Prof. Dr. Bernhard Nauck Vorlesung Erklärende Soziologie 6. Vorlesung Soziologische Modelle des Menschen 1 Do you remember? Das Grundmodell der soziologischen Erklärung Soziale Situation Soziologische Erklärung kollektives Explanandum Logik der Aggregation Logik der Situation Akteur Handlung Logik der Selektion 2 1 Modelle des Menschen Wozu Menschenmodelle? • Formulierung von möglichst einfachen und wenigen Annahmen über den Menschen für die erklärende Modellierung sozialer Phänomene. • homo sociologicus • homo oeconomicus • RREEMM-Modell 3 Homo sociologicus • Annahme, dass die Auswahl von Handlungsalternativen den Vorgaben der Institutionen (Normen, sozialen Regeln, Rollen) folgt • Menschen handeln so, wie die Normen es von ihnen verlangen • innere und äußere Sanktionen bringen sie dazu Zentrale Elemente: • Menschliches Handeln durch Gesellschaft bestimmt • Mensch verhält sich gemäß Rollen • Normabweichungen werden von Gesellschaft sanktioniert 4 2 Rollentheorie • Der klassische theoretische Rahmen für den homo sociologicus ist die Rollentheorie • Rollentheorie hat Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zum Gegenstand (1) wie entstehen individuelle Verhaltensweisen im gesellschaftlichen Zusammenhang? (2) wie wird Gesellschaft durch individuelle Verhaltensweisen geprägt? -> 2 Herangehensweisen: • Vorherrschaft gesellschaftlicher Zusammenhänge (Dahrendorf, Parsons) = normatives Paradigma • Gesellschaft wird gebildet durch bewusstes Handeln von Individuen (Symbolischer Interaktionismus) = interpretatives Paradigma 5 Varianten des homo sociologicus (1) • (1) normatives Paradigma: homo sociologicus folgt in seinem Handeln den internalisierten und von der Gesellschaft sozial kontrollierten Werten und Normen – ohne eigenes Dazutun • Akteur kennt und folgt den internalisierten gesellschaftlichen Normen und externen Sanktionen; Handeln ist darüber festgelegt -> Handeln ist keine Selektion, sondern automatische Ausübung von Normenkonformität • = SRSM-Modell (Lindenberg) Socialized – Role-playing – Sanctioned – Man 6 3 Soziale Rollen… • sind „Bündel von Erwartungen, die sich in einer gegebenen Gesellschaft an das Verhalten der Träger von Positionen knüpfen“ (Dahrendorf 1974: 144) • sind Richtschnuren des Verhaltens – durch das Vorhandensein von Rollen weiß der einzelne (als Inhaber der Rolle), was von ihm erwartet wird und was er von anderen zu erwarten hat • strukturieren Interaktionen vor und machen sie berechenbar = Sicherheitssystem für Interaktionen • sind häufig mit Rollensymbolen verknüpft, die sofort Erwartungen eines bestimmten Verhaltens hervorrufen In allen Gesellschaften gibt es soziale Rollen – ihre Anzahl nimmt mit dem Komplexitätsgrad der Gesellschaft zu, sowohl sukzessiv im Lebensverlauf 7 als auch simultan Erklärungsmodell der Rollentheorie Wenn Rollen Bündel von Erwartungen sind, wer definiert diese und warum verhält man sich ihnen entsprechend? • Erwartungen werden definiert durch Gesellschaft bzw. Bezugsgruppe • Zwei Mechanismen: Sozialisation und soziale Kontrolle • Bezugsgruppe: Rollensender, die auf das Verhalten des Rollenträgers einwirken und ihn sanktionieren • Bezugsgruppen haben unterschiedliche Sanktionsmöglichkeiten – nach dem Grad der Sanktionen werden Muß-, Soll- und Kannerwartungen unterschieden • Konformes Rollenverhalten kommt deshalb zustande, weil Rollenerwartungen Normen sind, deren Nichtbeachtung negative bzw. die Beachtung positive Sanktionen auslösen 8 4 Probleme im normativen Paradigma • Normen und soziale Umgebung als kausale Faktoren für die Erklärung des Handelns • Was ist mit Rollenkonflikten? (Coser) • Was ist mit sich kreuzenden sozialen Verkehrskreisen? (Simmel) • Was ist mit abweichendem Verhalten? (Merton) • Was ist mit sozialem Wandel? (Ogburn) • Oversocialized concept of men • Kritik: „Die Menschen [sind] nichts [...] als Marionetten der normativen Strukturen der Gesellschaft“ (Esser 1993: 233) 9 Varianten des homo sociologicus (2) • interpretatives Paradigma (homo sociologicus symbolicus) • Handeln ist Ergebnis der interaktiv und symbolisch interpretierten Definition der Situation durch die Subjekte • Subjekte sind zu reflektierten und verständigen Entscheidungen in der Lage und nicht willenlos den normativen Vorgaben (SRSM) ausgesetzt • Menschen handeln, indem sie Symbole interpretieren und Situationen definieren • = SSSM-Modell Symbols interpreting – Situations defining – Strategic acting – Man 10 5 Homo sociologicus symbolicus • Akteur als verständiger Mensch, - der sein Handeln nach Maximen der subjektiven und praktischen Vernunft zur Lösung der Alltagsprobleme ausrichtet - sich am sozialen Sinn der Regeln der Situation orientiert - den Normen und Routinen des Alltags so lange folgt, wie kein vernünftiger Grund vorliegt, davon abzuweichen 11 Symbolischer Interaktionismus • Damit soziale Prozesse funktionieren, bedarf es Individuen, die nicht vollständig durch diese Prozesse determiniert sind • Individuen müssen zwar mit Normen umgehen, aber die Art des Umgangs folgt nicht aus den Normen selbst • Rollenübernahme ist kein passiver Prozess, sondern Mischung aus Imitation (role-taking) und aktiver Rollengestaltung (role-making) • Kompetentes Rollenhandeln beinhaltet Interpretations- und Gestaltungsprozess • Rollenkomplementarität: In die Definition einer Rolle geht mindestens eine andere mit ein (Rolle des Lehrers setzt die des Schülers voraus) 12 6 Symbolische Vermittlung • Im konkreten Rollenhandeln sind die einzelnen wechselseitig aufeinander angewiesen -> um zu handeln, muss ich wissen, wie der andere handelt und vorhersehen, wie der andere meint, dass ich handeln werde (Erwartungs-Erwartungen) • Da man Erwartungen des anderen an einen selbst und dessen Verhalten nur vermuten kann (und vice versa) müssen Symbole ausgetauscht werden, die anzeigen, welches Verständnis beim anderen vorliegt • Rollenübernahme ist wechselseitiges Anpassen an (vermeintliche) Erwartungen des Anderen (→KonsensFiktionen) 13 Erwartungs-Erwartungen… Jack fürchtet Jill Jill fürchtet Jack Jack fürchtet Jill mehr wenn Jack glaubt daß Jill glaubt daß Jack Jill fürchtet Da Jack fürchtet Jill könne glauben Jack fürchte sich gibt Jack vor, daß Jack Jill nicht fürchtet damit Jill Jack mehr fürchte und da Jill fürchtet Jack könne glauben Jill fürchte sich gibt Jill vor, daß Jill Jack nicht fürchtet So versucht Jack, Jill Furcht zu machen indem er Jill nicht fürchtet und versucht Jill, Jack Furcht zu machen indem sie Jack nicht fürchtet Jill fürchtet Jack mehr wenn Jill glaubt daß Jack glaubt daß Jill Jack fürchtet. (Laing 1969: 83) 14 7 Soziale und persönliche Identität • Role-making setzt voraus, dass das Individuum eine persönliche Sichtweise hat – persönliche und soziale Identität sind voneinander zu unterscheiden • Soziale Identität versetzt den einzelnen in die Lage, sich in seinem Handeln den in einer Situation bestehenden sozialen Normen anzupassen (als Voraussetzung für Teilnahme an Interaktion) • Persönliche Identität ermöglicht, sozialen Anforderungen individuell zu begegnen • In Konfrontation mit den Anforderungen von außen erfährt das Individuum seine Individualität (Gegenthese zum homo sociologicus) • Bildung von persönlicher Identität ist nie abgeschlossen und nimmt mit Anzahl sozialer Beziehungen an Komplexität zu • Durch P.I. erkennt das Individuum Rollen als soziale Erwartungen = Rollendistanz 15 Kritik am homo sociologicus symbolicus • bei Selektion der Handlungen spielen Restriktionen keine Rolle • das SSSM-Modell kennt kein Maximieren • damit: es fehlen explizite und präzise Selektionsregeln für das Handeln • damit: es sind keine vollständigen Erklärungen möglich, weil eine explizite Handlungstheorie fehlt 16 8 Zusammenfassung Homo sociologicus Normatives Paradigma Interpretatives Paradigma Handeln als Befolgen von gesellschaftlich vorgegebenen Regeln/Normen SRSM-Modell Handeln als Interpretation von Symbolen und Situationsdefinition Durkheim, Dahrendorf, Parsons, Mead, Blumer, Schütz, Garfinkel SSSM-Modell 17 Homo oeconomicus • Nutzenmaximierender Akteur auf der Grundlage vollkommener Information und stabiler, geordneter Präferenzen im Rahmen gegebener Restriktionen • Normen spielen eine Rolle, wenn sie für die Nutzenmaximierung bedeutsam sind (Vermeidung von Sanktionen als Handlungskosten) Grundlegende Merkmale • Restriktionsorientierung • perfekte Information • stabile geordnete Präferenzen • Maximierungsregel bei Selektion von Handlungen 18 9 Kritik am homo oeconomicus • • • • realitätsfremde „heroische“ Vereinfachung perfekte Informiertheit? h.o. muss nichts lernen... stabile und situationsunabhängige Bewertungen? keine Unsicherheit bezüglich Erwartungen, die Handlungskonsequenzen betreffend? • Wie ökonomisch ist „perfekte Informiertheit“? Findigkeit des Menschen wird nicht beachtet: - die Wahl erfolgt nur zwischen vorgegebenen Alternativen - die „Erfindung“ von neuen Handlungsalternativen bleibt unberücksichtigt Einseitig an der Nutzung von Gütern und Handlungen orientiert, nicht an deren Produktion 19 RREEMM-Modell • Für soziologische Erklärungen sind homo sociologicus und homo oeconomicus allein jeweils ungeeignet wegen ihrer einseitigen Vereinfachungen • notwendig: sowohl Restriktionen und Erwartungen, denen Akteure in Situationen unterliegen, als auch Findigkeit, Kreativität und Autonomie gegenüber sozialen Beschränkungen berücksichtigen • = RREEMM-Modell Resourceful – Restricted – Expecting – Evaluating – Maximizing – Man 20 10 Das RREEMM-Modell berücksichtigt,... • dass der Akteur sich Handlungsmöglichkeiten, Opportunitäten bzw. Restriktionen ausgesetzt sieht; • dass er aus Alternativen seine Selektionen vornehmen kann; • dass er dabei findig, kreativ, reflektiert und überlegt, also: resourceful, vorgehen kann; • dass er (fast) immer eine ‚Wahl‘ hat; • dass diese Selektionen über Erwartungen (expectations) einerseits und Bewertungen (evaluations) andererseits gesteuert sind; • dass die Selektion des Handelns aus den Alternativen der Regel der Maximierung folgt. (Esser 1993: 238) 21 Modelle des Menschen – Vergleich Homo Homo sociologicus oeconomicus RREEMMModell X Resourceful X Restricted X Evaluating X X Expecting X X Maximizing X X 22 11 Do you remember? Das Grundmodell der soziologischen Erklärung Soziale Situation Soziologische Erklärung kollektives Explanandum Logik der Aggregation Logik der Situation Akteur Handlung Logik der Selektion 23 2. Schritt: Logik der Selektion (b) • Erklärung des individuellen Handelns durch allgemeine soziologische Gesetze darüber, wie Akteure eine der Alternativen unter den gegebenen Bedingungen selegieren. • Mikro-Mikro-Verbindung von Akteuren und sozialem Handeln • Handlungstheorie erklärt die Verbindung von Erwartungen, Bewertungen mit den verfügbaren Alternativen. • eine Handlungstheorie ist die sog. WertErwartungs-Theorie 24 12 Rational-Choice: Grundzüge • Selektionsregel: „Wähle die Handlung, die deinen Nutzen maximiert.“ (Hill 2002:50) Zwei Entscheidungsmodelle: Ökonomie: neoklassische Preistheorie (Homo oeconomicus): Entscheidung unter Sicherheit Werterwartungstheorie (WE): Entscheidung unter Unsicherheit/ Risiko bezüglich der Handlungsfolgen Risiko-Entscheidungen: wenn die ErgebnisWahrscheinlichkeit bekannt ist Unsicherheits-Entscheidungen: wenn die ErgebnisWahrscheinlichkeit unbekannt ist 25 Erwartungen und Bewertungen Erwartungen • sind subjektive Kausalhypothesen über Vorgänge und Zusammenhänge in der Umwelt und Bedingungen, unter denen Lösung eines Problems wahrscheinlicher ist als unter anderen • informieren über Folgen der Selektion bestimmter Alternativen im Rahmen der gegebenen Restriktionen • werden über Lernen und Sozialisation, Wahrnehmung, Kommunikation und Interaktion erworben Bewertungen • sind die emotionale Besetzung der Folgen der Selektion von Alternativen • basieren auf einem System von Vorlieben, Bedürfnissen, 26 Präferenzen, Werten 13 Kombination von Erwartungen und Bewertungen Die Selektion des Handelns folgt nicht... • einseitig dem Prinzip der Maximierung des Nutzens nach den Bewertungen • einseitig dem Prinzip, das zu tun, was nach den Erwartungen am ehesten möglich ist Sondern: „Das Handeln wird nach einer optimierenden Kombination von Erwartungen und Bewertungen selegiert. [...] Kombination heißt dabei, dass das Produkt der Sicherheit einer Erwartung und der Höhe der Bewertung in Bezug auf die verschiedenen Folgen eines Handelns maximiert wird.“ (Esser 1993: 226) 27 Wert-Erwartungs-Theorie • SEU(Ai) = ∑pij * Uj • Für jede der n Alternativen wird jeweils das Produkt des Wertes der jeweiligen Folge mit der Wahrscheinlichkeit, dass die Alternative i zur Folge j führe, gebildet. Über alle n Folgen wird die Summe dieser Produkte aus Wert-mal-Erwartung gebildet. • SEU = Subjectively Expected Utility • p = probability 28 • U = Utility 14 Zwei Handlungsalternativen Bei zwei Alternativen A1 und A2 mit drei Folgen ergeben sich z.B.: • SEU (A1) = p11U1 + p12U2 + p13U3 • SEU (A2) = p21U1 + p22U2 + p23U3 Bei einer Berufswahl können z.B. - Einkommen (U1) - Berufsprestige (U2) - anregungsreiche Tätigkeit (U3) wichtige Nutzendimensionen sein. Entsprechend würde der Beruf die höchste Attraktivität besitzen, der jeweils mit höchster Wahrscheinlichkeit Einkommen, Ansehen und eine interessante Aufgabe verspricht. 29 Nutzen und Kosten • „Kosten“ sind „Negativ-Nutzen“ in der SEU-Theorie Typische Kosten sind • Restriktionen in den Handlungsmöglichkeiten (durch Knappheit von materiellen Gegebenheiten, durch soziale Normen, Zeitknappheit, und Alternativ- bzw. Opportunitätskosten, d.h. der entgangene Nutzen aus den nicht gewählten Alternativhandlungen) • notwendige Investitionen an ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital 30 15 Wanderungsentscheidungen Wandern potentielle Arbeitsmigranten Bleiben ökonomischer Nutzen sozialer Nutzen Bleiben Daheimgebliebene Nachziehen Akzeptanz Distanzierung ökonomische Kosten soziale Kosten Mitglieder der Aufnahmegesellschaft 31 Veränderungen von SEU im Zuwanderungsprozess Arbeitsmigranten • (+ÖN) + (0SN) + (0ÖK) + (+SK) • mit zunehmendem Zuwanderungsprozess sinken die sozialen Kosten und ggf. der ökonomische Nutzen Daheimgebliebene • (0ÖN) + (0SN) + (0ÖK) + (+SK) • mit zunehmender Abwanderung steigen die sozialen Kosten des Daheimbleibens und steigt der soziale Nutzen der Nachwanderung Aufnahmegesellschaft • (+ÖN) + (0SN) + (0ÖK) + (0SK) • mit zunehmender Zuwanderung steigen die sozialen Kosten der Zuwanderung und sinkt der ökonomische Nutzen 32 16 Begleitlektüre: H. Esser: Soziologie, Kap. 13 – 15 H. Esser, Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 1: Situationslogik und Handeln. Frankfurt: Campus 1999, Kap. 6 – 8. 33 17