Das Usher

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Diplomarbeit
Das Usher-Syndrom
(Retinitis pigmentosa u. angeborene cochleäre Innenohrschädigung)
Bio-psycho-soziale Auswirkungen einer
doppelten Sinnesbeeinträchtigung
eingereicht von
Barbara Gaugl
geb. am 22.05.1977
zur Erlangung des akademischen Grades
Doktorin der gesamten Heilkunde
(Drin med. univ.)
an der
Medizinischen Universität Graz
ausgeführt an der
Universitäts-Augenklinik Graz
unter der Anleitung von
ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. phil. Otto Schmut
Dr. med. univ. Dieter F. Rabensteiner
Graz, im Juli 2013
Eidesstattliche Erklärung
Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde
Hilfe verfasst habe, andere als die angegebenen Quellen nicht verwendet habe und die den
benutzten Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich
gemacht habe.
Graz, am
__________________
i
Gewidmet
meiner Familie
und
meinem Freund René
ii
Gendergerechte Formulierung
Zur Erleichterung der Lesbarkeit der vorliegenden Arbeit und aus Gründen der
Praktikabilität habe ich mich entschlossen, geschlechtsneutrale Formulierungen bzw. das
generische Maskulinum zu verwenden. In dieser Schreibweise sind ausdrücklich sowohl
männliche als auch weibliche Personen eingeschlossen, soweit nicht zu einer
differenzierten Betrachtung explizit nur die männliche oder weibliche Wortform gewählt
wurde.
iii
Mein Dank gilt…
…vielen Menschen, ohne die es mir nicht möglich gewesen wäre, dieses Studium zu
beginnen und zu beenden. Sie alle haben ihren großen oder kleinen Teil dazu beigetragen
diesen Weg zum Erfolg zu führen – sie alle hier namentlich zu nennen ist unmöglich,
jedoch richtet sich mein aufrichtiger Dank an euch, für euere Unterstützung und den
Glauben an mich.
…allen voran meinen Eltern, die mich nicht nur finanziell, sondern auch moralisch immer
unterstützt und mir den Rücken gestärkt haben – ohne euch, wäre dieses Studium niemals
möglich gewesen.
…meinem Freund René, der einen wichtigen Teil des Weges mit mir gegangen ist und der
oft ein geduldiger Zuhörer und meine emotionale Stütze war.
…meinem Betreuer Herrn Univ.-Prof. Dr. Otto Schmut für die unendliche Geduld sowie
für die fachliche und kompetente Unterstützung bei der Erstellung der Diplomarbeit.
…meinen Freunden, die mich während des Studiums begeleitet, aufgebaut und auf ihre
Weise immer wieder motiviert haben. Besonderer Dank geht an Markus, der in den letzten
Jahren stets ein offenes Ohr für mich hatte. Und DANKE Lissy – ohne dich hätte ich den
Endspurt nicht geschafft – vor allem hätte das 6. Studienjahr niemals so viel Spaß gemacht.
„ Geduld bedeutet nicht, auf etwas zu warten, sondern zu wissen, dass es geschehen wird,
wenn die Bedingungen reif sind.“
iv
Zusammenfassung
Das Usher-Syndrom ist eine Hörsehbehinderung, welche autosomal rezessiv vererbt wird.
Definiert wird die Erkrankung durch früh einsetzende Innenohrschwerhörigkeit oder
Gehörlosigkeit von Geburt an und später einsetzenden Verlust des Gesichtsfeldes,
verursacht durch Retinitis pigmentosa. Das Absterben der Photorezeptoren vollzieht sich in
der Regel von der Peripherie zur Macula hin. Wie für eine Retinitis pigmentosa typisch,
kommt es im Verlauf erst zu Nachtblindheit und dann zu einer langsamen Einschränkung
des Gesichtsfeldes bis hin zu einem sich immer mehr verengenden „Tunnelblick“, was in
einem späteren Stadium in der Regel – ja nach Usher-Typ – zur Erblindung führt. Die
Hörbeeinträchtigung beim Usher-Syndrom beruht im Wesentlichen auf einer Schädigung
der Haarzellen in der Schnecke des Innenohres. Sie liegt meist ab der Geburt in Form von
Taubheit oder mittel- bis hochgradiger Schwerhörigkeit vor.
Die Erkrankung zeigt sowohl klinisch als auch genetisch kein einheitliches Bild, weshalb
sich eine klinische Einteilung in Subtypen bewährt hat. Der Zeitpunkt des Auftretens erster
Symptome der Retinitis pigmentosa lässt sich nicht genau feststellen, da das Alter, in dem
diese dann bemerkt und erkannt werden, sehr variabel ist. Der Verlauf und das
Fortschreiten der Krankheit sind intra- und interfamiliär unterschiedlich und nicht genau
vorauszusehen. Es ist nur auf der Basis regelmäßiger klinischer Untersuchungen in zweibis fünfjährigen Abständen möglich abzuschätzen, wie schnell der Sehverlust
voranschreitet. Vor allem die Gesichtsfeldeinschränkungen und die Fähigkeit damit
umzugehen, sowie ihre psychische Bewältigung sind individuell verschieden. Den
exemplarischen Fall des Usher-Syndroms gibt es nicht.
Ziel dieser Diplomarbeit ist es primär diese seltene und relativ unbekannte Erkrankung
publik zu machen und die bio-psycho-sozialen Probleme aufzuzeigen, mit denen UsherSyndrom Betroffene tagtäglich in unserer Gesellschaft leben und kämpfen; aufzuzeigen,
was es heißt, mit einer doppelten Sinnesbeeinträchtigung das Leben und den Alltag zu
meistern. An welche Grenzen sie stoßen, sei es in der Kommunikation, in banalen
Alltagssituationen und vor allem welche Arbeit es bedeutet, diese Behinderung zu
akzeptieren und zu bewältigen.
v
Abstract
Usher syndrome is a disability, which is inherited as an autosomal recessive trait. This
disease is characterized by sensorineural hearing loss or deafness from birth and a gradual
loss of vision caused by retinitis pigmentosa. The death of photoreceptors usually takes
place from the periphery toward the macula. Typical of retinitis pigmentosa, people suffer
from night blindness and then the gradual loss of vision and "tunnel vision" leading to
blindness at a later stage – depending on Usher type. The hearing impairment in Usher
syndrome is mainly due to damage to the hair cells in the cochlea of the inner ear. It is
usually from birth as deafness or moderate to severe hearing loss.
There is no typical picture of the disease. That is why there is a clinical classification in
subtypes. The age when the first symptoms of retinitis pigmentosa are recognized is highly
variable. The course and progression of the disease are intra-and inter-family different. The
progression of visual loss can only be estimated based on regular clinical examinations in
two-to five-year intervals. How to cope with the visual handicap, physically as well as
psychologically, is individually different. The exemplary case of Usher syndrome does not
exist.
The primary aim of the thesis is to publicize this rare and relatively unknown disease.
Moreover the bio – psychosocial problems of people suffering from the Usher syndrome
are demonstrated. The thesis shows the difficulties and limits which these people have to
confront in everyday life, communication and society. And it shows what it means to
accept this disability and to cope with it.
vi
Inhaltsverzeichnis
Eidesstattliche Erklärung
I
Danksagung
IV
Zusammenfassung
V
Abstract
VI
Inhaltsverzeichnis
VII
Glossar und Abkürzungen
IX
Abbildungsverzeichnis
X
Tabellenverzeichnis
XI
1.
Einleitung
1
1.1.
Thematische Hinführung
1
2.
Das Usher –Syndrom
5
2.1.
Symptome
5
2.2.
Vorkommen
5
2.3.
Klassifikation des Usher-Syndrom
6
2.4.
Vererbung
8
2.5.
Diagnostik
11
3.
Funktion und Störung des Sinnesorgan Ohr –
bezogen auf das Usher-Syndrom
11
3.1.
Anatomie
11
3.2.
Embryologie
14
3.3.
Physiologie
15
3.4.
Hörschädigungen
16
3.5.
Unterschied Schwerhörigkeit und Taubheit
18
3.6.
Hörstörungen des Usher-Syndroms
19
4.
Funktion und Störung des Sinnesorgan Auge –
Bezogen auf das Usher-Syndrom
20
4.1.
Anatomie
20
4.2.
Embryologie
23
4.3.
Physiologie
23
4.4.
Retinitis pigmentosa
26
4.4.1. Nachtblindheit
27
4.4.2. Eingeschränktes Gesichtsfeld
27
vii
4.4.3. Vermindertes Kontrastsehen
29
4.5.
Untersuchungsmethoden
30
5.
Auseinandersetzung mit der Behinderung
33
5.1.
Diagnose
33
5.2.
Bewältigungsprozess
34
5.3.
Auseinandersetzung mit der Hörbehinderung
36
5.4.
Doppelte Sinnesbeeinträchtigung
36
5.4.1. Taubblindheit
37
6.
Beeinträchtigung der Kommunikation
39
6.1.
Kommunikationsformen
40
6.1.1. Lautsprache
42
6.1.2. Gebärdensprache
43
6.1.3. Taktile Gebärdensprache
45
6.1.4. Lormen
46
7.
Spezielle Probleme von Usher-Syndrom Betroffenen im Alltag
48
8.
Interview mit einer Usher-Syndrom Betroffenen
51
9.
Therapie und Forschung
58
10.
Zusammenfassung
59
11.
Literaturverzeichnis
62
viii
Glossar und Abkürzungen
BIG
Bundesinstitut der Gehörlosenbildung Wien
CI
Cochlea Implantat
DGB
Deutsche Gebärdensprache
Dpt
Dioptrie
MdE/GdB
Minderung der Erwerbstätigkeit / Grad der Behinderung
ÖGS
Österreichische Gebärdensprache
ÖHTB
Österreichisches Hilfswerk für Taubblinde und hochgradig Hör- und
Sehbehinderte
RP
Retinitis pigmentosa
USH
Usher-Syndrom
ix
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1 „Angst & Schwerelosigkeit“ von Lernbass Markus
Abbildung 2 Charles Usher - http://www.mrcophth.com/ww/usher.htm
Abbildung 3 Autosomal-rezessiver Erbgang – http://www.bsvt-nordhausen.de
Abbildung 4 Sinnesorgan Ohr - http://www.hoersturz.de/das-ohr.htm
Abbildung 5 Schneckengang im Querschnitt - http://www.hoersturz.de/das-ohr.htm
Abbildung 6 Hörbahn - http://www.tz-wien.at
Abbildung 7 Haarzellen im Innenohr - http://www.tz-wien.at
Abbildung 8 Frequenz- u. Lautstärkenumfang von Musik u. Sprache - http://www.laermorama.ch
Abbildung 9 Aufbau des Auges
Abbildung 10 Schichten und Zelltypen der Retina
Abbildung 11 Nachtblindheit - http://www.uzh.ch/news/articles/2006/2391.html
Abbildung 12 Normalsicht - Tunnelblick
Abbildung 13 Normalsicht – Blendungsempfindlichkeit
Abbildung 14 Gesichtsfeldmessung - http://www.augen-wi.de/cms/index.php?glaukom-gruener-star
Abbildung 15 Intern. Einhand Fingeralphabet - http://www.gebaerdenlexikon.ch
Abbildung 16 Taktile Gebärdensprache - http://www.manuvista.de
Abbildung 17 Das Lormalphabet - http://www.michaelszczepanski.de/FA/Lormen01.jpg
4
5
9
12
12
14
14
16
20
21
27
28
29
30
45
46
48
Abbildungen 9, 10, 12 und 13 aus www.wikipedia.org (GNU-Lizenz)
x
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1
Tabelle 2
Tabelle 3
Tabelle 4
Klassifikation des Usher-Syndrom
Gene des Usher-Syndroms
Einstufung des Hörverlustes in Dezibel
Photopisches und skotopisches Sehen im Überblick
8
10
17
22
xi
1.
Einleitung
1.1.
Thematische Hinführung
Das Usher – Syndrom
Bio-psycho-soziale Auswirkungen einer
doppelten Sinnesbeeinträchtigung
1
Stellen Sie sich vor, blind zu sein...
Stellen Sie sich vor, auch taub zu sein...
Sie sehen NICHTS.
Sie hören NICHTS.
2
Wie kommunizieren Sie mit anderen Menschen?
Könnten Sie Ihre derzeitige Berufstätigkeit fortsetzen?
Könnten Sie überhaupt einen Beruf ausüben?
Wie würden Sie sich in der eigenen – wie in einer fremden Stadt
zurechtfinden?
Wie würden Sie im Alltag zu Recht kommen?
Wie würden Sie z.B. Ihre Einkäufe im Supermarkt tätigen?
Wie erledigen Sie Behördenwege?
Wie lernen Sie andere Menschen kennen?
Wie flirten Sie?
Wie spielen Sie mit Kindern? Besteht bei Ihnen, aufgrund der Erkrankung
überhaupt ein Kinderwunsch?
Könnten Sie Ihre derzeitigen Hobbys uneingeschränkt ausüben?
Könnten Sie so leben wie sie jetzt leben?
Versuchen Sie sich vorzustellen, wie Sie diese vermeintlich banalen Alltags-Situationen
meistern würden - vielleicht macht es das leichter, sich in die Situation eines UsherBetroffenen hineinzuversetzen. Manche Usher-Betroffene kommen taub, andere
schwerhörig zur Welt und mit zunehmendem Alter verschlechtert sich auch ihr
Sehvermögen – bei manchen bis hin zur absoluten Blindheit.
Die Diagnose "Usher-Syndrom" wird infolge des normalerweise schleichenden
Charakters der Erkrankung meist erst zu einem Zeitpunkt gestellt, in dem der Betroffene
hinsichtlich seiner familiären und beruflichen Lebensplanung bereits wichtige
Entscheidungen fällt oder gerade gefällt hat. Neben der Schwierigkeit, die Ausfälle seiner
sinnlichen Wahrnehmung zu kompensieren, bedeutet damit die emotionale Bewältigung
seiner Krankheit eine zusätzliche Belastung für den Usher-Betroffenen.
3
Die Diagnose löst ANGST aus.
Angst vor der beruflichen Zukunft und der materiellen Lebenssicherung.
Angst vor dem Verlust vieler Lebens- und Erlebensmöglichkeiten.
ANGST, als Behinderter gebrandmarkt zu werden.
Angst vor der Notwendigkeit, Hilfe zu fordern und anzunehmen.
Angst vor der Schwierigkeit, einen Partner zu finden, der diese schwere
Last mit trägt.
ANGST vor einem Leben in Isolation und Einsamkeit.
Abb.1: „Angst & Schwerelosigkeit“
4
Das Usher-Syndrom zählt wegen der Beeinträchtigung der beiden wichtigsten
Sinnesorgane Auge und Ohr zu den schwerwiegendsten Behinderungen überhaupt. Denn
grundsätzlich dienen die Sinnesorgane der Wahrnehmung der Umwelt und machen uns
damit ein Leben in ihr erst möglich.
2. Das Usher – Syndrom
2.1.
Symptome
Das Usher-Syndrom ist ein sowohl klinisch wie genetisch uneinheitliches Krankheitsbild,
das erstmals 1858 von dem deutschen Augenarzt Albrecht von Graefe – dem Begründer
der
modernen
Augenheilkunde
–
beschrieben
wurde
als
Kombination
von
Innenohrschwerhörigkeit und der Augenerkrankung Retinitis pigmentosa (RP).
Charles Howard Usher (1865-1942), ein englischer Augenarzt,
zeigte 1914 als erster die Erblichkeit der Erkrankung auf (Adler
et al., 1996). In den folgenden Jahren wurde diese Annahme von
verschiedenen Wissenschaftlern bestätigt, doch erst Carl H.
Hallgren, ein Genetiker aus Stockholm, untersuchte systematisch
die Häufigkeit des Usher Syndroms in Schweden und erkannte
1959
die
Einteilung
(Taubheit/Schwerhörigkeit).
Abb.2: Charles Usher
2.2.
in
Heute
2
Usher
sind
3
Typen
verschiedene
Subtypen des Usher Syndroms bekannt (Yan und Liu, 2010).
Vorkommen
Die Häufigkeit des Usher-Syndroms in der Bevölkerung wird auf ungefähr 4-6 Betroffene
pro 100.000 Personen geschätzt (Rosenberg et al., 1997). Nach skandinavischen
Erhebungen beträgt die Inzidenz etwa 1:30 000 (Witkowski und Ullrich, 1999). Es ist also
absolut gesehen eine seltene Erkrankung. Dennoch stellt das Usher-Syndrom in den
Industrieländern eine häufige Ursache von Taubblindheit dar und ist hier vermutlich für ca.
50% der Fälle verantwortlich (Bolz und Gal, 2002).
In Österreich leben etwa 400 – 1400 taubblinde bzw. hörsehbehinderte Menschen. Davon
sind etwa 335 bis 500 Usher-Syndrom-Betroffene. Es gibt für Österreich leider keine
genauen Zahlen – nur Schätzungen, die auf internationalen Erhebungen basieren. In
5
Deutschland leben ungefähr 5000 Betroffene (Wanka und Horsch, 2012). Von diesen sind
circa ein Drittel Usher-Syndrom Typ I und zwei Drittel Usher-Syndrom Typ II Betroffene.
Insgesamt wird weltweit eine Anzahl von 17.500 bis 25.000 Patienten mit Usher-Syndrom
angenommen. In den Hörgeschädigten-Schulen sind zwischen drei und fünf Prozent der
Schüler am Usher-Syndrom erkrankt. Man kann davon ausgehen, dass von den Menschen,
die von Geburt an unter einer Schwerhörigkeit oder Taubheit und einer Sehminderung
leiden zwischen 6% und 12% vom Usher-Syndrom betroffen sind (Große-Wilde, 2009;
Rohrschneider, 2003).
Geschichtlich betrachtet galt die Röteln-Erkrankung in der 1960er und 1970er Jahren als
primäre Ursache einer hochgradigen Hör-Sehbehinderung. Die an sich harmlose RötelnErkrankung kann in der Schwangerschaft schwere Folgeerkrankungen beim Kind
hervorrufen. Das Rötelvirus kann schwere Schäden am Corti-Organ verursachen, wenn die
Infektion in die 7. oder 8. Entwicklungswoche fällt (Sadler, 2008). Doch mit der
Einführung geeigneter Impfstoffe konnte die Zahl der mehrfachbehinderten Kinder durch
Rötel-Infektionen in der Schwangerschaft um ein vielfaches reduziert werden. Das UsherSyndrom trat dadurch an die Stelle der Hauptursache einer Taubblindheit/hochgradigen
Hör-Sehbehinderung und befindet sich seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts an diesem
Platz (Sacherer, 2011).
2.3 . Klassifikation des Usher-Syndroms
Drei große klinische Subtypen (USH Typ I, Typ II und Typ III) werden auf der Grundlage
der Schwere des Hörverlusts, des Vorhandenseins oder Fehlen von Vestibularisausfall und
dem Alter bei Beginn der RP unterschieden (Yan und Liu, 2010).
Usher Typ I (USH1):
Der Typ I des Usher-Syndroms stellt die schwerere Verlaufsform dar. Betroffene sind von
Geburt an gehörlos, bzw. leiden an einer an Taubheit grenzenden sensorineuralen
Schwerhörigkeit. Außerdem bestehen starke Gleichgewichtsstörungen,
gleichzeitig
bestehenden
Funktionsstörung
der
Gleichgewichtsorgane
infolge einer
(vestibuläre
Areflexie). Die Augenerkrankung beginnt in der frühen Kindheit (1. Lebensjahrzehnt) mit
einer
Störung
des
Dämmerungssehens
sowie
später
mit
Nachtblindheit
und
Gesichtsfeldeinschränkungen – etwa ab dem 12. – 14. Lebensjahr (Wanka und Horsch,
6
2012). Die meisten dieser Kinder werden in Gehörlosenschulen unterrichtet und lernen
dabei großteils Gebärdensprache. Sie erleben sich dann aber aufgrund ihrer
Zusatzerkrankung oftmals nicht mehr als Teil der Gehörlosengemeinschaft und fühlen
sich zunehmend in kommunikativen, mobilen und sozialen Bereichen isoliert, da ihr
Verhalten anfangs oft aufgrund der Unkenntnis der Erkrankung falsch interpretiert wird.
Zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr erfolgt der Verlust der visuellen Wahrnehmung der
Gebärdensprache. Sie sind dann aber in der Lage, bei sich einschränkendem Gesichtsfeld
auf taktiles Gebärden umzusteigen (Sacherer, 2011).
„Wegen der Kommunikationsbarrieren wird das Verhalten des hörgeschädigten Menschen
bereits im Kindesalter als launisch und ignorant interpretiert. Mit auftretender RP
vermitteln sie noch häufiger diesen Eindruck, etwa, wenn sie auf eine Begrüßung nicht
antworten, ein Lächeln nicht erwidern oder gar eine ausgestreckte Hand nicht greifen.“
(Große-Wilde, 2009)
Usher-Syndrom Typ II (USH2):
Die Krankheit verläuft sowohl was die Seh- als auch die Hörbehinderung betrifft deutlich
milder als beim Typ I. Es liegt eine mittel- bis hochgradige Schwerhörigkeit ab der Geburt
vor, die aber in der Regel mit Hörgeräten kompensiert werden kann (mäßiger Hörverlust in
tiefen Frequenzen, starker Hörverlust in hohen Frequenzen). Zu einem Fortschreiten der
Schwerhörigkeit kommt es nicht – der Hörverlauf bleibt stabil, mit individuellen, der
restlichen Bevölkerung gleichwertigen Altersverschlechterung (Rohrschneider, 2003). Der
Gleichgewichtssinn ist normal. Die Augenerkrankung bemerkt der Betroffene häufig erst
im frühen Erwachsenenalter. Der Gesamtverlauf ist weniger fortschreitend als beim Typ I
(Rohrschneider, 2003; Sacherer, 2011).
Usher-Syndrom Typ III (USH3):
Patienten mit Usher Syndrom Typ III werden schwerhörig geboren. Erst im
fortgeschrittenen Alter werden sie taub. Exakte Aussagen zum Gleichgewichtsinn liegen
bislang nicht vor. Die Augenbeteiligung ist vergleichbar mit dem Typ II. Insgesamt ist der
Typ III sehr selten und nur in Finnland und in wenigen nach den USA ausgewanderten
finnischen Familien beschrieben worden.
7
Retinitis pigmentosa
Anzeichen
Gleichgewicht
Hörverlust
Usher-Syndrom TYP I (a – g)
Überwiegend frühe
Kindheit
Überwiegend schwere
Gleichgewichtsstörungen
Angeborene schwere
Taubheit bzw. geringe
Hörreste in tiefen
Frequenzen od. bei
großer Lautstärke.
Usher-Syndrom TYP II (a – d)
Variabler Beginn
Normaler Gleichgewichtssinn
Teilweise Taubheit.
Mäßiger Hörverlust in
tiefen Frequenzen –
starke Höreinbußen in
hohen Frequenzen –
Hörgeräte können
effektiv eingesetzt
werden.
Usher-Syndrom TYP III (a)
Beginn während der
Pubertät
Nicht bekannt
Fortschreitender
Hörverlust im frühen
Erwachsenenalter bis hin
zur Taubheit. Insgesamt
tritt dieser Typ sehr
selten auf.
Tab.1: Klassifikation des Usher-Syndroms (Yan und Liu, 2010)
Wichtig zu beachten ist, dass die Hör- und Seherkrankung beim Usher-Syndrom zu
unterschiedlichen Zeitpunkten auftritt. Die Hörerkrankung beginnt beim UsherSyndrom Typ I und II nach der Geburt. Beim Typ III ist das Hörvermögen anfangs noch
erhalten, im zweiten Lebensjahrzehnt werden die Betroffenen taub. Die Seherkrankung
beginnt beim USH1 in den ersten 10 Lebensjahren und beim USH2 und USH3 meist bis
zum Ende des 20. Lebensjahres.
2.4.
Vererbung
Die Bezeichnung Usher-Syndrom (USH) umfasst eine Gruppe von autosomal rezessiv
vererbten Erkrankungen, die durch eine doppelte sensorische Beeinträchtigung des
audiovestibularen und visuellen Systems gekennzeichnet sind (Firth, Hurst und Hall,
2005). Es handelt sich beim Usher-Syndrom nicht um ein einheitliches Krankheitsbild,
8
sondern es werden anhand des Ausmaßes der Hörschädigung verschiedene Typen
unterschieden, die selbst wiederum auch genetisch heterogen sind.
Das Usher-Syndrom wird streng nach den Mendelschen Gesetzen vererbt und folgt einem
autosomal rezessiven Erbgang. Der Begriff autosomal bedeutet, dass die Krankheit nicht
geschlechtsgebunden vererbt wird. Frauen und Männer sind gleich häufig davon betroffen.
Rezessiv bedeutet, dass zum Ausbruch der Erkrankung beide der immer paarweise
vorhandenen Gene krankhaft verändert sein müssen (Rohrschneider, 2012).
Wenn man nur ein defektes Usher-Syndrom Gen hat, dann ist man Genträger, hat aber
nicht das Usher-Syndrom. Beide Eltern eines Kindes mit Usher-Syndrom haben ein
defektes Usher Gen. Da sie aber nur ein defektes Gen haben, bricht bei ihnen die Krankheit
niemals aus. Das betroffene Kind hat dagegen von Vater und Mutter jeweils ein defektes
Usher-Syndrom Gen erhalten. Beide Elternteile sind also "gleich verantwortlich" für die
Vererbung der Krankheit. Die Abbildung 2 zeigt die Vererbung der Usher Gene anhand
einer vierköpfigen Familie. Aus dem Stammbau geht hervor, dass bei vier Kindern eine
25%ige Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung besteht.
Abb.3: Autosomal rezessiver Erbgang (Große-Wilde, 2009)
9
Tab.2: Bisher bekannte Gene bzw. vermutete Genorte für die verschiedenen Typen des Usher-Syndroms
(Wolfrum, 2012)
Seit der Klonierung des ersten USH-Gen (MYO7A) im Jahr 1995, gab es bemerkenswerte
Fortschritte bei der Aufklärung der genetischen Grundlagen für diese Erkrankung (Yan
und Liu, 2010). Etwa 80% der USH-Patienten haben Mutationen in einem der neuen
bekannten USH-Gene (Bolz, 2009). USH ist eine sehr komplexe Krankheit. Trotz allem
konnte die molekulare Charakterisierung der USH-Proteine
sowie deren molekulare
Zusammenspiele in diversen Proteinnetzwerken die Krankheitsentstehung in Ohr und
Auge aufklären. Im Ohr sind die USH-Proteine für die Ausdifferenzierung funktioneller
Haarsinneszellen essenziell, und demnach ist USH im Ohr ein Entwicklungsdefekt.
Insgesamt sind die Erkenntnisse, die aus der Grundlagenforschung zu USH-Molekülen und
ihren molekularen Wechselwirkungen gewonnen wurden, notwendige Voraussetzungen für
die Evaluation von Therapiestrategien (Wolfrum, 2012; Overlack et al., 2011).
10
2.5.
Diagnostik
Zur Früherkennung einer Hörschädigung im Säuglings- und Kindesalter ist ein
aufmerksames Beobachten der Kinder durch die Eltern sehr hilfreich. Ein mangelndes
Reagieren z. B. auf Händeklatschen, Telefonläuten oder Ansprache kann einen ersten
Hinweis geben. Durch audiometrische Methoden werden Art und Umfang von
Hörstörungen festgestellt. Diese sind:

Tonaudiogramm

Verhaltensaudiometrie bei Kindern

Sprachaudiogramm

Stapediusreflexmessung

Otoakustische Emissionen

Hirnstammaudiometrie

Promontorialtest

Elektrocochleographie
Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Hals-Nasen-Ohrenarzt und Augenarzt ist
zur Diagnosenstellung und zur Betreuung der Patienten sowie zur Abgrenzung gegenüber
ähnlichen, zum Teil vererbbaren, Erkrankungen wie Morbus Refsum (autosomal rezessive
Störung des Phytansäurestoffwechsels), Bidet-Bardl-Syndrom und Gregg Syndrom
erforderlich (Große-Wilde, 2009).
3. Funktion und Störung des Sinnesorgan Ohr – bezogen auf
das Usher-Syndrom
3.1.
Anatomie
Das Gehörorgan ist ein dem Gehörsinn dienendes Organ und für die Wahrnehmung der
Töne und Geräusche zuständig. Es setzt sich aus drei Abschnitten zusammen - dem
Außenohr
(Ohrmuschel
und
Gehörknöchelchen) und dem
Gehörgang),
dem
Mittelohr
(Paukenhöhle
mit
Innenohr (Schnecke, Hörnerv und Bogengänge des
Gleichgewichtsorgans). Die Ohrmuschel des Menschen als Schalltrichter besteht mit
Ausnahme des Ohrläppchens aus elastischem Knorpel und sammelt aus verschiedenen
Richtungen die auftreffenden Schallwellen. Am inneren Ende des Gehörgangs liegt das
11
membranhäutige
bzw.
trichterförmige
Trommelfell mit einem etwa 9 bis 11
Millimeter großen Durchmesser (Kahle und
Frotscher, 2009). Die Trommelfellmembran
wird durch die ankommenden Schallwellen
in Schwingungen versetzt und überträgt
diese auf die drei Gehörknöchelchen im
Mittelohr.
Abb. 4: Sinnesorgan Ohr
Das Mittelohr ist mit Luft gefüllt, und die mit dem Nasen-Rachen-Raum verbindende
Ohrtrompete
sorgt für neutrale Luftdruckverhältnisse. Die
mit
Hammer-
und
Steigbügelmuskeln gelenkig verbundenen Knöchelchen wirken dabei als Hebelsystem und
verstärken die auftreffenden Schallschwingungen um das Vielfache. Der Steigbügel gibt
über das ovale Fenster (Vorhoffenster) die Schallwellen an das Innenohr weiter. Dieses
besteht aus der Schnecke (Cochlea) und den Bogengängen. Letztere haben aber kaum
Einfluss auf den Hörvorgang und dienen dem Gleichgewichtssinn sowie der
Lageempfindlichkeit im Raum.
Abb. 5: Schneckengang im Querschnitt
Die knöcherne Cochlea besteht aus einem zweieinhalbfach spindelgewundenen
Schneckeneingang, der mit Endolymphe gefüllt ist, und einer Knochenleiste, die die Fasern
12
des Hörnervs enthalten. Der Schneckengang ist ein dreieckiger Bindegewebsschlauch, der
an der Knochenleiste befestigt ist. Durch diese Anordnung wird der Innenraum der
Cochlea in Treppen aufgegliedert – gefüllt mit der Perilymhe. Die Cochlea wird mit zwei
Membranen gegen die Treppen abgegrenzt. Die Begrenzung gegen die Vorhoftreppe bildet
die Reissner-Membran und gegen die Paukentreppe die Basilarismembran. Auf dieser liegt
das eigentliche schallaufnehmende Corti-Organ. Es hat beim Menschen rund 10000 bis
12000 äußere und 3500 innere Hörzellen. Sie liegen zwischen Stützzellen und tragen an
ihrem oberen Ende feine Sinneshärchen. Unmittelbar über den Sinneszellen befindet sich
die Deckmembran, die wahrscheinlich mit den Sinneshärchen verwachsen ist und dadurch
die Sinneszellen durch Schwingungen reizen kann (Kahle und Frotscher, 2009; Schmidt,
2001).
Indem die Steigbügelfußplatte ihre Schwingungen über die Membran des Vorhoffensters
auf die Flüssigkeit im Vorhof und auf die Vorhoftreppe überträgt, werden darin Druckund Dichteschwankungen mit kleiner Amplitude erzeugt, sie erstrecken sich auf den
schwingungsfähigen häutigen Schneckengang und pflanzen sich weiter durch das
Schneckenloch an der Schneckenspitze in die Paukentreppe fort, wo über die Membran des
runden Fensters ein Druckausgleich stattfindet. Längs des häutigen Schneckengangs findet
nun die Reizverteilung an alle Sinneshärchen statt.
Die inneren Haarzellen sind die wichtigsten Sinneszellen, weil die meisten auditiven
Nervenfasern zum und vom Gehirn mit ihnen verbunden sind. Schallwellen, die aufs Ohr
treffen, versetzten die Basilarmembran in Vibration.
Unterschiedliche Frequenzen erzeugen Schwingungen an verschiedenen Stellen entlang
der Basilarmembran. Die äußeren Haarzellen arbeiten ähnlich wie der Servomechanismus
in einem Auto: leichte Schwingungen schwacher Schallvorgänge werden mechanisch
verstärkt, wodurch die inneren Haarzellen angeregt werden. Die äußeren Haarzellen
enthalten Muskelgewebe und geben auch bei Schall mit niedrigem Pegel ausreichend
Schwingungen an die Basilarmembran. Dabei ist die Wirkung der äußeren Haarzellen bei
niedrigen Schallpegeln groß, bei stärkeren Pegeln gering. Die äußeren Haarzellen sind mit
efferenten Nervenzellen verbunden. Diese leiten Kontrollsignale vom Gehirn an die
Haarzellen weiter. Die inneren Haarzellen hingegen sind mit afferenten Nervenfasern
verbunden, welche die Signale von den Haarzellen an das Gehirn weiterleiten
(Wartenberg, 2006).
Schon feinste Erschütterungen des Schneckenganges reizen – je nach Intensität und
Schwingungen – einen Teil der Sinneshärchen. Dort befindliche Härchen werden
13
abgeknickt,
und
biochemische
Überträgerstoffe
für
die
Weiterleitung
der
Impulsinformation auf den Hörnerven werden freigesetzt. Nach dieser unterschiedlich
stimulierten neuronalen Reizung werden bioelektrische Impulse über die Hörbahn
(Ganglion spirale – Nucleus cochlearis – Olivenkomplex – Schleifenkern – Collicus
inferior Komplex – Corpus geniculatum mediale) zum Hörzentrum des Gehirns (primären
Hörrinde) weitergeleitet und dort in einen endlichen Höreindruck entschlüsselt,
umgewandelt und interpretiert. So werden aus Impulssignalen Informationen entwickelt
(Hick und Hick, 2009; Trepel, 2008).
Abb. 6: Hörbahn
3.2.
Abb. 7: Haarzellen im Innenohr
Embryologie
Das Ohr des Erwachsenen entwickelt sich im Embryo aus drei verschiedenen Anteilen:

Das äußere Ohr, dient als Schallaufnahmeorgan und entwickelt sich aus der 1.
Schlundfurche und aus den Ohrmuschelhöckern. Der äußere Gehörgang entsteht
aus der 1. Schlundfurche. Im Trommelfell grenzen das Ektoderm der 1.
Schlundfurche und das Entoderm der 1. Schlundtasche aneinander. Die
Ohrmuschel geht aus sechs Aurikularhöckern hervor, die die 1. Schlundfurche
umgeben.
 Das Mittelohr fungiert als Schallleitungsorgan und verbindet das äußere Ohr mit
dem Innenohr. Es entsteht aus der 1. Schlundtasche. Die Verbindung zwischen
Paukenhöhle und Epipharynx bleibt als Tuba auditiva erhalten.
14

Die Gehörknöchelchen leiten sich vom 1. Schlundbogen (Malleus und Incus) und
vom 2. Schlundbogen (Stapes) ab.

Das
Innenohr
verwandelt
Schallwellen
in
Nervenimpulse,
registriert
Gleichgewichtsveränderungen und stammt vom ektodermalen Ohrbläschen ab. Das
häutige Labyrinth geht aus der ektodermalen Ohrplakode hervor, die sich in der 4.
Entwicklungswoche zum Ohrbläschen einstülpt. Das Ohrbläschen gliedert sich in
einen dorsalen Utriculusabschnitt, aus dem der Utriculus, die Bogengänge und der
Ductus endolymphaticus hervorgehen, sowie in einen ventralen Sacculusabschnitt,
aus dem Sacculus und Corti-Organ hervorgehen (Sadler, 2008; Schiebler, 2005).
Das Hörorgan reift als erstes Sinnesorgan des Menschen voll aus. Die Cochlea bildet sich
nach der 7. Schwangerschaftswoche (SSW) und ist ab der 22. SSW weitestgehend
ausdifferenziert, einschließlich der Kontaktstellen zu den Hörnervenfasern, den Synapsen.
Damit ist das Innenohr bereits funktionsfähig – ab der 24. SSW lassen sich durch
akustisch-vibratorische Stimuli an der Bauchdecke der Mutter Reaktionen des Kindes im
Uterus auslösen. Bei der Geburt ist das periphere Hörorgan ausgewachsen und nimmt im
Laufe der weiteren Entwicklung nicht mehr an Größe zu. In den prägenden frühkindlichen
Entwicklungsphasen führen akustische Reize zu einer zunehmenden Organisation der
zentralnervösen Strukturen des Hörorgans. Größe und Anzahl der Synapsen sind für die
Integrität
des
funktionalen
Hirnsystems
von
entscheidender
Bedeutung.
Diese
wesentlichen Entwicklungsvorgänge spielen sich in den ersten 12 Lebensmonaten ab. Die
Fähigkeit der Lokalisation einer Schallquelle beginnt mit dem 4. Lebensmonat (Friedrich,
Bigenzahn und Zorowka, 2007).
3.3.
Physiologie
Um ein Geräusch wahrnehmen zu können, muss sich der Schall einen komplizierten Weg
ins Gehirn bahnen und dort im Hörzentrum des Großhirns in einen Laut umgewandelt
werden. Dabei wird der Schall zuerst vom äußeren Ohr eingefangen, durch das
Trommelfell über die kleinen Gehörknöchelchen im Mittelohr und anschließend durch das
Innenohr via Haarzellen an das Großhirn weitergeleitet. Lassen aber ein oder mehrere
Glieder dieser Kette nach, kann es zu Hörbeeinträchtigungen bis hin zur Gehörlosigkeit
kommen (Clarke, 2010).
Die Fortbewegung der Töne oder Geräusche, ausgehend von einer Schallquelle, sind die
physikalisch beschriebenen Luftschwingungen von Molekülen, besser gesagt, schnelle
15
Änderungen des fortschreitenden Luftschalldruckes, der die Erregungsschwingung von den
Molekülen an andere Moleküle weitergibt. Ob ein Ton bzw. ein Geräusch als hoch oder
tief empfunden wird, hängt von seiner Frequenz – ein Maß für die Anzahl der
Schwingungen pro Sekunde – ab. Gemessen wird diese aber in der Einheit Hertz (Hz). Ein
tiefer Ton bzw. ein tiefes Geräusch ist eine langsame Schwingung, je höher der Ton bzw.
das Geräusch, umso schneller ist die Schwingung.
Das gesunde menschliche Ohr kann Töne im Bereich von 20 bis 20 000 Hz hören. Am
empfindlichsten ist es im Bereich zwischen 2000 und 5000 Hz. Der aurale
Hauptlautsprachbereich liegt zwischen ca. 250 und 6000 Hz (Klinke und Bauman, 2010).
Abb. 8: Frequenz- und Lautstärkenumfang von Musik und Sprache, sog. Hörflächen
3.4.
Hörschädigungen
Nach der „Global Burden of Disease“-Studie der WHO zählen Hörstörungen in den
Industrieländern
beeinträchtigenden
zu
den
sechs
Erkrankungen
häufigsten,
–
neben
die
Lebensqualität
Krankheiten
wie
der
am
meisten
ischämischen
Herzkrankheit, Depression und M. Alzheimer. Angeborene permanente bilaterale
Schwerhörigkeit weist eine Prävalenz von 1,2 pro 100 000 Neugeborenen auf (Zahnert,
2011).
16
Ab wann man als gehörlos gilt und wie eine Hörbehinderung eingeteilt wird, kann sich in
vielerlei Hinsicht darstellen. Einen genauen Überblick über die Einstufung des
Hörverlustes in dB gibt die folgende Tabelle von Müller, 1993:
Mittlerer
Hörverlust
Bezeichnung
Auswirkungen
Ohne Hörgeräte haben
Kinder
vor allem Probleme im
leichtgradige Hörschädigung
Verstehen von
< als 30 dB
(leichtgradige Schwerhörigkeit)
Flüstersprache. Die
Lautsprache entwickelt sich
mehr oder weniger normal.
Ohne Hörgeräte haben
Kinder
bereits Probleme,
mittelgradige Hörschädigung
Umgangssprache in
30 bis 60 dB
(mittelgradige Schwerhörigkeit)
normaler
Lautstärke zu verstehen,
wenn sie über 1 m vom
Sprecher entfernt sind.
hochgradige oder an
Ohne Hörgeräte ist ein
Gehörlosigkeit
Verstehen normal
grenzende Hörschädigung
gesprochener Sprache
60 bis 90 dB
(hochgradige oder an Taubheit
nicht
grenzende Schwerhörigkeit)
mehr möglich.
Auch Kinder, die einen
Hörverlust in dieser
Größenordnung haben,
Resthörigkeit (Gehörlosigkeit oder verfügen in der Regel über
90 bis 120 dB Taubheit)
Hörreste, die für die
Sprachwahrnehmung
genutzt
werden können.
Die Hörschädigung ist so
stark, dass auch mit
Gehörlosigkeit/Taubheit
Hörgeräten Sprache nicht
> 120 dB
mehr verstanden werden
kann.
Tab. 3: Einstufung des Hörverlustes in Dezibel (Tauber und Wipplinger, 2012)
Diese Tabelle stellt die medizinische Einteilung dar, wobei jedoch die persönliche
Zuteilung und Identifikation mit einer dieser Gruppen eine andere sein kann. So zählen
sich Schwerhörige beispielsweise oftmals zu den Gehörlosen und integrieren sich in diese
Gemeinschaft, obwohl sie es vom medizinischen Standpunkt her nicht sind. Somit ist eine
Fremdzuschreibung nicht immer dieselbe wie die persönliche.
Schwerhörigkeit
(Hypakusis):
darunter
versteht
man
eine
Verminderung
der
Hörfähigkeit im weitesten Sinne, beginnend von subjektiv kaum empfundenen
17
Hörstörungen bis hin zur Gehörlosigkeit. Ursächlich können Probleme bei der Schalleitung
zum Innenohr, der Schallempfindung durch die Sinneszellen der Cochlea oder bei der
Schallverarbeitung entlang der Hörnerven, der Hörbahn oder der Hörzentren in Frage
kommen. Schwerhörigkeit ist somit nur ein Symptom der Erkrankung des Hörorganes und
ist abzugrenzen von anderen Formen der Hörstörung wie Hyperakusis, dem fluktuierenden
Gehör oder von Tinnitus.
3.5.
Unterschied Schwerhörigkeit und Taubheit
Mittels Hilfe besonderer Tabellen aus Ton- und Sprachaudiogrammen erfolgt die
Ermittlung der verschiedenen Schwerhörigkeitsgrade. Das Tonaudiogramm ermittelt die
Lautstärke, bei der Frequenzen gerade noch gehört werden (Tonhörschwelle). Das
Sprachaudiogramm stellt fest, bei welcher Lautstärke Sprache gerade eben verstanden wird
(Sprachverständlichkeitsschwelle) und wie viel Sprache bei optimaler Verstärkung
verstanden wird (maximales Sprachverständnis). Dieses geschieht durch einen Zahlenbzw. Einsilbertest – zusätzlich kann man mit diesen Ergebnissen und mit speziellen
Tabellen den Hörverlust in % und die MdE/GdB ermitteln.
Gehörlosigkeit und Schwerhörigkeit haben auch Einfluss auf den Spracherwerb. Er ist
deutlich erschwert und setzt eine gezielte Förderung beginnend in möglichst jungen Jahren
voraus. Die Sprache klingt häufig verwaschen, undeutlich, monoton und ist mit
Sprachfehlern behaftet. Der Grund ist verständlich, da ein großer Anteil des
Sprachenlernens durch Nachahmung des Gehörten geschieht Von Gehörlosigkeit oder
Taubheit spricht man, wenn kein nennenswertes Sprachverständnis mehr vorhanden ist
(ermittelt mit Tabellen, Hörverlust 100%). Das Hören als Warnfunktion, wie z.B. im
Straßenverkehr zur Signalisierung von herannahenden Fahrzeugen, entfällt. Alle
Geräusche der Umwelt, die uns ständig eine Vielzahl von Informationen bewusst und
unbewusst übermitteln, können von Gehörlosen nicht wahrgenommen werden (GroßeWilde, 2009).
18
3.6.
Hörstörungen des Usher-Syndroms
Es handelt sich beim Usher-Syndrom um eine cochleäre Innenohrschwerhörigkeit, bedingt
durch eine Schädigung der Haarzellen der Hörschnecke. Man muss zwischen einer
hochgradigen Hörbehinderung wie beim USH2 und USH3 und einer Taubheit wie bei den
Formen des USH1 unterscheiden, die sich sowohl von der Bedeutung für den Betroffenen
wie auch von den therapeutischen Möglichkeiten stark unterscheiden.
Usher-Syndrom Typ1 – hierbei handelt es sich um eine cochleäre Hörstörung mit
Taubheit. Die Kommunikation erfolgt überwiegend in Gebärdensprache, da die Geräusche
der Umwelt von den Gehörlosen nicht wahrgenommen werden. Die Sprache ist
verwaschen bis unverständlich.
Usher-Syndrom Typ2 – je nach Förderung und Ausprägung der Schwerhörigkeit ist die
sprachliche Entwicklung (fast) normal bis verwaschen. Vorhandene Sprachfehler erklären
sich auch dadurch, dass harte Konsonanten (bei den hohen Tonlagen etwa 4000Hz) und bei
weichen Konsonanten (etwa bei 2000Hz) nicht gehört werden. Über ein Fortschreiten der
Hörstörung bei Usher-Typ2 finden sich in der Literatur widersprüchliche Angaben. Eine
aktuelle Studie der Universität Heidelberg und Omaha aus dem Jahr 2002 ergab stabile
Hörverläufe bei einer Beobachtungsspanne von 17 Jahren an 125 untersuchten Patienten.
In anderen Publikationen wird von messbaren Hörverlusten berichtet. Nur klinisch
diagnostizierte Usher-Typ2(a-d)-Patienten und Betroffene mit genetisch abgesicherter
Mutation im USH2A-Gen sind möglicherweise eine Erklärung für die unterschiedlich
angegebenen Hörverläufe (Große-Wilde, 2009).
Usher-Syndrom Typ3 – er ist durch eine fortschreitende Innenohrschädigung
gekennzeichnet. Diese erscheint als leichtgradige Schwerhörigkeit in der Kindheit und
entwickelt sich zu einem mittelgradigen Hörverlust im frühen Erwachsenenalter. Über eine
hochgradige Schwerhörigkeit im Alter von 20 Jahren verlieren die Betroffenen cirka in den
40er Jahren ihr Hörvermögen (Große-Wilde, 2009).
19
4. Funktion und Störung des Sinnesorgan Auge – bezogen auf
das Usher-Syndrom
Das Auge ist ein sehr wichtiges – wenn nicht sogar das wichtigste Sinnensorgan – denn
kein anderes Organ hat so großen Anteil an der Gesamtheit der Sinneseindrücke (Grehn,
2008). Das Auge ist wohl das Sinnesorgan, mit dem sich der Mensch am unmittelbarsten
identifiziert. Mit keinem anderen Organ nehmen wir die Umwelt in einer solchen Vielfalt
wahr (Trepel, 2008).
80% aller Informationen des Menschen werden vom Auge aufgenommen – es fungiert
hierbei als optischer Analysator. Auch das menschliche Vorstellungs-, Erinnerungs- und
Erfahrungsgut, seine Denkprozesse, Tätigkeiten und Phantasie beruhen zum größten Teil
auf visuellen Eindrücken. Das Sinnesorgan Auge bzw. der Sehsinn besitzt somit eine
immense Bedeutung für den Menschen, für seine Aus- und Weiterbildung, seine tägliche
Arbeit, seine Leistungen und seine Lebensqualität (Nasemann, Sachsenweger und Klauß,
2002).
4.1.
Anatomie
Das menschliche Auge kann mit einem analogen
Fotoapparat verglichen werden. Hornhaut und Linse,
die brechenden Medien des Auges, entsprechen dem
Linsensystem der Kamera. Die Regenbogenhaut
fungiert als Blende, die den Lichteinfall und die
Tiefenschärfe regelt und die Netzhaut entspricht
dem Film (Grehn, 2008).
Abb.9: Aufbau des Auges
Das Auge ist der periphere Teil des Lichtsinnesorgans, der zur Aufnahme
elektromagnetischer Wellen der Wellenlänge von etwa 350 bis 750 nm dient. Diese
physikalischen Reize werden in der Netzhaut durch fotochemische Vorgänge in elektrische
Impulse umgewandelt und über den Sehnerv zum Sehzentrum der Großhirnrinde geleitet,
wo die eigentliche Auswertung und Beurteilung erfolgt. Das Auge, speziell die Netzhaut,
20
ist somit ein vorgeschobener Gehirnteil. Netzhaut und Sehnerv werden als rezeptorischer
(sensorischer) Apparat des Auges zusammengefasst.
Das sichtbare Licht muss, um die Netzhaut reizen zu können, durch den optischen
(lichtbrechenden) Apparat gelangen. Zu den brechenden Medien des Auges zählen
Hornhaut, Vorderkammer, Linse und Glaskörper. Die Hornhaut trägt den größten Teil der
Brechkraft bei, die Linse ermöglicht zusätzlich durch Änderung der Krümmung die
Scharfeinstellung auf verschiedene Entfernungen. Bei Trübungen oder Abweichungen von
der normalen Brechkraft (Refraktion), die für die Hornhaut ca. 43 dpt und für die Linse bei
Fernakkommodation ca. 19 dpt beträgt, ist die Abbildung auf der Netzhaut unscharf (Faller
und Schünke, 2012). Die Form des Auges wird durch den Augeninnendruck
aufrechterhalten, der durch Produktion und Abfluss von Kammerwasser bestimmt wird.
Tränenflüssigkeit und Lidschlag schützen die Hornhaut vor der Austrocknung.
Die Netzhaut ist eine 0,1 – 0,5 mm dicke, durchsichtige Struktur, die einen im
histologischen Schnitt gut erkennbaren Schichtenaufbau zeigt. Ihre äußerste Schicht ist das
retinale Pigmentepithel, das als einschichtige Lage hexagonaler Zellen der BruchMembran aufsitzt. Die inneren, wesentlich komplexer aufgebauten Schichten werden als
neurosensorische Netzhaut bezeichnet.
Die
Stäbchen
und
Zapfen
der
Photorezeptorschicht
bestehen
aus
den
erneuerungsfähigen Außensegmenten und den permanenten Innensegmenten. Die Außenund Innensegmente sind durch die aus Gliafortsätzen bestehende Membrana limitans
interna von den Zellkernen der Stäbchen und Zapfen getrennt. Die Zellkerne bilden die
äußere Körnerschicht.
Abb.10: Schichten und Zelltypen der Retina
21
Die Verteilung der Stäbchen und Zapfen in der Netzhaut ist jedoch keineswegs
gleichmäßig. Hell-Dunkel nehmen wir vorwiegend in der Netzhautperipherie durch die
sehr lichtempfindlichen Stäbchen war, während sich in der Fovea centralis, dem zentralen
Punkt der Retina und Ort des schärfsten Sehens, ausschließlich die weniger
lichtempfindlichen, aber farbwahrnehmenden Zapfen befinden (Trepel, 2008).
Tabelle 4: Photopisches und skotopisches Sehen im Überblick (Hick, Hick 2009) Seite 341
In der äußeren plexiformen Schicht stellen die Axone der 120 Millionen Stäbchen und
6 Millionen Zapfen den Kontakt zu Horizontal- und Bipolarzellen her. Horizontalzellen
sind für Querverbindungen unter den Axonen verantwortlich, die Bipolarzellen leiten die
Impulse zur inneren plexiformen Schicht weiter. Ihre Zellkerne liegen in der inneren
Körnerschicht. Hier liegen auch die Zellkerne der für Querverbindungen zuständigen
amakrinen Zellen und der Müller-Stützzellen, deren Ausläufer die gesamte Netzhaut
„stützen“. In der inneren plexiformen Schicht nehmen die Axone der Bipolarzellen
Kontakt mit den Ganglienzellen und amakrinen Zellen auf. Die Axone der Ganglienzellen
verlaufen parallel zu und unter der Oberfläche der Netzhaut als Nervenfaserschicht zum
Nervus opticus. Die Membrana limitans interna trennt die Netzhaut vom hinteren Teil
der Glaskörpergrenzmembran. (Schiebler, 2005; Hick und Hick 2009).
Der beschriebene Schichtenaufbau der Retina weist aber an zwei Stellen wesentliche
Abweichungen auf - in der Fovea centralis und in der Papilla nervi opitici.
In der Fovea centralis, die etwa 3,5mm von der Papille entfernt liegt und etwa der Größe
der Papille entspricht, kommen an Photorezeptoren nur Zapfen vor.
22
Darüber hinaus finden sich hier fast nur Gliazellen und Ganglienzellen. Die äußere
plexiforme Schicht besitzt hier einen schrägen, von der Foveamitte nach außen weisenden
Verlauf. Eine Nervenfaserschicht zeigt sich histologisch erst außerhalb der Fovea.
Die Foveola ist eine zentrale Einsenkung der Fovea von etwa 0,35mm Durchmesser, in der
die inneren Netzhautschichten so stark ausgedünnt sind, dass hier die Zapfen fast unter der
Netzhautoberfläche liegen (Kahle und Frotscher, 2009).
4.2.
Embryologie
Das retinale Pigmentepithel entwickelt sich bereits in der 3. Schwangerschaftswoche aus
Anteilen des äußeren Augenbechers, dem äußeren Neuroektoderm. Die neurosensorische
Netzhaut entsteht wenig später aus einer in den Augenbecher eingestülpten Schicht
neuroektodermaler Zellen, dem inneren Neuroektoderm. Der Raum zwischen äußerem und
innerem Neuroektoderm, genannt Sehventrikel, bildet sich zu einem kapillaren Spalt
zurück (Schiebler, 2005).
Während der ersten 5 Schwangerschaftswochen entwickeln sich in der Netzhaut drei
Schichten: die innere neuroblastische Schicht besteht aus den Zellkernen der zukünftigen
Ganglienzellen, Müller-Stützzellen und amakrinen Zellen, die mittlere, als anukläre Zone
bezeichnete Schicht aus deren Zellfortsätzen. Die äußere neuroblastische Schicht
differenziert sich später zu den Photorezeptoren. Die Ganglienzellen der inneren
neuroblastischen Schicht entwickeln Axone, die in der 6. Woche den Nervus opticus bilden
und 1 Woche später das Gehirn erreichen.
Die Reifung der Photorezeptoren beginnt wesentlich später: Die Außensegmente werden
erst im 6. Schwangerschaftsmonat gebildet. Ab diesem Zeitpunkt ist das Auge
lichtempfindlich. Die Ausreifung der Makula wird erst nach der Geburt abgeschlossen. Die
Vaskularisation der Netzhaut erfolgt zum Ende der Schwangerschaft. Die Gefäßbildung
beginnt an der Papille und erreicht die nasale Netzhautperipherie im 9. Monat. Die
temporale Peripherie wird erst 4 Wochen später erreicht (Sadler, 2008).
4.3.
Physiologie
Funktionell kann man das Auge aufteilen in den physikalisch-optischen Teil (dioptrischer
Apparat) und die Rezeptoroberfläche der Netzhaut, in der die Umsetzung des optischen
Reizes in Erregung neuronaler Elemente erfolgt (Transduktion). Sehen beginnt mit dem
23
Lichteintritt ins Auge. Das Licht tritt durch die Kornea ein und erreicht über die vordere
Augenkammer, Linse und Glaskörper die Netzhaut. Der dioptrische Apparat entwirft im
Auge ein verkleinertes, umgekehrtes Bild. Die Photorezeptoren der Netzhaut enthalten
verschiedene Sehfarbstoffe, deren Anregung durch Licht und Vermittlung intrazellulärer
Überträgersysteme den Erregungsvorgang einleitet. Die Menge an verfügbarem
Sehfarbstoff bestimmt maßgeblich die Lichtempfindlichkeit bei der Dunkelanpassung
(Klinke und Bauman, 2010).
Die Photosensoren bilden den „Eingang“ in das retinale Neuronennetzwerk – die
Ganglienzellen bilden mit ihren Axonen den Sehnerv und damit den „Ausgang“.
Je Auge gibt es ca. 1 Million retinaler Ganglienzellen, das heißt, es liegt eine erhebliche
Signalkonvergenz von den 126 Millionen Photosensoren vor. Die Ganglienzellen bilden
Aktionspotentiale aus, die über den Nervus opticus zum Gehirn laufen. Die Umwandlung
eines Bildes auf der Netzhaut in elektrische Nervensignale ist also nur der Beginn des
Sehens. Damit wir die erhaltenen Informationen verarbeiten und darauf reagieren können und zwar möglichst ohne Verzögerung - führt mit der Sehbahn eine wahre
Hochgeschwindigkeitsstrecke vom Auge ins Gehirn.
Verlauf der Sehbahn: nasale Retinahälften kreuzen im Chiasma opticum und verlaufen
mit den ungekreuzten temporalen Hälften als Tractus opticus zum Corpus geniculatum,
wo sie umgeschaltet werden und dann fächerförmig in der Gratiolet-Sehstrahlung in der
Sehrinde (Area striata) münden. Dabei wird der obere Quadrant im unteren Gyrus
calcarinus gesehen und umgekehrt.
Beim Menschen wechselt im Chiasma opticum rund die Hälfte der Fasern aus den beiden
Nervensträngen die Richtung, die anderen fünfzig Prozent verlaufen weiter auf der Seite
des Auges, dem sie entspringen. Welche Nervenfasern kreuzen und welche nicht, richtet
sich nach dem Gesichtsfeld: Wie sich anhand von Strahlengängen verdeutlichen lässt, fällt
Licht aus dem linken Bereich unseres Gesichtsfeldes im linken Auge auf die innere, nasale
Seite der Netzhaut. Im rechten Auge fällt es auf die äußere, temporale Hälfte und
umgekehrt. Beide Augen bekommen so Informationen von jeder Seite des Gesichtsfeldes.
An der Sehnervkreuzung wechseln die nasalen Fasern die Seite – sie werden also
kontralateral verschaltet, während die temporalen Fasern auf der ursprünglichen,
ipsilateralen Seite verbleiben. Ein Effekt dieser komplizierten Verschaltung ist, dass jede
Hälfte des visuellen Cortex nur Informationen über eine Seite des Gesichtsfeldes erhält –
aber von beiden Augen. Ein anderer Effekt ist, dass auf diese Weise das gesamte System
24
auf Effizienz und Schnelligkeit getrimmt wird: So wird schon im Zwischenhirn vom
Corpus geniculatum laterale, anhand der Informationen aus den verschiedenen
Gesichtsfeldhälften ein Feedback an die Augen „gefunkt“, ob zum Beispiel die
Helligkeitsadaptation der Pupille verbessert werden muss. Aufgrund der Überkreuzung
führen Schädigungen der Nervenbahnen zu ganz charakteristischen Gesichtsfeldausfällen,
die auf die Lokalisation des Defekts schließen lassen. Jenseits dieser Kreuzung ändert sich
die Bezeichnung des Sehnervs: Als Tractus opticus ziehen die meisten Nervenfasern
Richtung Hinterkopf. Ein kleiner Teil allerdings hat mit dem bewussten Sehen nichts zu
tun, er liefert beispielsweise Input für unsere „innere Uhr“ im Hypothalamus. Der Großteil
der Fasern jedoch erreicht mit dem seitlichen Kniehöcker die einzige Umschaltstation
zwischen Netzhaut und primärer Sehrinde. Dass es nur diese eine Verschaltstelle gibt, ist
entscheidend für unsere Fähigkeit, visuelle Eindrücke nahezu ohne Verzögerung
wahrnehmen zu können.
Der Ausdruck Sehstrahlung macht auf das bemerkenswerte Detail der retinotopen
Organisation aufmerksam. Bestimmte Netzhautbezirke senden Signale nur an bestimmte,
immer gleiche Regionen des visuellen Cortex. Was also von benachbarten Photorezeptoren
der Netzhaut an Impulsen kommt, wird auch von benachbarten Cortexneuronen bearbeitet.
Auf diese Weise wird eine Art Landkarte des Gesehenen übermittelt, wobei diese
Landkarte stark verzerrt ist. Das hat seinen Sinn: Was auch immer wir fokussieren, dessen
Abbild fällt auf die Fovea, den Ort des schärfsten Sehens auf der Netzhaut. Entsprechend
wird diese Region überproportional betont: Um die 80 Prozent des primären visuellen
Cortex beschäftigen sich mit Impulsen aus der Fovea, die selbst nur einige Millimeter
groß ist. In der Sehrinde erst beginnt die eigentliche Analyse. Und sie beginnt rasend
schnell: Von der Codierung des Bildes in der Netzhaut bis zu den ersten messbaren
Impulsen in der primären Sehrinde vergehen bei gesunden Menschen kaum 100
Millisekunden. Möglich macht diese Geschwindigkeit – neben der Reduktion auf nur eine
Umschaltstelle – die Ummantelung der Nervenfasern mit Myelinhüllen, die eine sehr hohe
Leitungsgeschwindigkeit erlauben (Groß, 2011).
Wenn die Sehschärfe wegen Erkrankungen des Auges oder Gehirns am besser sehenden
Auge auf weniger als 30 Prozent reduziert ist, liegt eine Sehschädigung vor. Wenn die
Sehschärfe unter 2 Prozent liegt und sich der Mensch in einer fremden Umgebung ohne
fremde Hilfe nicht mehr zurechtfindet oder das vollständige Augenlicht fehlt, spricht man
von Blindheit.
25
Eine international einheitliche Definition der Sehschädigung gibt es nicht. In Österreich ist
folgende Definition gebräuchlich:

Normalsichtigkeit: 1,2 bis 0,8 oder (120% bis 80%)

Auffälliges Sehvermögen: 0,7 bis 0,4 oder (70% bis 40%)

Sehschädigung: weniger als 0,3 oder (<30%)

Geringe Sehschädigung: 0,3 bis 0,1 oder (30% bis 10%)

Mittlere Sehschädigung: 0,08 bis 0,05 oder (8% bis 5%)

Hochgradige Sehschädigung: 0,04 – 0,02 oder (4% bis 2%)

Blind im Sinne des Gesetzes: weniger als 0,02 oder (<2%) oder eine konzentrische
Gesichtsfeldeinschränkung auf 5 Grad allseits vom Zentrum

Blind: keine Lichtwahrnehmung
Die gesetzliche Definition von Sehbehinderung wird durch die medizinisch begründete
Festsetzung der Sehschärfe auf dem besseren Auge mit Korrektur gemessen. Eine solche
Einstufung erfolgt allerdings nicht nur anhand der Sehschärfe, sondern Veränderungen des
Gesichtsfeldes sowie Einengungen sind ebenso wichtig (Gruber, 2007).
4.4.
Retinitis pigmentosa (RP)
Eigentlich ist der Ausdruck Retinitis pigmentosa nicht korrekt, da es sich nicht um eine
Entzündung (-itis) der Netzhaut handelt. Im medizinischen Sprachgebrauch aber hat sich
diese Bezeichnung gegenüber dem eigentlich richtigen Ausdruck Retinopathia
pigmentosa durchgesetzt.
Bei RP degeneriert langsam die periphere Netzhaut, während die Stelle des schärfsten
Sehens lange erhalten bleibt – es entsteht der sogenannte Tunnelblick. Die periphere
Netzhaut hat die Funktion des Dämmerungs- und Nachtsehens, während die Netzhautmitte,
wo die Stelle des schärfsten Sehens lokalisiert ist, für das Farbensehen und besondere
Sehleistungen wie das Lesen verantwortlich ist.
Die Zerstörung der peripheren Netzhaut erklärt die typischen Symptome der Retinitis
pigmentosa:
Nachtblindheit,
eingeschränktes
Gesichtsfeld
und
vermindertes
Kontrastsehen. Hinzu kommt noch ein besonderer Typ des grauen Stars, von dem noch
26
unklar ist, ob er auch vererbt wird. Diese Symptome können bis zum völligen Verlust eines
praktisch nutzbaren Sehvermögens führen. Durch diese zusätzlichen Beeinträchtigungen
erfährt der tägliche Lebensvollzug der Betroffenen grundsätzliche Veränderungen,
zusätzliche Erschwernisse, Behinderungen und vielleicht auch Stigmatisierungen (PRO
RETINA, 2004).
4.4.1. Nachtblindheit
Nachtblindheit ist eines der ersten Symptome der Augenerkrankung. Sie wird aber häufig
von den Betroffenen nicht wahrgenommen, weil sie es nicht anders kennen. Nachtblinde
Menschen sehen nicht nur nachts oder im Dunklen schlecht, sie brauchen auch sehr lange,
bis sich ihre Augen vom hellen Licht an das schwache Licht in einem Raum gewöhnen.
Ein guter Hinweis für eine Nachtblindheit bei einem betroffenen Kind könnte sein, wenn
es beim Laufen in der Dämmerung an der Hand laufen will oder nachts immer nach einer
Zimmerbeleuchtung verlangt, um z.B. auf die Toilette zu gehen.
Abb. 11: Nachtblindheit – Simulation in der Mitte des Bildes
4.4.2. Eingeschränktes Gesichtsfeld
Unter dem Gesichtsfeld versteht man das Wahrnehmungsfeld des Auges bei unbewegtem
Geradeausblick Es umfasst die Gesamtheit aller Punkte (Gegenstände, Flächen) im Raum,
die bei Fixation eines Punktes gleichzeitig vom Auge gesehen werden (Lang, 2008).
Das beidäugige Gesichtsfeld des augengesunden Menschen ist ca. 180 Grad weit. Es
vermittelt eine Panoramasicht, wobei aber nicht alle Zonen funktionell gleichwertig sind.
27
Das eingeschränkte Gesichtsfeld ist das schwerwiegendste Problem der Retinitis
pigmentosa. Die Gesichtsfeldeinschränkung beginnt als ein ringförmiger blinder Fleck und
wächst weiter zum Zentrum und nach außen. Sehr lange bleibt noch eine seitliche
Gesichtsfeldinsel erhalten, die für die Orientierung von großem Nutzen ist. Wenn die
seitliche Gesichtsfeldsichel verschwunden ist, bleibt ein "Tunnel" oder "Röhrenblick"
übrig.
Abb.12: Normalsicht – Tunnelblick
Diesen Tunnelblick kann man Nichtbetroffenen durch den Blick durch ein Rohr leicht
deutlich machen. Bei dieser typischen Form der RP ist die Orientierung im Raum erheblich
erschwert, während das Sehen im Zentrum noch funktioniert. Also kann es durchaus
vorkommen, dass ein RP-Betroffener mit Tunnelblick zwar schon den Blindenstock für die
Orientierung benutzen muss, dass er aber trotzdem die Tageszeitung lesen kann.
Wegen dieses offensichtlichen Widerspruchs läuft der Betroffene Gefahr, als Simulant
bezeichnet zu werden. Auch das Autofahren ist mit einem eingeschränkten Gesichtsfeld
nicht mehr möglich.
Häufig wird dem Betroffenen seine Einschränkung des Gesichtsfeldes nicht oder erst nach
einem Unfall bewusst; denn das verlorene Gesichtsfeld erscheint nicht als schwarzer oder
weißer Fleck, sondern wird, obwohl es fehlt, vom Gehirn je nach Umgebung ergänzt.
In vielen Fällen schreitet die Netzhautzerstörung auch anders voran. Die Ausfälle können
als Ring um das Zentrum (Ringskotom) oder fleckenförmig auftreten.
Möglich ist auch ein zunächst zentraler Befall; hierbei beginnt die Schädigung
untypischer weise in der Gesichtsfeldmitte (inverse RP oder Zapfen-Stäbchen-Dystrophie).
Bei dieser inversen Form der RP ist, anders als beim Tunnelblick, das Zentrum (die
Makula) stärker betroffen, während die Randzonen noch erhalten sind. Dadurch sieht der
28
Betroffene in seiner Blicklinie (im Zentrum am Ort des schärfsten Sehens) schlecht; er
muss daher geschickt an allen Gegenständen vorbeipeilen, um sie zu sehen. Außerhalb des
Sehzentrums nimmt bekanntlich die Sehschärfe ab, auch beim Augengesunden.
Dies hat zur Folge, dass der von inverser RP Betroffene schon sehr früh eine Lupe braucht,
um noch lesen zu können, während die Orientierung im Raum noch längere Zeit
problemlos ist.
Auch wenn die Frühsymptome der inversen RP denen der Makuladegeneration sehr
ähnlich sind, muss darauf hingewiesen werden, dass diese beiden Erkrankungen
hinsichtlich ihrer Prognose, ihres Verlaufs und ihrer Ursachen unterschiedlich sind. (PRO
RETINA 2004)
4.4.3. Vermindertes Kontrastsehen
Farbsehen, Blendempfindlichkeit, Kontrastsehen: Patienten mit einem Usher-Syndrom
haben typischerweise ein gestörtes Blau-Gelb Farbensehen. Die Einschränkung des
peripheren Gesichtsfeldes führt gleichzeitig zu einer erhöhten Blendempfindlichkeit und
einem herabgesetzten Kontrastsehen (z.B. beim Lesen, wenn die Schrift sich nicht gut vom
Hintergrund abhebt). Kontraste verschwinden, und die Umgebung kann kaum noch erkannt
werden.
Abb. 13: Normalsicht - Blendungsempfindlichkeit
Auf diesem Bild vermischen sich wegen der Blendung Personen, helle Kleidung und die
Decke auf der Wiese zu einer hellen milchigen Fläche. In schweren Fällen entsteht das
Gefühl, man laufe gegen eine weiße Wand. Bei hoher Blendungsempfindlichkeit helfen
besondere Filtergläser, Seitenschutz und Hutkrempen, die das Gesicht beschatten.
29
4.5.
Untersuchungsmethoden
Gesichtsfeldmessung (Perimetrie): Hinweis auf die Erkrankung ist eine Einengung des
Gesichtsfeldes zum Zentrum hin. Eine Perimetrie ist die Überprüfung des Bereichs, den
man wahrnehmen kann, ohne das Auge zu bewegen = das Gesichtsfeld. Hierbei
unterscheiden sich das Gesichtsfeld eines Auges (monokulares Gesichtsfeld) und das
beider Augen (binokulares Gesichtsfeld).
Beim Blick geradeaus, reicht das Gesichtsfeld zur Seite bis zu einem Winkel von über 90
Grad. Nach unten sind es bis zu 70 Grad und nach oben sowie zur Nase hin bis 60 Grad.
Für Farben ist das Gesichtsfeld kleiner als für weißes Licht. Gegenstände am Rande des
Felds werden deshalb nicht farbig wahrgenommen. Außerdem ist das Gesichtsfeld
abhängig von der Adaptation, der Größe und der Helligkeit eines betrachteten Objekts.
Eine klassische Untersuchung ist die kinetische Gesichtsfeldmessung mit dem manuellen
Goldmann-Perimeter. Sie ist auch der vorgeschriebene Standard für gutachterliche
Untersuchungen. Neue Computer-Perimeter erlauben auch copumtergesteuerte kinetsiche
Perimetrie. Leichtere Funktionsstörungen im Frühstadium lassen sich besser durch die
statische Perimetrie entdecken (Grehn, 2008).
Die
automatische
statische
Perimetrie ist die am häufigsten
angewandte
Methode
der
Gesichtsfeldmessung. Sie misst, wie
empfindlich
die
bestimmten
Stellen
Lichteinstrahlung
Netzhaut
ist.
an
gegenüber
Bei
der
statischen Perimetrie sitzt der Patient
vor einem halbrunden Testschirm
Abb. 14: Gesichtsfeldmessung
(Perimeter). Auf dem Schirm erscheinen in zufälliger Reihenfolge aufblinkende
Lichtpunkte. Die zu testende Person blickt auf ein Fixierlicht in der Mitte des Schirms und
muss immer dann, wenn sie ein Licht in der Umgebung bemerkt, einen Signalknopf
drücken. Betätigt sie bei einer Lichtmarke den Knopf nicht, so erhöht sich zunächst die
30
Lichtstärke. Nimmt die Person den Punkt wieder nicht wahr, registriert der angeschlossene
Computer einen Ausfall. Das Messergebnis vergleicht der Arzt anschließend mit einem
Normalbefund. Durchschnittlich dauert eine Gesichtsfeldmessung 10 bis 20 Minuten.
Dabei wird immer nur ein Auge getestet, während das andere mit einer Augenklappe
abgedeckt ist.
Eine ältere und seltener angewandte Art der Gesichtsfeldmessung ist die kinetische
Perimetrie. Auch bei dieser Methode sitzt die zu testende Person meist vor einem
halbrunden, selten vor einem flachen Testschirm (Kampimetrie). Auf diesem werden
bewegte Lichtpunkte von außen nach innen in das Gesichtsfeld herangeführt. Der
Zeitpunkt an dem der Patient die Punkte wahrnimmt, wird vom untersuchenden Arzt oder
automatisch von einem Computer erfasst und anschließend ausgewertet. Auf diese Weise
kann der Arzt die genaue Größe des Gesichtsfelds bestimmen.
Mesoptometer: Hell-Dunkel-Anpassung und gestörtes Dämmerungssehen können durch
eine Überprüfung mit dem Mesoptometer abgeklärt werden.
Elektroretinogramm: Der Untergang der peripheren Netzhaut kann mittels eines
Elektroretinogramms untersucht werden, mit dem elektrische Potentiale der Netzhaut
abgeleitet werden. Bei dem Usher-Syndrom sind diese deutlich reduziert.
Beim Elektroretinogramm werden Lichtreize appliziert und die darauf von der Netzhaut
gebildeten elektrischen Potenziale mittels mehrerer Elektroden aufgezeichnet. Diese
Potenziale spiegeln die elektrische Aktivität der Zapfen und Stäbchen sowie der
Bipolarzellen wider. Es wird zwischen skotopischen (dunkeladaptierten) und photopischen
(helladaptierten) Bedingungen unterschieden. Bei skotopischen Bedingungen werden
hauptsächlich die Stäbchen, bei photopischen Bedingungen die Zapfen getestet. Beim
Ganzfeld-Elektroretinogramm bleiben Störungen, die nur die Makula betreffen, meist
verborgen, weswegen bei Verdacht auf Störung des zentralen Gesichtsfeldes das
Multifokal-Elektroretinogramm (mfERG) Anwendung findet. Hierbei werden dem
Patienten sich verändernde Lichtreize für bestimmte Areale der Netzhaut angeboten und
die Antwortkurve für jedes Netzhautareal separat berechnet.
Farbsinntest: Häufig sind Farbsehstörungen im Blau-Grün-Bereich festzustellen. Zum
Usher-Syndrom gehört typischerweise ein gestörtes Blau-Gelb-Farbsehen. Bei einem
Farbsinntest kommt ein Spektralapparat zum Einsatz. Mit diesem kann der Augenarzt
31
verschiedene Farben mischen und Kontraste beliebig abbilden. Der Untersuchte wird
aufgefordert, die verschiedenen Farben und Formen, welche er sieht, zu benennen. Der
Augenarzt kann dadurch beurteilen, ob und in welcher Art eine sogenannte Farbenblindheit
vorliegt.
Untersuchungen des Glaskörpers: Glaskörpertrübungen können auch vorkommen. Diese
reichen von kleinen, kaum zu erkennenden pigmentieren Zellen bis zu dichten Trübungen
bei der Synchisis scintillans (glitzernde Cholesterinkristalle im Glaskörper). Davon zu
unterscheiden sind „normale“ wahrnehmbare Glaskörpertrübungen, die sogenannten
„fliegenden Mücken“ (mouches volantes).
Fundusuntersuchugen: Eine Untersuchung des Augenhintergrunds kann direkt oder
indirekt stattfinden. Bei einer direkten Ophthalmoskopie wird das Auge des Betroffenen
beleuchtet. Durch ein Ophthalmoskop kann der Augenarzt durch die Pupille in das
Augeninnere sehen. Dabei erscheint der Augenhintergrund in mehrfacher Vergrößerung.
Während der Untersuchung des Augenhintergrunds sitzt der Augenarzt direkt vor dem
Untersuchten. Bei einer indirekten Ophthalmoskopie hält er mit ausgestrecktem Arm eine
Lupe vor das Auge des Betroffenen und beleuchtet dieses mit einer starken Lichtquelle.
Obwohl der Augenarzt bei dieser Augen-Untersuchung mit kleineren Vergrößerungen
arbeitet, erhält er einen besseren Gesamtüberblick über das Augeninnere.
Beim Usher-Syndrom zeigen Untersuchungen des Augenhintergrunds (Fundus) eine
Atrophie des retinalen Pigmentepithels. Durch eine Ansammlung von nicht „verdaubaren“
Abbauprodukten in der Netzhaut entstehen die sogenannten Knochenkörperchen. Diese
Pigmentablagerungen sind Folgeerscheinungen der Netzhautdegeneration und nicht die
Ursache.
Im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung erkennt man eine Atrophie des Sehnervs an
der wachsgelben bzw. blassen Papille. Außerdem wird eine Engstellung der retinalen
Blutgefäße im Laufe der Zeit deutlich erkennbar, da die nicht mehr funktionierenden Teile
nicht mehr versorgt werden müssen (Große-Wilde, 2009; Grehn, 2008).
32
5. Auseinandersetzung mit der Behinderung
„Es gibt Menschen unter uns, die in Erfahrungswelten leben, die unsereins
niemals betreten kann“
(John Steinbeck zit. in Trucker 1998, S.5)
5.1.
Diagnose
Die Diagnose Usher-Syndrom ist verständlicherweise sowohl für die Betroffenen als auch
für ihre Angehörigen ein Schock. Eltern eines betroffenen Kindes müssen ihm die
Krankheit erklären und wissen häufig nicht, wie sie es am besten tun sollten. Oft haben sie
die Tatsache, dass bei ihrem Kind zu der Hörbehinderung eine fortschreitende
Sehbehinderung hinzukommt, noch nicht verarbeitet und wissen nicht, wie sie selber damit
umgehen sollen. Bereits vor Jahren haben sie verarbeiten müssen, dass ihr Kind
hörgeschädigt ist. Sie haben meist viel Zeit und Mühe in die Sprachentwicklung,
brauchbare Hörhilfen und Schulausbildung investiert. Mit der Feststellung einer
zusätzlichen fortschreitenden Sehbehinderung gilt es für sie, erneut einen Schock zu
überwinden. Manche Eltern informieren ihr Kind erst Monate oder Jahre später über die
Erkrankung und die daraus resultierende Behinderung. „Von den gehörlosen und
schwerhörigen Menschen erfahren wir aber, dass sie es oft vorgezogen hätten, rechtzeitig
von ihren Eltern über die Erkrankung informiert zu werden“ (Guest 2009).
Im anfänglichen Krankheitsstadium kann diese „unsichtbare“ Doppel-Behinderung von
Außenstehenden nicht sofort erkannt werden. Auch die Betroffenen selbst können oft das
ganze Ausmaß ihres Handicaps nicht immer ausmachen, da es sich in der Regel über einen
langen Zeitraum sehr gering verändert. Trotzdem spüren die betroffenen Kinder, dass
etwas nicht stimmt, dass sie sich von anderen Kindern unterscheiden. Es erscheint äußerst
sinnvoll, eine dem Alter entsprechende Aufklärung zu betreiben. Bei der ärztlichen
Mitteilung einer möglichen Erblindung wird aber häufig übersehen, dass bei RP noch über
einen sehr langen Zeitraum verwertbare Sehreste vorhanden bleiben. Oft fehlt aber das
Vorstellungsvermögen darüber, welche Einschränkungen das festgestellte, eingeschränkte
Gesichtsfeld bedeutet. Wenn Ärzte oder Berater die Eltern nicht ausreichend über die
Erkrankung informieren, kann dies dazuführen, dass diese auf die praktischen und
emotionalen Bedürfnisse des Kindes oder Jugendlichen inadäquat reagieren (Große-Wilde,
2009; Reichardt, 1999/2000).
33
5.2.
Bewältigungsprozess
Nach Mitteilung der Diagnose durchlebt der Betroffene einen oft jahrelang andauernden
Prozess der Bewältigung und Behinderung – parallel dazu verschlechtert sich seine
Sehfähigkeit. Mit jeder neuen Konfrontation, dass er wieder schlechter sieht, treten
Gefühle und Ängste, Resignation und Trauer auf.
Die Psychotherapeutin Cordula von Brandis-Stiehl, selbst an RP erkrankt, unterteilt diesen
Prozess in vier Abschnitte, welcher aber durch wechselvolle Gefühlschwankungen nicht
immer in der genannten Reihenfolge verläuft:
Zeiten des Nicht-Annehmens: Nach Eröffnung der Diagnose beginnt meist die Zeit des
Ignorierens oder des Nicht-Wahrhaben-Wollens. Oft versucht der Betroffene den
Sachverhalt abzuschwächen oder gar ins Gegenteil zu ziehen, wie „Die Diagnose ist falsch,
der Arzt hat sich geirrt“.
Ann (age 46) „I was a student in college when I first found out about my diagnosis. The
ophthalmologist took me into his office alone and said, „You have RP.“ I said, „What´s
that?“ Later, he said, „You are going blind. You need to learn braille and quit the college.
I want you to goto a hospital where they are doing research on RP.“ He was very blunt. I
said, „What, me going blind? No, no!“ I was crying because I was really shocked. „Me,
going blind? Me, quit college?“ I couldn´t believe that (Duncan, Prickett and Vernon,
1988).
Wie lange der Betroffene seine Begründungen für sich aufrecht erhält, hängt von seiner
Persönlichkeit ab, wie er generell mit Problemen umgeht und wie weit er sich auf die neue
Situation einstellen kann. Für Usher-Syndrom-Betroffene ist die Abnahme der
Sehfähigkeit besonders schmerzlich, da sie aufgrund ihrer Hörbehinderung besonders auf
die Augen angewiesen sind. Die zusätzliche Einschränkung zwingt sie, sich in
verschiedenen Situationen immer wieder neu zu orientieren – und die Kommunikation mit
den Mitmenschen wird noch komplizierter.
„Das Gefühl, das Geschehen nicht fassen zu können, kennen wir bei plötzlichen
Todesfällen von uns nahestehenden Menschen; hier helfen häufig Trauerrituale, die in der
Kultur verwurzelt sind. Im Falle der Sehverschlechterung hält unsere Tradition leider kein
Ritual zum trauernden Abschied vom sehenden Zustand bereit“ (Brandis-Stiehl, 2001).
34
Zeiten der Rebellion: Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem sich die Sehbehinderung
nicht mehr verdrängen lässt. Der Kraftaufwand, welcher betrieben wird, um unauffällig zu
wirken, kann nicht mehr geleistet werden. Der Betroffene fühlt sich ohnmächtig –
empfindet Wut und Zorn gegen sich selbst und andere. Diese Aggression kann sich in
Schuldzuweisungen anderen gegenüber äußern und das alltägliche Zusammenleben schwer
belasten.
Zeiten des Rückzugs: Der Kräfteverschleiß durch die Konfrontation mit der
Hörbehinderung und der Sehverschlechterung, der Verdrängung und dem Sich-Auflehnen
gegen die bestehende Situation ist für die Betroffenen sehr groß. Die Kommunikation mit
anderen ist schwieriger geworden und durch die erhöhte Konzentrationsarbeit auch
ermüdender. Viele Betroffene resignieren und ziehen sich aus ihrem sozialen Umfeld
zurück. Die Angehörigen werden zu ihrem einzigen „Halt“. Dies kann die Angehörigen –
obwohl sie natürlich helfen wollen – mit der Zeit überfordern und „auslaugen“.
Zeiten des Suchens und Findens:
"Wenn Dir irgendetwas Schmerzen bereitet, so ist es nicht das Ding an sich, das Dich
schmerzt, sondern Dein Urteil darüber, und es liegt in Deiner Macht, eben dieses Urteil
jetzt zu revidieren."
Marc Aurel
Das Suchen und Finden des neuen Selbstbildes ist ein langer Prozess, welcher geprägt ist
vom Abschied von Hör- und Sehfähigkeiten, der Trauerarbeit, vielen Rückschlägen und
Verunsicherungen und dem Sammeln von Erfahrungen im Umgang mit den
Beeinträchtigungen. Die Beendigung des Bewältigungsprozesses ist ein abstraktes Ziel. Es
wird für die Betroffenen immer wieder Situationen oder Momente geben, die in ihnen
Gefühle der Trauer hervorrufen (Reichardt, 1999/2000).
Art (age 44) „I do accept my vision loss, emotionally, but in some ways I miss my vision
tremendously. Not the hearing… I was born deaf. I have never experienced hearing, so I
don´t care about that. I could do many things as a deaf person that I can´t do now. I miss
the beauty of seeing because I had a lot of visual experience in the past. When I became
blind, I missed that. But I have a lot of ambition, a lot of other interests, a lot of activities
35
that keep me busy. But sometimes, I do miss my vision.“ (Duncan, Prickett and Vernon,
1988).
5.3.
Auseinandersetzung mit der Hörbehinderung
Selbst geringe Hörstörungen können in einer Welt des immer schneller werdenden
Informationsaustausches zum Nachteil werden. Wer dem hörsprachlichen Austausch nicht
mehr schnell genug folgen kann, läuft Gefahr, beruflich, familiär oder sozial isoliert zu
werden (Zahnert, 2011).
Die
Auseinandersetzung
mit
der
Behinderung
allgemein
und
der
doppelten
Sinnesbeeinträchtigung im Besonderen ist immer ein individueller Prozess. Ein Vergleich
der Lebensgeschichten von Usher-Betroffenen ist nur bedingt möglich – zu unterschiedlich
sind ihre Eingangssituation (vor der Diagnose) und ihr Bewältigungsprozess (nach der
Diagnose).
5.4.
Doppelte Sinnesbeeinträchtigung
Haben Sie einmal darüber nachgedacht, wie sich wohl eine zweifache Behinderung auf das
Alltagsleben auswirkt? Welche von beiden, die Sehbehinderung oder die Schwerhörigkeit,
bewirkt die größere Belastung – ist das größere Handicap?
Aus der medizinischen Literatur kann man ersehen, dass die Kombination von Hör- und
Sehverlust sich ernster auswirkt als ein genetischer Defekt für sich alleine. Sie wird als
eine komplexe Behinderung bezeichnet (Stiefel, 1991).
Den „typischen Usher-Syndrom-Fall“ gibt es nicht, denn jede Erkrankung verläuft
individuell. Wichtig sind regelmäßige Untersuchungen in zwei- bis fünfjährigen Abständen
– dadurch kann abgeschätzt werden, wie rasch der Sehverlust voranschreitet. „Hilfen in
dieser Zeit können nur durch Menschen gegeben werden, die dem Betroffenen klar machen
können: Ich bin da. Ich verlasse dich nicht. Ich helfe dir“ (Hepp, 2003).
Dieses Ziel könnte in der Heil- und Integrativen Pädagogik sowie in der Medizin durch
kompetentes Fachpersonal umgesetzt werden, welches einfühlsam auf den Betroffenen
eingeht, um gemeinsam einen Weg zu finden, kommunikative Kompetenzen, mobile
Unabhängigkeit und barrierefreien Informationszugang aufrecht zu erhalten oder auf zu
bauen. Die größte Problematik liegt derzeit darin, dass das Wissen über Usher in
Österreich auch unter Ärzten und den Gehörlosen selbst wenig verbreitet ist, da es nur
wenige wagen, über diese Tabu-Thema offen zu sprechen. Weiters kommt hinzu, dass
36
jeder selbst darüber entscheidet, wie er mit der Erkrankung umgeht – ob er sich dem stellt
oder es leugnet. Eine 36jährige Usher-Betroffene aus Amerika mit 80% Hörverlust und
30% Sehverlust schreibt:
„I don´t think much about my disabilities because I have avoided my worst case scenarios
and just plain sail! In orther words I just enjoy the best that life can offer. There is no point
in feeling sorry for oneself, no point in trying to do things that do not gel with you and your
disabilities. Do the things that you know that you can do and improve on them. That´s what
I try to do by keeping myself occupied with things that keep my mind busy and focussed“
(Dainton, 2007).
Nicht für alle Betroffenen steht die medizinische Diagnose an erster Stelle. Frau Dainton
schreibt, sie wisse nicht, ob sie Usher-Typ 2 oder 3 habe – es interessiere sie auch nicht.
Obwohl jede Erkrankung anders verläuft, lassen sich doch gewisse Gemeinsamkeiten
ausmachen:

Das Gefühl, ab einem gewissen Zeitpunkt im Leben anders als der Rest zu sein
(oftmals mit dem Eintritt in den Kindergarten oder in die Schule).

Die Erfahrung, neben dem Unvermögen zu Hören auch verminderte Sehfähigkeit
zu haben und dadurch zwischen zwei Gemeinschaften zu stehen – weder zu den
Gehörlosen noch zu den Blinden zu gehören.

Soll ich mich damit überhaupt auseinandersetzen – soll ich mich dem stellen oder
leugne ich solange es geht?

Und
letztlich
die
Suche
nach
anderen,
neuen,
alternativen
Kommunikationsmöglichkeiten.
So vielschichtig und komplex die Ursachen und Auswirkungen des Usher-Syndroms sein
können, so bunt, kreativ, nützlich, kompliziert oder individuell sind auch die sich draus
ergebenden Kommunikations- und Lebensstrategien dieser Personengruppe (Sacherer,
2011).
5.4.1 Taubblindheit
Taubblindheit ist eine Behinderung die beiden Fernsinne, das Sehen und das Hören betrifft.
Der Grad der Behinderung kann bei beiden Sinnen sehr verschieden sein, d.h. neben
37
vollständiger Taub- und Blindheit sind auch verschiedenste Grade von Seh- und
Hörbehinderung möglich. Es gibt vier Kombinationen, die als Taubblindheit bezeichnet
werden:
1. Vollständige Blindheit und vollständige Gehörlosigkeit
2. Vollständige Blindheit und hochgradige Schwerhörigkeit
3. Hochgradige Sehbehinderung und vollständige Gehörlosigkeit
4. Hochgradige Sehbehinderung und hochgradige Schwerhörigkeit
(Adler und Wohlgesinger, 2011).
Es handelt sich also nicht um eine homogene Gruppe, auf die der Begriff „taubblind“
verweist – manche Menschen sind völlig taub und blind, die meisten Betroffenen haben
jedoch Seh- und/oder Hörreste so dass sich unterschiedliche Erscheinungsbilder ergeben.
Taubblinde Menschen sind nicht fähig – wie Blinde oder Gehörlose – den gesunden
zweiten Fernsinn als volle Kompensation einzusetzen. Taubblindheit ist eine Behinderung
für sich – eine dritte Behinderungsart (Schneider und Schuler, 2002).
Der Zeitpunkt des Eintritts der Sinnesschädigungen hat einen maßgeblichen Einfluss auf
Entwicklung und Lebensperspektive. Peter Hepp (Hepp, 2003) hat ausgehend von seinen
zahlreichen, langjährigen Erfahrungen mit Gehörlosen, Blinden und Taubblinden folgende
Dreiteilung, entsprechend der verwendeten Kommunikationsform, vorgenommen.
1. Taubblind Geborene
2. Lautsprachlich orientierte Taubblinde
3. Gebärdensprachlich orientierte Taubblinde
Taubblind Geborene sind Menschen, die von Geburt oder frühester Kindheit an wegen
fehlender oder stark eingeschränkter Hör- und Sehfähigkeit keine oder nur eingeschränkte
Möglichkeiten haben, über die auditive und/oder visuelle Wahrnehmung Sprache zu
erwerben. Der Tastsinn ist ihr wichtigstes Kommunikationsmittel. Taubblinde Geborene
können eine taktil-wahrnehmbare Sprache entwickeln – diese ist in ihrer Art ganz anders
als die Lautsprache oder die Gebärdensprache. Um die Entwicklung dieser andersartigen
Sprache erspüren zu können, muss man von der „Vorstellung der eigenen Sprache“
absteigen.
Lautsprachlich orientierte Taubblinde sind erst nach dem Erwerb der Lautsprache
ertaubte Blinde oder hochgradig Sehbehinderte. Auch hochgradig schwerhörige Blinde und
38
Sehbehinderte gehören dazu. Diese Betroffenen konnten früher hören und hatten so die
Möglichkeit, eine auditiv ausgerichtete Sprache zu erwerben – die Lautsprache. Nach
Ertaubung oder Minderung der Hörfähigkeit können sie zwar die Sprache der anderen
nicht mehr oder nur noch eingeschränkt aufnehmen – aber ihnen bleibt die Fähigkeit, sich
lautsprachlich zu äußern, sodass sie verstanden werden. Diese Menschen sind oft
„Meister“ im Lormen (siehe Abbildung 16), wegen der ebenfalls meist vorhandenen guten
Schriftsprachkompetenz. Der Nicht-Taubblinde lormt ihnen in die Hand und der
Taubblinde antwortet in Lautsprache.
Gebärdensprachlich orientierte Taubblinde sind sehbehinderte oder erblindete
Gehörlose oder auch hochgradig Schwerhörige. Diese hatten aber in früher Kindheit ein
gutes Sehvermögen und somit die Möglichkeit eine visuelle ausgerichtete Sprache zu
erwerben – die Gebärdensprache. Sie empfinden diese auch als ihre Muttersprache. Wenn
ihr Sehvermögen sich verringert, bietet sich das Lormen - mehr aber die taktile
Gebärdensprache als ideale Kommunikationsform für diese Betroffenen an (Hepp, 1998).
Taubblindheit wurde 2004 als eine „spezifische Behinderung eigener Art“ im
Europaparlament anerkannt (Angermann, 2004). 191 Länder der Vereinten Nationen
unterschrieben die Konvention. Die Anerkennung der Taubblindheit als eigene
Behinderungsform durch das österreichische Parlament am 21.10.2010 stützt die
Legitimation gezielter heilpädagogischer Fördermöglichkeiten für diese Personengruppen
und wird bei der Einschätzung des Schweregrades einer Behinderung dezidiert als
Diagnose angeführt (Republik Österreich, 2013).
Taubblindheit
Eine offizielle Definition von
und Hörsehbehinderung fehlt aber weiterhin. Trotzdem ist die
Annerkennung ein Schritt dahin, dass es taubblinden Menschen leichter möglich gemacht
wird, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Österreich hat sich durch die
Unterzeichnung der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen
verpflichtet, Menschen mit Taubblindheit in der für sie am besten geeigneten Weise der
Kommunikation zu unterrichten (Baumann und Latzelsberger, 2012).
6. Beeinträchtigung der Kommunikation
Unter Kommunikation (lat. communicatio = Mitteilung, Unterredung) verstehen die
meisten Menschen das Austauschen von Gedanken und Gefühlen unter Menschen, vor
allem mit dem Mittel der „Sprache“ (Schneider und Schuler, 2002).
39
Kommunikation
ist
ein
zentraler
und
essentieller
Bestandteil
menschlichen
Zusammenlebens. Spätestens seit Paul Watzlawick ist bekannt, dass man nicht nicht
kommunizieren kann (Watzlawick, Beavin und Jackson, 1974).
Hörende können sich naturgemäß nicht vorstellen, dass Gehörlosigkeit nicht als Mangel
oder Behinderung aufgefasst werden kann, weil sie es nicht anders kennen und weil für sie
Hören ein wesentlicher Bestandteil der Kommunikation ist. Gehörlose jedoch, die nie
hörend waren, vermissen per se das Hören nicht. Was ihnen fehlt, ist die Kommunikation
mit Hörenden, nicht aber unter ihresgleichen (Weber-Guskar, 2008). Hörbehinderte,
insbesondere Gehörlose haben große Schwierigkeiten, sich in der lautsprachlich
dominierten Umwelt zurechtzufinden, da sie überwiegend von visueller Kommunikation
abhängig sind. Umgekehrt wird der Hörsinn viel intensiver beansprucht und benutzt, wenn
der Sehsinn fehlt. Wie verändert sich jedoch die Kommunikation bzw. wird beeinflusst,
wenn beide Fernsinne fehlen oder beeinträchtigt sind (Sacherer, 2011)?
6.1.
Kommunikationsformen
Sprache ist der Schlüssel zu Welt. „Je größer der Schlüsselbund, desto mehr Türen können
geöffnet werden, desto mehr Möglichkeiten hat man, die Welt kennen zu lernen“ (Prillwitz
und Vollhaber, 1990). Wenn man diesen Gedanken auf Kommunikation allgemein
erweitert, so lässt sich sagen: Je mehr Kommunikationsmittel der Mensch zu Verfügung
hat, desto mehr Möglichkeiten hat er, mit anderen in Kontakt zu treten, desto
umfangreicher der interpersonale Erfahrungspool, aus dem er schöpfen kann.
Es stellt sich die Frage, in welcher Welt Taubblinde leben und wo endet ihre Welt? Endet
sie überhaupt irgendwo, gibt es Grenzen der Wahrnehmung?
Der Taubblinde kann in seiner Situation resignieren und sagen: „Hier endet meine Welt,
ich weiß nicht, was sich jenseits meiner Fingerspitzen abspielt“ (Reyes, 1997) oder er
kann sagen: Die Welt beginnt in meinen Hände (Sacherer, 2011).
Eine taubblinde Frau drückte die Wichtigkeit der Hände in ihrem Leben in einem Gedicht
aus:
MY HANDS
My hands are . . .
My Ears, My Eyes, My Voice . . .
My Heart.
They express my desires, my needs
They are the light
that guides me through the darkness
40
They are free now
No longer bound
to a hearing-sighted world
They are free
They gently guide me
With my hands I sing
Sing loud enough for the deaf to hear
Sing bright enough for the blind to see
They are my freedom
from a dark silent world
They are my window to life
Through them I can truly see and hear
I can experience the sun
against the blue sky
The joy of music and laughter
The softness of a gentle rain
The roughness of a dog's tongue
They are my key to the world
My Ears, My Eyes, My voice…
My Heart
They are me
(Stine, 1997)
Am Schlüsselbund der Sprachen hat Amanda Stine die für sie passende Sprache gefunden,
um sich auszudrücken und um mit ihren Mitmenschen in Kontakt zu treten.
Kommunikation ist also mehr als Sprechen, und sie beginnt lange vor dem Sprechen. Es
bedeutet, sich mit Mitmenschen auszutauschen – in welcher Form auch immer.
Kommunikation bedeutet, die eigene Persönlichkeit sowie Wünsche und Bedürfnisse durch
(Inter)Aktionen,
Worte,
Berührungen,
Blicke
und
Bilder
auszudrücken.
Am
Schlüsselbunde der Kommunikation hängen sehr viele Schlüssel, die einzeln oder
gemeinsam eingesetzt das Tor zu anderen und der Welt aufschließen können.
Welche Kommunikationsform Taubblinde/hochgradig Hör-Sehbehinderte verwenden,
darauf gibt es keine Pauschalantwort. Die Bandbreite ihrer Ausdrucksmittel ist höchst
individuell, entsprechend den eigenen Bedürfnissen und Fähigkeiten. Kein Mensch ist
gleich, daher gibt es auch nicht die Taubblinde oder den Usher-Syndrom-Betroffenen.
41
Sondern eine Vielzahl an Persönlichkeiten, die alle ihre eigene Lebensgeschichte besitzen
und mit der jeweiligen Abstufung ihrer Seh- und Hörbeeinträchtigung leben.
Viele der in den folgenden Kapiteln vorgestellten Kommunikationsformen können und
werden individuell in der Praxis miteinander kombiniert. Der Input, also die Perzeption
und das Verständnis über kommunikative Inhalte können über einen anderen Kanal
erfolgen, als der Output, die Mitteilung (Sacherer, 2011).
6.1.1. Lautsprache
Welche Sprache ist die idealste für Gehörlose? Im September 1880 fand der Mailänder
Kongress statt, welcher als weltweit prägend für die darauf folgenden Jahre der
Gehörlosenbildung gilt. Spätestens seit dem Mailänder Kongress haben sich im
deutschsprachigen Raum oralistische, auf Lautsprache ausgerichtete Unterrichtsmethoden
durchgesetzt. Bei diesem Kongress kamen Taubstummenlehrer zusammen, um über die
Methode der Bildung von Gehörlosen zu debattieren und abzustimmen. Sie kamen zu dem
Ergebnis, dass gehörlose und hörgeschädigte Kinder nur mehr lautsprachlichen Unterricht
erhalten dürfen. Daher wurde die Gebärdensprache vollkommen aus dem Unterricht
gestrichen und ganze 100 Jahre lang sogar verboten. Erst am 20. Juli 2010 traf sich
dieselbe Vereinigung erneut, um über eine Aufhebung der Mailänder Beschlüsse
abzustimmen. Es bedarf also mehr als ein Jahrhundert, bis schließlich im Zuge des 21.
Internationalen Kongresses zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver
die so folgenreichen Bestimmungen des Mailänder Kongresses aufgehoben wurden
(Österreichischer Gehörlosenbund, 2009).
Lange Zeit war es also in der Schule – aber auch in den Familien üblich, dem gehörlosen
Kind ausschließlich die Lautsprache als Kommunikationsmittel anzubieten. Damit wollte
man die komplette Integration in die Welt der Hörenden erreichen. Doch das ist für die
Entwicklung des Kindes nicht förderlich. Es erfordert eine enorme Anstrengung, ständig
von den Lippen zu lesen und hindert das Kind und die Eltern auch daran, sich spontan zu
äußern. Außerdem wird eine komplette Integration in die Welt der Hörenden (also nur mit
Verständigung durch Lautsprache) niemals möglich sein und Utopie bleiben (Tauber und
Wipplinger, 2012).
42
6.1.2. Gebärdensprache
Die Gebärdensprache ist die Kommunikation, mit der sich Gehörlose untereinander
verständigen. Nichthörbehinderte und Schwerhörige beherrschen sie in der Regel nicht.
Gebärdensprachen sind Sprachen, die nicht auf Lauten basieren, sondern aus einem
manuell-gestischen Code bestehen. Sie sind weltweit überall dort auf natürliche Weise
entstanden, wo es Gehörlosengemeinschaften gab bzw. gibt. Gebärdensprachen sind also
natürliche und nicht erfundene Kunst- oder Plansprachen (wie es z.B. Esperanto ist).
Gebärdensprachen sind deshalb nicht weltweit gleich – es gibt nationale Varianten, die
sich – wie gesprochene Dialekte – voneinander unterscheiden.
Gebärden und ihre Verwendung durch den Menschen sind so alt wie die Menschen selbst.
Neuesten Erforschungen zufolge gilt die Gebärdensprache als die älteste und natürlichste
Sprache der Welt (Clarke, 2010). Zu den ältesten Zeugnissen zählen Beschreibungen von
Gebärden aus dem Alten Testament (Kugler-Kruse, 1988).
Was heute selbstverständlich klingt, war lange Zeit heftig umstritten. Gebärden und
Gebärdensprachen wurden als obszön und vulgär empfunden. In der heutigen Zeit würde
man annehmen, dass die Unterdrückung Gehörloser, ihrer Kultur und ihrer Sprache der
fernen Vergangenheit angehört. Leider ist dies ganz und gar nicht der Fall. Zwar wurden
seit den 1960er Jahren international zunehmend die Gebärdensprachen untersucht und in
Unterrichtskonzepte Gehörloser integriert bzw. reintegriert, dennoch dauerte der Kampf
um die Anerkennung der Gebärdensprache Jahrzehnte. Erst die Erkenntnisse aus der
Linguistik-Forschung, welche den Gebärdensprachen den Status einer „echten“ Sprache
zugestanden,
ermöglichten
den
Gehörlosengemeinschaften
die
Anerkennung
als
eigenständige soziale Minderheitengruppe (Weber-Guskar, 2008).
Am 9. August 2005 wurde die verfassungsrechtliche Anerkennung der Österreichischen
Gebärdensprache
im
Bundesgesetzblatt
kundgemacht.
Damit
war
der
Gesetzwerdungsprozess abgeschlossen. Am 6. Juli 2005 beschloss der Nationalrat eine
Änderung der Österreichischen Bundesverfassung, mit der die Anerkennung der
Österreichischen Gebärdensprache als eigenständige Sprache verankert werden soll.
Mit BGBl. I Nr. 81/2005 wurde diese Anerkennungsbestimmung in Art. 8 Abs. 3 B-VG
am 9. August 2005 im Bundesgesetzblatt kundgemacht. Art. 8 Abs. 3 lautet demnach:
„(3) Die Österreichische Gebärdensprache ist als eigenständige Sprache anerkannt. Das
Nähere bestimmen die Gesetze.“
43
Die Bestimmung trat mit Ablauf des Monates der Kundmachung in Kraft, also mit 1.
September 2005 und damit ist die Österreichische Gebärdensprache eine in Österreich
eigenständig anerkannte Sprache (Krispl, 2005).
Die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS) sowie die Deutsche Gebärdensprache (DGS)
besteht aus den Gebärden, der Non-verbalen Kommunikation und dem Ablesen des
Mundbildes. Hand-, Arm- und Körperbewegungen, Körperhaltung, Mimik und Mundbild
bilden eine Einheit. Gebärdensprachen werden gestisch produziert und visuell
wahrgenommen. Das Auge ist dabei von essentieller Bedeutung, um Kommunikation zu
gewährleisten. Wenn der Gesprächspartner den Blick von seinem Gegenüber abwendet,
wird der Kommunikationsfluss unweigerlich unterbrochen. Gestische Elemente sind
notwendig, um über die Hände Informationen zu übermitteln. Gebärdensprachen bedienen
sich dabei sowohl manueller als auch nonmanueller Elemente. Hände und Arme zählen zu
den
manuellen
–
Mimik,
Gestik
und
Mundbild
zu
den
nonmanuellen
Kommunikationsmitteln. Die richtige Anwendung der fünf Komponenten ist von
elementarer Bedeutung, da sich Gebärden z.B. lediglich anhand einer Komponente
unterschieden können.
In der Gebärdensprache darf (im Regelfall) lediglich ein begrenzter Raum zur Ausführung
der Gebärden verwendet werden. Dieser Bereich, der sich etwa vom Kopf bis zur Hüfte
erstreckt, wird als Gebärdenraum bezeichnet. Innerhalb dessen dürfen Gebärden größer
oder kleiner ausgeführt werden, je nachdem in welcher Situation man sich befindet,
vergleichbar mit Flüstern oder Schreien in der Lautsprache.
Die ÖGS ist syntaktisch eine vollwertige Sprache mit einer eigenen Syntax und Semantik.
Sie ist zudem eine visuelle Sprache, die sich von der deutschen Schrift- und Lautsprache
stark unterscheidet. Durch die Nutzung des Raumes und der Möglichkeit, Aktionen
gleichzeitig auszuführen, liegt aber in Gebärden stärkere Ausdruckskraft als in
lautsprachlichen Worten. Daher werden nur etwa halb so viele Gebärden wie Wörter
benötigt, um den gleichen Inhalt zu transportieren. Somit sind Gebärdensprachen genauso
ökonomisch und „schnell“ wie Lautsprachen.
Allerdings gibt es in der Schriftsprache Wörter, für die es in der ÖGS keine Gebärden gibt
und umgekehrt Gebärden, die nicht schriftlich übersetzt werden können. Um hier Abhilfe
zu schaffen, bedient man sich der Gebärdenzeichen (siehe Seite 45).
Die Produktion einzelner Gebärdenzeichen beansprucht doppelt soviel Zeit wie die
Produktion von Wörtern.
44
Abb.15: Internationales Einhand Fingeralphabet
Das Fingeralphabet ermöglicht das Buchstabieren von Wörtern, für die es z.B. keine
Gebärden gibt und von Namen. Mit den Fingern zu buchstabieren ist keine
Kommunikationsform, weil es sehr umständlich ist, so als ob man in einem gesprochenen
Satz jeden Laut einzeln sagen würde, sondern ein Hilfsmittel, das überall dort verwendet
wird, wo Wörter aus eine anderen Sprache, meist einer Lautsprache, buchstabiert werden
sollen. An lautsprachlich geführten Gesprächen können Gehörlose nur mit Hilfe von
Gebärdendolmetschern teilhaben.
6.1.3.
Taktile Gebärdensprache
Gebärdensprache ist eine visuelle Sprache – Bewegungen, Positionen und Formen von
Händen und Armen, Bewegung von Kopf und Oberkörper sowie Gesichtsausdruck sind
Elemente dieser Sprache. Was geschieht nun, wenn diese Elemente visuell nicht mehr
erfasst werden können?
Kann Sprache durch die Fernsinne nicht mehr visuell oder auditiv wahrgenommen werden,
kann in taktiler Gebärdensprache kommuniziert werden. Gebärden werden dabei taktil
wahrgenommen, indem der Empfänger seine Hände über die Hände der gebärdenden
Person (Sender der Information) legt und die Gebärden sozusagen ertastet.
Taktile Gebärdensprache wird v.a. in Kommunikation mit gehörlosen Personen verwendet,
deren Sehvermögen sich im Verlaufe ihres Lebens verschlechtert hat oder die erblindet
sind, die aber vor dieser visuellen Einschränkung Gebärdensprache benutzt haben (Elliker,
2010).
45
Abb. 16: Taktile Gebärdensprache
„Hörgeschädigte Kinder (meist mit Usher-Syndrom geboren) erlernen, noch sehend, die
Gebärdensprache der Gehörlosen. Wenn – meist erst im Erwachsenenalter – Blindheit
hinzutritt, übertragen sie ihr (erstes) Verständigungssystem so weit als möglich in die
taktilkinästhetische Modalität – sie verständigen sich weiterhin gebärden sprachlich, aber
im Berührungskontakt“ (Arbeitskreis, 2005).
Die Struktur der taktilen Gebärdensprache ist bis auf wenige Details mit der Struktur der
Gebärdensprache identisch. Auf die gebärdenden Hände seines Gesprächspartners legt der
Taubblinde seine eigenen Hände. So kann die Form und die Bewegung der Gebärden
abgefühlt werden – dies kann auch umgekehrt erfolgen. Die fehlende Übermittlung der
Mimik wird durch leichte Grammatik-Abweichungen ausgeglichen. Der übliche
Gebärdenraum wird auf einen kleinen Raumausschnitt reduziert. Es ist möglich, die
Gebärden mit beiden Händen oder einhändig abzufühlen (Zelle, 2008).
6.1.4.
Lormen
Das Lormen ist eine Kommunikationsform (Zeichensprache) für Taubblinde. Durch
verschiedene Arten von Berührung in die Handinnenfläche (streichen, kreisen, punkten,
umfassen) kann Kommunikation stattfinden. Lormen wurde von Dr. phil. Heinrich
Landesmann (Schriftstellerpseudonym Hieronymus Lorm) aus Mähren stammend, im 19
Jahrhundert entwickelt. Landesmann litt seit seiner Jugend an einer progressiven
Sehbehinderung und verlor im Alter von 16 Jahren sein Gehör. Da er um seine drohende
Taubblindheit wusste, entwickelte er für sich dieses Tastalphabetsystem. Er schämte sich
46
jedoch dessen und wendete es nur geheim an. Chlumecky, ein weiterer Taubblinder und
der Tochter Lorms ist es zu verdanken, dass das Lormsystem nicht in Vergessenheit geriet
und sowohl unter Pädagogen, Gehörlosen und Taubblinden Verbreitung fand. (Hepp 1998)
Lormen bezieht sich auf die geltenden Regeln der Rechtschreibung, wobei nicht auf die
Groß- und Kleinschreibung geachtet wird. Frage- und Ausrufezeichen etc. erfolgen in der
üblichen Zeichengebung der Lautsprache. Den 26 Buchstaben des Alphabets wird ein
entsprechendes Tastzeichen zugeordnet. Die Tastzeichen bestehen z.B. aus: Streichen
entlang der Fingerinnenseite, Berühren von Fingerspitzen, Kreisen und Trommeln im
Handteller, Punkten, Umfassen von Fingern etc. Zahlen werden in der uns bekannten Form
in die Handinnenfläche geschrieben. Zur Aufnahme des Lorm´schen Tastalphabets dient
die Handinnenfläche des Zuhörers, welche in der Hand des Sprechers liegt oder bei
längeren Gesprächen auf der Tischkante ruht (siehe Abbildung 16) (Schneider und Schuler,
2002).
Die Vorteile des Lormens: Es kann relativ leicht und schnell erlernt werden (etwa für
Angehörige, Betreuer oder Freunde). Ein rascher Gesprächsverlauf ist durchführbar, wenn
die Benützer geübt sind. Diese Art der Kommunikation beruht auf dem Tastsinn, entspricht
damit den natürlichen Bedürfnissen taubblinder/hochgradig hör-sehbehinderter Menschen
und ist daher für sie geeignet. Lautsprachorientierte Menschen sind darauf ausgerichtet,
Informationen seriell und nicht simultan wahrzunehmen. Lormen folgt diesen Richtlinien,
da die Wörter nacheinander in die Hand des Gegenübers geschrieben werden.
Darin liegt aber die erste Schwierigkeit, denn Voraussetzung für die Anwendung des
Lormalphabets ist gute Schriftsprach- respektive Lautsprachkompetenz. Deshalb eignet
sich diese Kommunikationsform gut für Spättaubblinde (Sacherer, 2011).
Nachteile des Lormens: Gegenüber der Lautsprache und auch der Gebärdensprache
(sofern Sprachkompetenzen grundsätzlich vorhanden sind), ist Lormen zeitaufwändiger, da
jedes Wort einzeln nacheinander buchstabiert werden muss. Außerdem erfordert dieses
Alphabet von beiden Benützern große Konzentration und ist auf Dauer sehr anstrengend.
Da das Lormen Körperkontakt erfordert, ist die Kommunikation mit viel Nähe verbunden.
Als schwierig werden von Betreuern insbesondere Situationen erlebt, in denen taubblinde
Menschen aggressiv werden oder sich ganz zurückziehen (Schneider und Schuler, 2002).
47
Abb. 17: Das Lormalphabet
Abschließend sei darauf hingewiesen, dass dieses Tastalphabet von wenigen Gehörlosen
beherrscht und angewendet wird, solange sie nicht selbst von einer drohenden
Taubblindheit oder hochgradigen Hör-Sehbehinderung betroffen sind oder überhaupt über
die bevorstehende Verschlechterung ihrer beiden Fernsinne wissen. Es ist ein zusätzliches
Kommunikationsmittel, stellt jedoch keine Idealform der Kommunikation dar. Lormen ist
eine nützliche Ergänzung, welche Gebärden aber nicht ersetzt (Sacherer, 2011).
7. Spezielle Probleme von Usher-Syndrom Betroffenen im
Alltag
In diesem Kapitel möchte ich Alltagsituationen aufzeigen, die für Usher-Syndrom
Betroffene oftmals mit großen Schwierigkeiten behaftet sind – die aber relativ einfach
beseitigt werden können, wenn man folgende Regeln beachtet.

Wichtig für Usher-Syndrom Betroffene ist der Raum, in dem die Kommunikation
stattfindet. Er sollte gut beleuchtet sein, damit das Ablesen des Mundbildes und der
Gebärden möglich ist. Sitzt der Gesprächsteilnehmer in einem Zimmer vor dem
48
Fenster (wie es oft bei Behörden der Fall ist), so wird der Betroffene durch das
Gegenlicht geblendet und kann das Gesicht des anderen Teilnehmers nur
abgedunkelt wahrnehmen. Die umgekehrte Position, wo der Betroffene das Fenster
im Rücken hat, ist für ihn angenehmer. In hohen geschlossenen Räumen sorgt ein
vom Boden und von den Wänden mehrfach reflektierter Schall für zusätzliche
Beeinträchtigung.

Bei einem Gruppengespräch, in dem mehrer Teilnehmer Dialoge führen, ist der
Schwerhörige einer großen Belastung ausgesetzt. Er muss die augenblicklich
sprechende Person orten und sich auf diese und ihrer Sprechhaltung konzentrieren.
Oft geht dabei der Anfang verloren und der Betroffene gerät ins Hintertreffen.
Durch schnelle Themenwechsel verliert er häufig den Anschluss an das Gespräch.

Die aufzubringende Konzentration ermüdet den Betroffenen bei lang andauernden
Gesprächen, so dass er sich zurückzieht vom aktuellen Gespräch. Je lauter die
Umgebung und je schlechter die Lichtverhältnisse sind, desto eher lässt die
Konzentration bei dem Betroffenen nach.

Durch die GF-Einschränkung geht Usher-Syndrom Betroffenen zusätzlich ein
großer Teil der visuellen Information verloren. Innerhalb einer Gesprächsrunde
kann nur ein Teil der Gruppe visuell erfasst werden. Die unmittelbaren seitlichen
Nachbarn werden nicht gesehen. Der Sprechende muss erst „gesucht“ werden, bis
er sich im Blickfeld befindet. Gebärden, die einen großen Raum einnehmen,
können nur noch bedingt wahrgenommen werden. Alles was außerhalb dieses
Blickfensters liegt, ist somit außerhalb des Sichtbereichs für den Betroffenen. Da
bei Usher-Betroffenen die visuellen Fenster unterschiedlich sind, sind die
Betroffenen gerne bereit darauf hinzuweisen, wie weit sie etwas sehen. Meist lesen
sie sehr viel von den Lippen ab und sind auf die Mimik angewiesen, weil diese
wichtigen Informationen auch mit kleinstem Sichtfenster leicht verstanden werden.

Wenn man einem Usher-Betroffenen etwas zeigen will, ist es wichtig, zuerst zu
sagen, was man meint – und erst dann in die Richtung zu zeigen, wo sich das
Objekt befindet. Durch das Vorwissen findet und erkennt der Betroffene die Dinge
viel schneller und weiß, was der andere sagen bzw. zeigen wollte.

In Einkaufzentren und Supermärkten lauern auch oft versteckte Gefahren für
Betroffene. Der Einkaufswagen ist grau und der Betroffene sieht verschwommen –
zusätzlich durch die Gesichtsfeldeinschränkung stößt er oft an Gegenstände an, die
49
am Boden stehen. Der Betroffene sieht sie nicht und stolpert bzw. stößt sich an
Ecken und Kanten an. Deshalb schauen Usher-Betroffene zuerst zu Boden und
gehen dann weiter oder gehen mit gesenktem Kopf. Dies führt wiederum dazu, dass
sie andere Personen im Supermarkt oft erst spät sehen und dann nicht mehr
entsprechend ausweichen können bzw. mit anderen zusammenstoßen.

Besonders gefährlich ist es im Straßenverkehr. Der Betroffene kann weder den Zug
noch das Auto kommen hören bzw. sehen. Bei schwerhörigen Betroffenen ist die
akustische Orientierung bei Straßenlärm sehr schwer. Deshalb müssen Betroffene
den Kopf ganz langsam nach links und rechts drehen und genau schauen. Dies ist
vor allem bei stark befahrenen Straßen ohne Ampelregelung sehr schwierig, weil
der Betroffene durch das langsame Schauen nicht adäquat abschätzen kann, ob er
es auf die andere Straßenseite schafft.

Sich mit Betroffenen zu unterhalten (egal ob in Lautsprache oder in
Gebärdensprache) und dabei zu gehen ist für Betroffenen stressig, weil sie nicht
gleichzeitig den Boden und den Gesprächspartner ansehen können. Die Gefahr
hinzufallen, zu stolpern oder an anderen Menschen anzustoßen ist groß. Gefährlich
wird es dann vor allem bei Treppen und Stufen.

Geduldig zu sein ist für die Kommunikation mit Betroffenen sehr wichtig. Auch
wenn Teilstücke verstanden werden, kann ein wichtiges Schlüssel-Wort zum
gravierenden Missverständnis führen. Dies ist besonders dann wichtig, wenn es um
Gefühle geht.

Für Eltern ist es wichtig, dass sie zu der Beeinträchtigung des Kindes stehen und
die Lehrer ihres Kindes darüber aufklären. Es ist deshalb wichtig, weil es in der
Schule viele Situationen gibt, wo Kinder sich verletzen können z.B. im
Turnunterricht.
Die
Einschränkung
des
Gesichtsfeldes
oder
auch
die
Gleichgewichtsstörungen können zu massiven Problemen führen. Ein Kind mit
Gleichgewichtsstörungen kann z.B. nicht mit verbundenen Augen "Blinde Kuh"
spielen oder es sieht die umgedrehte Bank zu spät und stolpert darüber. Ballspiele,
die zugeworfen werden, sind für die betroffenen Kinder nicht spielbar. Deshalb ist
es immer wichtig, Bezugspersonen des Kindes (auch Lehrmeister in der Lehre)
darüber zu informieren und ihnen Mittel aufzuzeigen, worauf es bei dieser
Erkrankung ankommt, wie z. B. gute Beleuchtung in den Räumlichkeiten. Wichtig
ist, dass der Betroffene auch selbst angeben kann, was für ihn gut ist und was nicht.
50
Deshalb ist es auch die Aufgabe der Eltern, das Kind für die Zukunft so
vorzubereiten, dass sie mit Selbstbewusstsein zu ihrer Einschränkung stehen.

Für nichtbetroffene Personen ist es einfach wichtig zu wissen, wie man mit
Betroffenen umgehen sollte. Der Nichtbetroffene muss nicht zwangsläufig
Gebärdensprache können, aber er sollte wissen, wie Informationen am besten
vermittelt werden. Es ist wichtig, dass man sich bei Gesprächen mit Betroffenen
bewusst macht, dass diese – durch ihre doppelte Sinnesbeeinträchtigung relativ
leicht und unabsichtlich etwas falsch verstehen können.
Im folgenden Kapitel kommt nun ein Interview mit einer Usher-Syndrom-Betroffenen,
damit man sich als Nicht-Betroffener besser in das Alltagleben und die Probleme von
diesen Menschen hineinversetzten kann. Dazu war ein Votum der Ethikkommission der
Medizinischen Universität einzuholen. Nach Eintreffen des positiven Votums konnte die
Befragung durchgeführt werden. Es war geplant zwei Betroffene zu interviewen, leider hat
eine Patientin aus persönlichen Gründen das ursprünglich zugesagte Interview verweigert.
8. Interview mit einer Usher-Syndrom Betroffenen
Interviewpartner
Frau B. und Gebärdendolmetscherin
Gaugl
G.
G: Vielen Dank für das Interview. Wie alt sind Sie?
Fr. B: 32 Jahre
G: Wie ist ihr Familienstand – ledig oder verheiratet?
Fr. B: Ich bin verheiratet. Mein Mann ist schwerhörig.
G: Haben sie Kinder?
Fr. B: Ja, einen Sohn mit 4 Monaten – und er ist hörend.
G: Wie sieht ihre momentane Wohnsituation aus?
Fr. B: Ich wohne mit meinem Mann – und natürlich meinem Sohn zusammen.
(Biografie):
G: Welche Schule haben sie besucht?
51
Fr. B: Ich verbrachte die gesamte Schulzeit im BIG in Wien Speising. Von 1987-1992
besuchte ich die Volksschule und von 1992-1996 die Hauptschule. Danach war ich bis
1999 in der Malerschule in Baden, die ich mit Abschlussprüfungszeugnis absolvierte.
G: Welchen Beruf üben sie zurzeit aus?
Fr. B: Seit dem Jahr 2000 arbeite ich als Vertragsbedienstete im Bundesministerium für
Landesverteidigung und Sport.
Und seit Herbst 2012 biete ich zusätzlich kostenlose
Beratungsgespräche für Usher-Betroffene in der ÖHTB-Beratungsstelle an.
Aber derzeit bin ich in Karenz – daheim bei meinem Sohn.
G: Sind Sie von Geburt an gehörlos?
Fr. B: Ja, ich bin seit meiner Geburt gehörlos.
G: Wann wurde bei ihnen die Diagnose Usher-Syndrom gestellt?
Fr. B: Bereits im Kindergartenalter hatte ich immer wieder Gleichgewichtsstörungen –
diese wurden aber meiner Gehörlosigkeit zugeschrieben. Im Alter von 17 wollte ich den
Führerschein machen – und im Rahmen der Führerscheinuntersuchung stellte man mir die
Diagnose „Tunnelblick“. Die genaue Diagnose Usher-Syndrom wurde bei mir aber erst mit
28 Jahren festgestellt. Ich war in Deutschland und nahm an einer Veranstaltung für
Taubblinde teil. Es gab dort verschiedene Vorträge – auch zum Thema Usher-Syndrom.
Mir wurde bewusst, dass das genau die gleiche Symptome sind, die ich habe! Meine
Gehörlosigkeit und „mein Tunnelblick“ wurden zu einer Diagnose. Daheim in Österreich
konfrontierte ich meinen Augenarzt mit meinen neuen Erkenntnissen. Wie sich
herausstellte, wusste er schon lange, dass ich Usher-Syndrom Betroffene war – er wollte
mich schonen und mir die Wahrheit verschweigen. Hätte er nicht immer über Tunnelblick,
sondern über Usher-Syndrom gesprochen, hätte ich vielleicht im Internet nachgelesen.
G: Welchen Typ des Usher-Syndroms haben sie?
Fr. B: Bei mir wurde der Usher-Syndrom Typ I festgestellt.
G: Wie viel hören und wie viel sehen sie?
Fr. B: Ich habe ein Restsehvermögen von 15% - mittlerweile verwende ich teilweise auch
einen Blindenstock. Und ich kann Geräusche wahrnehmen durch die CI, die ich links vor
einem Jahr, und rechts vor zwei Jahren implantiert bekommen habe.
G: Wie haben sie gemerkt, dass sich ihre Sehfähigkeit verschlechtert?
52
Fr. B: In der Pubertät habe ich sicher noch viel besser als jetzt gesehen – aber in den
letzten
Jahren
habe
ich
eine
deutliche
Einschränkung
meines
Gesichtsfeldes
wahrgenommen.
G: Welche Kommunikationsformen haben sie gelernt?
Fr. B: Gebärdensprache, Taktiles Gebärden und ein wenig Lormen in Deutschland – darin
bin ich aber noch nicht sehr gut – ich kann Lormen in Österreich auch so gut wie gar nicht
anwenden, da es keiner kann. Diese Kommunikationsform benützte ich nur in
Deutschland.
G: Welche Kommunikationsformen benützen sie?
Fr. B: Hauptsächlich Gebärdensprache – und da sich meine Sehfähigkeit in den letzten
Jahre deutlich verschlechtert hat verwende ich nun – vor allem abends oder bei schlechten
Lichtverhältnissen vermehrt die taktile Gebärdensprache. Das ist aber nicht immer
möglich, da nur wenige taktiles Gebärden können. Mein Mann lernt auch die taktile
Gebärdensprache.
G: Inwiefern haben sich ihre Kommunikationsgewohnheiten im Laufe ihres Lebens
geändert?
Fr. B: Durch mein eingeschränktes Gesichtsfeld, wird es für mich zunehmend schwieriger,
wenn ich mit Gehörlosen oder Schwerhörigen gebärde, welche
ein sehr großes
Gebärdenfeld benutzen. USH Betroffene haben ein viel kleineres
Blickfeld – und
gebärden daher in einem viel kleinern Blickfenster – ich mache mein Gegenüber immer
darauf aufmerksam – jedoch halten sich nicht alle Schwerhörigen ans kleine
Gebärdenfenster – außerdem sind sie zusätzlich auch noch akustisch orientiert – was bei
mir eben auch nicht der Fall ist.
(Kommunikation allgemein):
G: Wie zufrieden sind sie mit den Möglichkeiten, die sie zur Kommunikation haben?
Fr. B: Zurzeit bin ich eigentlich ganz zufrieden mit den Möglichkeiten – es wäre natürlich
gut für mich, wenn mehr Menschen die taktile Gebärdensprache beherrschen würden.
G: Wie unterhalten sie sich mit Familienmitgliedern?
Fr. B: Mit meinem Mann kommuniziere ich mit Gebärdensprache bzw. teilweise mit
taktiler Gebärdensprache. Meine Eltern sind beide hörend – sie können kaum
Gebärdensprache. Da ich bereits vor 13 Jahren zu Hause ausgezogen bin, haben sie die
Gebärdensprache beinahe ganz verlernt – d.h. mit meinen Eltern kommuniziere ich über
53
Lippenlesen. Das funktioniert eigentlich ganz gut – es ist halt wichtig, dass ich mein
Gegenüber gut sehe, er deutlich spricht, keinen Bart hat – das ist ganz schlecht – und wenn
jemand isst oder trinkt – kann ich natürlich auch nicht von den Lippen ablesen.
G: Wie unterhalten sie sich mit Arbeitskollegen – mit Vorgesetzten?
Fr. B: Ich arbeite vor allem am Computer – meine Arbeitskollegen übernehmen das
Telefon. Da ich schon so lange dort arbeite und die einzige Gehörlose im Büro bin,
funktioniert die Arbeitsteilung mit meinen Kollegen ganz gut – und wenn wirklich mal
eine wichtige Besprechung ist, organisiere ich mir einen Gebärdendolmetscher.
G: Wie kommunizieren sie bei Behörden- oder Arztterminen?
Fr. B: Ich organisiere mir für solche Termine einen Dolmetscher – so wie jetzt gerade für
das Interview. Termine bei Behörden oder Ämtern sind ja gut planbar – da ist es für mich
kein Problem, rechtzeitig – also einige Tage vorher – einen Dolmetscher zu organisieren.
Akut ins Krankenhaus musste ich noch nie – aber sollte das einmal der Fall sein, könnte
notfalls auch mein Mann für mich dolmetschen.
G: Wie unterhalten sie sich mit gehörlosen Freunden?
Fr. B: Fast ausschließlich mit GB. Nur sehr wenige meiner Freunde können die taktile GB.
G: Wie mit hörenden Freunden?
Fr. B: Da ich von Geburt an gehörlos und in die Gehörlosenschule gegangen bin, besteht
mein gesamter Freundeskreis aus gehörlosen oder schwerhörigen Menschen. Hörende
Freunde habe ich nicht.
G: Wie kommunizieren sie am liebsten beim Streiten?
Fr. B: Was ist das für eine Frage? Erstens mag ich nicht streiten – ich bin ein sehr
friedliebender Mensch – aber natürlich kann man auch in GB streiten – man gebärdet
einfach schneller mit ausdrucksstärkerer, aggressiverer Mimik. GB ist eine voll anerkannte
Sprache.
G: Was ist der Unterschied zwischen erblindeten Gehörlosen (zuerst gehörlos, dann blind)
und hörgeschädigten Blinden? (zuerst blind, dann gehörlos) – Wie kommunizieren die
beiden Gruppen?
Fr. B: Ideal für die Kommunikation zwischen erblindeten Gehörlosen und hörgeschädigten
Blinden wäre das Lormen, das können aber nur sehr wenige Menschen – vor allem in
Österreich wird Lomren kaum verwendet. Das Problem ist, dass erblindete Gehörlose
54
meist nur Gebärdensprache oder später vielleicht taktile Gebärdensprache lernen und
hörgeschädigte Blinde könne diese Form der Kommunikation nicht lernen, da sie sich ja
visuell nicht orientieren können.
G: Worauf sollte man im Umgang / in der Kommunikation mit Usher-Betroffenen achten?
Fr. B: Wie bereits erwähnt: Wichtig ist ein kleines Gebärdenfenster, da durch das
eingeschränkte GF und durch den Tunnelblick sonst viel visuelle Information in der
Kommunikation verloren geht und das zu Missverständnissen führen kann. Außerdem
sollten gute Lichtverhältnisse im Raum herrschen – und die Hände des Gesprächpartners
sollten sich von seiner Kleidung deutlich abheben. Die Lippen sollten gut zu sehen sein,
mit Bartträgern ist Kommunikation beinahe unmöglich.
G: Wie viele Usher-Syndrom Betroffene gibt es in Österreich?
Fr. B: Es gibt leider keine offiziellen genauen Zahlen – nur Schätzungen, die auf
internationalen Erhebungen basieren. In Österreich leben ca. 1400 Taubblinde Menschen –
Usher-Syndrom Betroffene in Wien kenne ich ungefähr 25.
G: Gibt es spezielle Schulen für taubblinde Kinder in Österreich?
Fr. B: Nein, in Österreich gibt es keine Schule speziell für taubblinde Kinder. Es gibt nur
eine Klasse im BIG, in der nur taubblinde Kinder unterrichtet werden – meiner Meinung
nach aber nicht sehr gut.
G: Welche Kommunikationsformen sollten Menschen mit Usher-Syndrom ihrer Meinung
nach in der Schule lernen?
Fr. B: Gebärdensprache ist sicher sehr wichtig – aber taktile Gebärdensprache wäre für
Usher-Betroffene schon auch relevant – da sich mit den Jahren das GF einschränkt und
wenn man kaum noch sieht, dann ist die taktile Gebärdensprache schon sehr hilfreich. Ich
habe die taktile Gebärdensprache erst in Deutschland kennengelernt – und sie kann von
großem Nutzen für Usher-Betroffene sein. Da das taktile Gebärden aber häufig auch
Gebärdendolmetschern nicht vertraut ist, habe ich in Zusammenarbeit mit der ÖHTBBeratungsstelle für taubblinde und hörsehbehinderte Menschen einen Vortrag für
Gebärdendolmetscher organisiert, bei dem ich über das Usher-Syndrom berichtet habe und
zum Schluss wurde über die taktile Gebärde diskutiert. Es besteht Interesse vonseiten der
Dolmetscher, sich Wissen anzueignen und die taktile Gebärde in Österreich einzuführen
und anzuwenden. Lormen habe ich nur interessehalber gelernt – es wird für UsherBetroffene nicht extra empfohlen.
55
G: Was ist für sie schlimmer – taub oder blind zu sein? Was bereitet im Alltag ihrer
Meinung nach größere Probleme?
Fr. B: Für mich sind meine Sehprobleme sicher das größere Handicap. Ich bin gehörlos
von Geburt an – das stört mich nicht – schränkt mich auch nicht ein. Aber durch mein
zunehmend kleineres Gesichtsfeld bin ich schon sehr eingeschränkt – vor allem in der
Kommunikation mit anderen.
G: Sind bei tauben/blinden Menschen die anderen Sinne stärker ausgeprägt - und was
bedeutet das für diese Menschen im täglichen Leben?
Fr. B: Da ich gehörlos geboren bin, ist bei mir der visuelle Sinn sicher stärker ausgeprägt –
ich finde auch, dass ich ein sehr gutes Raumgefühl habe. Daher schränkt mich im Alltag ja
meine zunehmende Sehschwäche sehr stark ein – weil ich es gewohnt bin, mich vor allem
visuell zu orientieren.
G: Welche Wünsche haben sie zur Verbesserung der Situation von Menschen mit UsherSyndrom?
Fr. B: Mein Ziel ist es, eine Selbsthilfegruppe für Usher-Betroffene in Wien zu gründen,
sobald es genug Interessenten gibt. Sowohl in Wien als auch Österreich weit kenne ich
wenige Betroffene. Ich bin der Meinung, dass mehr Gehörlose und Schwerhörige Personen
vom Usher-Syndrom betroffen sind – doch viel zu häufig tritt die Krankheit durch das
NICHT erkennen der Symptome in den Hintergrund. Seit einigen Jahren bemühe ich mich,
regelmäßig Treffen mit Gleichgesinnten zu organisieren und Kontakt mit taubblinden
Personen aufzunehmen. Es gab immer wieder Bestrebungen und Anläufe, eine
Selbstvertretung zu organisieren. Von politischer Seite scheint jedoch kein großer Wille zu
bestehen, die Bedürfnisse von taubblinden Menschen zu unterstützen Aber vielleicht war
bisher die Zeit noch nicht reif, doch ich hoffe es gelingt mir nun bald. Für mich sind auch
die Kontakte außerhalb Österreichs mit den Betroffenen sehr wichtig, da der Austausch
mir hilft, die nächsten wichtigen Schritte zu realisieren, die es in Österreich gilt anzugehen.
In Deutschland ist man schon viel weiter – dort gibt es bereits seit einigen Jahren
Selbsthilfegruppen und mehrere Netzwerke, mit regelmäßigen Treffen, Vorträgen im
medizinischen Bereich, zu Rechtsfragen etc. Ich finde diese Themen sehr interessant,
informativ und wichtig. Es wäre gut, wenn es ähnliches in Österreich geben würde.
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G: Was halten sie persönlich von einem generellen Usher-Syndrom-Screening bei
Neugeborenen, die mit Hörschäden oder taub auf die Welt kommen?
Fr. B: Das wäre sicher nicht schlecht – denn je früher die Diagnose gestellt wird, desto
früher kann mit einer Therapie begonnen werden bzw. wenn mehr Fälle diagnostiziert
werden, wird mehr geforscht werden. In Österreich geschieht meiner Meinung nach viel zu
wenig. In Deutschland wird bereist seit 1992 an einer Therapie für Retinitis pigmentosa
geforscht bzw. es werden Alternativen gesucht, wie die Vernarbungen durch die Retinitis
pigmentosa therapiert werden können.
G: Glauben sie persönlich, dass es für eine taubes bzw. hörbehindertes Kind besser ist, zu
wissen, dass es das Usher-Syndrom hat – und deshalb auch sehbehindert / blind werden
wird?
Fr. B: Ja, ich bin schon der Meinung, man sollte einem betroffenen Kind die Diagnose
nicht verheimlichen. So hat es die Chance, in seine Krankheit „hinein zuwachsen“ – es
kann so besser lernen, mit seinem Handicap umzugehen. Für Eltern ist es wichtig, dass sie
zu der Beeinträchtigung des Kindes stehen. Es ist die Aufgabe der Eltern, das Kind für die
Zukunft so vorzubereiten, dass es mit Selbstbewusstsein zu seinen Einschränkungen steht.
G: Was sind für sie die größten Probleme im Alltag?
Fr. B: Meine Sehbehinderung schränkt mich im Alltag ein. Große Menschenmengen
verwirren mich – durch meinen Tunnelblick kann ich mich nicht gut orientieren, wenn wo
viele Menschen sind. Außerdem muss ich sehr auf Stufen achten – ich nehme seit einiger
Zeit auch einen Blindenstock. Was mich auch stört ist, wenn Gesprächspartner, meinen
kleinen Gebärdenraum nicht akzeptieren und zu groß gebärden.
G: Was wünschen sie sich generell für die Zukunft?
Fr. B: Ich wünsche mir – wie alle Usher- Betroffenen – dass möglichst bald eine Therapie
gefunden wird, die das Fortschreiten der RP stoppt. Außerdem wünsche ich mir, dass mehr
meiner Freunde die taktile Gebärdensprache lernen und es sollte spezielle Schule für
Usher-Syndrom betroffene Kinder geben. Und wie bereits erwähnt - ein ganz großer
Wunsch von mir ist die Gründung einer Selbsthilfegruppe für Usher-Betroffene in
Österreich – ich glaube, es wäre an der Zeit.
G: Vielen Dank, dass sie sich für das Interview Zeit genommen haben. Ich wünsche ihnen
alles Gute für die Zukunft.
Fr. B: Gerne. Ich wünsche ihnen noch viel Erfolg für ihre Arbeit.
57
9. Therapie – Forschung
Es gibt bis heute noch keine geeignete Therapie zur Linderung der Symptome, die dem
Usher-Syndrom-Betroffenen helfen oder die Krankheit sogar zum Stillstand bringen
könnte. Bislang gibt es keine kausale Therapie für USH-Patienten.
Der Hörverlust wird durch Hörgeräte und Cochlea-Implantate teilweise kompensiert, für
den retinalen Phänotyp gibt es jedoch noch keine Therapiemöglichkeit.
Die
Hörminderung
bei
USH1-
und
USH2-Betroffenen
ist
ein
pränataler
Entwicklungsdefekt. Demnach müssen potenzielle Therapieansätze nach pränataler
molekularer Diagnostik noch in utero erfolgen. Erste Ergebnisse am Tiermodell zeigen,
dass eine in utero Genaddition in die Cochlea möglich ist (Bedrosian et al., 2006). Es gilt
allerdings hierbei zu bedenken, dass sowohl die Probenentnahme für die Diagnostik als
auch die Therapie invasive Eingriffe sind und damit ein hohes Risiko für eine Fehlgeburt
darstellen.
Hörgeräte „verstärken“ die eingehenden Signale in das Innenohr und eignen sich nur für
USH2- und USH3-Patienten, die unter mittel- bis schwergradiger Hörminderung leiden.
Aufgrund der Zunahme der Hörminderung bis zur Taubheit sollte frühzeitig ein CochleaImplantat eingesetzt werden, da es jüngeren Patienten leichter fällt, sich an ein Implantat
zu gewöhnen. Bei Cochlea- und Retinaimplantaten übernehmen die eingesetzten
elektronischen Implantate die Funktion der abgestorbenen Haar- bzw. Photorezeptoren.
Die nach geschalteten Neurone des Innenohrs bzw. der Retina übernehmen die
Prozessierung und die Weiterleitung des elektrischen Impulses zum Gehirn. Bei USH1Patienten, die taub geboren werden, hat sich die frühzeitige Applikation eines CI bewährt.
Diese frühzeitige Implantation ermöglicht diesen Kindern, die sensibelste Phase des HörSprachzentrums in den ersten Lebensjahren im Gehirn am effektivsten zu nutzen. Es
erlaubt ihnen ein normales Erlernen von Hören und Sprechen.
Retina-Implantate sind technisch noch nicht weit genug entwickelt, um ein annähernd
normales Sehen zu ermöglichen. Ein Einsatz ist derzeit nur für vollkommen erblindete
Menschen sinnvoll. Derzeit bieten vor allem molekulare Strategien das größte Potenzial
zur Therapie des retinalen Phänotyps von USH (Nagel-Wolfrum, 2012).
Da es sich bei USH um eine monogenetisch rezessive Krankheit handelt, stellt die
Genaddition eine vielversprechende Therapiemöglichkeit dar. Bei der Genaddition
übernimmt eine exogen zugeführte funktionelle Kopie des mutierten Gens die nicht
vorhandene Expression des mutierten Gens. Als Vektoren für die Genaddition stehen
nicht-virale sowie virale Vektoren zur Verfügung. Die Genaddition kann lokal in den von
58
USH betroffenen Organen, dem Innenohr und der Retina erfolgen. Die lokale Applikation
hat den Vorteil, dass nur ein geringes Volumen an Vektoren verabreicht werden muss und
es besteht nur eine geringe Gefahr der systemischen Verteilung der Vektoren (Overlack et
al., 2011).
10. Zusammenfassung
Das Usher-Syndrom ist eine Erkrankung wie auch eine Behinderung. Die Kommunikation
von Usher-Betroffenen mit anderen Menschen ist durch die Hörbehinderung erschwert,
und die Sehbehinderung führt zum Verlust der Orientierung in der Umwelt. Die
psychischen Auswirkungen werden in der Auseinandersetzung mit der Behinderung
deutlich, die Gefühle schwanken zwischen Hoffnung und wiederkehrender Trauer.
Hoffnung ist eine positive Kraft, sie ist eine wesentliche Triebfeder menschlichen Handels.
Ohne Hoffnung wären Veränderungen kaum möglich. Doch Hoffnung kann aus
Verzweiflung häufig zur Illusion werden. Viele Usher-Syndrom Betroffene unterziehen
sich Therapien, die von Seiten der Schulmedizin nicht anerkannt sind (was nicht unbedingt
ein Kriterium sein muss, hinsichtlich des Streits zwischen Schulmedizin und alternativen
Heilmethoden). Wenn eine Therapie nicht den erwarteten Erfolg bringt, wird sofort die
nächste Therapie mit großen Erwartungen begonnen. Das ist oft der Beginn eines
Teufelskreises, bis der Betroffene für sich die Erkenntnis gewinnt, dass ihm dies alles
nichts bringt und ihm sowieso keiner helfen kann (Glofke-Schulz, 1999).
Was ist zu tun, um die Lebenssituation und Lebensqualität von Usher-Syndrom
Betroffenen in unserer Gesellschaft zu verbessern?

Gründung einer Selbsthilfegruppe in Österreich bzw. Netzwerke zur optimalen
Begleitung von USH Betroffenen.

Etablierung
einer
Usher-Ambulanz,
um
eine
gesicherte
Diagnostik
mit
Verlaufskontrollen und qualitative ärztliche Versorgung mit umfassender Beratung
zu gewährleisten.

Kinderärzte, Allgemeinmediziner, Augen- und HNO-Ärzte sollten bei Verdacht auf
eine
erbliche
Hörstörung
durch
eine
erweiterte
Patientenanamnese
zu
Sehproblemen, wie Nachtblindheit etc. zur Frühdiagnose eines Usher-Syndroms
beitragen. Eine frühe Diagnostik ist unerlässlich, da Untersuchungen belegen, dass
59
an hörbehinderten Kindern drei- bis viermal häufiger Augenerkrankungen
festgestellt werden als an nichthörbehinderten.

Neben den üblichen Schuluntersuchungen sollte in den Förderschulen für
Hörgeschädigte neben der Sehschärfe auch das Gesichtsfeld gemessen werden.

Sowohl in klinischer als auch in wissenschaftlicher Hinsicht ist die Notwendigkeit
einer engen Zusammenarbeit zwischen Allgemeinmedizinern, Augen- und HNOÄrzten, Humangenetikern, Audiologen, Pädagogen und anderen Fachpersonen
unabdingbar (Große-Wilde, 2009; Baumann, 2012).
Speziell für Menschen mit Usher-Syndrom gilt, dass rechtzeitig mit Rehabilitation und bei
Bedarf mit erforderlichen psychologischen Stabilisierungshilfen begonnen werden sollte.
Die Diagnose Usher-Syndrom stellt eine massive Belastung für den Patienten dar.
Verunsicherung, häufige Missverständnisse, Trauer um nicht mehr durchführbare
Tätigkeiten und existenzielle Ängste können zum Rückzug bis hin zu depressiven Phasen
oder einer Depression führen. Bei längerfristigen Störungen kann die Inanspruchnahme
psychologischer Hilfe angezeigt sein. Diese muss die Akzeptanz und Bewältigung der
doppelten Sinnesbehinderung, das Erkennen unbegründeter Sorgen und Ängste sowie die
Stärkung ihres Selbstwertgefühls zum Ziel haben. Richtig informierte und aufgeklärte
Betroffene zeigen mehr Gelassenheit und Bereitschaft, sich von ihren Nöten und Ängsten
abzuwenden und sich für konstruktive Blickrichtungen im Beruf, Alltag und in der Freizeit
zu öffnen.
Die sozialen und psychischen Auswirkungen einer doppelten Sinnesbehinderung wie das
Usher-Syndrom mit all seinen Aspekten für den Betroffenen zu beschreiben, ist für einen
Außenstehenden sehr schwierig, wenn nicht sogar unmöglich. Es besteht dabei immer die
Gefahr, einige Zusammenhänge zu wenig zu berücksichtigen bzw. wichtige Aspekte zu
kurz oder gar nicht zu erwähnen.
Mit dieser Diplomarbeit geht es mir besonders um das emotionale Begreifen und
Aufzeigen der Situation von Usher-Betroffenen, an welche und wie viele Grenzen sie
stoßen, sei es in der Kommunikation, in banalen Alltagssituationen und vor allem welche
Anstrengung es bedeutet, diese Behinderung zu bewältigen. Kein Arzt kann eine Prognose
abgeben, wie schnell oder langsam sich die Sehfähigkeit bei den Betroffenen
verschlechtert. In manchen Fällen verändert sich einige Jahre überhaupt nichts – Zeit in der
Betroffene Hoffnungen entwickeln, von denen sie sich nach einer plötzlichen
Verschlechterung schmerzlich trennen müssen. Die Hoffnung auf eine schnell
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fortschreitende Forschung, die möglichst rasch medizinische Therapien anbieten kann, ist
bei den Betroffenen verständlicherweise sehr groß.
Das Akzeptieren der Behinderung bedeutet nicht, hinzunehmen was ist, sondern zu
bestätigen was ist (Berger, 1994). Es gibt leider kein Patentrezept, welcher Weg der
Erfolgreichere ist. Viele Betroffene haben ihren eigenen Weg gefunden bzw. werden ihren
finden.
„In jedem Abschied liegt ein Neubeginn“
Hermann Hesse
61
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