
Finanzpolitik
5. Auf dem Weg zu einer internationalen
Wirtschaftsordnung?
6. Glossar
7. Literaturhinweise und Internetadressen
8. Redaktion
Weltwirtschaftliche Entwicklungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts
Klaus-Peter Kruber Meyer
1. Einleitung
2. Expansion des Warenhandels
3. Wachstumsmarkt Dienstleistungen
4. Ausweitung des Kapitalverkehrs
5. Direktinvestitionen und multinationale Unternehmen
6. Arbeits- und Armutsmigration
7. Deutschlands Verflechtung in die Weltwirtschaft
1. Einleitung
Früh morgens klingelt der Wecker - made in China. Während wir zum Frühstück Kaffee aus
Südamerika trinken und ein Brötchen mit holländischem Käse essen, hören wir im Radio Lieder
englischer oder amerikanischer Bands. Auf dem Weg zur Arbeit begegnen uns Autos deutscher,
japanischer, schwedischer oder französischer Hersteller. Im Büro schalten wir den Computer ein und
arbeiten mit US-amerikanischer Software und chinesischer Hardware. Auf dem Weg nach Hause
halten wir noch kurz im Supermarkt und stehen vor einer großen Palette heimischer und
ausländischer Produkte. Wir haben die freie Auswahl: Der griechische Spargel und das argentinische
Rindfleisch sind im Angebot; die spanischen Orangen sehen sehr gut aus, und ein französisches
Shampoo wirbt mit Bestnoten der Stiftung Warentest. Wenn wir das Nötigste in den Einkaufswagen
gepackt haben, suchen wir noch schnell das besonders leckere englische Weingummi und die
original-italienische Pastawürzmischung.
Wieder zu Hause angekommen, stellen wir noch eine Waschmaschine mit unserer in Taiwan
produzierten Kleidung an und läuten den Feierabend ein. Wir machen es uns auf dem Sofa einer
schwedischen Möbelhauskette bequem, schauen einen Film aus Hollywood, trinken ein Glas von
dem südafrikanischen Wein und überlegen, inspiriert durch die ausländische Tourismuswerbung,
welches Land wir in unserem nächsten Urlaub gerne mal erkunden würden.
Dieser kleine Ausschnitt eines exemplarischen Tagesablaufs verdeutlicht, dass ausländische Produkte
in unserem Alltag selbstverständlich geworden sind - die positive Folge eines intensiven
Außenhandels und internationaler Wirtschaftsbeziehungen. Andere Auswirkungen enger
wirtschaftlicher Verflechtungen werden als weniger positiv wahrgenommen. Wenn Arbeitsplätze ins
Ausland verlagert werden, die Energiepreise steigen oder Finanzkrisen drohen, löst das Besorgnis
und Irritationen aus. Eins wird aus all dem deutlich: Internationale Wirtschaftsbeziehungen sind kein
abstrakter ökonomischer oder politischer Gegenstand, sondern haben praktische Bedeutung für das
Leben jedes Einzelnen. Es ist daher nützlich zu wissen, unter welchen Bedingungen sie sich
vollziehen.
In den letzten Jahren haben sich mehrere, teils grundlegend neue globale Rahmenbedingungen bzw.
Entwicklungstendenzen ergeben. Technischer Fortschritt, besonders in der
Kommunikationstechnologie und im Transportwesen, und politische Entscheidungen, wie die
Liberalisierung des Welthandels durch den Abbau von Handelshemmnissen, haben zu einer bisher
nicht gekannten wirtschaftlichen Verflechtung der Staaten untereinander geführt. Diese
zunehmende Vernetzung von Volkswirtschaften ist der ökonomische Kern dessen, was heute als
Globalisierung verstanden wird. In ihrer Folge ist das Wirtschaftswachstum gestiegen, haben sich die
Märkte vergrößert, und der globale Wettbewerb hat sich intensiviert. Unsere Darstellung zeigt, wie
sich der Warenhandel und der Dienstleistungssektor unter den Bedingungen der Globalisierung
entwickelt haben, welchen Bedeutungszuwachs multinationale Unternehmen und der
grenzüberschreitende Kapitalverkehr erfahren haben und welche Auswirkungen das für den Standort
Deutschland hat.
Die Intensivierung internationaler Wirtschaftsbeziehungen bietet Chancen und Risiken.
Beispielsweise kann der wachsende internationale Wettbewerb zu einer die Wohlfahrt steigernden
internationalen Arbeitsteilung führen, Forschung und Innovation vorantreiben, neue Absatzmärkte
erschließen und Arbeitsplätze sichern bzw. schaffen. Andererseits kann die erhöhte Konkurrenz auf
Märkten Arbeitsplätze gefährden und den Druck auf die Einkommen von Beschäftigten erhöhen. Im
Zuge der Konkurrenz um ausländische Investitionen können Staaten in Versuchung bzw. unter Druck
geraten, ihre Standards, beispielsweise in der Sozial- oder Umweltpolitik, zu senken, um so ihre
Attraktivität als Standort für wirtschaftliche Aktivitäten zu steigern.
Quellentext
Wettbewerb und Moral
[...] Süddeutsche Zeitung (SZ): Sind Werksverlagerungen [...] Ausgeburten eines Turbokapitalismus?
Homann: [...] Sie sind Ausgeburten eines stinknormalen Wettbewerbs, der die Bedingung unseres
Wohlstands ist. Die Mehrheit profitiert davon, indem sie möglichst billig einkaufen kann.
SZ: Ist diese Geiz ist-geil-Mentalität moralisch?
Homann: Wenn die Kunden das wollen, dann sollen sie dort einkaufen, wo sie die Ware am
günstigsten bekommen.
SZ: Auch wenn das zu Lasten anderer geht?
Homann: Wettbewerb geht immer zu Lasten anderer. Er bringt aber auf lange Sicht uns allen die
größten Vorteile. Letztlich ist Wettbewerb solidarischer als Teilen.
SZ: Wie bitte? Teilen gilt als eine der solidarischsten Verhaltensweisen überhaupt. Wettbewerb hat
das eigene Wohlergehen im Blick.
Homann: Seit wir auf dem Telefonmarkt Wettbewerb zulassen, ist das Telefonieren so billig wie nie
zuvor. [...] Monopole beuten die Kunden aus. Das alte Mütterchen mit kleiner Rente, das seine
sozialen Kontakte über das Telefon aufrechterhält, hat vom Wettbewerb ganz klar profitiert. [...]
SZ: [...] Ist unternehmerisches Handeln nicht auch daran zu messen, welche kurzfristigen Folgen es für
die Arbeitsplätze hat?
Homann: Grundsätzlich nein. [...] Unternehmerisches Handeln ist daran zu messen, ob und wie weit es
der Allgemeinheit und nicht den Arbeitsplatzbesitzern dient.
SZ: Unternehmer haben keine soziale Verantwortung gegenüber ihren Beschäftigten?
Homann: Doch, natürlich haben sie die. Unternehmer haben eine Fürsorgepflicht und für
menschengerechte Arbeitsplätze zu sorgen. Wenn Unternehmer keine Verpflichtung gegenüber ihren
Mitarbeitern zeigen, dann haben sie eine Belegschaft, bei der die innere Kündigung an der
Tagesordnung ist. Das wirkt sich auch wirtschaftlich aus. Wertschöpfung erfolgt durch
Wertschätzung. Deshalb wird kein Unternehmer leichtfertig Mitarbeiter entlassen. Das wäre
ökonomisch nicht rational. [...] Es kann in einer Marktwirtschaft keinen Bestandschutz geben. [...]
Allerdings müssen die Härten für die von Arbeitslosigkeit Betroffenen abgefedert werden. Wir müssen
den Menschen die Chance geben, wieder in den Arbeitsprozess zu kommen. Dazu müssen wir die
Arbeitnehmer besser qualifizieren und vor allem die Jugend gut ausbilden. [...]
SZ: Zeigt der Fall Nokia, das es zu wenige gesetzliche Regelungen für internationale
Wirtschaftsverflechtungen gibt?
Homann: Jeder Wettbewerb braucht Spielregeln. Der internationale Wettbewerb hat in der Tat bisher
noch relativ wenig Spielregeln. Daran müssen wir arbeiten.
SZ: Machen internationale Ethikstandards die globale Wirtschaftswelt menschlicher oder
ineffizienter?
Homann: Sie machen sie menschlicher und damit effizienter. Wir dürfen nicht von diesem Gegensatz
ausgehen. Wenn das Wirtschaftsleben menschlicher wird, dann zahlt sich das langfristig aus. [...] In
China geht die Kinderarbeit wegen des exorbitanten Wirtschaftswachstums deutlich zurück. Wenn der
Wohlstand steigt, schicken die Menschen ihre Kinder nicht zur Arbeit, sondern in die Schule. Diese
Entwicklung kennen wir aus unserer eigenen Geschichte ja nun auch.
Mit dem Wirtschaftsethiker Karl Homann sprach Sibylle Haas.
"Wettbewerb ist solidarisch", in: Süddeutsche Zeitung vom 29. Januar 2008
Die Entscheidungsträger aus Wirtschaft und Politik müssen die dynamischen wirtschaftlichen
Veränderungen rund um den Globus bei ihren Entscheidungen einkalkulieren.
Sie tun dies auf der Basis klassischer und theoretischer Grundlagen (Kapitel 2), wobei immer wieder
die Kontroverse um das Ausmaß der außenwirtschaftlichen Liberalisierung aufbricht, und stützen sich
auf verschiedene Instrumente und Institutionen der internationalen Handels- (Kapitel 3) und
Währungspolitik (Kapitel 4). Vielfach sind die derzeitigen Denkstrukturen der Akteure, sind
Institutionen und Handlungsinstrumente im Bereich der internationalen Wirtschaftsbeziehungen
noch nicht genügend auf die Herausforderungen der aktuellen wirtschaftlichen Entwicklungen
eingestellt. Um Gestaltungsdefiziten zu begegnen, werden in Zukunft Bemühungen um die
Koordinierung im Rahmen einer "Weltwirtschaftsordnung" (Kapitel 5) unverzichtbar sein.
2. Expansion des Warenhandels
Der Gesamtumfang des Welthandels mit Waren stieg in der Zeit von 1948 (59 Milliarden US-Dollar)
bis 2006 (11 783 Milliarden US-Dollar nominal, ausgedrückt in den Preisen des jeweiligen Jahres), auf
das knapp 200-fache. Insbesondere seit 2000 hat der Welthandel noch einmal stark zugenommen.
Wuchs das Exportvolumen in den 1980er und 1990er Jahren ungefähr in dem gleichen Maß oder nur
leicht stärker als die weltweite Warenproduktion insgesamt, hat es sie seither deutlich hinter sich
gelassen. Auch wenn man zur realen Berechnung übergeht und die im Wachstum steckenden
Preissteigerungen von den nominalen Werten abzieht, bleibt dieses Verhältnis bestehen. So nahm
von 2000 bis 2006 der weltweite Warenhandel jahresdurchschnittlich um circa sechs Prozent zu,
während das Weltwirtschaftsergebnis (World Gross Domestic Product) insgesamt um nur circa drei
Prozent anstieg (International Trade Statistics 2007, www.wto.org). Dieser Sachverhalt kann als Indiz
für die fortschreitende Internationalisierung der Wirtschaft gedeutet werden. Triebkräfte des
Welthandels waren bisher vor allem die Konjunktur in den USA und das starke Wirtschaftswachstum
in China, Indien und anderen asiatischen Volkswirtschaften
.
2006 entfielen 57,3 Prozent aller Exporte auf die Industrieländer (siehe auch Glossar), die ihre Waren
zum überwiegenden Teil untereinander austauschten. Die Entwicklungsländer (siehe Glossar) und die
Transformationsländer (siehe Glossar), das heißt Russland und andere ehemalige
Staatshandelsländer, sind deutlich geringer in den Welthandel eingebunden. Eine Unterteilung des
Welthandels in sieben Regionen verdeutlicht deren Unterschiede in ihrer Bedeutung für den
weltweiten Handel.
Innerhalb der Industrieländer konzentriert sich der Handelsaustausch auf drei Regionen:
Westeuropa, Nordamerika sowie Japan und die entwickelten Länder Südostasiens. Dieses
Welthandelsdreieck wird häufig als "Triade" bezeichnet. Der Konzentration des Welthandels
entsprechen handelspolitische Blöcke: die Europäische Union (EU), die Nordamerikanische
Freihandelszone (North American FreeTrade Agreement, NAFTA, siehe Glossar), und Ansätze
einer südostasiatisch-pazifischen Freihandelszone (Asia-Pacific Economic Cooperation, APEC ;
siehe Glossar). Innerhalb dieser Zusammenschlüsse ist ein gemeinsamer Markt für Waren,
Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräfte weitgehend realisiert (Binnenmarkt der EU), entsteht
(NAFTA) beziehungsweise wird eine entsprechende Liberalisierung angestrebt (APEC). Aber auch
zwischen den Blöcken wurden in den letzten Jahrzehnten Handelshemmnisse abgebaut oder
deutlich verringert. Diese Entwicklungen sind das Ergebnis der Handelsliberalisierung durch das
Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (General Agreement on Tariffs and Trade, GATT) und der
daraus 1995 hervorgegangenen Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO;).
Die Zusammensetzung der globalen Wertschöpfung (des gesamten auf der Erde produzierten
Sozialproduktes) zeigt in ihrer Entwicklung, dass sich das Wohlstandsgefälle zwischen reichen und
armen Staaten bis heute nicht verringert, sondern eher noch ausgeweitet hat. Eine wesentliche
Umverteilung des Wohlstands weltweit fand in den letzten 25 bis 30 Jahren somit nicht statt.
Diese Tatsache hat dazu geführt, dass die derzeitigen wirtschaftspolitischen Regelungen, die den
Welthandel gestalten, nicht nur in den Entwicklungsländern zunehmend kritisch gesehen werden.
Trotz dieser unveränderten Tendenzen konnten zwei Staatengruppen den Abstand zu den
wohlhabenden Industrieländern - gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf beträchtlich verringern. Es handelt sich zum einen um Staaten im Nahen Osten, die seit Ende der
1970er Jahre hohe Einnahmen aus dem Erdölexport erzielen, und zum anderen um einige
ehemalige Entwicklungsländer, die sich seit den 1980er Jahren zu Schwellenländern entwickelten.
Letztere zählen zu den global am raschesten wachsenden Volkswirtschaften. Dazu gehören einige
Staaten Ost- und Südostasiens - insbesondere die Volksrepublik China, Südkorea, Taiwan,
Singapur und Malaysia. Ihr Wachstumserfolg wird vor allem auf ihre Öffnung für den
internationalen Handel zurückgeführt.
So konnte China, indem es sein Wirtschaftswachstum auf eine exportorientierte Produktion
stützte, große wirtschaftliche Erfolge verbuchen und Anfang 2007 mehr Waren exportieren als die
USA. Für 2008 wird damit gerechnet, dass die Volksrepublik ihren Exportanteil auf über acht
Prozent des Welthandels steigern wird und auf dem Weg ist, Deutschland als bisherigen
"Exportweltmeister" abzulösen.
Als nächstes dürften die Transformationsländer Mittel- und Osteuropas, die seit 2004 der EU
angehören, zu den wohlhabenden Industriestaaten aufschließen. Ihre überdurchschnittlich
steigenden Wirtschaftsergebnisse sind durch ihren Beitritt in die EU zu erklären, der einen
Wachstumsschub auslöste.
Die Zusammensetzung des internationalen Warenhandels zeigt, dass nicht alle Güter in gleichem
Ausmaß von der Zunahme des Welthandels betroffen sind. Die internationale Handelsstatistik der
WTO erfasst den Welthandel nach Warengruppen. Danach entfällt der größte und am stärksten
wachsende Anteil (circa 70 Prozent) des Warenhandels heute auf industriell gefertigte oder
bearbeitete Produkte. Unter den verarbeiteten Produkten sind die wichtigsten Untergruppen
Büro- und Telekommunikationswaren (12,3 Prozent), chemische Produkte (10,6 Prozent),
Fahrzeuge (8,6 Prozent), Textilien und Bekleidung (4,2 Prozent) sowie Eisen- und Stahlerzeugnisse
(3,2 Prozent). Agrarprodukte, Energieträger und Bergbauprodukte sind derzeit mit etwa 30
Prozent beteiligt.
Der internationale Austausch bezieht sich nicht nur auf den Handel mit Fertigprodukten, sondern
gleichermaßen auf den Austausch von Rohstoffen und Vorprodukten. Unternehmen gehen
zunehmend dazu über, nicht nur ihre Produkte weltweit zu vertreiben, sondern auch die für ihre
Fertigung benötigten Rohstoffe und Vorprodukte global zu beschaffen. Hierdurch entstehen
komplexe Netzwerke zwischen international verteilten Produktionsstandorten. Ein Beispiel sind
die Zuliefererbeziehungen in der Automobilindustrie.
3. Wachstumsmarkt Dienstleistungen
Jahrhunderte lang konzentrierte sich die internationale Arbeitsteilung ausschließlich auf den
Handel mit Waren. Dies hat sich heute sehr verändert. Zählten Dienstleistungen noch bis Mitte
des 20. Jahrhunderts - abgesehen von den mit dem Warenhandel verbundenen Transport- und
Versicherungsdienstleistungen - im Wesentlichen zu den Binnengütern, sind sie heute in
wachsendem Maße Gegenstand des internationalen Austauschs: 2005 wurden weltweit
Dienstleistungen im Wert von 2 415 Milliarden US-Dollar gehandelt. Ihre Wachstumsrate liegt
über der des Warenhandels. Die Verschiebung des Schwergewichts vom primären
(Agrarwirtschaft und Bergbau) und sekundären Sektor (Industrie) zur Dienstleistungswirtschaft
(tertiärer Sektor) zeigt sich heute in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen besonders
ausgeprägt. Die wachsende Bedeutung des tertiären Sektors erlaubt es, von einer
"Tertiarisierung" der internationalen Wirtschaftsbeziehungen zu sprechen
Besonders spektakulär ist die Expansion des internationalen Tourismus seit den 1960er Jahren.
Zwar führten die anhaltende Kriegs- und Terrorfurcht seit den Anschlägen vom 11. September
2001 auf die USA und die schlechte Konjunkturlage vieler Industrieländer im Zeitraum von 2001
bis 2003 zu einer Stagnation des internationalen Reiseverkehrs. Doch bis 2005 erholte er sich
wieder vollständig, und im Jahr 2006 wurden weltweit 693 Milliarden US-Dollar für
Auslandsreisen ausgegeben. Eine besonders große Bedeutung haben Ausgaben für
Tourismusdienstleistungen in Deutschland. So zahlten die Deutschen im Jahr 2006 nach Angaben
der International Trade Statistics der WTO von 2007 75 Milliarden US-Dollar für Auslandsreisen,
Ausländer ließen 33 Milliarden US-Dollar in der Bundesrepublik.
Ein weiterer relativ junger Wachstumsmarkt sind internationale
Kommunikationsdienstleistungen. Die moderne Telekommunikation hat die Welt zu einem
globalen Markt vernetzt. Multimedia und Internet haben einen Entwicklungssprung auf den
internationalen Telekommunikationsmärkten bewirkt. International gehandelt werden
Informationen (Nutzung von Datenbanken) und Dienstleistungen der Werbungs- und
Unterhaltungsbranche (Vermarktung von Sport- und Popveranstaltungen, Film- und TV-Rechte)
sowie Lizenzen für die Nutzung von Patenten. Für die USA ist mittlerweile die Film- und TVBranche die zweitgrößte Einnahmequelle im Außenhandel geworden. Für die Nutzungsrechte an
Spielfilmen oder Fernsehserien werden Hunderte Millionen US-Dollar in die USA überwiesen.
Auch die Entwicklungsländer haben von der Zunahme des Dienstleistungshandels und vom
Fortschritt der Technologien profitiert. Die Bandbreite der Dienstleistungen, die heute in diese
Länder verlagert werden, wächst und umfasst neben einfachen inzwischen bereits auch
anspruchsvolle Dienstleistungsaufgaben. Dies ist möglich, da auch dort qualifizierte Informatiker
und Ingenieure ausgebildet werden, die ihre Dienstleistungen zu wesentlich niedrigeren Löhnen
zu Verfügung stellen. Deshalb vergeben deutsche Anlagenbaufirmen wie Lurgi und Uhde
Konstruktionsaufträge an indische Ingenieure, mit denen sie über das Internet kommunizieren. Es
entwickeln sich weltumspannende, weitgehend standortunabhängige virtuelle
Unternehmensnetze.
4. Ausweitung des Kapitalverkehrs
Der dritte, seit den 1970er Jahren am schnellsten wachsende Teilbereich der internationalen
Wirtschaftsbeziehungen - noch vor dem Waren- und dem Dienstleistungshandel - ist der
internationale Kapitalverkehr, auf den sich die Globalisierung der Wirtschaft in besonders starkem
Maß auswirkte: Als Folge der Liberalisierung der Finanzmärkte und der wachsenden Bedeutung
multinationaler Unternehmen häufte sich die Zahl der Finanztransaktionen und die internationalen
Kapitalströme schwollen an.
Für die Zunahme der internationalen Kapitalbewegungen lassen sich mehrere Gründe anführen.
So entsteht beispielsweise durch den wachsenden Waren- und Dienstleistungshandel ein
zunehmender Finanzierungsbedarf. Bedeutender als Ursache ist jedoch die Internationalisierung
der Finanzmärkte und der Anlagemöglichkeiten. Banken agieren heute in einem weltweiten,
durch Telekommunikation verbundenen Finanzsystem und legen ihre Gelder dort an, wo sie unter Berücksichtigung von Wechselkurs- und politischen Risiken - die günstigsten Renditen, das
heißt die den größten Erfolg versprechende Verzinsung des eingesetzten Kapitals finden.
Geldinstitute decken ihren Geldbedarf dort, wo die Zinsen am niedrigsten sind.
Täglich werden circa 2000 Milliarden US-Dollar auf den internationalen Finanzmärkten gehandelt,
wobei nur fünf Prozent davon auf die Finanzierung des Handels selbst entfallen. Doch nicht nur
die Banken haben ihre internationalen Geschäfte ausgedehnt; auch die privaten
Auslandsgeschäfte haben zugenommen. So sind die Aktien- und Wertpapierkäufe von
Privatpersonen und die von multinationalen Unternehmen im Ausland aufgenommenen
Bankkredite seit den 1970er Jahren um das 16fache gestiegen.
Quellentext
Börse London
[...] Mit einem Handelsvolumen von 10,2 Billionen Euro ist die
London Stock Exchange (LSE) die zweitgrößte Börse der Welt und
zugleich eine der ältesten. Die Wurzeln der LSE reichen bis ins 17.
Jahrhundert zurück. Bereits 1695 gab es in London 140
Aktiengesellschaften, die Anteilsscheine wurden in zwei
Kaffeehäusern in der City gehandelt, dem Garraway's und dem
Jonathan's. 1697 verabschiedete das britische Parlament ein
Gesetz, um die "Zahl und das Fehlverhalten der Makler und
Börsenjobber zu beschränken". Das aber konnte
Fehlspekulationen nicht verhindern: 1720 platzte die "South Sea
Bubble", eine der berüchtigsten Börsenblasen der Geschichte.
Nahe dem historischen Sitz der Londoner Börse, an der Ecke
Threadneedle Street/Old Broad Street, weihte Queen Elizabeth II.
1972 den neu errichteten Stock Exchange Tower ein. Nach dem
Big Bang von 1986, der weitreichenden Liberalisierung des
britischen Finanzmarktes, fand der Handel jedoch zunehmend
außerhalb des Börsengebäudes statt.
Obendrein führte der Vormarsch des Computers dazu, dass
immer weniger auf dem Parkett selbst gehandelt wurde.
Im Juli 2004 zog die Börse in ein besser geeignetes Gebäude am
Paternoster Square um, ganz in der Nähe der St. Pauls Cathedral.
In den folgenden Jahren versuchten nacheinander die
australische Investmentbank Macquarie, der amerikanische
Börsenbetreiber Nasdaq und die Deutsche Börse, die London
Stock Exchange zu übernehmen.
LSE-Chefin Clara Furse wehrte entschlossen die Attacken ab. Im
Juni 2007 übernahm sie ihrerseits die Borsa Italiana in Mailand.
G.H., "Börse London", in: Die ZEIT Nr.19 vom 30. April 2008.
Die Ausweitung des internationalen Kapitalverkehrs ist auch auf das Auftreten neuer Akteure auf
dem internationalen Kapitalmarkt zurückzuführen. Neben Banken, Versicherungen und
"klassischen" Investmentfonds geraten neuerdings die so genannten Hedgefonds und staatliche
bzw. unter staatlichem Einfluss stehende Investmentfonds als bedeutende Investoren auf den
internationalen Kapitalmärkten in den Blick der Öffentlichkeit.
Investmentfonds
Investmentfiónds kaufen Wertpapiere, beispielsweise Schuldverschreibungen oder Aktien
verschiedener Unternehmen. Auf diesen "Korb" von Wertpapieren geben sie Zertifikate aus, die
einen Anteil am Investmentvermögen repräsentieren und die ein Anleger erwerben kann. Auf
diese Weise wird das Risiko auf mehrere Aktien gestreut. Durch Spezialisierung auf bestimmte
Branchen oder Länder bieten Investmentfonds dem Anleger Wahlmöglichkeiten mit
unterschiedlichen Chancen und Risiken
Terminmärkte
An den internationalen Börsen haben sich in den letzten Jahrzehnten Terminmärkte gebildet, auf
denen Derivate gehandelt werden. Derivate (von lat. derivare, ableiten) sind Wertpapiere, deren
Kurse vom Kurs anderer zu Grunde liegender Werte abhängen. Sie sind demnach abgeleitete, das
heißt derivative Finanzpapiere. Es gibt verschiedene Formen von Derivaten; vor allem Kauf- und
Verkaufsoptionen für Rohstoffe, Aktien oder Devisen sind verbreitet. Es werden also zunächst
nicht die Rohstoffe, Aktien oder Devisen selbst gehandelt, sondern Verträge über das Recht
beziehungsweise die Pflicht, eine bestimmte Rohstoffmenge, eine Aktie, einen Währungsbetrag
innerhalb der Optionsfrist zu einem vorher vereinbarten Preis (Kurs) zu kaufen beziehungsweise
zu verkaufen. Erst zum vereinbarten Termin werden die Kauf- bzw. Verkaufsoptionen (calls bzw.
puts) gegebenenfalls ausgeübt. Der Käufer eines puts spekuliert auf sinkende, der Käufer eines
calls auf steigende Preise (Kurse).
Quellentext
Neue Spekulanten im alten Geschäft
Im Herzen Chicagos steht die Börse. [...] An jedem Werktag
zwischen 9.30 und 13.15 Uhr werden hier [...] die Rohstoffpreise
für die ganze Welt gemacht. [...] Was in Chicago ausgehandelt
wird, bestimmt das Leben von Farmern im Mittleren Westen der
USA und von Reisbauern in Vietnam, von Bettlern in den Slums
von Manila und von Bäckern in Deutschland. Und heute geht es
dabei oft um Sein oder Nichtsein. [...]
Eigentlich wurde die Rohstoffbörse ja einst mit dem Ziel
gegründet, Sicherheit zu schaffen. Als eine Gruppe von 83
Kaufleuten am 3. April 1848 den Chicago Board of Trade
gründeten, wollten sie Ordnung in den Handel mit den
Agrarprodukten des Mittleren Westens bringen. Damals waren
dies Mehl, Gras-Samen und Heu. Drei Jahre später konnten
Farmer erstmals ihre Ernte "forward" verkaufen, also im Voraus.
Damit sicherten sie sich gegen fallende Preise ab, die Händler
gegen steigende. An diesem Prinzip hat sich nichts geändert. Mit
einem der heute üblichen Terminkontrakte erwirbt ein Händler
das Recht und die Pflicht, 5000 Bushel (altes amerikanisches
Schüttmaß, im internationalen Getreidehandel üblich Anm.d.Red.) Mais, Weizen, Sojabohnen oder Reis zu einem
festgesetzten Preis und Zeitpunkt zu liefern oder zu kaufen. [...]
In früheren Zeiten galt Rohstoff-Spekulation [...] als ein riskantes
Geschäft für Profis, die etwas von Landwirtschaft verstehen. Doch
jetzt versuchen [...] Investoren von der Wall Street [...] ihr Glück
mit Reis und Soja. Anders als Farmer und Getreidehändler suchen
sie nicht Sicherheit, sondern die maximale Rendite. [...] Jede
Woche fließt im Durchschnitt eine Milliarde Dollar [...] nach
Chicago, und das bei einem Gesamtmarkt von überschaubaren
240 Milliarden Dollar. So genannte Index-Fonds, die ihr Geld mit
Wetten auf Rohstoff-Indices verdienen, kontrollieren derzeit 4,5
Milliarden Bushel Mais, Weizen und Sojabohnen, was ungefähr
der Hälfte der gesamten Vorräte in den Silos der USA entspricht.
Wer die Spezialisten an der Chicagoer Börse fragt, was diese
neuen Spekulanten nun bewirken, der stößt auf einige
Unsicherheit. "Die Index-Fonds sind wie ein Elefant in einem
Zimmer. Man weiß nicht genau, was er anstellen wird", sagt Greg
Wagner, ein Marktforscher bei der Analyse-Firma AgResource in
Chicago. "Normalerweise ist die Gruppe der Käufer und Verkäufer
hier begrenzt. Jetzt hat alles eine neue Dimension bekommen."
David Lehman, Chef-Ökonom der Börse, findet sogar Positives an
den neuen Mitspielern: "Die Spekulanten [...] bringen Liquidität in
die Märkte, das erleichtert den Ausgleich von Angebot und
Nachfrage."
Im April musste allerdings die zuständige Aufsichtsbehörde, die
Commodity Futures Trading Commission (CFTC) in Washington
eine Anhörung über die Rolle der neuen Spekulanten
veranstalten. Grund war, dass das Spiel der Rohstoffkontrakte
plötzlich nicht mehr so funktionierte wie gewohnt. [...]
Terminkontrakte sind teurer als die Ware, die dahinter steht [...].
Die Folgen aber sind fatal: Manche Getreidehändler weigern sich,
den Farmern ihre Ernte im voraus abzukaufen, weil ihnen die
Kontrakte zu riskant sind. Die Farmer müssen das Risiko wieder
selber tragen, wie in den Tagen, ehe es die Börse in Chicago gab.
[...]
Nikolaus Piper, "Tiefdruckgebiete und Terminkontrakte", in:
Süddeutsche Zeitung vom 15. Mai 2008
Am Terminmarkt werden also Werte in der Zukunft zu einem bereits festgelegten Preis gekauft,
der auch erst in der Zukunft zu zahlen ist. Will man sich gegen das eingegangene Kursrisiko
absichern, kann man dies mit entgegen gerichteten Kauf- oder Verkaufsoptionen tun. Banker
bezeichnen dies als "hedging" (von engl. to hedge, einhegen). Am Kassamarkt, an dem Käufe und
Verkäufe noch am gleichen Tag abgewickelt werden, ist diese Absicherung hingegen nicht
möglich. Termingeschäfte und hedging sind vor allem bei international aufgestellten
Unternehmen üblich. So sichern beispielsweise die deutschen Autohersteller einen bestimmten
Euro-Dollar-Kurs durch Termingeschäfte ab, um Produktion und Verkauf besser planen zu können.
Hedgefonds
Einige Investmentfonds haben sich auf hoch spekulative, im Erfolgsfall aber auch besonders
rentable Termingeschäfte spezialisiert. Typisch sind der Handel mit Derivaten, hedging,
Leerverkäufe und die Ausnutzung des Leverage-Effekts. Etwas irreführend werden diese Fonds in
der Öffentlichkeit als Hedgefonds bezeichnet, denn hedging ist - wie oben beschrieben - eine
generell im Finanzsektor verbreitete Strategie zur Risikoabsicherung bei Finanzanlagen. Bei einem
Leerverkauf (short selling) spekuliert der Fondsmanager darauf, von einem erwarteten Kursverfall
eines Wertpapiers profitieren zu können: Er verkauft beispielsweise Aktien und hofft, sie zu
einem vereinbarten Termin billiger zurückkaufen zu können. Tatsächlich besitzt der
Fondsmanager die Aktien bei Vertragsabschluss aber gar nicht, sondern hat sie lediglich bei einer
Bank oder einem Unternehmen für diesen Zeitraum geliehen. Liegt bei Fälligkeit des Geschäfts
der Kurs der Aktie unter dem Verkaufskurs, macht der Fonds Gewinn. Liegt der Aktienkurs zum
Rückkaufzeitpunkt allerdings höher als der Verkaufskurs, ist der Fonds verpflichtet, die Aktien
trotzdem zu kaufen, denn sie müssen ja an die ausleihende Bank zurückgegeben werden. In
diesem Fall macht der Fonds Verluste. Ein Fondsmanager sollte über fundierte Marktanalysen und
gutes "Gespür" verfügen, denn er muss nicht nur die Kursentwicklung der ausgewählten Aktie
richtig einschätzen, sondern auch den Zeitpunkt der Transaktion günstig auswählen.
Quellentext
Leerverkauf am Fallbeispiel
Eine hoch spekulative Anlagestrategie auf internationalen
Finanzmärkten sind Leerverkäufe (short selling). Ein
Börsenspekulant erwartet den Kursverfall eines Wertpapiers und
hofft daran verdienen zu können, indem er es jetzt verkauft und
später zu einem niedrigeren Kurs wieder erwirbt. Dabei handelt
er nicht mit eigenen Wertpapieren, sondern leiht sich die
benötigten Aktien für die Dauer der Transaktion von anderen aus.
Auf diese Weise können mit relativ geringem Kapitaleinsatz große
Kapitalbeträge bewegt werden. Dies sei an folgendem Beispiel
erläutert.
Die Aktien der MaxAG werden an der Börse mit dem Kurs von
100 Euro pro Anteilsschein notiert. Eine Bank besitzt 10 000
Aktien, möchte sie nicht verkaufen, aber doch gern einen
zusätzlichen Ertrag erzielen. Sie verleiht die Aktien für sechs
Monate an den Manager des Spekfonds gegen eine Leihgebühr
von fünf Prozent. Der Fondsmanager bezahlt der Bank die
Leihgebühr von 50 000 Euro und kann nun über die Aktien
verfügen. In der Erwartung, dass der Kurs der MaxAG sinken wird,
verkauft er die Aktien zum aktuell gültigen Kurs (also für 1 000
000 Euro). Drei Fälle sind nun denkbar:
Der Kurs der Aktie fällt in den sechs Monaten um zehn Prozent
auf 90 Euro. Der Fondsmanager kann die 10 000 Aktien für 900
000 Euro zurückkaufen und an die Bank zurückgeben. Er macht
einen Gewinn von 50 000 Euro (100 000 Euro Kursgewinn minus
50 000 Euro Leihgebühr). Steuern und Spesen seien hier
vernachlässigt. Bezogen auf den Kapitaleinsatz (die Leihgebühr)
ergibt dies einen Gewinn von 100 Prozent bei einer Kursänderung
der Aktie von zehn Prozent.
Der Kurs der Aktie ist zum Rückgabezeitpunkt unverändert. Der
Fondsmanager kauft die Aktien für 1 000 000 Euro zurück. Zwar
entsteht kein Kursverlust, dennoch macht er einen Verlust von 50
000 Euro (die bezahlte Leihgebühr). Das eingesetzte Kapital ist zu
100 Prozent verloren.
Der Kurs der Aktie steigt um zehn Prozent auf 110. Der Manager
muss nun 1 100 000 Euro für den Rückkauf aufwenden. Er macht
einen Verlust von 150 000 Euro (höherer Rückkaufpreis plus
Leihgebühr). Bezogen auf den Kapitaleinsatz von 50 000 Euro
(Leihgebühr) bedeutet das einen Verlust des Spekfonds in Höhe
von 300 Prozent.
Bei Leerverkäufen wirkt sich eine relativ geringe Änderung des
Aktienkurses überproportional aus und kann hohe Gewinne, aber
auch extreme Verluste auf das eingesetzte Kapital erbringen.
Der Leverage-Effekt (Hebeleffekt) beruht darauf, dass ein Fonds sich durch die
Aufnahme von Krediten, also Fremdkapital, finanzielle Mittel für den Kauf von
Wertpapieren beschaffen kann, die weit über das in den Fonds eingezahlte
Kapital (Eigenkapital) hinausgehen und ihm somit erheblich größere
Transaktionen ermöglichen. Für Fremdkapital müssen allerdings Zinsen gezahlt
werden. Solange die Rendite aus den getätigten Finanzinvestitionen über
diesem Zins liegt, erhöht sich der Gewinn des Fonds; bezogen auf das
Eigenkapital steigt die Rendite überproportional (Hebeleffekt). Ist die Rendite
der Anlage dagegen niedriger als der Zins, entsteht ein Verlust; bezogen auf
das Eigenkapital ergibt sich auch hier ein überproportionaler Wertverlust.
Auch in diesem Fall steht also der spekulativ besonders hohen Gewinnchance
der Kapitalgeber des Fonds ein entsprechend höheres Verlustrisiko gegenüber.
Die meisten Hedgefonds haben ihren Firmensitz an so genannten offshorePlätzen.Es handelt sich vielfach um Inselstaaten wie die Cayman-Inseln, die
Virgin-Islands, die Bermudas oder "politische Inseln" wie Liechtenstein. Dort
unterliegen sie geringerer Steuerbelastung und weniger strengen Vorschriften
zur Rechenschaft und zur Offenlegung ihrer Risikostrukturen
(Publizitätspflichten) als in den USA, England, Japan oder Deutschland. Sie
verfolgen eine äußerst flexible und radikal am Ertrag orientierte
Anlagestrategie und bewegen hohe Geldbeträge. Die größten Hedgefonds
waren Ende 2006 Renaissance Technologies, JPMorgan Asset Management
und Bridgewater Associates, jeweils mit einem Fondsvermögen von mehr als
30 Milliarden US-Dollar.
Riskant ist insbesondere der hohe Fremdkapitalanteil bei spekulativen Geschäften. Bei
ungünstiger Marktentwicklung oder Fehlspekulationen kann der Hebeleffekt zu enormen
Verlusten führen - bis hin zum Zusammenbruch des Fonds. Spätestens dann sind die gewährten
Kredite verloren, so dass die Verluste auch auf die Kredit gebenden Banken durchschlagen. Auch
kann es - ausgelöst durch spektakuläre Verluste eines Fonds - zu einem gleich gerichteten
Verhalten vieler Marktteilnehmer, wie beispielsweise Verkäufen von Wertpapieren auf breiter
Front und der Kündigung von Krediten kommen. Ein solches Herdenverhalten, der so genannte
Dominoeffekt, kann schwere Krisen auf den Finanzmärkten auslösen. Natürlich sind Verlustrisiken
ein generelles Problem auf Geld- und Kapitalmärkten, wie beispielsweise die weltweiten
Turbulenzen im Gefolge der "Hypothekenkrise" in den USA im Sommer 2007 zeigten. Sie wurde
jedoch nicht durch Hedgefonds ausgelöst, sondern durch den Zusammenbruch von vermeintlich
besonders wertstabilen Hypothekenbanken.
Dennoch geraten besonders die Hedgefonds wegen ihrer außerordentlich riskanten
Geschäftspraktiken und ihrer Undurchsichtigkeit zunehmend in die öffentliche Kritik. Gefordert
werden vor allem strengere Anforderungen an das Risikomanagement der Fondsmanager, mehr
Transparenz im Hinblick auf die Finanzstrukturen der Fonds und auf die Kreditvergabe durch die
Banken. Solche Informationen würden eine fundiertere Bewertung der Fonds durch RatingAgenturen ermöglichen. Die Politik ist hier gefordert. Hedgefonds waren ein Thema des
Gipfeltreffens der Regierungschefs der G8-Staaten (Konferenz der größten Industrienationen
einschließlich Russlands) in Deutschland im Juni 2007, allerdings ohne dass hier bereits neue
Regeln vereinbart werden konnten. Das Problem ist, dass nur eine weltweite Vereinbarung mit
verbindlicher Wirkkraft Erfolg verspricht. Anderenfalls können sich die Hedgefonds durch
Abwanderung in weniger regulierte "Oasen" den verschärften Regeln entziehen. Die wirksame
Durchsetzung eines internationalen Vertrags scheitert aber immer wieder daran, dass jedes Land
Anreize hat, sich durch Ausscheren Vorteile wie den Zufluss von ausländischem Kapital zu
verschaffen, die umso größer ausfallen, je mehr die übrigen Vertragspartner sich an die
eingegangenen Verpflichtungen halten. In der Wirtschaftswissenschaft spricht man vom
Gefangenendilemma (siehe Glossar).
Private Eigenkapitalanlagegesellschaften
Zunehmend in der Öffentlichkeit diskutiert werden auch die Privaten
Eigenkapitalanlagegesellschaften (Private Equity Fonds). Auch hier handelt es sich um weltweit
tätige Investmentfonds, die ihren Kapitalgebern besonders ertragreiche, aber eben auch riskante
Geldanlagen anbieten. Sie sammeln Kapital von privaten Anlegern und investieren es in
Beteiligungen an Unternehmen bzw. sie kaufen ganze Unternehmen oder Unternehmensteile.
Interessant sind besonders Unternehmen, die sich in finanziellen Schwierigkeiten befinden und
deshalb relativ "preiswert" zu erwerben sind, von den Fondsmanagern aber als potenziell
rentabel angesehen werden. Ziel ist es, nach - oft sehr einschneidenden - Umstrukturierungen die
rentablen Unternehmensteile durch gezielte Investitionen "fit" zu machen, um sie dann mit
Gewinn an andere Unternehmen oder an der Börse zu verkaufen. Die nicht rentablen Teile
werden häufig liquidiert, das heißt, sie gehen in Konkurs, die Betriebe werden stillgelegt. Kritiker
sprechen in solchen
Fällen von "Heuschrecken", die die sozialen Folgen wie den Abbau von Arbeitsplätzen dem
Kapitalinteresse (shareholder value) unterordnen. In vielen Fällen haben sich diese Fonds aber
auch als rettende Kapitalquelle für Unternehmen in Not erwiesen und so Arbeitsplätze gesichert.
Staatliche Investmentfonds
Neu als Akteure an den internationalen Finanzmärkten sind auch staatliche bzw. unter staatlicher
Kontrolle stehende Investmentfonds aus Ölexportländern wie Saudi-Arabien und Kuwait, aus
Russland sowie aus China. Allein die Volksrepublik verfügte 2007 im Durchschnitt über etwa 1400
Milliarden US-Dollar an Währungsreserven aus angesammelten Exportüberschüssen. Bisher hat
die chinesische Regierung ihre Dollarreserven überwiegend in US-Anleihen zinsbringend angelegt.
Der Kauf dieser Anleihen hat das Angebot an der chinesischen Währung Yuan und die Nachfrage
nach US-Dollars auf den Devisenmärkten erhöht und somit gleichzeitig dazu beigetragen, einen
Kursanstieg des Yuan gegenüber dem US-Dollar zu vermeiden. Hinter dieser Strategie steckt das
Bestreben Chinas, sich Vorteile auf den Exportmärkten durch einen unterbewerteten Yuan zu
erhalten.
Neuerdings werden die Devisenreserven zur Bildung von Investmentfonds
verwendet. So wurde zum Beispiel der Fonds China Invest mit einem Kapital
von 200 Milliarden US-Dollar gegründet. Dieser beteiligt sich an Firmen in den
USA, Kanada, Europa und Südamerika bzw. kauft Unternehmen in diesen
Ländern auf. In westlichen Staaten wird diese Entwicklung kritisch diskutiert.
Umstritten ist, ob die USA oder europäische Staaten die Übernahme wichtiger
Firmen aus Schlüsselindustrien durch undemokratische Regime bzw. durch
von ihnen kontrollierte Fonds hinnehmen wollen. Aktuelle Beispiele sind der
geplatzte Einstieg des chinesischen Fonds bei der amerikanischen Ölfirma
Unocal oder die Pläne der russischen Firma Gazprom für den deutschen
Energiemarkt. Befürchtet wird eine Abhängigkeit von politisch motivierten
Entscheidungen der Regierungen dieser Staaten. Zu beachten ist allerdings,
dass die westlichen Staaten ihrerseits großen Wert auf freien Kapitalverkehr
und Investitionsfreiheit gerade auch in den Ländern des Nahen Ostens, in
Russland und in China legen. Auch bleiben die meisten Beteiligungen (noch)
unter dem Anteil von zehn Prozent am Aktienkapital, ab dem erst ein
"maßgeblicher Einfluss" auf die Geschäftspolitik erwartet wird; nach
internationaler Konvention handelt es sich in diesen Fällen nicht um
Direktinvestitionen, sondern um Portfolioanlagen (siehe Glossar).
Quellentext
Staatlich, reich und verschwiegen
[...] Staatsfonds als Großanleger in der Wall Street.
Schwellenländer, die mit ihrem Geld bedeutende Unternehmen
der alten Industrienationen retten. Autoritäre Regime, die mit
Devisenüberschüssen in den Demokratien des Westens auf
Einkaufstour gehen. Es ist Globalisierung paradox.
Die neuen Supermächte an den Finanzmärkten sind staatlich,
reich und ziemlich verschwiegen. Es ist diese Kombination von
Eigenschaften, die Politikern und Managern des Westens Sorgen
bereitet. In der Bundesregierung in Berlin oder auch beim
Frühjahrsgipfel der EU (2008 - Anm.d. Red) in Brüssel fragen sich
die Verantwortlichen: Wer sind die neuen Investoren? Welche
Ziele verfolgen sie? Droht der Ausverkauf strategisch wichtiger
Unternehmen? Ist die öffentliche Versorgung durch die neuen
Geldgeber gefährdet?
Auch die Finanzwelt ist in Aufregung. Banken und Berater wittern
neue Geschäftsmöglichkeiten und geben sich in der Hoffnung auf
lukrative Verträge in Peking, Kuwait City oder Abu Dhabi die
Klinke in die Hand. Private Finanzinvestoren sehen im Geschäft
mit Firmenübernahmen neue Konkurrenz heranwachsen. Und
Institutionen wie der Internationale Währungsfonds (IWF) sorgen
sich um den Einfluss der neuen Akteure auf die Kapitalmärkte.
Es wäre ein Fehler, die politischen Fragen gering zu schätzen,
aber eine Herausforderung sind die Staatsfonds in erster Linie für
das Weltfinanzsystem. Noch beschränken sich die
Anlagegesellschaften auf kleine Beteiligungen an Unternehmen.
Doch dabei wird es nicht bleiben. Viele Staatsfonds wachsen
rasant, ihre Strategien dürften sich dabei verändern. Ihre
Bedeutung für Banken und die Stabilität der Kapitalmärkte nimmt
zu. Die Gefahr, dass sie politische und finanzielle Ziele
vermischen, bleibt. Staatsfonds sind keine normalen
Wirtschaftsakteure - und sie werden es wohl auch nie sein.
"Seit mehr als 50 Jahren haben wir keine politisch motivierten
Geldanlagen getätigt. Wir achten nur auf die Rendite", beteuert
Bader al Sa?ad. Der Finanzmanager [...] leitet die Kuwait
Investment Authority (KIA). 1953 gegründet, ist sie der älteste
Staatsfonds der Welt. Mit mehr als 200 Milliarden Dollar ist KIA
zugleich einer der größten Geldverwalter. Seit Jahrzehnten, so Al
Sa?ad, sei Kuwait an Daimler oder BP beteiligt. Und, so die
unausgesprochene Frage: Hat Kuwait etwa das Know-how des
deutschen Autoherstellers geklaut?
Das Beispiel Kuwaits zeigt, dass Staatsfonds keine völlig neue
Erscheinung sind. Im Nahen Osten speisen sich die Fonds aus den
Öleinnahmen, in Südostasien meist aus den Devisenreserven, die
durch Exporte entstehen. Ihr Geld investierten die Fonds bisher in
renditearme Staatsanleihen. Stiegen sie bei Unternehmen des
Westens ein, dann meist nur mit kleinen Anteilen und unter
Verzicht auf Stimmrechte und Aufsichtsratsmandate. Große
Risiken scheuten sie, sie sahen es als ihre Aufgabe an, das
Vermögen ihrer Länder für künftige Generationen zu erhalten.
Die Fonds interessierten sich nicht für das tägliche Auf und Ab der
Börse, sondern dachten langfristig. Damit wirkten sie
stabilisierend auf das globale Finanzsystem.
Jetzt kommen die Dinge in Bewegung. Der steigende Ölpreis ließ
viele Staatsfonds zuletzt massiv wachsen. Das veranlasste eine
Reihe von Fonds, ihr Geld stärker als bisher in Aktien und andere
Anlageklassen zu stecken, die riskanter, aber auch einträglicher
sind. Neugründungen wie der 2007 eingerichtete Staatsfonds
Chinas und der Anfang Februar geschaffene Wohlfahrtsfonds
Russlands erinnerten daran, dass viele Staatsfonds aus Ländern
kommen, denen Demokratie und Transparenz fremd sind.
Schon jetzt ist klar: Staatsfonds sind Teil einer
Machtverschiebung, die die Weltwirtschaft tief greifend
verändert. In Europa gehören ihnen Teile von Ferrari, der
Londoner Börse oder der Schweizer Banken UBS und Credit
Suisse.
Vor allem werden die neuen Finanzmächte immer größer. Rund
40 solcher Fonds kontrollieren inzwischen 3200 Milliarden Dollar,
haben Experten der Deutschen Bank ermittelt. Im Jahr 2015
dürften es laut Morgan Stanley 12 000 Milliarden Dollar sein.
Diese gewaltigen Summen wollen angelegt sein. Viele Fonds
werden nicht umhinkommen, ihre Strategie weiter zu verändern.
[...] Sind Staatsfonds die neuen "Heuschrecken"? Stefan Zuschke,
Deutschland-Chef des europäischen Finanzinvestors BC Partners,
sieht in den Fonds bereits Konkurrenten. "Die nächste Stufe ist,
zu sagen: Ich habe das Geld, ich habe das Know-how, das kann ich
auch allein!" Zuschke verweist auf Dubai International Capital
(DIC), eine Holding, die angeblich das Privatvermögen des
Scheichs verwaltet, von vielen aber als Staatsfonds eingestuft
wird. DIC verfügt über eine Private-Equity-Tochter, der in
Deutschland der Verpackungshersteller Mauser und der
Aluminiumverarbeiter Almatis gehören. Andere Fonds würden
folgen, glaubt Zuschke. Mehr noch: Dass Staatsfonds weiter
darauf verzichten, den Einstieg in Firmen auch über Kredite zu
finanzieren, gehört für Zuschke der Vergangenheit an: "Das wird
sich mit Sicherheit ändern." Die Schlagkraft der Fonds stiege
damit weiter. [...]
Arne Storn, "Die neuen Finanziers", in: DIE ZEIT Nr. 12 vom 13.
März 2008
Krisenpotenzial internationaler Kapitalbewegungen
Internationale Kapitalbewegungen haben einen erheblichen Einfluss auf Angebot und Nachfrage
an den Devisenmärkten und beeinflussen in beachtlichem Maße die Entwicklung von
Wechselkursen. Gleichzeitig ist die Ausnutzung von Wechselkursschwankungen ein wichtiges
Motiv für spekulative Kapitalbewegungen. Politische Krisen oder der Versuch von Regierungen,
nicht den Marktgegebenheiten entsprechende Wechselkurse zu verteidigen, können
Spekulationswellen auslösen. Jüngste Beispiele für solche Krisen fanden sich in Südostasien
(1997/98) und Südamerika (2001/02), wo ausgehend von Währungskrisen einzelner Staaten,
Thailand bzw. Argentinien, das gesamte Weltwährungssystem erschüttert wurde. Für die
international vernetzten Geldmärkte und Devisenbörsen ist die Bezeichnung "Weltmarkt" sicher
angebracht.
Quellentext
Spekulation - mehr als ein Risiko
[...] Spekulanten sorgen dafür, dass Märkte liquide bleiben und
dort schnelle Reaktionen erfolgen können. Der Preis für Erdöl ist
derzeit zweifellos spekulativ überhöht. Aber dank der Spekulation
wird in schwierigen Zeiten wie diesen überhaupt schnell ein Preis
gebildet, und die Märkte können angemessen auf neue
Phänomene wie den Nachfrageschub aus China und Indien
reagieren.
Es geht aber um mehr. Das Wort "Spekulation" kommt aus dem
lateinischen "speculari", was so viel heißt wie "spähen" oder "in
die Zukunft schauen". Tatsächlich ist Spekulation eine
unersetzliche ökonomische Brücke zwischen Gegenwart und
Zukunft. Märkte gab und gibt es immer und überall auf der Welt.
Selbst in kommunistischen Diktaturen haben Menschen Dinge
des Alltags getauscht. Aber nicht jeder Markt sorgt automatisch
für wachsenden Wohlstand. Das geht nur, wenn der Kreislauf von
Sparen und Investieren in Gang kommt, wenn es also Märkte
gibt, auf denen die Zukunft gehandelt wird. Und dazu sind
Spekulanten nötig, die Risiken eingehen.
Jeder, der investiert, spekuliert. Wer Bundesanleihen kauft, geht
das sehr geringe Risiko ein, dass die Bundesrepublik den
Staatsbankrott erklärt. Weil das Risiko kleiner ist als bei manch
anderen Ländern, ist der Käufer mit einer entsprechend
niedrigeren Rendite zufrieden. Wer Aktien kauft, stellt
Unternehmen Risikokapital zur Verfügung, er wird an den
Gewinnen ebenso wie an den Verlusten beteiligt. Entsprechend
höher ist seine Renditeerwartung. Wer sich schließlich am Spiel
mit Optionen und Futures beteiligt, riskiert täglich den
Totalverlust seines Kapitals und spekuliert daher auf zweistellige
Renditen.
Zum Spiel gehört es, dass sich Spekulanten irren können, unter
Umständen auch massiv. Immer wieder kommt es vor, dass an den
Börsen alle ihrem Herdentrieb folgen und kollektiv in die falsche
Richtung rennen. Das war bei der holländischen TulpenzwiebelHysterie im 17. Jahrhundert nicht anders als bei der amerikanischen
Immobilienspekulation dieser Tage. Aber selbst an
Spekulationsblasen ist nicht alles schlecht. Vom Eisenbahnboom des
19. Jahrhunderts blieben Schienen übrig, die nach dem Platzen der
Blase von gesünderen Unternehmen genutzt werden konnten. Die
Glasfaserkabel, die während des letzten Internet-Booms gelegt
wurden, erhöhen heute die Produktivität der Wirtschaft.
Kein Zweifel allerdings auch, dass Spekulation Einrichtungen zur
Schadensbegrenzung braucht; ohne staatliche Regulierung können
Märkte in die Katastrophe laufen. Wenn sie ihren Job gut machen,
lernen die Regulierer aus jeder größeren Krise. Nach dem
Börsenkrach von 1987 wurden an der New York Stock Exchange
Sicherungen eingebaut, die den Handel mit einer Aktie bei extremen
Kursstürzen unterbrechen. [...]
Und vielleicht werden die Gelehrten bald herausfinden, dass selbst
der Kredit- und Immobilienboom der vergangenen Jahre noch irgend
etwas Gutes in der Welt hinterlassen hat, auch wenn sich das heute
noch niemand vorstellen kann.
Nikolaus Piper, "Ein Lob der Zockerei", in: Süddeutsche Zeitung vom
23. Januar 2008
5. Direktinvestitionen und multinationale Unternehmen
Eine weitere Quelle für das rasche Wachstum des internationalen
Kapitalverkehrs ist der längerfristige Kapitalexport in Form von
Direktinvestitionen. Als Direktinvestition (Foreign Direct
Investments, FDI) wird die Gründung von Tochterfirmen im
Ausland oder der Erwerb von beziehungsweise die Beteiligung an
ausländischen Unternehmen bezeichnet. Im Unterschied zu
Portfolioinvestitionen wird eine Einflussnahme auf die
Geschäftspolitik der Unternehmen angestrebt. Direktinvestitionen
führen zur Internationalisierung von Unternehmen; sie sind daher
ein besonders hervorzuhebendes Element im
Globalisierungsprozess der Wirtschaft. Immer mehr Unternehmen
errichten Produktionsstätten oder erwerben Tochtergesellschaften
im Ausland und sind bestrebt, neue ausländische Absatzmärkte zu
erschließen, wodurch weltweite Handelsnetze entstehen.
Die Direktinvestitionen machen einen beträchtlichen Anteil der
internationalen Kapitalströme aus. Seit Beginn der 1980er Jahre bis
zur Jahrtausendwende sind Investitionen in ausländische
Produktionsstätten etwa sechsmal so stark gewachsen wie das
Welthandelsvolumen. Schätzungen der Welthandelskonferenz
(United Nations Conference on Trade and Development, UNCTAD)
zufolge bestreiten multinationale Unternehmen heute bis zu 80
Prozent des Welthandels. Knapp die Hälfte des Handels
multinationaler Unternehmen bezieht sich auf den internen Hnadel
zwischen Standorten eines multinationalen Konzerns. Es handelt
sich dabei um die Vernetzung von Produktionsstätten eines
Konzerns in verschiedenen Staaten. Ein Beispiel ist das weltweite
Netz von Produktionsstätten großer Automobilunternehmen.
Die Geschäfte der multinationalen Unternehmen sind heute aus
dem Welthandel nicht mehr wegzudenken: Unter anderem
Nahrungsmittelkonzerne wie Unilever, Nestlé oder Coca Cola sind
mit ihren im In- oder Ausland erzeugten Markenprodukten Teil
unseres Alltags. Multinationale Banken wickeln den größten Teil
des internationalen Kapitalverkehrs ab. Entscheidungen in den
Führungsspitzen großer multinationaler Unternehmen, zum
Beispiel über Produktionsstätten, Innovationen und
Marktstrategien spielen eine wichtige Rolle für die wirtschaftliche,
soziale und politische Entwicklung von betroffenen Staaten.
Bis zum Ende der 1960er Jahre kamen fast alle multinationalen Unternehmen
aus den USA. Seit Mitte der 1970er Jahre geht ihr Wachstum jedoch nicht mehr
nur von den Vereinigten Staaten aus, und es sind auch nicht mehr nur
Großunternehmen, die international tätig werden. Besonders europäische und
japanische Unternehmen entwickelten sich zu multinationalen Unternehmen
und dehnten ihre Aktivitäten auch auf den US-amerikanischen Markt aus. Die
Bundesrepublik Deutschland, die in den 1960er Jahren beim Aufbau ihrer
Wirtschaft stark vom Nettozufluss ausländischer Direktinvestitionen profitiert
hatte, investiert heute sehr viel mehr Kapital im Ausland, als von dort
hereinströmt.
Die wichtigsten Kapitaltransfers betreffen Investitionen westeuropäischer und
nordamerikanischer Firmen in anderen Industrieländern, in den
Schwellenländern Lateinamerikas und Südostasiens sowie in den
osteuropäischen Transformationsländern. In die ärmeren Entwicklungsländer
fließen dagegen weniger Investitionen, weil man sie für wirtschaftlich und
politisch krisenanfälliger hält. Nach Angaben des World Investment Report 2007
der UNCTAD (www.unctad.org) wurden 2006 weltweit Direktinvestitionen in
Höhe von 1305 Milliarden US-Dollar getätigt. Davon entfielen auf die
Industrieländer 857 Milliarden (65,7 Prozent), auf die Entwicklungsländer 379
Milliarden (29,0 Prozent) und auf die Transformationsländer 69 Milliarden (5,3
Prozent). Der Hauptteil der Investitionen in die Entwicklungsländer ging nach
China und in die fortgeschrittenen Schwellenländer Ostasiens und Südamerikas.
In die 50 am wenigsten entwickelten Länder flossen weniger als zwei Prozent
der weltweiten Auslandsinvestitionen.
Bemerkenswert ist die zunehmende Verschiebung der Direktinvestitionen vom industriellen in
den Dienstleistungsbereich. Multinationale Unternehmen finden sich nicht mehr nur im primären
Sektor (Landwirtschaft und Bergbau) und im sekundären Sektor (Industrie). Auch
Handelsunternehmen, Banken, Medienkonzerne, Hotelketten und Werbeagenturen sind heute
weltweit mit Niederlassungen vertreten. 2004 wurden 63 Prozent der Direktinvestitionen im
tertiären Sektor getätigt.
Die multinationalen Unternehmen und ihre Investitionen sind für Volkswirtschaften von großer
Bedeutung. Ausländische Standorte werden immer wichtiger für deutsche Firmen, während die
Bundesrepublik nicht in gleichem Maße ausländische Unternehmen anzieht. 2006 investierten
deutsche Firmen 45,1 Milliarden Euro im Ausland, ausländische investierten 28,4 Milliarden Euro
in Deutschland. Wichtigste Zielländer für deutsche Direktinvestitionen sind die Industriestaaten,
in erster Linie die EU-Mitgliedstaaten, in die etwa die Hälfte der deutschen Direktinvestitionen
geht. An zweiter Stelle stehen die USA. Relativ geringe Prozentanteile entfallen auf die übrigen
Industriestaaten (einschließlich Japan) und die Entwicklungsländer. Von wachsender Bedeutung
als Standorte deutscher Direktinvestitionen sind die mittel- und osteuropäischen
Transformationsländer. Inzwischen ist besonders China ein bevorzugter Investitionsstandort für
deutsche Firmen vor allem aus dem Bereich der Automobilindustrie.
Generell tendieren die wichtigen Kapitalexportländer dazu, in Industriestaaten mit
vergleichbarem Entwicklungsniveau in Europa und Nordamerika zu investieren. Hier treffen sie
auf kaufkräftige Nachfrage, technologisches Know-how, qualifizierte Arbeitskräfte,
Rechtssicherheit und die infrastrukturellen Voraussetzungen für Auslandsengagements wie
Verkehrswege, Telekommunikation und eine leistungsfähige öffentliche Verwaltung. Seit Mitte
der 1990er Jahre ziehen auch südostasiatische und südamerikanische Entwicklungsländer als
Standorte Investitionen, besonders aus Amerika und Japan, an. Deutschland folgte mit etwas
Verzögerung.
Motive für Auslandsinvestitionen
Die rasche Entwicklung der multinationalen Unternehmen hat viele Ursachen: Zu nennen sind vor
allem die Liberalisierung des Welthandels und des internationalen Kapitalverkehrs zwischen den
westlichen Industriestaaten sowie der technologische Fortschritt, der leistungsfähige globale
Informations-, Kommunikations- und Transportnetze entstehen ließ.
Unter den betriebswirtschaftlichen Motiven für eine internationale Geschäftstätigkeit steht die
Erschließung neuer Absatzmärkte an erster Stelle. Die Nähe zum Kunden macht eigene Vertriebs-,
Service- oder gar Produktionsstätten vor Ort erforderlich. Diesem Motiv folgen nicht nur die
großen Weltkonzerne, sondern auch immer mehr mittelständische Betriebe, um so
wettbewerbsfähig zu bleiben.
Ein weiteres Motiv für Auslandsinvestitionen ist die Ausnutzung von
Standortvorteilen, insbesondere von unterschiedlichen Arbeitskosten
(durchschnittlicher Stundenlohn plus Lohnzusatzkosten). Deutschland ist seit
vielen Jahren ein Hochlohnland und lag im Jahr 2006 mit Arbeitskosten von 32
Euro pro Stunde im verarbeitenden Gewerbe im europäischen Vergleich auf
Rang vier. Die Arbeitskosten sind in Ostdeutschland rund 40 Prozent niedriger
als in Westdeutschland. Entscheidender Faktor bei der Standortwahl von
Unternehmen ist aber nicht die absolute Höhe der Arbeitskosten, sondern die
Höhe der Lohnstückkosten, das heißt das Verhältnis von Arbeitskosten und
Arbeitsproduktivität. Da auch die Arbeitsproduktivität in Deutschland dank
moderner Technologien, effizienter Infrastruktur und hoch qualifizierter
Arbeitskräfte internationale Spitzenwerte erreicht, kann diese bei
anspruchsvollen Produkten den Nachteil hoher Arbeitskosten teilweise
kompensieren. Im Falle von arbeitsintensiven Vorprodukten gelingt dieser
Ausgleich häufig nicht. In diesem Fall kann die teilweise Verlagerung der
Produktion ins kostengünstigere Ausland die Wettbewerbsfähigkeit auch der
inländischen Standorte verbessern. Der Einsatz kostengünstig produzierter
Vorprodukte macht in Deutschland hergestellte Fertigprodukte preiswerter.
Die vergleichsweise hohen Lohnstückkosten bedeuten einen Kostennachteil für den Standort
Deutschland. Er löst massiven Rationalisierungsdruck in der Industrie aus und hat zum Abbau von
Arbeitsplätzen in vielen Wirtschaftszweigen geführt: Immer häufiger verlagern Unternehmen
arbeitsintensive Produktionen oder Teilprozesse in Entwicklungsländer oder nach Osteuropa, und
auch bei technisch komplexen Produkten erweisen sich Standorte in anderen EU-Ländern und in
den USA als kostengünstiger. Diese besorgniserregende Tendenz hat in den vergangenen Jahren
zu einer kontroversen Diskussion über die Zukunft der wirtschaftlichen und sozialstaatlichen
Entwicklung Deutschlands geführt.
Ein drittes Motiv für Auslandsinvestitionen neben dem Absatz- und dem Kostenmotiv kann die
Sicherung der Rohstoffversorgung (zum Beispiel in der Mineralölwirtschaft oder Stahlindustrie)
sein. Von wachsender Bedeutung ist darüber hinaus das Bestreben, Zugang zu neuen
Technologien oder zum innovativen Know-how an Hightech-Standorten zu erhalten. Kapitalstarke
multinationale Unternehmen übernehmen innovative kleine Unternehmen und sorgen für die
breite Einführung der Erfindungen am Markt. Beispiele lassen sich in der EDV-Branche, der
Pharma- oder Gentechnik finden.
Weitere Motive für die Standortwahl liefern von Staaten gesetzte Rahmenbedingungen, wie etwa
die Höhe der Gewinnbesteuerung. Die Verteilung der Standorte eines multinationalen
Unternehmens auf verschiedene Staaten ermöglicht es ihm, durch Festsetzung von internen
Verrechungspreisen seine Gewinne dort zu versteuern, wo es für das Unternehmen am
günstigsten ist. Diese Praxis ist umstritten, da sie zu einer verstärkten Konkurrenz zwischen
einzelnen Staaten um günstigere Unternehmenssteuern und letztlich zu einer geringeren
Besteuerung der Unternehmensgewinne führt.
Ebenso können sich starre arbeits- und sozialrechtliche Standards - und damit verbunden hohe
Personalzusatzkosten und geringe Flexibilität von Arbeitszeiten, aber auch strenge Umweltschutzoder Wettbewerbsgesetze negativ auf Standortentscheidungen auswirken. Eine bedeutende Rolle
spielen zudem das "soziale Klima" zwischen den Tarifparteien und die politische Stabilität eines
Landes. Hohe Streikhäufigkeit, die Gefahr von Enteignung oder Beschränkung des
Gewinntransfers in das Heimatland können kostenmäßig vorteilhafte Standorte unattraktiv
machen.
Schließlich schafft auch die wirtschaftliche Integration von Staaten Anreize für
Direktinvestitionen: Schließen sich Volkswirtschaften zu Wirtschaftsgemeinschaften zusammen,
entsteht ein Anreiz für Firmen aus Drittländern, sich durch Gründung oder Erwerb von Betrieben
den Marktzugang zu Binnenmarktbedingungen zu sichern. Dieses Motiv spielt besonders für die
amerikanischen und japanischen Investitionen in der EU eine wichtige Rolle. Großbritannien ist
ein bevorzugter Standort für Firmen aus Japan und den USA, die von dort aus den EUBinnenmarkt beliefern können. Ähnliches gilt im Falle der NAFTA für europäische und japanische
Unternehmen, die sich über Mexiko Zugang zum US-amerikanischen Markt verschaffen. Ein
Beispiel ist der Volkswagen-Konzern, der den US-Markt vom mexikanischen Standort Puebla aus
beliefert.
6. Arbeits- und Armutsmigration
Im Zuge der Internationalisierungsprozesse und des Ausbaus weltumspannender Netzwerke nimmt
die Arbeitsmigration zu. Zum einen sind durch die grenzüberschreitenden Verflechtungen der
Unternehmen auch die Arbeitskräfte mobiler geworden. So ist eine zeitweilige Tätigkeit im Ausland
für viele Arbeitnehmer etwa in der Tourismusbranche, im Anlagenbau oder in international tätigen
Industriefirmen und Banken selbstverständlich geworden. Internationale Erfahrungen und
Fremdsprachenkenntnisse werden zunehmend zu Voraussetzungen für eine erfolgreiche Karriere.
Zum anderen führte Fachkräftemangel in einigen Ländern besonders nach der Verwirklichung des
europäischen Binnenmarktes zu einer erhöhten Mobilität von qualifizierten Arbeitskräften und
Führungsnachwuchs in Europa und weltweit. Der Fachkräftemangel löste auch die Diskussionen über
Zuwanderungserleichterungen für qualifizierte Arbeitskräfte in die EU aus.
Quellentext
Umworbene Arbeitskraft
Das Billigfliegerterminal des Warschauer Flughafens platzt aus
allen Nähten. Drei lange Schlangen haben sich bis auf den
Vorplatz des Terminals "Etude" gestaut. [...] Die Passagiere
wollen nur eines: schnell und billig an den Arbeitsplatz.
Trondheim, Sheffield und Dortmund werden fast gleichzeitig
angeflogen; in den Warteschlangen ist man sich einig: Alle wollen
irgendwann zurück nach Polen, doch jetzt noch nicht. "Wenn die
Wohnung bezahlt ist", sagt der eine. "Wenn unser Sohn in
England eingeschult werden soll", eine junge Mutter. "Wenn ich
in Polen gleich viel verdienen werde", ein Dritter.
Und dennoch, Umfragen unter polnischen Arbeitsmigranten im
Ausland zeigen, dass sich die Auswanderungswelle seit Polens EUBeitritt 2004 in diesem Jahr (2008 - Anm. d. Red.) zum ersten Mal
abschwächen dürfte. Wie viele Polen ausgewandert sind, weiß
niemand. Schätzungen sprechen von 0,7 bis zwei Millionen allein
in den vergangenen vier Jahren. Die Mehrheit davon ist zwischen
18 und 34, ein Drittel hat Hochschulbildung. Allein im letzten Jahr
haben sie vier Milliarden Euro in die Heimat überwiesen. In
Großbritannien, wohin die meisten Polen ausgewandert sind,
gaben in einer Umfrage kürzlich 50 Prozent an, in den nächsten
Jahren wieder nach Polen zurückkehren zu wollen. Zwölf Prozent
planten diesen Schritt für das laufende Jahr. 2007 waren es noch
sechs Prozent, etwa 50 000 polnische Gastarbeiter. [...]
Eine vermehrte Rückwanderung könnte den großen
Facharbeitermangel in Polen beheben und das Land so wieder
attraktiver für ausländische Investoren machen. Die
rechtsliberale Regierung von Donald Tusk hat bereits
Rückholkampagnen gestartet; sie bietet Heimkehrern auch eine
Steueramnestie und Hilfe bei Firmengründungen an. Das
Entscheidende aber sei, dass in Polen die Gehälter kräftig
angestiegen sind, erklärt Rainer Pauly, der Geschäftsführer der
Warschauer Niederlassung der deutschen
Personalberatungsfirma PSP-International [...] "Auswanderer sind
für uns attraktiv, denn sie haben bewiesen, dass sie sich schnell
auf neue Situationen einstellen können", sagt Pauly, der
händeringend Handelsvertreter, Bauingenieure,
Qualitätsmanager, Produktionschefs und viele weitere Vertreter
des mittleren Managements sucht. Bieten kann der
Personalberater in Polen nicht selten Löhne von 3000 Euro.
Polnische Ökonomen machen die Lohnsteigerungen von rund 20
Prozent in einem Jahr sowie vor allem den schlechten Pfundkurs
für die gestiegene Rückkehrbereitschaft verantwortlich. Eine
Umfrage des Interaktiven Marktforschungsinstituts in England hat
jedoch ergeben, dass 35 Prozent wegen Heimwehs wieder zurück
wollen. Jeder Dritte nannte die beschränkten beruflichen
Aufstiegschancen als Grund. Die meisten Polen arbeiten trotz
guter Bildung in Großbritannien manuell. Doch nun haben etwa
Hotels damit begonnen, massiv einfache polnische
Hotelangestellte aus Irland abzuwerben und zu Hause in hohe
Positionen zu katapultieren. Wer als Gastarbeiter in Deutschland
in der Fahrzeugbranche am Fließband gearbeitet habe, könne in
Polen mit einem verantwortungsvollen Posten rechnen, bestätigt
Pauly den Trend.
Dennoch warnen Arbeitsmarktforscher vor zu viel Optimismus.
Bisher hätten in erster Linie die Erstauswanderungen
abgenommen, sagen sie. Auch Personalberater Pauly glaubt nicht
an das große Rückkehrerwunder: "Entweder muss Polen seine
Produktion künftig nach Osten verlegen oder seine Tore weit für
Gastarbeiter der östlichen Nachbarländer öffnen."
Paul Flückiger, "Heim nach Polen", Die Welt vom 30. April 2008
Ebenfalls zugenommen hat die Armutsmigration, die durch das Wohlstandsgefälle zwischen reichen
Staaten und Entwicklungsländern ausgelöst wird. Die EU erfährt einen unvermindert anhaltenden
Migrationsdruck, der von Afrika, Osteuropa, Asien und der Karibik ausgeht. Ursachen der teilweise
illegalen Einwanderungen liegen in Armut und fehlenden Beschäftigungsaussichten, oftmals bedingt
durch unzureichende politische Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung
der Herkunftsländer. Hinzu kommen Menschen, die vor Menschenrechtsverletzungen Zuflucht
suchen.
Armuts- und Arbeitsmigration sind häufig Anlass politischer Diskussionen
über Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen ausländischer
Arbeitskräfte. Das oft zu hörende Vorurteil, ausländische Arbeiter
könnten den Inländern die Arbeitsplätze wegnehmen, muss differenziert
betrachtet werden. Wenn Einwanderer bereit sind, für weniger Lohn als
im Inland üblich zu arbeiten, kann dies zu einem Absinken der Löhne
führen. Angesichts des streng regulierten Zugangsrechts zum deutschen
Arbeitsmarkt ist diese Sorge nicht generell berechtigt. In Teilen des
Niedriglohnsektors, beispielsweise im Reinigungs- und
Gaststättengewerbe, ist der verstärkte Konkurrenzdruck jedoch deutlich
spürbar. Oftmals übernehmen Ausländer aber auch wichtige Arbeiten, die
von Inländern auf dem Arbeitsmarkt nicht besonders nachgefragt
werden. Dazu zählen etwa die häusliche Pflege älterer Menschen oder
Erntearbeiten. Mit ihren Arbeitsleistungen, ihren Sozialabgaben und
Steuern tragen ausländische Beschäftigte zum Bruttoinlandsprodukt bei.
7. Deutschlands Verflechtung in die Weltwirtschaft
Die wirtschaftlichen Vorgänge zwischen In- und Ausländern in einem Jahr werden in der vom
Statistischen Bundesamt erstellten Zahlungsbilanz erfasst. Als Inländer gelten alle Personen und
Unternehmen mit Sitz im Inland. Somit zählen auch im Inland lebende Ausländer und inländische
Firmen in ausländischem Besitz zu den Inländern. Die Zahlungsbilanz wird nach Art der
ökonomischen Vorgänge in Teilbilanzen gegliedert. Die Im- und Exporte von Waren werden in der
Handelsbilanz und die Im- und Exporte von Dienstleistungen in der Dienstleistungsbilanz erfasst. Die
Bilanz der Erwerbs- und Vermögenseinkünfte beinhaltet grenzüberschreitende Entgelte für
Produktionsfaktoren (Einkommen einer im Inland beschäftigten, aber im Ausland lebenden Person).
Die Bilanzen von Außenhandel, Dienstleistungen, Erwerbs- und Vermögenseinkommen sowie die
laufenden Übertragungen (zum Beispiel Heimatüberweisungen ausländischer Arbeitnehmer,
Entwicklungshilfezahlungen) sind in der Leistungsbilanz zusammengefasst.
Vermögensmitnahmen von Aus- bzw. Einwanderern oder Schuldenerlasse werden in der Bilanz der
Vermögensübertragungen erfasst. Die Kapitalbilanz erfasst laufende Kapitaltransaktionen (Kredite an
Ausländer bzw. von Ausländern) und Direktinvestitionen.
Die Differenz aus Zahlungszuflüssen und Zahlungsabflüssen ergibt die Veränderung der
Währungsreserven. Die Zahlungsbilanz wird durch diesen Saldo ausgeglichen. Da in der Praxis nicht
alle grenzüberschreitenden Aktivitäten erfasst werden können, wird mathematisch der Ausgleich
durch einen "Restposten" herbeigeführt.
Deutschland zählt neben den USA, China und Japan zu den wichtigsten Außenhandelsnationen.
Im Jahr 2006 erreichte die Ausfuhr deutscher Waren 904,9 Milliarden Euro; die Einfuhr von
Waren nach Deutschland betrug 741,5 Milliarden Euro. 2008 dürfte bei den Ausfuhren die Marke
von 1000 Milliarden Euro überschritten werden.
Einen Eindruck von der Einbindung Deutschlands in den internationalen Handel vermitteln die
Import- und Exportquote. Das Verhältnis der Einfuhren zum BIP betrug 2006 31,7 Prozent
(Importquote); die Exportquote betrug 38,7 Prozent. Mit anderen Worten: Fast ein Drittel der im
Inland verfügbaren Fertigwaren und Vorprodukte stammten aus dem Ausland. Etwa 40 Prozent
aller Arbeitsplätze im Inland produzieren für ausländische Kunden. Berücksichtigt man zusätzlich
zum Warenverkehr noch den Dienstleistungs- und den Kapitalverkehr ist die
Auslandsabhängigkeit noch weitaus größer.
Die Auslandsverflechtung ist nicht in allen Wirtschaftszweigen gleich. Auffallend ist, dass viele
Industriezweige sowohl beim Export als auch beim Import mit hohen Zahlen vertreten sind. Dies
kann auf zwei Ursachen zurückgeführt werden: In der Papier- und Chemieindustrie zum Beispiel
müssen fast alle Rohstoffe importiert werden, ein erheblicher Teil der Fertigerzeugnisse wird
exportiert. Demgegenüber finden sich im Straßenfahrzeugbau auf der Import- und der Exportseite
gleichartige Erzeugnisse (Autos in- und ausländischer Hersteller). Die Differenzierung der
Nachfrage auf dem Heimatmarkt ist ursächlich für diesen intra-industriellen Handel. Die
deutschen Fahrzeugkunden interessieren sich zum Beispiel nicht nur für einheimische, sondern
auch für japanische, französische oder italienische Automobile. Der deutsche Außenhandel ist
sehr stark auf den intra-industriellen Austausch gleichartiger Produkte ausgerichtet.
Eine auf Regionen bezogene Betrachtung zeigt, wie stark Deutschland in den europäischen
Binnenmarkt eingebunden ist. 2007 stammten 59,7 Prozent der Importe aus Ländern der
Europäischen Union (EU-27), 64,8 Prozent der Exporte gingen dorthin. Allerdings ist zu fragen, ob es
hier wirklich noch um "Außenhandel" im klassischen Sinne geht: Mit der fortgeschrittenen
Integration entwickelt der europäische Binnenmarkt sich für immer mehr Unternehmen zu einem
Teil des "heimischen" Marktes. Nach der Errichtung der Währungsunion wurde der intra-EU-Handel
im "Euroland" praktisch zum Binnenhandel.
Auf den Handel mit den westlichen Industriestaaten (den EU-Ländern, USA, Kanada dazu auch Japan)
entfallen etwa drei Viertel sowohl der Importe wie der Exporte. Daneben gewinnen Ost- und
Südostasien an Bedeutung: Nach China gingen 2007 3,1 Prozent der Ausfuhren, von dort kamen 7,1
Prozent der Importe. Ebenso bedeutsam ist der Handel mit den südostasiatischen Schwellenländern
(Anteile am Export 2007 3,3 Prozent, am Import 4,3 Prozent). Hohe Zuwachsraten weist auch der
Handel mit den mittel- und osteuropäischen Ländern auf, die seit 2004 EU-Mitglieder sind (11,6
Prozent Anteil am Export, 13,6 Prozent Anteil am Import -Stand 2006). Etwas zurückgegangen ist der
Handel mit den Staaten, die der Organisation der Erdöl exportierenden Länder (Organization of
Petrol Exporting Countries, OPEC) angehören, unter anderem die Nahost-Staaten, Venezuela, Nigeria
und Indonesien. Dies ist vor allem auf die wachsende Bedeutung von Großbritannien, Norwegen und
Russland als Erdöllieferanten zurückzuführen, die neben die OPEC-Länder getreten sind.
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