Religion zur Erfahrung bringen

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Religion zur Erfahrung bringen
Bausteine einer Didaktik des Religiösen
Von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg
zur Erlangung des Grades eines
Doktors der Erziehungswissenschaft (Dr. paed.)
genehmigte Dissertation von
Hans-Bernhard Petermann
aus
Berlin
Heidelberg, den 1. Juni 2002
( am Tag Justins, des Märtyrers, des Patrons der Religionsphilosophen )
Erstgutachter:
Prof. Dr. Joachim Maier
(Katholische Theologie / Religionspädagogik)
Zweitgutachter:
Prof. Dr. Jörg Thierfelder
(Evangelische Theologie / Religionspädagogik)
Fach:
Katholische Theologie / Religionspädagogik
Tag der mündlichen Prüfung:
06.11.2002
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
6
Einleitung zur Themenstellung der Arbeit
1
Die Wiederkehr des Religiösen - ein systematischer Horizont der Arbeit
11
15
Religiöse Intuitionen eines „religiös Unmusikalischen“ (15) - Drei Wege einer
Rückkehr zu Religion (17) - Transzendenz als originäres Erbe der Religion (24)
- Konsequenzen für die Frage nach religiöser Bildung (17)
2
Religion zur Erfahrung bringen: Zur Perspektive der Arbeit
32
Zur Vorgeschichte (32) - Differenzierungen in der Kategorie der Erfahrung (34):
Erfahrung als Unmittelbarkeit, als Ebene des Sinnlichen, als Ebene des Subjektiven,
als Prozess der Er-Fahrung, als Erfahrung von Tiefe
3
Teil I
Bausteine einer Didaktik des Religiösen. Überblick über den Aufbau der Arbeit
46
Religionsphilosophische Grundlegung
Kapitel 1-1
1
2
3
4
Kapitel 1-2
1
2
3
Kapitel 1-3
1
2
3
4
5
Kapitel 1-4
1
2
3
4
Abgrenzungen und Fragestellung
70
Religionssoziologische Eckdaten
76
Der Prozess der Säkularisation
Differenzierungen in der Pluralismus-These
Kontextualisierung
Unabgeschlossene Säkularisation
76
80
82
85
Welchen Sinn macht die Rede von Religion als „Bildungsgut“?
88
Religion als Kulturgut
Werteorientierung und Ethik
Orientierung im Denken?
90
95
99
Religion in philosophischer Auseinandersetzung
104
Schwierigkeiten in der Bezeichnung „Religion“
Wie fragt die Philosophie nach Religion ?
Möglichkeiten einer Philosophie der Religion
Ein philosophischer Begriff von „Religion“
Ebenen des Religiösen
104
107
111
115
Grundlinien einer Didaktik des Religiösen
126
Religiöse Propädeutik
Religiöse Sprachlehre
Religionskunde
Religiöse Orientierung
128
139
141
144
122
4
Inhaltsverzeichnis
Teil II
Religiöse Sprache
Kapitel 2-1
1
2
3
4
Kapitel 2-2
1
2
3
4
5
6
Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung
150
Ärger mit dem Gott der Philosophen ?
Das Gebet als Aufklärung ?
fides quae oder fides qua ?
Mit Vernunft Religion unterrichten
152
154
158
162
“…was werde ich euch nützen, wenn ich nicht mit einer Erkenntnis
zu euch rede…“ - Religiöse Sprache verstehen
166
Problemaufriss
Welche Sprache ist überhaupt gemeint …
Die Tradition der Hermeneutik
Intensionalität und Verdichtung als Formen religiöser Sprache
Religiöse Sprache als Sprachtranszendierung
Differenzierung religiöser Sprachebenen
166
170
172
175
178
180
Teil III
Gesprächsführung
Kapitel 3
Theologisieren mit Kindern?
Bemerkungen aus philosophischer Perspektive
188
Was heißt „Theologisieren mit Kindern“ ?
Kinder als Philosophen ?
Kinder als Theologen ?
Deutung konkreter Unterrichtsgespräche
191
197
207
212
1
2
3
4
Die Theodizeefrage (213) - Der Kampf zwischen Gut und Böse (219) Das Problem des freien Willens (226)
5
Schlussfolgerungen
243
Teil IV
Unterrichtsmodelle
Kapitel 4-1
„Kannst Du nicht schlafen?" Die Frage nach Gott im Bilderbuch
248
Religiöse Urerfahrungen
Glaubenserfahrung
Wer ist Gott ?
250
256
263
„…hinaus in die Tiefe…“
Ein Modell erfahrungsorientierter Bibelerkundung
276
Duccios Berufungsbild
Die Berufungsgeschichten der neutestamentlichen Evangelien
Duccio als Theologe
Konsequenzen: Erfahrungsdimensionierte Erkundung von Religiosität
Zum Rahmen der schulischen Umsetzung
278
284
288
290
291
1
2
3
Kapitel 4-2
1
2
3
4
5
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 4-3
1
2
Kapitel 4-4
1
2
Kapitel 4-5
1
2
5
„Meine Wege erzählte ich und du antwortetest mir …
lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ Ein Unterrichtsvorschlag zum Thema „Religiöse Sprache“
302
Ein Gebet als Unterrichtsgegenstand?
Der Unterrichtsvorschlag
302
305
Was sollen wir tun? Philosophische Orientierungen
zu Fragen moralischer Wertentscheidungen
324
Die Frage nach ethischen Prinzipien
Welche Verfahren gibt es, um zu einer verantwortlichen
Wertentscheidung zu gelangen ?
Recht und Gerechtigkeit und die Frage der Menschenrechte.
Eine Grundfrage der politischen Dimension praktischer Philosophie
Fachliche Grundlegung:
Menschenrechte zwischen Recht und Gerechtigkeit
Unterrichtspraktischer Teil: Unser tägliches Brot gib uns heute.
Zum Problem der rechtlichen Einlösung fundamentaler Lebensansprüche
Teil V
Religionsunterrichtliche Konzeptionen
Kapitel 5-1
Einwurzelung. Religiöse Sensibilisierung und erfahrungsorientierter
Wissenserwerb: Grundlagen heutigen Religionsunterrichts
325
333
344
345
357
370
Das Anliegen (374) - Innere Ordnung (377) - Religiöse Sprachlehre (379) Die Bilder (381) - Lebensweltliche Einbettung biblischer Geschichten (382) Die Textgestaltung (384) - Einwurzelung religiöser Erfahrung (385) Anthropologische Themen (387) - Korrelation (388) Das Religiöse vor dem Ethischen (390) - Fazit (391)
Kapitel 5-2
1
2
Kapitel 5-3
1
2
3
Kapitel 5-4
1
„Da muss man selbst sich wagen“
392
Zur Konzeption der Religionsbücher von H. Halbfas
Ein Vergleich
395
401
LER - eine Herausforderung für den Religionsunterricht der Zukunft
410
LER - eine kurze Geschichte der Religion
Staat - Werte - Kirche - Religion: unvereinbare Größen ?
Religion im Religionsunterricht ? – 13 Thesen
412
414
422
Unterricht in Religion für alle – ein Vorschlag
428
Konfessionalität als Bedingung des schulischen Religionsunterrichts
430
Verfassungsrechtliche Überlegungen (430) - Dogmatisch-theologische
Überlegungen (437) - Philosophisch-begriffliche Überlegungen (444) Konsequenzen (448)
2
3
Modelle eines integrativen Religionsunterrichts für alle
Unterricht in Religion für alle – ein Vorschlag
Literaturverzeichnis
456
468
477
Vorwort
Zu Beginn seiner Metaphysik konfrontiert uns Aristoteles mit der These, dass sich
Wissen und Erkenntnis in vielerlei Ebenen findet, von denen jede ihren besonderen
Wert hat, so dass die höchste Erkenntnis nicht nur eine von anderen Wissensformen
unterschiedene ist, sondern sich aus ihnen heraus überhaupt erst aufbaut. Hinsichtlich
der besonderen Wissensform der Erfahrung meint er in diesem Kontext: „Es entsteht
aber den Menschen aus der Erinnerung die Erfahrung; denn viele Erinnerungen an
ein und denselben Sachverhalt bewirken das Vermögen einer Erfahrung.“ Das Eine
der Erfahrung charakterisiert Aristoteles in der Folge als Gegenprinzip gegen den
Zufall und spricht der Erfahrung daher das Vermögen zu, „eine allgemeine Auffassung von ähnlichen Sachverhalten [zu] entwickeln“.1
Die Frage, was Religion ist, stellt nicht nur einen roten Faden meiner bisherigen
Tätigkeiten dar, sondern ist für mich auch zur Erfahrung geworden, das dokumentiert
die vorliegende Arbeit. Der Titel Religion zur Erfahrung bringen beinhaltet insofern
nicht nur einen religionsdidaktischen Anspruch, sondern hat auch eine biografische
Perspektive: Vielfältige Erfahrungen in der Auseinandersetzung und Vermittlung
von Religion werden hier gewissermaßen zu einer im aristotelischen Sinne allgemeinen Auffassung zusammen gefügt. Der Kontext, aus dem die Arbeit bzw. ihre
einzelnen Teile entstanden sind, ist äußerlich bezeichnet durch meine inzwischen gut
25-jährige religionspädagogische Tätigkeit, über 20 Jahre im katholischen Religionsunterricht in allen Jahrgangsstufen an verschiedenen Gymnasien, bedingt aber auch
während der letzten Jahre im Rahmen meiner Tätigkeit als Hochschullehrer für
Philosophie an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.
Der Satz des Aristoteles gilt natürlich nicht nur für meinen subjektiven Bezug zum
Thema „Religion“, sondern vor allem für das inhaltliche Profil der Arbeit: Religion
zur Erfahrung zu bringen, dafür genügt es nicht, bestimmte Inhalte eher zufällig zur
Kenntnis zu nehmen oder zu bringen, das setzt vielmehr Auseinandersetzung mit
dem voraus, was das eigentlich ist, Religion. Dieser eher philosophische Blick auf
Religion hat mich bereits im Theologie-Studium bestimmt. Als ich mit dieser (nur
vordergründig) spekulativen und theoretischen Perspektive dann eher durch Zufall an
den Religionsunterricht geriet, stellte sich gleich mit den ersten unterrichtlichen
Erfahrungen die reflexive (und so in einem ganz wörtlichen Sinne theoretische)
Auseinandersetzung mit Thema und Gegenständen des Religiösen als spannende
1
Aristoteles: Metaphysik 980 b / 981a.
Vorwort
7
Herausforderung wie eigentliche Zielsetzung meiner Tätigkeit heraus. Junge
Menschen herauszufordern, Religion nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern zur
je eigenen Erfahrung zu bringen, nicht nur zu lernen, sondern auch dialogisch
auszuloten, nicht nur zu thematisieren, sondern auch als möglichen Weg eigener
Lebensführung zu erfassen, diese Verwicklungen hatten den Anspruch, etwas
zunächst nur zufällig auf der Stundentafel Stehendes auch für die Schülerinnen und
Schüler zu einer einheitlichen Erfahrung zu bringen.
Mit solchen Ansprüchen stellt sich unmittelbar das Interesse ein an grundsätzlichen Auseinandersetzungen mit Konzeption, Zielsetzung und Organisation einer
öffentlich verantworteten religiösen Bildung. In den ersten Jahren meiner religionsunterrichtlichen Tätigkeit geschah dies im Versuch der konkreten Umsetzung des
Korrelationsprinzips, das nicht nur äußerliche Vorgabe, sondern inneres Leitbild
eigenen Unterrichtens bedeutete: „Der Glaube soll im Kontext des Lebens vollziehbar, und das Leben soll im Licht des Glaubens verstehbar werden.“ Der Kernsatz des
sog. Synodenbeschlusses2 zeigte sich als Schlüssel zu einer tragfähigen Konzeption
und problemorientierten Planung jedes einzelnen Unterrichtsthemas. Denn wenn es
irgendwie Sinn machen soll, Religion zur Erfahrung zu bringen, dann kann es nicht
bei einer bloß additiven Berücksichtigung sowohl theologischer wie anthropologischer Aspekte eines Themas bleiben, dann muss die Frage nach Religion und Glaube
als eine existentielle Beanspruchung deutlich werden und die Frage nach Sinn und
Gestaltung des eigenen Lebens sich in der Frage nach Religiosität erschließen
lassen.3 Ein solchermaßen vernetzter Religionsunterricht war im übrigen durchaus
einzubinden in eher systematisch-theologische Studienschwerpunkte: Das Christusdogma meint religionsphilosophisch nichts anderes als eben jene Erschließung von
Menschsein aus dem Horizont eines den Menschen zugewandten Gottes und
umgekehrt die Vermittlung einer Erfahrung Gottes aus existentiellen menschlichen
Erfahrungen heraus.4 – Im Vorstand des Religionslehrerverbandes der Erzdiözese
Freiburg war ich später mit der Aufgabe der Koordination der Diskussionen zur
Konzeption des Religionsunterrichts betraut. In diesem Zusammenhang habe ich
wiederholt nicht nur für eine Konzentration des Religionsunterrichts auf die Auseinandersetzung mit dem eigentümlich Religiösen geworben, sondern daraus abgeleitet
auch für einen „zunehmend von den Kirchen gemeinsam verantwortet(en)“
2
Synode (1974), Nr. 2.4.2.
3
Vgl. dazu meine frühe Auseinandersetzung: Petermann (1984b): Glaubensvermittlung? Zur Zielsetzung des Religionsunterrichts heute.
4
Elemente dieses christologischen Studienschwerpunktes kamen zur Geltung nicht nur in meiner
Arbeit für die Pädagogische Prüfung unter dem Titel „Das Christuskerygma“ (Petermann 1984a),
sondern bildeten bereits den theologischen Horizont meiner theologischen Diplomarbeit
(Petermann 1974), verfasst bei Prof. Walter Kasper in Tübingen.
8
Vorwort
Religionsunterricht.5 Dieses Votum bildet ein wichtiges Rückgrat der vorliegenden
Arbeit. – Aber auch in meiner jetzigen Tätigkeit im Rahmen der Philosophie ist die
Auseinandersetzung mit einer allgemeinen Didaktik des Religiösen ein tragendes
Element in Forschung und Lehre geblieben.6 Dass ich den Anspruch, Religion zur
Erfahrung zu bringen, auch für einen heute tragfähigen Ethikunterricht fordere, liegt
auf der Hand und bildet die besondere Pointe der vorliegenden Arbeit, nicht zuletzt
in interdisziplinärer Perspektive, insofern ich glaube, ein vernünftiges, gut begründetes und auch konkret umsetzungsfähiges Konzept für ein Fächerkonsortium
Philosophie – Religion – Ethik vorlegen zu können.
Ich danke an dieser Stelle Herrn Professor Dr. Joachim Maier für seine spontane und
sympathetische Bereitschaft, die Erstbetreuung für die als Dissertation im Fach
Katholische Theologie / Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule
Heidelberg eingereichte Arbeit zu übernehmen. Wiederholt habe ich von ihm eine
Forderung gehört und gelesen, mit der ich selbst mich voll identifizieren kann, dass
nämlich Religion elementar zum Bildungsauftrag der öffentlichen Schule gehöre,
eben weil sie wesentlich „eine Sache der Menschen“ sei, und dass der Religionsunterricht deshalb auch in einem weiten Sinne ökumenisches Profil zu tragen habe.7
Mein Dank gilt weiterhin meinem philosophischen Kollegen Professor Dr. Martin
Bartels, der mich immer wieder ermutigt hat, diesen Schritt einer Promotion zu tun,
nicht zuletzt durch die kritische Lektüre von Teilen der Arbeit, sowie dem früheren
Kollegen Professor Dr. Gerhard Büttner, der mich theologisch wie institutionell in
diesem Vorhaben ermutigt hat. Einen ganz besonderen Dank aber will ich sagen
Herrn Professor Dr. Jörg Thierfelder, nicht nur als dem Co-Referenten und -Prüfer
für die Arbeit, sondern weil er es war, mit dem in fruchtbaren Gesprächen und aus
der Erfahrung gemeinsamer Lehrveranstaltungen die Idee zu eben dieser Arbeit
geboren worden ist, und der mich mit der auch nötigen Unterstützung auf den Weg
zur Fertigstellung dieses Projekts gebracht hat. Auch wenn der historische Schwerpunkt seiner Arbeiten bei mir nur wenig Berücksichtigung findet, lässt sich das
5
Dieser Ausdruck ist vor allem bekannt geworden durch das heftig diskutierte Plädoyer des
Deutschen Katecheten-Vereins (1992): Religionsunterricht in der Schule. - Vgl. dazu auch
Petermann (1991), (1996a), (1997a), (1997b). Die Thesen des Arbeitskreises der Religionslehrerverbände (1998), die dieses Votum explizit aufgreifen, sind in wichtigen Elementen ebenfalls aus
Eingaben meinerseits hervorgegangen.
6
Vgl. vor allem meine Abhandlung Petermann (2000c), die den Grundstein für die vorliegende
Arbeit bildet, sowie die in Teilen im Kapitel 1-4 dokumentierte und kommentierte Mitarbeit an
dem Ethik-Buch „Ich bin gefragt“ (Petermann 2000b). Auch einige Lehrveranstaltungen setzen
sich immer wieder Bezug auseinander mit Religion in philosophischer und philosophiedidaktischer Perspektive.
7
So zentrale Aussagen in: Maier (1995): Was will der Religionsunterricht in der Schule?
Vorwort
9
Prinzip der Vergegenwärtigung von Gewesenem, das Jörg Thierfelder vor allem an
der verlebendigenden Auseinandersetzung mit Vorbildern aus der diakonischen
Arbeit der Kirchen entwickelt hat8, leicht übertragen als Leitprinzip auch für den
Umgang mit sprachlich fixierten Traditionen, die stärker im Blickpunkt meiner
Arbeiten liegen. Wenn ich heute in den von ihm mit verfassten „Brennpunkten der
Kirchengeschichte“9, die mir von Beginn meiner religionsunterrichtlichen Tätigkeit
an, lange bevor wir uns kennen gelernt hatten, ein wichtiger Begleiter waren,
nachlese, dass es den Autoren darauf ankomme, „von Frauen und Männern“ zu
erzählen, welche prägenden Erfahrungen sie mit ihrem Glauben gemacht haben, so
sehr prägend, dass in ihnen die Vergangenheit „direkt zu uns“ spricht und uns
herausfordert, dann entdecke ich auch hier jene von mir favorisierte Kategorie der
Erfahrung als entscheidendes Prinzip der Vermittlung von Religion. In dieser
Perspektive wird es im übrigen obsolet, noch irgendeinen Grund dafür zu suchen,
eher ängstlich an der konfessionellen Trennung von Religionsunterricht festzuhalten.
Wenn nämlich konkrete Erfahrungen „direkt zu uns“ sprechen, wird die
konfessionelle, je subjektive Prägung von Religion gerade festgehalten, zugleich
kommt hier aber jenseits bzw. diesseits der historisch gewachsenen Konfessionen
etwas zur Erfahrung, das uns alle in Anspruch nimmt.
8
Vgl. etwa Thierfelder (2000): Diakonisches Lernen und Lebensbilder.
9
Gutschera, Herbert / Thierfelder, Jörg (1976): Brennpunkte der Kirchengeschichte
Einleitung
zur Themenstellung der Arbeit
Einleitung
Dass eine wissenschaftliche Arbeit von aktuellem Interesse sein könnte, darum mag
zwar jeder, der eine solche Arbeit verfasst, sich bemühen, planen lässt sich das aber
nur bedingt. Gerade aus Perspektive der Philosophie, die in der vorliegenden Arbeit
innerhalb des religionspädagogischen Rahmens im Zentrum steht, würde eine solche
Zielsetzung sogar geschmäcklerisch wirken, lebt doch jede philosophische Einlassung von der kritischen Distanz gegenüber ihrem Thema. Insbesondere die damit
notwendig einhergehende Reflexion auf die eigene Methode führt zu einer eher
retardierenden Darstellung des jeweiligen Inhalts. Insofern kommt Philosophie schon
von ihrem Selbstverständnis her immer zu spät, nachdem nämlich, wie Hegel sagte,
„die Wirklichkeit ihren Bildungsprozess vollendet und sich fertig gemacht hat“;
poetisch ausgedrückt: „…die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden
Dämmerung ihren Flug“.1 Aktualität kann mithin nicht im unmittelbaren Horizont
einer philosophischen Arbeit stehen.
Bekanntlich hat Hegel gleichwohl (oder gerade deshalb) mit dem Anspruch philosophiert, dass die Philosophie „ihre Zeit in Gedanken erfass[e]“, also die Aufgabe
habe, „das was ist zu begreifen“, denn das was ist, sei die Vernunft, woraus Hegel
jenen viel diskutierten und kritisierten Satz ableitet: „Was vernünftig ist, das ist
wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig.“2 Kritisches Potential birgt dieser
Satz, insofern Wirklichkeit damit dem Kriterium der Vernunft ausgesetzt wird.
Damit steht zur Debatte die mögliche Orientierung von Wirklichkeit an Vernunft, sei
es wegen der Kritik an vorfindlicher Wirklichkeit, sei es mit dem Ziel einer Veränderung von Wirklichkeit hin auf Vernünftigkeit. Aktualität hat eine philosophische
Einlassung mithin sehr wohl, wenngleich eher im Blick auf die Tiefenstruktur in der
zu diagnostizierenden Wirklichkeit.
Es wäre nun überzogen, an dieser Stelle die Pointen des Hegelschen Verständnisses von Philosophie weiter zu diskutieren, gar meine Überlegungen an seinen
Ansprüchen zu orientieren.3 Gleichwohl ist die eigentümliche Aktualität nicht zu
1
Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), Vorrede.
2
Ebd.
3
Mit ihnen habe ich mich anderer Stelle ausführlicher beschäftigt: Eine lange vor dieser Arbeit
begonnene und aus pragmatischen Gründen unterbrochene philosophische Dissertation zur
Sittlichkeitstheorie des jungen Hegel nimmt ihren Ausgangspunkt an eben diesem in dem zitierten
Satz zugrundeliegenden Anspruch, genauer an der Differenzierung der in ihm enthaltenen Ebenen
(a) eines systematischen Philosophierens, (b) des Absolutheitsanspruchs philosophischer Theorie
von Wirklichkeit, insbesondere des Sittlichen, und (c) der Einsicht in die Begrenztheit rechtlich-
Einleitung
13
übersehen, die einer zum Ende des Jahres 2001 fertiggestellten Arbeit zu einer
Didaktik des Religiösen zukommt, häufen sich doch nach den Ereignissen um den
11. September 20014 die Stimmen, die für die Rehabilitierung, ja Wiederkehr oder
Rückkehr des Religiösen plädieren. Mit wenigen Worten ist in diesem Kontext auch
der deutsche Bundespräsident Johannes Rau in einem Interview zum Jahreswechsel
2001/2002 für einen Weg religiöser Selbstvergewisserung eingetreten, einer Selbstvergewisserung, bei der wir freilich ein gutes Stück Selbstsicherheit aufzugeben
hätten.5
Mit Raus Gedanken lassen sich gut Rahmen wie Zielsetzung auch der vorliegenden
Arbeit umreißen: Ich plädiere für eine Didaktik des Religiösen, die sich zum einen
der Eigenart des Religiösen zu vergewissern in der Lage ist und damit das Religiöse
als eine eigentümliche und unverzichtbare Dimension von Menschsein ernstnimmt, insofern kann auch ich von einer Art religiöser Selbstvergewisserung sprechen.
Zugleich aber plädiere ich für eine Didaktik, die mit kritischem Blick auf die realen
Verhältnisse gelebter bzw. nicht (mehr) gelebter Religiosität die zuweilen unterstellte
Selbstverständlichkeit religiöser Beheimatung in Zweifel zieht und deshalb auch für
eine Öffnung des bisherigen Verständnisses von Religionsunterricht eintritt.
Hinsichtlich der skeptischen Perspektive meine ich zwar nicht wie manche
Kritiker, dass der konfessionelle Religionsunterricht aus ideologischen Gründen
abgeschafft werden müsse, aber ich glaube, dass er in weiten Teilen eines Landes
wie Deutschland faktisch anachronistisch geworden ist. Ja, ich denke, dass er sogar
sein urtümliches Anliegen viel besser zum Tragen bringen könnte, wenn er auf einen
ausschließenden Konfessionalitätsanspruch verzichtete und stattdessen die grundsätzliche Frage nach dem Religiösen zu seinem zentralen Anliegen machen würde.
Darin käme er überein mit einer Zielsetzung, die sich nach meiner Überzeugung auch
ein vernünftiger Ethik-Unterricht zu eigen machen muss. Aus diesen Andeutungen
wird bereits klarer, warum ich von einer Didaktik des Religiösen rede und nicht von
einer religionsunterrichtlichen Didaktik. Ich plädiere mithin nicht für einen allgemeinen und dann allgemeinverbindlichen und insofern überflüssigen Religionsunterricht, sondern für einen allgemeinen, alle Schülerinnen und Schüler einbe-
sittlicher Lebensverhältnisse. Dass Gedanken aus diesem Umfeld sich zuweilen auch in der
vorliegenden Arbeit wiederfinden, wird daher nicht überraschen.
4
Gemeint ist, dies nur zur Klärung nicht andauernder Aktualität, die Zerstörung der beiden Türme
des World-Trade-Center in Manhattan durch zwei Passagierflugzeuge, voll besetzt gekapert und
gesteuert durch terroristische Attentäter, und die danach erfolgte politische wie militärische
Auseinandersetzung mit einem irgendwie religiös sich definierenden Terrorismus.
5
„Es gibt keinen gerechten Krieg“ – Die Rückkehr des Religiösen und der Dialog der Kulturen. Ein
Gespräch mit Bundespräsident Johannes Rau. In: Die Zeit v. 27.12.2001 [Auszüge eines
Gesprächs mit Matthias Naß und Dieter Jepsen-Föge im Deutschland-Radio Berlin].
14
Einleitung
ziehenden Unterricht in Religion, der im Religions- wie im Ethik-Unterricht seinen
Platz haben sollte, mit kooperativem wie auch differenzierendem Anspruch.
Ein solcher Unterricht kann aber nur gelingen, und damit komme ich auf die erste
Perspektive meines Plädoyers zurück, wenn er mit einem reflektierten Verständnis
von Religion und Religiosität arbeitet. Damit wird der bereits angedeutete eher
philosophische Blick auf das vorderhand religionspädagogische Thema offen ausgesprochen. Ein solcher Blick ist notwendig (wenngleich nicht für alle religionspädagogischen Zielsetzungen hinreichend), so meine Behauptung, um junge
Menschen überhaupt erst mit dem vertraut zu machen, was Religiosität ist und was
dann Glaube und Religion sein können. Diese Aussage setzt zwar voraus, dass nicht
nur Glaube, sondern auch Religiosität heute keineswegs mehr vertraute, gar
selbstverständliche Dimensionen von Leben sind, betrachtet eine solche Vertrautheit
jedoch als fundamental für gelingendes Menschsein und insofern als elementaren
Anteil an Bildung. In dieser Option teile ich Raus Plädoyer für religiöse Selbstvergewisserung.
Wenn insofern der Anspruch meiner Arbeit sich einbindet in eine aktuelle und auf
den ersten Blick vielleicht eher politische Debatte, lädt er sich einiges auf. Das aber
geschieht bewusst, weil sich hinter dieser Debatte Auseinandersetzungen verbergen,
die ich für elementar halte für ein heutiges Verständnis von Religion und die insofern
geeignet sind, für mein auf den ersten Blick möglicherweise bloß didaktisches
Votum eine sachlich profilierte Begründung zu liefern. Das ist Grund genug, die
Einleitung zu meiner Arbeit mit einem etwas länger geratenen, da systematisierenden
Blick auf die aktuelle Diskussion zur Wiederkehr des Religiösen zu beginnen (1), um
in diesem Horizont das pointierte Interesse meiner Arbeit zu skizzieren (2) und
schließlich einen Überblick über Genese und Zusammenhang der einzelnen Kapitel
zu geben (3).
Einleitung
1
Die Wiederkehr des Religiösen
- ein systematischer Horizont der Arbeit
1.1
Religiöse Intuitionen eines „religiös Unmusikalischen“
15
Bundespräsident Rau bezieht sich mit seinem oben zitierten Gedanken für einen Weg
religiöser Selbstvergewisserung auf die Dankesrede von Jürgen Habermas zum
Erhalt des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 15. Oktober 2001.6 Darin
hatte Habermas zwar nicht explizit für die Wiederkehr des Religiösen plädiert,
jedoch für die „vernünftige Einstellung“, sich heute und als Philosoph der „Perspektive“ der Religion nicht zu verschließen (28), ja sogar inhaltlich für eine
„kritische Anverwandlung“ religiöser Gehalte (24). Der Zusammenhang, aus dem
diese These entwickelt wird, und die Erläuterungen, mit denen Habermas sie
ausstattet, lohnen sich nachzuvollziehen für den Kontext meiner Arbeit:
Am 11. September 2001, meint Habermas unter dem Eindruck der damaligen
Ereignisse, sei „die Spannung zwischen säkularer Gesellschaft und Religion ... explodiert“ (9), und zwar in einer qualitativ „ganz anderen Weise“ als bei Problemen
der Wissenschafts- und Technologie-Gesellschaft, an denen üblicherweise diese
Spannung belegt wird. In den aktuellen politischen Ereignissen artikuliert sich für
Habermas ein „verhängnisvoll-sprachlose(r) Zusammenstoß von Welten“ (11).
Dieser „Riss der Sprachlosigkeit“ veranlasst ihn, sich genauer darüber klar zu
werden, „was Säkularisierung in unseren postsäkularen Gesellschaften bedeutet“,
nicht aus diagnostischen Motiven, sondern um „den Risiken einer ... entgleisenden
Säkularisierung ... mit Augenmaß begegnen“ zu können (12). Damit macht
Habermas das Religiöse nicht nur als einen wichtigen Hintergrund aus für gegenwärtige kulturelle und politische Spannungen, sondern scheint in der Begegnung mit
dem Religiösen eine notwendige Bedingung zu sehen, diesen Spannungen auch
begegnen zu können.
Interessant ist zunächst die Benennung unserer Gesellschaften als postsäkular
(12ff)7 und die Rede von den Risiken einer entgleisenden Säkularisierung. Ich ent6
Von einigen überregionalen Zeitungen wurde diese Rede unmittelbar im Anschluss veröffentlicht,
so unter dem Titel „Der Riss der Sprachlosigkeit“ in der Frankfurter Rundschau vom 16.10.2001.
Als Sonderdruck der „edition suhrkamp“ (Frankfurt/M. 2001) erschien sie dann in Buchform unter
dem Titel: „Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001.“ Nach dieser
Ausgabe zitiere ich nachfolgend.
7
Eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Kennzeichnung hat kürzlich vorgelegt Hans Joas
unter dem Titel: Eine Rose im Kreuz der Vernunft. In: Die Zeit Nr. 7 vom 07.02.2002.
16
Einleitung
decke darin jene Diagnose, die auch ich im Kapitel 1-1 der vorliegenden Arbeit zu
entfalten versuche, dass eine Gesellschaft, die den Prozess der Säkularisierung
inkonsequent verfolgt hat, nämlich nicht zuende und nicht über sich selbst aufgeklärt,
Risiken produziert, Risiken, die zuerst und grundsätzlich unter dem Stichwort der
Dialektik der Aufklärung von Adorno und Horkheimer herausgearbeitet worden
sind.8 Risikoreich ist säkularisierende Auflärung vor allem, wenn sie den
Gegenstand, über den aufgeklärt wurde, mit der Aufklärung zugleich auch
abzuschaffen droht, damit aber auch ein Kriterium ihrer Kritik verlöre, warum eine
solche Gesellschaft eben postsäkular und nicht säkularisiert genannt werden muss.
Im weiteren Verlauf seiner Rede skizziert Habermas einige Verhältnisse, die
Anlass geben, die Diagnose einer nicht abgeschlossenen Säkularisierung gerade
heute aufrecht zu halten:
• Zunächst einmal arbeitet er heraus, dass auch nach vollzogener Säkularisierung
kirchlicher Macht9 Religion weder fortschrittsoptimistisch durch die Wissenschaft
verdrängt worden wäre, noch verfallstheoretisch religiöse Sinninstanzen schlicht
überflüssig geworden wären (13). Vielmehr sei die moderne Gesellschaft sogar
verfassungsmäßig aufgebaut auf Prozesse der Entscheidungsfindung und einen auch
religiöse Meinungen einbeziehenden Streit um die angemessene Entscheidung (15).
Und dieses egalitäre Vernunftrecht habe durchaus religiöse Wurzeln (21).
• Das hält Habermas fest als elementaren Faktor auch gegen einen von den Naturwissenschaften stetig voran getriebenen Szientismus: Gegen eine darin sich vollziehende Naturalisierung des Geistes (17) klagt er das Recht einer „eigensinnigen
Perspektivenstruktur“ der beteiligten Personen ein (20), dessen Begründung
wiederum im Erbe der Religionen gegeben ist.
• Schließlich markiert Habermas andeutungsweise eine Tendenz zur Generalisierung und insofern Totalisierung einer szientistisch begründeten Sprache des
Marktes einerseits (20, 23) und einer religiös sich gebenden Sprache des Fundamentalismus andererseits (9): Globalisierung hier, Terrorismus dort, in gewisser Hinsicht
beides Indizien nicht überwundener Religion.
Habermas hütet sich davor, angesichts solcher auseinander laufender Verhältnisse
von einer Orientierungskrise oder gar einem nun neuen Bedürfnis nach Orientierung
zu sprechen. Doch er redet von Sinn-Entropie, der es etwas entgegenzusetzen
8
Damit ist nicht nur das berühmte Buch von Adorno/Horkheimer gemeint (1949), sondern auch
weitere, von beiden Autoren verschieden akzentuierten Einlassungen; vgl. dazu unten Punkt (3).
9
Hier ist an den ursprünglichen Sinn von Säkularisierung zu erinnern, die Übertragung kirchlicher
(Macht-)Befugnisse an staatliche Instanzen. Habermas bezieht sich auf den im 19. Jahrhundert
vollzogenen historischen Prozess der „Übereignung von Kirchengütern an die säkulare
Staatsgewalt“ (12).
Einleitung
17
gelte (29). Zunächst appelliert er noch vorsichtig für ein Offenhalten von Optionen,
im Sinne einer „kooperativen Aufgabe“ zwischen säkularen und religiösen Begründungen, um sich „einen Sinn für die Artikulationskraft religiöser Sprachen“ zu
bewahren (22). Dann aber führt ihn die Frage, wodurch denn religiöse Sprachen eine
die skizzierte Diversifikation eindämmende Artikulationskraft besitzen, zu der überraschenden und entscheidenden These, gerade die Perspektive der Religion berge die
Kraft, „im eigenen Haus [gemeint ist wohl im Haus postsäkularer Gesellschaften
(H.B.P.)] der schleichenden Entropie der knappen Ressource Sinn entgegenzuwirken“ (29). Als Beispiel dafür nennt er das in Gen 1, 28 überlieferte Theologumenon von der Geschöpflichkeit und Gottebenbildlichkeit des Menschen. Die
Intuition dieses Menschenbildes habe in unseren postsäkularen Verhältnissen auch
für den „religiös Unmusikalischen“ bleibende Bedeutung, nämlich eine „absolute
Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf“ festzuhalten gegen die Freiheit zerstörende Gefahr völliger „Selbstbestimmung des Menschen“ (30).
1.2
Drei Wege einer Rückkehr zu Religion
Habermas’ Versuch ist zu sehen in einer ganzen Reihe von philosophischen Voten
aus religionsskeptischer, religionskritischer oder gar areligiöser Perspektive zur
Frage der Religion in postmodernen bzw. postsäkularen Zeiten. Ich erkenne darin
drei sehr unterschiedliche Motive, von denen aus Religion und das Religiöse heute
wieder von Interesse sein könnte:
(1)
Ein erstes Motiv ist in dem Zusammenhang von Religion und Moral zu
sehen; im Rückgriff auf Religion scheinen sich moralisch, möglicherweise
auch politisch relevante Orientierungen freilegen zu lassen.
(2)
Eine entgegengesetzte Perspektive wird eingenommen, wenn Religion auf
der Ebene individueller Erfahrungen als eine besondere Dimension von
Selbstsein und Eigensinn behauptet wird.
(3)
Schließlich wird Religion als ein Raum ausgemacht, der einen unverzichtbaren Anspruch auf Wahrheit bewahre, kritisch gegen jede Angleichung an
reale Lebensverhältnisse.
Diese Wege sind durch einige beispielhaft ausgewählte Denkfiguren genauer zu
erläutern:
18
Einleitung
ad (1) Moral beerbt Religion
Jürgen Habermas’ eigene Einlassung kann vordergründig als Prototyp des ersten
Wegs gelten. Das lässt sich nicht zuletzt ablesen an den zum Teil heftigen Reaktionen, sofern sie in Habermas’ religiöser Sinnsuche den Versuch moralischer Orientierung ausmachen. So hat der Bundespräsident Rau nach eigenem Bekunden
Habermas nicht nur „mit großem Interesse gehört“, sondern stimmt ihm auch explizit
darin zu, dass heute wieder „die Frage nach religiösen Fundamenten“ gestellt werden
müsse.10 Martin Altmeyer entdeckt in Habermas’ behutsamer Rehabilitierung der
„Religion unter dem Stichwort der Sinnvermittlung“ eine „Mahnung zur kulturellen
Selbstreflexion im schlingernden Projekt der Moderne“ entdeckt.11
Besonders interessant sind die mehrheitlich kritisch ablehnenden Reaktionen: So
findet Jörg Lau Habermas’ Einlassung schlicht „peinlich“, angesichts des „Einknicken(s) des großen Theoretikers“ und solcher „umstandslose(r) Instrumentalisierung der Religion“12; und Michael Rutschky fragt sich gar, „welcher Teufel den
Professor Habermas ritt“.13 Lau erinnert in seiner Kritik an Habermas’ Hauptwerk
und zitiert daraus den epochalen wie bedenkenswerten Satz: „Diese großartigen
Vereinseitigungen, die die Signatur der Moderne ausmachen [gemeint ist das
Hervortreiben von Rationalitätsstrukturen unter Befreiung von den Zwängen zu
Interpretation, Weltbildkonstruktionen, heteronomer Moral und Konventionen
(H.B.P.)], bedürfen keiner Fundierung und keiner Rechtfertigung im Sinne transzendentaler Begründungen…“14 Demnach hätte Religion in der Moderne abgedankt.
Warum aber würde Habermas sie nun, 20 Jahre später, gleichwohl rehabilitieren
wollen? Oder hat Habermas das damals tragende Motiv nur verändert wieder
aufgenommen?
Als Anwalt für die skizzierte „säkularisierende und zugleich rettende Dekonstruktion von Glaubenswahrheiten“ benennt Habermas zunächst Kant (23). Mit
Verweis auf Kants Religionsschrift15 glaubt Habermas, in Kant einen Vertreter einer
auch von ihm selbst favorisierten „kritische(n) Anverwandlung des religiösen
Gehaltes“ (24) auszumachen. In der Tat schreibt Kant: „Die Moral, so fern sie auf
dem Begriffe des Menschen, als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch
10
Rau (2001), a.a.O.
11
Martin Altmeyer: Innehalten im Kriegslärm. Zum Glück haben wir die Grünen und Jürgen
Habermas. – In: FR v. 25.10.2001.
12
Jörg Lau: Nachrichten aus der Paulskirche. – In: Die Zeit v. 27.12.2001.
13
Michael Rutschky: Die Wiederkehr. – In: FR v. 3.11.2001.
14
Habermas (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2, S. 584f.
15
Kant: Die Religion (1793) A III.
Einleitung
19
seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens, gegründet ist, bedarf
weder der Idee eines anderen Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch
einer anderen Triebfeder als des Gesetzes selbst.“ Das liest Habermas offenkundig
als Begründung für eine Übersetzung ehemals göttlich autorisierter Gebote in
nunmehr autonom begründete unbedingte Geltung von Moral. Und für eben solche
Übersetzung tritt Habermas ausdrücklich ein, wenn er in Bezug auf den Umgang mit
Gen 1,27 meint: „Moralische Empfindungen, die bisher nur in religiöser Sprache
einen hinreichend differenzierten Ausdruck besitzen, können allgemeine Resonanz
finden, sobald sich für ein fast schon Vergessenes, aber implizit Vermisstes eine
rettende Formulierung einstellt. Eine Säkularisierung, die nicht vernichtet, vollzieht
sich im Modus der Übersetzung.“
Dieser Satz ist jedoch nicht so neu, wie manche Kritiker meinen, sondern greift
einen von Habermas schon früher geäußerten Gedanken auf. Bereits 1988 hielt er
Religion für „unersetzlich“, „solange die religiöse Sprache inspirierende, ja unaufgebbare semantische Gehalte mit sich führt, die sich der Ausdruckskraft einer philosophischen Sprache (vorerst?) entziehen und der Übersetzung in begründete Diskurse
noch harren.“16
Aufgrund des ausdrücklich in Klammern gesetzten „vorerst“ kann man zwar nicht
davon reden, dass es schlicht um eine Ersetzung des Religiösen durch das Moralische
ginge.17 Doch deuten die Schlussworte des Zitats darauf hin, dass die von Habermas
insinuierte Übersetzung des Religiösen ins Moralische eine Übersetzung ist, die für
Religion nichts mehr übrig lässt, auch wenn sie bislang noch unabgeschlossen ist.
Rückkehr zum Religiösen würde demnach bedeuten, sich des noch nicht übersetzten
Erbes der Religion zu erinnern und alles in die ihre Sinngehalte rettende Übersetzung
zu investieren, rettend gegen jene Moderne, die szientistisch und naturalistisch das
Bewusstsein über die von ihr selbst produzierten Risken zu verlieren droht.
ad (2) Verflüchtigung ins Individuelle
Gegen Habermas’ Versuch, in der Religion philosophisch und politisch relevante
Intuitionen aufzuspüren, entdeckt Richard Rorty in jedem Versuch einer Rückkehr zu
Religiosität aus politischen Gründen eine fundamentalistische Gefahr.18 Darum will
16
Habermas: Nachmetaphysisches Denken (1988), S. 60.
17
Ausdrücklich dazu befragt, gab Habermas zehn Jahre später vor, nicht genau zu wissen, ob eine
Übersetzung je vollständig gelingen könne oder auch zu gelingen habe: Habermas (1998), S. 190f.
18
Richard Rorty: Wahrheit und Wissen sind eine Frage der sozialen Kooperation. (Dankesrede zum
Erhalt des Meister-Eckhart-Preises am 3.12.2001). – In: Süddt.Ztg. v. 4.12.2001, S. 14.
20
Einleitung
er seinerseits Religion ganz auf die Ebene einer nur noch im privaten Raum möglichen Meinung zurechtstutzen. Denn wer öffentlich auf Religion setze, setze auf
eine der intersubjektiven Austragung entzogene Wahrheit. Für Rorty ist demgegenüber „die Suche nach Wahrheit und Wissen nicht mehr und nicht weniger … als das
Streben nach intersubjektiver Übereinstimmung.“ Das ist weniger eine erkenntnistheoretische19, vielmehr eine politische These. Denn der „epistemische Schauplatz ist
ein öffentlicher Raum“; und aus ihm, meint Rorty, solle „die Religion sich zurückziehen“; insbesondere „die institutionalisierte Religion [müsse] endlich von der Bildfläche verschwinde(n).“
Es ist nicht ganz klar, wie ein Denker mit solchen Thesen zu der Ehre gerade eines
Meister-Eckhart-Preises kommt. Für den großen Mystiker kommt zwar die Suche
nach dem Innersten und Tiefsten unserer selbst mit der Suche nach Gott überein.
Doch während Eckhart dabei in Gott die letzte Möglichkeitsbedingung und den Horizont unseres Selbst entdeckt, ist es für Rorty umgekehrt: Nach Religion zu suchen,
sei „womöglich genau das Richtige für die eigene Einsamkeit“; hier ist das private
Selbst das Ziel. Und so macht Rorty aus der pragmatistischen Diagnose der Verflüchtigung des Religiösen ins Individuelle20, verbunden mit einer entsprechenden
kulturellen Relativierung des Religiösen eine pragmatistische Forderung: „Wenn
man jedoch die Idee aufgibt, dass die Suche nach Wahrheit oder die Suche nach Gott
allen menschlichen Organismen fest einmontiert sei, und wenn man statt dessen für
möglich hält, dass beide auf kulturelle Prägung zurückgehen, dann wird eine solche
Privatisierung ganz natürlich und richtig erscheinen.“
Dass Rorty damit einen ernst zu nehmenden Versuch zur Ehrenrettung des Religiösen in säkularen und agnostischen Zeiten unternommen hätte, leuchtet kaum ein,
selbst dann nicht, wenn man sich auf seinen Vorschlag einlässt, das Kriegsbeil um
die Wahrheit zwischen Atheismus und Theismus zu begraben. Nun hat Rorty selbst
diesen Rettungsversuch gar nicht unternehmen wollen, im Gegenteil hält er in seiner
Rede fest daran, „sich gelegentlich selbst als einen Atheisten beschrieben“ zu haben.
Ein Atheist zu sein, meint natürlich etwas anderes als sich, wie Habermas, religiös
unmusikalisch zu finden. Und so wird Rorty auch nichts von Habermas’ Sympathie
für den Sinngehalt der religiösen Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf halten,
wenn er selbst „meint, Menschen sollten sich Selbsterschaffung zum Ziel setzen.“
19
Eine erkenntnistheoretische Pointe hat diese These natürlich auch, insofern diese Auffassung von
Wahrheit als Adäquation nach einer irgendwie letzten oder vorgängigen Wahrheit im Sinne der
griechischen aletheia ohnehin nicht mehr fragt, aber auch nicht mehr nach einem möglichen
Gegenstand der Wahrheit, sondern die adaequatio rei et intellectus reduziert auf einer nur noch
pragmatisch zu verstehende adaequatio der beteiligten Erkenntnissubjekte.
20
Gemeint ist der mit William James im Grenzgebiet zwischen Philosophie, Theologie und
Soziologie bekannt gewordene Blick auf religiöse Phänomene aus der Sicht des philosophischen
Pragmatismus.
Einleitung
21
Rorty rechnet in seiner Rede auch Gianni Vattimo einer pragmatistisch zu lesenden
Position zu. In der Tat greift Vattimo das Thema des Religiösen aus dem eher
„vage(n) Grund“ auf, „daß ich im kulturellen Klima, in dem ich mich bewege, insgesamt ein Wiedererwachen des religiösen Interesses verspüre.“21 Entsprechend
votiert er für eine eher laue, nichtsdestotrotz (und das unterscheidet ihn von Rorty)
explizite Rückkehr zum Religiösen, und zwar in doppelter Hinsicht: Einerseits ist
Vattimo, geschlagen durch persönliche Erfahrungen moralischer Verachtung und
Normierung im Namen der Religion, kritisch geworden gegenüber Ansprüchen einer
ganzen Wahrheit. Und so steht er pragmatisch für ein reduziertes, halbgläubiges
Glauben, für den Versuch, Glauben auf das zu reduzieren, als dessen „Adressat ich
mich selbst fühle“22: „das Wesen der Offenbarung reduziert auf die christliche Liebe,
und der ganze Rest anheimgegeben der Unbestimmtheit der verschiedenen
geschichtlichen Erfahrungen, auch der Mythologien, die den einzelnen geschichtlichen Menschheiten jeweils als ‚bindend’ erschienen sind.“23 Dem steht andererseits
jedoch nicht der Rückzug ins letztlich unverbindlich Private (wie bei Rorty) gegenüber, sondern ein positives Korrelat: Vattimo will dekonstruktiv24 Gehalte insbesondere des christlichen Glaubens in ihrer Positivität25 aufgreifen: Auf der Suche nach
solchen Positivitäten, die eine „radikale Möglichkeit des Seins“ in Befreiung „vom
Zwang des Einfach-Daseienden“ enthalten, wird Vattimo fündig „in der christlichen
Lehre von der Menschwerdung des Gottessohnes“.26 Die Kenosis-Lehre liefert für
ihn „ein hinreichend klares kritisches Prinzip für die Orientierung, sei es gegenüber
der Welt, sei es vor allem gegenüber der Kirche, sei es schließlich gegenüber dem
Prozeß der Säkularisierung selbst“.27 In einer (metaphysische Deutungen)
dekonstruierenden Lesart meint Kenosis die durch die Liebe Gottes erfahrene Sinnhaftigkeit der Caritas als „Prinzip der christlichen Liebe gegenüber den anderen“,28
frei von Ansprüchen, damit letzte Ordnungen herstellen zu wollen oder zu müssen,
gewiss aber in der Hoffnung, dass sich solches Leben lohnt.
21
Gianni Vattimo: Glauben – Philosophieren. Stuttgart 1997, S. 8.
22
Ebd., S. 106.
23
Ebd., S. 86.
24
Ebd., S. 104: „Statt sich als Anwalt der Heiligkeit und Unberührbarkeit der ‚Werte’ zu
präsentieren, sollte der Christ vielmehr wie ein gewaltloser Anarchist agieren, wie ein ironischer
Dekonstrukteur…“
25
Zur Entwicklung seines an Schelling orientierten Begriffs von Positivität vgl. Vattimo: Die Spur
der Spur; in: Derrida/Vattimo (2001), S. 107ff, insbesondere S. 113ff.
26
Ebd., S. 122.
27
Vattimo (1997), S. 66.
28
Ebd., S. 104.
22
Einleitung
Es wäre ungerecht, in Vattimos Rückkehr zum Religiösen bloß das oben skizzierte
individualistische Motiv wiederzuerkennen, von einer Privatisierung des Religiösen
wie bei Rorty kann hier erst recht nicht die Rede sein. Doch auch einer Moralisierung
des Religiösen redet Vattimo trotz seines Caritas-Prinzips nicht das Wort. Zu sehr
wird dieses Prinzip im Schatten des Nihilismus, eines „jenseits der Gewalt der Metaphysik“29 sich verortenden Denkens vertreten. Ihm bleibt nur die Möglichkeit eines
„credere di credere“, so der Originaltitel des Büchleins, eines im Sinne der Pascalschen Wette hoffnungsvollen Glaubensversuchs. Insofern erhält sein Versuch wirklich einen pragmatistischen Geschmack. Verzichten muss ein derart wiederkehrendes
Religiöses darum auch auf den Anspruch, vorfindliche Wirklichkeit kritisch durchleuchten zu können, muss sich stattdessen begnügen mit einem reduzierten, etwas
unverbindlich-lauen Halbglauben.
ad (3) Zurück zu vorreligiösen Strukturen
Frei von solch kompromisshafter Zuwendung zur Religion scheint demgegenüber
das Anliegen von Jacques Derrida30 zu sein: Ihn interessiert nicht, was bloß „im
Namen“ von Religion(en) gesagt wird. Vielmehr müsste man versuchen, die
Religion „selbst zu denken“, „sie zum Ausdruck zu bringen, … mit der nötigen
Strenge, … den Skrupeln (religio), die jenes erfordert, was in seinem Wesen Religion
ist oder zu sein beansprucht.“ Denn „einzig auf solche Weise würde man vermeiden,
etwas Fremdes in die Religion einzuführen; einzig auf solche Weise würde man sie
jenes sein lassen, was sie ist: … Heil in der Erfahrung des Heilen“.31 Derrida sieht
solche Erfahrungen aber nicht wie Vattimo in positiven Gehalten wie der caritas,
sondern in Strukturen, vor allem in der Kraft zur radikalen Abstraktion, wie er sie
motivisch ausmacht im Wüstenbild des biblischen Glaubens, dem Messianismus als
allgemeiner Erfahrungsstruktur und im Versuch eines Denkens des Unvordenklichen
jenseits des Denkens im Sinne der platonischen Chora.32
29
Ebd., S. 24ff und S. 40.
30
Jacques Derrida / Gianni Vattimo: Die Religion. Frankfurt 2001.
31
Ebd., S. 40. – Ich entdecke in diesem Gedanken zumindest eine wichtige Übereinstimmung mit
auch meinem Votum im Kapitel 1-3, als Spezifikum des Religiösen an dem Anspruch der
Erfahrung „heiliger Wirklichkeit“ festzuhalten.
32
Vgl. ebd., S. 10 als Grundmotiv und S. 30ff als Entfaltung des Abstraktionsmotivs. – Der Wüstenzug Israels wird von D. als Bild einer Wüste in der Wüste gesehen, als Möglichkeit völliger
Reduktion auf „abhaltende Skrupel (religio), zurückhaltende Scheu, Verhaltenheit“ (S.30). – Auch
das Messianische wird wie in Walter Benjamins erster geschichtsphilosophischer These reduziert
auf „das ganz und gar kärgliche Messianistische, das von allem entkleidet sein muß, der Glaube
ohne Dogma, der sich in die Gefahr einer vollkommenen Nacht vorwagt“ (S. 33). Reduziert auf
die Struktur „der absoluten Überraschung“ wird er zu einer „allgemeine(n) Struktur der
Einleitung
23
Die von ihm avisierte Religion gewinnt damit (übrigens unter explizitem Bezug
auf Heidegger33) proto-religiösen Charakter. Und so fragt Derrida in seiner Suche
nach vor-ursprünglicher Religiosität nach einer „Theio-logie“, einem „Diskurs über
das Sein des Göttlichen“ überhaupt und nicht nach einer Theo-logie als Rede über
Gott, und er fragt nach einer gegenüber der Offenbarung ursprünglicheren „Offenbarkeit“ als „Möglichkeit des Offenbarens…von allen Religionen unabhängig“, und
er fragt: „Kann man diese Unabhängigkeit an den Strukturen ihrer Erfahrung
…ablesen? Rührt man mit einer solchen Offenbarkeit an den Ursprung … des Glaubens selbst? Oder besteht umgekehrt das Ereignis der Offenbarung darin, dass es die
Offenbarkeit offenbart hat...?“34
Die Gefahr eines solchen Denkens hat seinerseits Habermas in polemisch zugespitzter Weise markiert: „Wenn sich der Posthumanismus in der Rückkehr zu den
archaischen Anfängen vor Christus und vor Sokrates erfüllen soll, schlägt die Stunde
des religiösen Kitsches. Dann öffnen die Warenhäuser der Kunst ihre Pforten für die
Altäre aus aller Welt, für die aus allen Himmelrichtungen zur Vernissage eingeflogenen Priester und Schamanen.“35 Mit dieser Einlassung ist zwar explizit nicht
Derrida gemeint, sondern Heidegger und seine Jünger. Doch Derrida beruft sich mit
seiner Idee einer Proto-Religiosität ja gerade auf Heidegger. Eine heideggerisch
gewendete Rückkehr zu metaphysischem Denken kann man Derrida gleichwohl
nicht vorwerfen, da er nicht nur explizit, sondern auch argumentativ eine Wiederentdeckung des Religiösen ganz „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ vollzieht36 und so zu einem Satz kommt, der ganz im Modus moderner Vernunft
geschrieben ist und so fast ein Beispiel für den unter (1) skizzierten Weg zur
Religion bietet: „Die Chance dieser Wüste in der Wüste … liegt in dem Umstand,
dass man nur die Überlieferung zu entwurzeln und zu enttheologisieren braucht, die
jene Wüste in sich trägt, damit die Abstraktion, ohne den Glauben zu verleugnen,
eine universale Rationalität und eine von ihr untrennbare politische Demokratie
freilegt.“37
Erfahrung“ (S. 32). – Chora schließlich interpretiert Derrida als „den Ort einer abstrakten
Verräumlichung“, einen Ort absoluter Äußerlichkeit, an dem ein Denken dessen, was jenseits des
Seins ist, möglich ist. (S. 35).
33
Ebd., S. 24.
34
Ebd.; S. 28 u. 29f.
35
Habermas (2001c), S. 28.
36
Derrida (2001), S. 19, 27.
37
Ebd., S. 34.
24
Einleitung
1.3
Transzendenz als originäres Erbe der Religion
Derridas Fragen nach einer den Religionen vorausliegenden Struktur des Religiösen
werfen ein neues Licht auch auf Habermas’ Einlassungen. Nicht nur an der Oberfläche des faktisch Gesagten tauchen nun Parallelen auf. So wartet auch Habermas in
seinem zeitgleich mit der Friedenspreisrede wieder veröffentlichten „Gespräch über
Gott und die Welt“ mit der These auf, mit dem Gedanken „des einen und verborgenen Schöpfer- und Erlösergottes“ habe „der endliche Geist einen alles Innerweltliche transzendierenden Standpunkt gewonnen“38 Dies deutet er als Abstraktionsleistung, die „das Tor zu einer vernünftigen Durchdringung der opaken Welt aufgestoßen“ habe, ähnlich wie die „fortschreitende Negation“ im Buddhismus oder das
Schwarze Quadrat von Malewitsch.39
In diesem Licht gewinnt auch die von ihm geforderte Übersetzung des Religiösen
ins Moralische neue Bedeutung. Wenn Jörg Lau dazu meint, Habermas räume mit
seiner Rede der Religion „den Primat vor der Moralphilosophie ein“40, hat er damit
möglicherweise eine Tiefendimension in Habermas’ Gedanken zur Sprache gebracht.
Warum? Wie skizziert, hatte Lau an Habermas’ These aus der „Theorie des kommunikativen Handelns“ erinnert, die Moderne bedürfe „keiner Fundierung und keiner
Rechtfertigung im Sinne transzendentaler Begründungen“.41 Doch dass damit
Religion prinzipiell ausgedient habe, ist nur die halbe Wahrheit. Zwar hatte
Habermas in seinem Großwerk eine „Entzauberung und Entmächtigung des sakralen
Bereichs“ hin zu „einer Versprachlichung des rituell gesicherten normativen Grundeinverständnisses“ nicht nur diagnostiziert, sondern auch begrüßt, weil damit „die
Entbindung des im kommunikativen Handeln angelegten Rationalitätspotentials
einher“ gehe.42 Doch muss man bereits hier genau lesen: Behauptet wird (lediglich)
die Entbindung von Rationalität aus religiösen Begründungen, insofern diese transzendentalen Charakter tragen, also als Bedingungen der Möglichkeit von Rationalität
gesehen werden. Damit ist aber noch nichts darüber gesagt, dass die Rationalität der
Moderne auch an ihre Grenzen, ja in Krisen geraten kann, und dass die Religion
demgegenüber zumindest einen Raum des nicht rational Instrumentalisierbaren offen
zu halten in der Lage wäre.
Ein paralleler Einwand ist zu formulieren gegen eine vorschnelle Inanspruchnahme Kants für die Übersetzung ehemals göttlich autorisierter Gebote in nunmehr
38
Habermas (1999c), S. 173.
39
Ebd., S. 174.
40
Jörg Lau: Nachrichten aus der Paulskirche. – In: Die Zeit v. 27.12.2001.
41
Habermas (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. Bd.2, S. 584.
42
Ebd., S. 119.
Einleitung
25
autonom begründete unbedingte Geltung von Moral. Die Lösung der Moral von
göttlicher Autorität betrifft nur die Unbedingtheit ihrer Geltung, nicht aber notwendig auch die Frage nach Möglichkeit und Grenzen von Moral überhaupt.43 Religion
behielte demnach einen Sinn auch dann noch gegenüber Moral, wenn vormals
religiös begründete Normen sich nun säkular autonom begründen lassen; anders:
auch bei Kant geht Religion nicht völlig in autonomer Moral auf.
Diese Überlegung ist nicht philologisch-spekulativer Kleingeist, sondern markiert
einen wichtigen von Habermas angedachten, dann aber wohl wieder verworfenen
Gedanken: Seine inzwischen vielzitierte Maxime, man könne (müsse vielleicht gar)
„von der Religion Abstand halten, ohne sich deren Perspektive zu verschließen“ (29)
wird in der Druckfassung der Friedenspreisrede durch einen interessanten Einschub
zum „Erbstreit zwischen Philosophie und Religion“ (25-29) kommentiert, der in der
Rede selbst ausgespart blieb. Dieser Kommentar begründet genau gelesen den
Abstand, nicht die Nähe zur Religion. Denn Heideggers Annäherungen an das
Sakrale werden hier als „religiöser Kitsch“ abgewiesen, Hegels Versuch einer Philosophie der Religion als Opfer vor „einem in sich kreisenden Weltprozess“. Und der
Messianismus des Sympathieträgers Adorno wird als nur noch methodisch mögliche
Rettung vor der Verzweiflung eingeordnet. Die Frage ist freilich, ob das alles ist.
Denn das eindrücklich betonte Abstandhalten ist auch als (vielleicht unbewusste)
Camouflage einer eigentlich intendierten Nähe zu lesen. Warum?
In den frühen 80er Jahren hatte Habermas noch an eine den herrschaftsfreien
Diskurs ermöglichende Rationalität geglaubt; doch schon Ende der 80er plädiert er
für eine nicht nur methodische, sondern auch politische Skepsis gegen die Hypostasierung der „idealisierenden Voraussetzungen kommunikativen Handelns … zum
Ideal eines künftigen Zustandes definitiven Verständigtseins“44, denn „das Moment
der Unbedingtheit, das in den Diskursbegriffen der fehlbaren Wahrheit und Moralität
aufbewahrt ist, ist kein Absolutes“. Deutlich artikuliert sich hier ein Einspruch gegen
den Ersatz von Religion durch eine absolut gesetzte Moral. Und noch mehr:
Zumindest Religion, vielleicht gar sie allein, scheint auch das Potential gegen solche
Verabsolutierung von Rationalität und Moral aufbieten zu können. Denn „noch der
Begriff der kommunikativen Vernunft wird vom Schatten eines transzendentalen
Scheins begleitet … Nur mit diesem Rest von Metaphysik kommen wir gegen die
Verklärung der Welt durch metaphysische Wahrheiten an – letzte Spur eines Nihil
43
Das ist zu sagen, auch wenn Kant selbst hier anderer Meinung war: Er vertrat zwar bekanntlich die
Meinung, Moral führe „unumgänglich zur Religion“ (ebd. A IX), doch ausdrücklich auf der Basis,
dass die „Idee eines höchsten Guts“ „aus der Moral hervor“ gehe, als ihr „Endzweck“, doch
keineswegs „die Grundlage derselben“ sei (ebd. A VIII). Nichtsdestotrotz ist auch daraus nicht der
Schluss zu ziehen, Moral biete einen vollständigen Ersatz für Religion.
44
Habermas (1988): Nachmetaphysisches Denken, S. 184.
26
Einleitung
contra Deum nisi Deus ipse.“45 In solcherart bewahrendem und nicht aufhebendem
Horizont hatte Habermas damals, wie bereits zitiert, die Religion in ihren „inspirierende(n), ja unaufgebbare(n) semantische(n) Gehalte(n) …, die sich der Ausdruckskraft einer philosophischen Sprache (vorerst?) entziehen und der Übersetzung in
begründende Diskurse noch harren“, für „unersetzlich“ gehalten.46
Damit scheint Habermas in der Tradition der Religion jedoch nicht nur etwas zu
sehen, das als bewahrenswertes Erbe völlig in die säkulare Sprache von heute übersetzt werden sollte. Vielmehr deutet sich hier ein Gefühl für etwas Originäres an, das
sich schlicht nicht übersetzen lässt. Denn warum spricht er jetzt in der Friedenspreisrede von den „ungläubigen Söhne(n) und Töchter(n) der Moderne“, die die
„semantischen Potentiale [sc. der religiösen Tradition] noch nicht ausgeschöpft“
hätten?47 Und warum spricht er von dem Respekt der Vernunft „vor dem Glutkern“
der Religion, der zu groß sei, „als dass sie der Religion zu nahe treten würde“?48
Mit einer solchen respektvollen Annäherung an die Religion stellt sich Habermas
explizit in die Nähe zu Derridas Versuch, das der Religion Ureigne aufzuspüren. Vor
allem denkt er offenkundig im Horizont seiner Väter Horkheimer, Adorno und
Benjamin, die nicht ohne Zufall an eben dieser Stelle seiner Rede zitiert werden.49
Dem nachzugehen, verspricht weiteren Aufschluss.
Zunächst einmal gibt es nichts zu deuteln an jenem Satz, den Habermas als ersten
von Adorno zitiert: „Nichts an theologischem Gehalt wird unverwandelt fortbestehen; ein jeglicher wird der Probe sich stellen müssen, ins Säkulare, Profane einzuwandern.“50 Zu deuteln gibt es hieran insofern nichts, als dass weder die Theologie, noch erst recht die Philosophie in ihren Versuchen der Rehabilitierung von
Religion so tun können, als wäre eine Rückkehr hinter die metaphysikkritische
Abkehr von „ewig unabänderliche(n) Seinsbestände(n) einer philosophia oder religio
perennis“51, die uns Orientierung für unsere vorfindliche Wirklichkeit böten, möglich. Wenn wir aber einmal den Versuch unternehmen, unter Rückgriff auf die
beiden ersten Wege einer Wiederkehr des Religiösen und unter Vorgriff auf in den
Kapiteln 1-1 und 1-2 zu erläuternde Hinweise, jene von Adorno insinuierte
45
Ebd.
46
Ebd., S. 60.
47
Habermas (2001b), S. 25.
48
Ebd., S. 28.
49
Ebd., S. 27. - Alle genannten Namen tauchen auf dieser Seite als Referenzpunkte der eigenen
Auseinandersetzung mit Religion auf.
50
Adorno: Vernunft und Offenbarung (1957), S. 20.
51
Ebd.
Einleitung
27
Verwandlung als Moralisierung und auch Individualisierung des Religiösen zu
verstehen (wofür heute diagnostisch vieles spricht), bleibt doch die Frage, ob mit
einer solchen Verwandlung theologische Gehalte, Religion und Glaube gar nichts
Eigenes mehr zurückbehalten.
Adorno selbst hat ausdrücklich gewarnt vor jeglicher modischer Anverwandlung
möglicherweise gebrauchsfähiger religiöser Gehalte. Wenn er gleichwohl auf den der
Religion ureigenen Wahrheitsgehalt als unverzichtbar pocht, scheint er mir den
Anspruch auf Wahrheit überhaupt bzw. auf Wahrheit in einem kategorialen Sinn zu
meinen. Dieser Anspruch gewinnt kritische Konturen in der Skepsis gegen die
Rationalität einer die Religion nur vordergründig vollständig beerbenden Vernunft:
„Vernunft muß versuchen, die Rationalität selber, anstatt als Absolutes sie sei es zu
setzen, sei es zu verneinen, als ein Moment innerhalb des Ganzen zu bestimmen…“
Das klingt gut dialektisch, doch Adorno weiß, dass die Vernunft ihr absolutheitskritisches Potential nicht völlig aus sich selber schöpfen kann, und darum fährt er
fort, auf die Frage zu antworten, wie die Vernunft „ihres eigenen naturhaften Wesens
innewerden“ könne: „Dies Motiv ist den großen Religionen nicht fremd.“ Eben
dieses Motiv der Relativierung des Absolutheitsanspruchs gilt es von der Religion zu
übernehmen und zu säkularisieren.52
Ich meine, dieses Motiv durchzieht das Denken Adornos wie ein roter Faden. In
seinem frühen Programmaufsatz zur „Aktualität der Philosophie“ von 1931 insistiert
er gerade angesichts der Einsicht in „die prinzipielle Unbeantwortbarkeit der philosophischen Kardinalfragen“53 darauf, die Wahrheitsfrage festzuhalten, nicht als
Frage nach übergeschichtlicher Wahrheit und nicht bloß als Frage nach der Wahrheit
der schlicht zuhandenen Wirklichkeit, sondern als Anspruch des auf sich selbst
zurückgeworfenen Denkens, dem die Aufgabe verbleibt, „die intentionslose Wirklichkeit zu deuten“ durch Eindringen in die Totalität des Seienden, um „im kleinen
die Maße des bloß Seienden zu sprengen.“54
Nur in begrifflich geklärterer, nicht aber in gewendeter Form verpflichtet Adorno
auch in der „Negativen Dialektik“ die Philosophie auf ein Denken, das „solidarisch
mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes“ ist, so der letzte Satz.55 Fast peinlich
genau vermeidet es Adorno, diese Frage Wahrheitsfrage zu nennen. Doch gegen
szientistische Verkürzungen wie natürlich gegen Totalitätsansprüche, aber auch
gegen die Anfeindung zu purer Verzweiflung kann das Denken nicht abdanken und
sucht so nach metaphysischer Erfahrung. „Daß es der Philosophie doch möglich sei,
52
Ebd., S. 23.
53
Adorno (1931), S. 331.
54
Ebd., S. 335, 344.
55
Adorno: Negative Dialektik (1961), S. 398.
28
Einleitung
daß der Begriff den Begriff, das Zurüstende und Abschneidende übersteigen und
dadurch ans Begriffslose heranreichen könne, ist der Philosophie unabdingbar.“56
Und obwohl aller Positivität und insofern auch aller Religiösität aus prinzipiellen
Gründen abhold, kann Adorno dann doch den Satz aussprechen: „Kein Licht ist auf
den Menschen und Dingen, in dem nicht Transzendenz widerschiene.“57
Das ist ernst zu nehmen. Und ich denke darum nicht, dass es, wie Habermas unterstellt58, eine rein „methodische Absicht“ wäre, aus der heraus sich Adorno im
berühmten Schluss-Abschnitt der „Minima Moralia“ „des messianischen Standpunktes versichert“. Gewiss ist es ganz unmöglich, den Ort einzunehmen, von dem
aus die Dinge so zu betrachten wären, „wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus
sich darstellen.“59 Und doch ist ein solcher Standpunkt der, der „einzig noch zu
verantworten ist.“ Mit dieser Einsicht erscheint zwar jede Bemühung, die Wirklichkeit von Erlösung positiv zu füllen als „fast gleichgültig“, aber eben nur „fast“:
Zumindest ihre „Perspektiven“, so Adorno, muss das Denken sich zu eigen machen,
will es sich nicht erschöpfen in bloßer Nachkonstruktion und stückhafter Technik.
Das beinhaltet aber, jene Perspektive der Erlösung und der Transzendenz als Licht
auf Menschen und Dingen auch je neu herauszustellen.
1.4
Konsequenzen für die Frage nach religiöser Bildung
Wie Habermas in seiner Rede mit Recht erinnert, birgt ein Rückbezug der Philosophie auf Religion Gefahren, auch wenn man sich vielleicht nicht gleich auf
„vermintes Gebiet“ (28) begibt. Von den drei kurz erläuterten Wegen wie auch der
zuletzt skizzierten Dimension bei Adorno lässt sich mithin lernen, wenn man sich, so
mein Vorhaben, heute für eine philosophisch begründete Didaktik des Religiösen
einsetzt.
Eine quasi fundamentalistische Wendung zu einem längst verlorenengegangenen
Zugang zu Religion scheidet als Leitweg ohnehin aus. So ist eine Rückkehr zur
Koalition zwischen antiker Metaphysik und Religion ebenso wenig möglich wie eine
unreflektierte Wiederbelebung mittelalterlicher und frühneuzeitlicher natürlicher
Theologie. Aber auch die drei skizzierten nach vorn gewandten Wege bergen
Gefahren, erweisen sich letztlich gar als Irrwege, vielleicht weil auch bestimmte
56
Ebd., S. 19.
57
Ebd., S. 394.
58
Habermas (2001b), S. 27.
59
Adorno: Minima Moralia (1951), Nr. 153 “Zum Ende”.
Einleitung
29
damit bezeichnete historische Positionen noch nicht ganz überwunden sind und sich
neu Gehör zu verschaffen scheinen:
(1)
Der erste Weg tendiert erkennbar zu einer Ersetzung des Religiösen durch
das Moralische und einer entsprechenden Moralisierung des Religiösen. In
unguter Weise Geltung erlangt hat solch eine Position im Laufe der
Geschichte immer wieder in manchen Facetten politischer Theologie60,
zumindest sehr problematisch geworden ist sie in den Versuchen einer Zivilreligion Rousseauschen oder Durkheimschen Zuschnitts.
(2)
Der zweite Weg tendiert umgekehrt ganz zu einer Ästhetisierung des
Religiösen. Wenn Religion ihren Ort nur noch im individuellen Empfinden
des Einzelnen hat, verflüchtigt sie sich tendenziell zu einer bloßen Frage des
Lebensstils. Nicht die Moral, sondern der Kultus gewinnt dann Überhand im
Ausdruck des Religiösen. Viele Formen postmoderner Religiosität erinnern
an diesen Typos, der nicht von ungefähr bei Figuren wie Nietzsche oder
Wagner, der explizit für eine Ersetzung des Religiösen durch die Kunst
eintrat, Leitmotive entlehnt.
(3)
Und auch die dritte Position birgt Gefahren, nämlich in einer durch die
Koppelung des Religiösen an die Wahrheitsfrage fast unumgänglichen
Koalition mit den Denkformen der vom Glauben ungeliebten Metaphysik.
Das eigentümlich Religiöse gerät dabei tendenziell so sehr in den Sog der
philosophischen Vernunft, dass es von ihr vereinnahmt und in ihrem innersten Anspruch ausgehöhlt werden könnte, was der Philosophie insbesondere
Hegelscher Couleur immer wieder vorgeworfen wird.
Dieser Gefahren sind sich die unterschiedlichen Skizzen zu einer philosophisch
begründeten Didaktik des Religiösen, wie ich sie in der vorliegenden Arbeit vorlege,
durchaus bewusst. Zuweilen werden sie darum explizit thematisiert und zurückgewiesen. Das gilt insbesondere für die Möglichkeit, das Religiöse als moralisches
Erbe wiederzubeleben und so zu moralisieren. So weist das Kapitel 4-4 jeden
Versuch ab, im Bereich ethischer Bildung auf eine jenseitige, menschlicher Entscheidung vorgeordnete Moral als Orientierungsinstanz zu setzen und den Religionsunterricht als Instanz der Vermittlung moralischer Werte zu instrumentalisieren. Das
ist natürlich auch für den Philosophie- und Ethik-Unterricht abzulehnen (vgl. dazu
Kapitel 1-2). Damit ist auch das vorderhand verführerische, da in Zeiten eines
60
Dieser Ausdruck ist hier in dem traditionellen Sinne von Politischer Theologie gemeint, also in
dem Sinne einer religiösen Aufladung bzw. Legitimation des Politischen, nicht im Sinne der
letztlich politik-kritischen Bewegung einer politisch sich verstehenden Theologie der Befreiung
wie etwa von Moltmann, Metz oder Boff.
30
Einleitung
freundlich-toleranten Pluralismus attraktiv erscheinende Konzept vom Tisch,
Religions- und Ethik-Unterricht in einem Fächerverbund unter das Rahmenthema
„Wertevermittlung“ zu vereinen. Das (theologisch gesehen) In-Anspruch-Nehmende
bzw. die (philosophisch gesehen) unverzichtbare Frage nach Wahrheit wären damit
einer Erziehung zu einer moral correctness geopfert.
Formen der Individualisierung des Religiösen werden angesprochen in einigen
Bemerkungen im Kapitel 1-1, als kritische Folie, auf der nachfolgend ein tragfähiger
Begriff von Religion erarbeitet wird. Wenn im Verlauf weiterer Kapitel gleichwohl
immer wieder für eine erfahrungsorientierte Didaktik plädiert wird, geschieht dies
nicht aus modischen Anfällen, sondern im Wissen um die Gefahr der Verflüchtigung
des Religiösen ins sog. subjektive Interesse. Die Verortung des Religiösen in der
Erfahrung des je einzelnen ist, wie im anschließenden Abschnitt zu zeigen ist, daher
auf reflektiertem Niveau zu lesen, ebenso wie die wiederholten Anregungen zu
präsentativen, das Affektive betonende Unterrichtsformen nicht eine Angleichung an
den modischen Trend zur Ästhetisierung ist.
Wenn ich freilich ausdrücklich für eine propädeutisch sich verstehende Didaktik
des Religiösen eintrete (so mit Erläuterungen in den Kapitel 1-4 sowie 5-4), schließe
ich mich scheinbar dem dritten Weg an, dem Verständnis von Religion in protoreligiöser Dimension. Den aufmerksamen Lesern wird nicht entgehen, dass dies
jedoch in anderer Absicht erfolgt, nicht, um Religion auf das Protoreligiöse zu
reduzieren, sondern um in Konzentration auf das wesentlich Religiöse gerade Wege
zu öffnen bzw. bewusst zu machen für eine konfessionell geprägte Gestaltung des
Religiösen. Darum ist auch die Gefahr des dritten Weges in den nachfolgenden
Überlegungen präsent.
Fast wie ein Kommentar zu diesen Wegen liest sich der letzte Abschnitt von
Adornos Aufsatz „Vernunft und Offenbarung“: Eine erste „schlechte Alternative“
wäre eine mit dem Offenbarungsanspruch von Religion nicht vereinbare Anpassung
an die „veränderten Zeitläufe“; eben das nimmt Gestalt an im Versuch der Moralisierung des Religiösen. Die zweite wäre die Konfrontation mit unerfüllbaren Forderungen, die aber abstrakt bleiben gegenüber konkreter Wirklichkeit; das wäre eine an
metaphysischer Gestalt hängende Religion. Und die „schlechterdings von allen jenen
konkreten, gesellschaftlich-historisch vermittelten Bestimmungen“ absehende
Wendung zur unmittelbaren Nähe zur Offenbarung karikiert Adorno als Verklärung
der religiösen Kategorie, entlarvt er als „Trick des eingesperrten Bewußtseins“ – die
unbestimmte und daher belanglose Verflüchtigung ins Individuelle. Diesen Wegen
gegenüber beharrt Adorno auf „äußerste(r) Askese jeglichem Offenbarungsglauben
gegenüber, äußerste(r) Treue zum Bilderverbot“.61
61
Adorno (1957), S. 28.
Einleitung
31
Auch wenn ich diesem Ausweg einer negativen Theologie bzw. negativen Religionsphilosophie mit besonderer Sympathie begegne, warnt Adornos Einlassung vor
vorschneller Vereinnahmung etwa des Symbolischen und Chiffrenförmigen im
Religiösen zu didaktischen Zwecken. Wenn ich gleichwohl mehrfach (vor allem in
den Kapiteln 2-2 und 4-3) für die Arbeit mit religiöser, die Wirklichkeit nicht
schlicht widerspiegelnder, sondern sie kritisch durchleuchtender Sprache plädiere, so
sollten die dort herausgestellten Abstraktionsleistungen stets auch als Möglichkeiten
und Chancen zur Erhellung von Existenz führen, also öffnen und nicht verschließen.
Das gilt auch für die geschichtsphilosophischen Andeutungen im Kapitel 4-5 sowie
die Betonung der letztlichen Uneinholbarkeit religiöser Sprache im Kapitel 2-2.
Theologisch artikuliert sich darin der Gedanke des eschatologischen Vorbehalts, der
gegen jede Hypertrophie religiöser Bildung einzubringen ist, philosophisch das
Gespür für die Grenze des Denkens gegenüber der Unvordenklichkeit des Glaubensaktes, den es zwar zu vernehmen und zu begreifen gilt, der aber letztlich einen
Überschuss gegen jeden Versuch einer rationalen Erschließung zurückbehält.
32
Einleitung
2
Religion zur Erfahrung bringen: Zur Perspektive der Arbeit
2.1
Zur Vorgeschichte
Im Winter 1999 wurde ich gebeten, einen längeren Beitrag zur Rolle der Religion in
der Hochschullehre zu verfassen. Dabei hatte ich, parallel zu anderen an Hochschulen und Universitäten gelehrten Fächern, die Sicht der Philosophie auf Religion
zu reflektieren. Dieser Beitrag stellt den Grundstock der vorliegenden Arbeit dar.62
Er gab mir Gelegenheit, konzentriert elementare Einsichten aus meiner langjährigen
religionspädagogischen Tätigkeit in Unterricht und Fortbildung zusammenzubinden
und zugleich positionell in der eigenen Auffassung von Philosophie festzumachen.
Der ursprüngliche Titel für diesen Beitrag lautete „Religion zur Erfahrung
bringen“.63 Damit verband ich die Ansicht, dass religiöses Lernen wesentlich Erfahrungslernen sein müsse. Diese Ansicht gründete sich nicht nur auf theologische
Prämissen, nämlich eine anthropologisch dimensionierte Theologie, sowie daraus
abgeleitete religionspädagogische Optionen, die ich in meiner vieljährigen religionsunterrichtlichen Tätigkeit geteilt habe.64 Auch in philosophiedidaktischer Perspektive
lag mir daran, jegliches Missverständnis einer auf Kenntnisnahme von Fakten reduzierten Didaktik des Religiösen zu vermeiden und das Religiöse als eine originäre
Dimension menschlicher Erfahrung ernst zu nehmen, bewusst um den Preis einer
zumindest in ethikdidaktischen Kreisen ungewöhnlichen Position.
Ich habe den Titel dieses Beitrags dann gleichwohl geändert zu „Religion zur
Sprache bringen“, weil sich dies einerseits allgemeiner und zugleich spezifischer
verstehen lässt, vor allem aber, weil so stärker die notwendige philosophische
Distanz zum Gegenstand zum Ausdruck zu bringen ist. - Notwendig erscheint mir
aus philosophischer Sicht zunächst eine Distanz zum Thema „Religion“, weil Philo62
Petermann: Religion zur Sprache bringen. Lehraufgaben im Bereich Religion aus philosophiedidaktischer Perspektive. In: D.Fauth / U. Bubenheimer (Hg.): Hochschullehre und Religion.
Perspektiven unterschiedlicher Fachdisziplinen. Würzburg: Religion&Kultur 2000, S. 17-69.
63
Unter diesem Titel ist mein Beitrag (fälschlich) auch noch im Inhaltsverzeichnis des o.a. Buchs
aufgeführt.
64
Vorweg ist in jedem Falle zu verweisen auf die grundlegende Arbeit von Jürgen Werbick:
Glaubenlernen aus Erfahrung. München: Kösel 1989. Wie der Untertitel dieser Arbeit verdeutlicht
(„Grundbegriffe einer Didaktik des Religiösen“) steht auch für Werbick die didaktische
Perspektive elementar mit im Horizont der Erfahrungskategorie. Eigentümlich ist es jedoch, dass
der Begriff „Erfahrung“ in einschlägigen theologischen und religionspädagogischen Werken
ansonsten keine herausragende Rolle spielt.
Einleitung
33
sophie sich auf viele ihrer Gegenstände zwar sympathetisch einlassen kann, aber dies
nie ohne die Haltung der Reflexion tun darf, die stets auch kritisch-differenzierend
infrage zu stellen in der Lage ist, was das eigentlich ist, was ich gerade tue, und was
überhaupt jener Gegenstand ist, auf den ich mich einlasse. Der Titel „zur Erfahrung
bringen“ könnte demgegenüber verdächtigt werden, vorschnell bereits die Position
des Religiösen eingenommen zu haben, als ob der Gegenstand der Auseinandersetzung als selbstverständlich bereits vorausgesetzt wäre und nur noch die Form der
Aneignung zur Debatte stünde. Die Betonung der Sprache lässt stattdessen jene
reflexive Haltung stärker zur Geltung kommen, da Sprache das in ihr zur Sprache
Kommende oder Gebrachte stets schon vermittelt darstellt, also durch die Reflexion
hindurchgegangen, insofern Sprache aber eigentlich selbst den Gegenstand der
Reflexion darstellt. Das zur Sprache Gebrachte lässt sich zudem durch die Sprache
selbst immer wieder der kritischen Prüfung unterziehen. Über die Sprache wird
mithin eine gegenüber der Erfahrung, aus philosophischer Sicht hilfreich, stärker
relativ-kritische Haltung eingenommen.
Religion zur Sprache zu bringen, ist andererseits auch ein sehr viel gezielterer
konzentrierterer und, zumindest aus philosophischer Sicht, sachangemessenerer
Zugang zu Religion. Wenn wir einmal davon ausgehen, dass Denken, wenn es philosophischen, das heißt zu kritischer Auseinandersetzung führenden Ansprüchen
genügen will, stets auch sich äußern muss, richtet sich philosophisches Interesse an
irgendeinem Gegenstand, so auch an der Religion, in erster Linie darauf, was in
sprachlicher Gestalt vorliegt und in welcher Form sich dies wiederum zur Sprache
bringen lässt.
Durch die Konzentration auf die Sprache kann schließlich auch der Bereich des
religiösen Gefühls, das ja gerade, wenn es nicht geäußert wird, sich jeder Beurteilung
von außen zu entziehen droht, aus dem Raum des Esoterischen herausgeholt und,
sofern es sprachlich geäußert wird, erschließend zum Gegenstand philosophischer
Deutung gemacht werden.
Diese kritisch-reflexive Haltung gebe ich mit der vorliegenden Arbeit keineswegs
auf. Auch aus theologischer Position, die ich hier bewusst teile, muss der Religionsunterricht, auch der konfessionelle Religionsunterricht – das wird im Verlauf der
Arbeit genauer zu begründen sein – jene intellektuelle Distanz wahren, die mich
seinerzeit bewogen hat, die philosophische Reflexion auf das Religiöse als notwendiges Element von Religionsunterricht zu behaupten, will der Religionsunterricht
nicht sein eigentümliches Profil eines im öffentlichen Schulsystem verankerten
allgemeinen Bildungsanspruchs verlieren.
Gleichwohl erscheint mir aus der in der vorliegenden Arbeit einzunehmenden
religionspädagogischen Perspektive der Titel „zur Erfahrung bringen“ der eher
34
Einleitung
geeignete, wenn denn die Kategorie der Erfahrung in einem differenzierten kritischen
Sinne verstanden wird.
2.2
Differenzierungen in der Kategorie der Erfahrung
Nun ist es nicht Ziel der vorliegende Arbeit, den Begriff der Erfahrung selbst
systematisch auszuloten und einer differenzierten Analyse zu unterziehen. Und doch
dient er als heuristischer Rahmen- oder Leitbegriff. Darum soll zumindest skizzenhaft angedeutet werden, wie ich den Begriff „Erfahrung“ verstehe, um die Sichtweise
der Arbeit zu klären wie auch um Missverständnisse auszuschalten.
Die Kategorie der Erfahrung ist für mich in fünffacher Hinsicht von Bedeutung:
(1) als Ebene von Unmittelbarkeit, (2) als Ebene sinnlicher Zugänge, (3) als Ebene
von Subjektivität, (4) als Ebene von Prozessualität, (5) als Ebene von Tiefe. Die
Ebenen gilt es mit Verweisen auf einschlägige philosophische Quellentexte kurz zu
erläutern. Zugleich sind Hinweise zu geben, wo und wie unter der Perspektive von
Erfahrung das in den einzelnen Kapiteln Thematisierte zu lesen ist. Insofern geht es
nachfolgend um die perspektivische Klammer der Arbeit, in Ergänzung zur
systematischen, die für den Punkt (1) der Einleitung tragend war.
ad (1) Erfahrung als Unmittelbarkeit – die propädeutische Zielsetzung
Wenn wir auf einer ersten, noch völlig undifferenzierten, ganz und gar unmittelbaren
Weise auf etwas aufmerksam werden, und wenn wir dies in einen angemessenen
Ausdruck fassen sollten, könnte uns mit gutem Grund der Ausdruck einfallen „ich
habe eine Erfahrung gemacht“ oder „ich habe etwas erfahren“. Eine Grundlage hätte
eine solche Verwendung des Wortes „Erfahrung“ in Berufung auf John Locke. In
den berühmten Anfangspassagen des zweiten Buchs seines „Essay concerning
Human Understanding“ von 1690 geht er davon aus, dass wir Menschen, genauer
unser Bewusstsein anfänglich wie ein weißes Blatt Papier aufzufassen seien. Und auf
die scheinbar simple Frage, woher wir dann all den Stoff erhielten, den unser
Bewusstsein, unser Denken und Erkennen ständig bewegt, hat Locke eine ebenso
simple Antwort bereit: „in one word, from experience“, also aus der Erfahrung.65
Erfahrung gilt hier in einer sehr weiten Bedeutung, und eben dies meint
„experience“, als Nährboden und Grundlage, als Erfahrungsraum für alle Verstandes65
Locke: Essay conc. Hum. Underst. (1690), II.1, § 2.
Einleitung
35
vollzüge, alle Erkenntnis, ja alle Bewusstseinstätigkeiten. Um eine solche Bedeutung
von „Erfahrung“ anzuerkennen, müssen wir den weiteren Schritt zum erkenntnistheoretischen Empirismus Lockes, dass es gar keine andere Quelle und keinen
anderen Grund unserer Erkenntnis gebe als die Erfahrung, nicht mitmachen.66 In
einer weiten Bedeutung von Erfahrung als erster und grundlegender Ebene, in der
irgendetwas „unsere Sinne rühren und … Vorstellungen bewirken“ kann, meint auch
Kant fast programmatisch zu Beginn der Einleitung seiner „Kritik der reinen
Vernunft“: „Dass alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar
kein Zweifel.“67
Eben dieser ersten und grundlegenden Ebene der Begegnung mit Etwas gilt mein
erstes durch den Begriff der Erfahrung angezeigte Interesse. Wenn in der vorliegenden Arbeit thematisiert werden soll, dass und wie Religion „zur Erfahrung“ gebracht
werde, könnte man zunächst auch davon reden, Religion sei „in“ Erfahrung zu
bringen. So würde noch deutlicher, dass es mir auf einer ersten Ebene darauf
ankommt, Religion ohne alle Voraussetzungen, in aller Unmittelbarkeit, also in
einem allen anderen vermittelten Weisen der Auseinandersetzung vorausliegenden
„Rückgang auf die Welt der Erfahrung“ (Husserl)68 zu thematisieren.
In diesem Verständnis von „experience“ ist der Begriff der Erfahrung grundlegender oder eben elementarer als der der Sprache. Das, was mir begegnet, zur Sprache
zu bringen, setzt bereits Auseinandersetzung mit dem Gegenstand der Begegnung
voraus, ein, wie zu zeigen sein wird, notwendiges Element auch jeder Erfahrungskunde, aber doch auch erst auf einer grundlegenden Erfahrung aufbauend, sie voraussetzend und sie auch nie ganz einholend und daher nie ersetzend. Insofern ist der
Zugang zu Religion über Erfahrung elementarer und auch weiter als der über
Sprache.
Religion in dieser Perspektive zum Thema zu machen, hat propädeutischen
Anspruch: Zur Erfahrung gebracht werden soll, was eigentlich Religion ist. Die von
mir im Laufe der Arbeit mehrfach (vgl. insbes. Kap. 1-4 und 5-4) geforderte religiöse
Propädeutik ist daher nicht zu verwechseln mit der Idee, zum Inhalt religiöser
Bildung lediglich einen von aller konfessionellen und historischen gereinigten und
insofern profillosen und unverbindlichen „Kern“ des Religiösen zu machen.69
66
Zur Kritik des Empirismus vgl. das unten am Ende von Punkt (3) kurz erläuterte Kant-Zitat.
67
Kant (1787): Kritik der reinen Vernunft. Einl. B 1.
68
Husserl (1938): Erfahrung und Urteil § 10.
69
Mehr oder weniger explizit wird mit diesem Argument im Bischofspapier zum Religionsunterricht
(Die Deutschen Bischöfe 1996) ohne weitere Erläuterung der propädeutische Anspruch von
Religionsunterricht vom Tisch gefegt.
36
Einleitung
Vielmehr geht es darum, zu elementarisieren und gerade das Eigentümliche des
Religiösen erfahrbar zu machen.
Interessant ist es von daher, ohne einen Vorbegriff irgendwie religiös zu
verstehende Phänomene in den Blick zu nehmen, nicht nur um in ihrer Kritik das
eigentümlich Religiöse herauszufiltern, sondern auch um ungewohnte Räume wahrzunehmen, in denen sich religiöse Erfahrung heute artikuliert. Das Kapitel 1-1 bietet
dazu einige Hinweise. Eine ungewohnte, ganz in elementaren Erfahrungen zu verortende Begegnung mit dem Religiösen wird auch im Kapitel 4-1 zu Bilderbüchern
entfaltet, insbesondere im ersten Teil. Und die Konzentration auf Elementares wird
auch in der Auseinandersetzung mit Halbfas in den Kapiteln 5-2 und 5-3 als die
Pointe herausgestellt. Das thematische Stichwort „Einwurzelung“ deutet dies an.
ad (2) Erfahrung als Ebene des Sinnlichen - zur präsentativen Zielsetzung
Die Frage nach der unmittelbarsten Ebene von Wissen, Erkenntnis oder einfach
Begegnung mit irgendetwas kann auch anders beantwortet werden. Wenn ich
weniger nach Erfahrung überhaupt frage als einem noch undifferenzierten
Erfahrungsraum, sondern danach, wie hier Erfahrung zu unserem Bewusstsein
gelangt, verweist Locke auf etwas anderes, nämlich auf „unsere Sinne (senses),
indem sie mit einzelnen sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen in Berührung
treten.“70 - Aus dem gleichen Grund antwortet Hegel in seiner „Phänomenologie“ auf
die Frage nach dem „Wissen, welches zuerst oder unmittelbar unser Gegenstand ist“,
dies müsse eines sein, welches seinerseits ganz „Wissen des Unmittelbaren oder
Seienden ist“ und eines, demgegenüber auch wir „uns ebenso unmittelbar und aufnehmend … verhalten“. Und das ist für Hegel die sinnliche Gewissheit; denn „der
konkrete Inhalt der sinnlichen Gewißheit läßt sie unmittelbar als die reichste
Erkenntnis … erscheinen.“71
Hier interessiert nicht weiter die herbe Kritik, mit der Hegel die sinnliche Gewissheit als die zugleich „abstrakteste und ärmste Wahrheit“ herausarbeitet.72 Vielmehr
geht es um die Aufmerksamkeit für das auch von Hegel letztlich nicht bestrittene
erkenntnistheoretische Prinzip des Vorrangs der Sinnlichkeit vor dem Intellekt.73 Mit
ihm beginnt bereits Aristoteles das erste Buch seiner „Metaphysik“: Wenn „alle
70
Locke (1690), II.1, § 3.
71
Hegel (1807), S. 82.
72
Ebd.
73
So Thomas unter Bezug auf Aristoteles: „quod est in intellectu nostro prius in sensu fuerit“
(Qu.disp.de Veritate II,3,19).
Einleitung
37
Menschen von Natur aus nach Wissen streben“, dann gilt als ein erstes „deutliches
Zeichen dafür die Hochschätzung der Sinneswahrnehmungen.“74 Die Ebene der
sinnlichen Wahrnehmung also assoziieren wir nicht zu Unrecht, wenn wir das Wort
„Erfahrung“ hören und genauer fragen, wie zuerst wir etwas erfahren.
In Bezug auf die Religion interessiert mich diese Ebene insofern, als sie die Gefahr
einer Reduktion auf das Intellektuelle, Reflektierende, Logische vermeidet, die die
Perspektive, Religion zur Sprache zu bringen, nahe legen könnte. Demgegenüber ist
ein mit Sinnlichkeit konnotierter Erfahrungsbegriff, Erfahrung verstanden als
Sensualität, weiter und realisiert, dass es eine ganze Reihe auch nichtsprachlicher
oder vorsprachlicher Zugänge (jedenfalls im Sinne von Sprache als logischem
System) zum Phänomen des Religiösen gibt, die das Religiöse originär zur Erfahrung
zu bringen in der Lage sind, insbesondere symbolhafte Zeichen und Handlungen und
natürlich Bilder. Ihnen gilt in der vorliegenden Arbeit ein besonderes Interesse.
Auch die Sprache selbst, die zweifelsohne in der Religion eine besondere und
elementare Bedeutung hat, hat im übrigen in all ihren Formen, im unmittelbaren
Anruf, im verdichtenden Weitererzählen oder im gebetsartigen Bekenntnis immer
auch sinnlichen Charakter, nicht allein aufgrund der vielen Bilder. Religion zur
Erfahrung zu bringen, das klammert mithin die Konzentration auf Sprache
keineswegs aus, sondern berücksichtigt das besondere Gewicht gerade ihres
religiösen Verwendungskontextes.
Die Arbeit mit ästhetischen, affektiven und auch handlungsorientierten Zugängen
ist für die Religionsdidaktik nichts Neues. Neuere philosophiedidaktische Überlegungen zu Möglichkeiten einer im Unterschied zu einem eher kognitiv-intellektuell
gearteten, diskursiven Zugang „präsentativ“ zu nennenden Entfaltung eines Themas
können aber auch hier neue Akzente setzen. Sie berufen sich auf den Ansatz von
Ernst Cassirer, der in den letzten Jahren eine kleine Renaissance erfahren konnte.75
Cassirer hat überzeugend deutlich gemacht, dass Bilder zunächst keinen gegenüber
der Logik oder der Naturwissenschaft geringeren Status der Wirklichkeitsbeschreibung haben, denn auch jene sind wie diese symbolische Formen der Auseinandersetzung mit Wirklichkeit, also nie ein direktes, gleichsam unvermitteltes Abbild von
dem, was ist, sondern ein in bestimmten Zeichen und Chiffren sich artikulierender
Versuch, das, was ist, in eine uns fassbare, nämlich verdichtete (d.i. die Übersetzung
des griechischen Worts „symbolische“) Form zu bringen. Gegenüber anderen symbolischen Formen besteht der eigentümliche Wert von Bildern (und auch mythischen
Erzählungen) darin, Wirklichkeit auf einmal und als Ganze, integral und nicht diffe74
Aristoteles: Metaphysik 980a.
75
Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. 1929. Zu der neueren Rezeption in der
Philosophiedidaktik vgl. Langer (1984), S. Nordhofen (1998), Petermann (2000a).
38
Einleitung
renziert, öffnend und nicht definierend, eben präsentativ in unmittelbar gestalthaften
Eindrücken und nicht diskursiv in zerlegender Form zum Ausdruck zu bringen.
Geschriebenes setzt stets eine Abstraktion von unmittelbarer Wirklichkeit voraus.
Das gilt auch für das, was „lediglich“ ins Bild gesetzt wird. Die Abstraktionsleistung
des Bildes bietet aber, da sie unmittelbar das Ganze ihres Sinns und nicht nur Teile
ihrer Bedeutung präsentiert und insofern ihren lebendigen Ursprung unmittelbar
vergegenwärtigt, eine Folie, in der Betrachtung Erinnerungen zu verlebendigen,
Phantasien für neue Lebensperspektiven aufzubieten und damit Gegenwärtiges einer
aufbrechenden Dynamik zu unterwerfen. Ein Bild behält deswegen auch stets einen
Überschuss gegen seine Deutung zurück. Für Sprache gilt das, sofern sie in der Lyrik
offen, in der Poetik mehr oder weniger einleuchtend, mit Sprachbildern arbeitet.
Das Interesse an sinnlicher Erfahrung ist also nicht eines an der Armut größter
Unmittelbarkeit, sondern am Reichtum des noch nicht Vermittelten, wenn er denn als
Reichtum zur Erfahrung zu kommen vermag, also als Verdichtung von Erfahrungen,
die in der präsentativen Gestalt von Bildern vielleicht unmittelbarer zu erfahren sind
als über die abstraktere Sprache.
Im Horizont dieser Überlegungen zu einer als Sensualität oder auch Ästhetik
verstandenen Erfahrung stelle ich in dieser Arbeit einige unterschiedliche Modelle
vor. So wird beispielsweise in den Kapiteln 4-2 und 4-5 mit einem Bild als Impuls
gearbeitet. Entscheidend ist dabei, dass es sich nicht um solche Impulse handelt, die
im weiteren Unterrichtsverlauf keine Rolle mehr spielen; vielmehr tragen sie infolge
der Dichte des in ihnen Repräsentierten weiter, weil auch weitere Schattierungen des
Themas mit ihnen sich zur Sprache bringen lassen. Dieser Gedanke prägt natürlich
auch das spezielle Kapitel 4-1 zu Bilderbüchern. Präsentativ lässt sich freilich nicht
nur mit Bildern arbeiten. Dass auch Texte sich über einen ästhetischen Zugang
erschließen lassen, wird in Kapitel 4-3 erläutert.
ad (3) Erfahrung als Ebene des Subjektiven - die autodidaktische Zielsetzung
Mit der Ebene des Subjektiven sind wir vielleicht nicht bei der entscheidenden, aber
bei der sensibelsten Dimension im Begriff der Erfahrung angelangt. Um gleich
vorweg zwei Missverständnisse abzuwehren: Mit der Betonung der Erfahrung geht
es weder darum, das Religiöse in subjektive Erfahrung aufzulösen, noch geht es
darum, Religiosität der subjektiven Erfahrung irgendwie beizubringen. Beide Missverständnisse arbeiten, wie im Folgepunkt kurz zu zeigen sein wird, mit einem
unreflektierten Erfahrungsbegriff. In der Betonung des Subjektiven geht es vielmehr
um die Verortung dessen, was es zu erfahren gilt, also der Religion, in der subjek-
Einleitung
39
tiven und je persönlichen Erfahrung als einer notwendigen und unverzichtbaren
Voraussetzung, soll es überhaupt Sinn machen, Religion zur Erfahrung zu bringen.
Eine solche Verortung der Erfahrung im Subjektiven findet ihre philosophische
Begründung wiederum bei Aristoteles.76 Mit „Erfahrung“ ist nämlich zumindest bei
Aristoteles auch eine besondere Stufe und Ebene im allgemeinen Raum der
Erfahrung bzw. des Wissens gemeint, und es ist nicht die erste und grundlegende.
Die ist die sinnliche Wahrnehmung (s.o.). Liefert diese bereits Unterscheidungen,
gelingt es der sog. Erinnerung, einfachste Kenntnisse auch zu lernen und sie verständig einzuordnen. Als spezifisch menschliches Merkmal des Wissens macht
Aristoteles dann als dritte Stufe die Erfahrung, die empeiria aus. Sie entsteht freilich
erst, meint Aristoteles; und zwar entsteht sie aus vielen Erinnerungen, die das
Vermögen (dynamis) einer einzigen Erfahrung bewirken. Das liefert uns den
entscheidenden Hinweis für den Charakter von Empeiria: Erfahrung als Empeiria ist
ein synthetisches, vereinigendes Vermögen. Die Einheitsleistung entsteht zwar, wie
Aristoteles meint, aus dem Vielen, doch das Vermögen zur Einheit, also die
Einheitsleistung selbst, kann nur im Subjekt der Erfahrung, dem erfahrenden Mensch
liegen. Denn wenn auch die Einheitsleistung der Erfahrung nicht die Qualität von
Allgemeinheit erlangt (das ist erst der technê möglich), so doch das Wissen des
Einzelnen nach seiner Besonderheit. Das aber setzt die bewusste Besonderung des
Gegenstands der Erfahrung als eben dieses von anderen unterschiedenen Einzelnen
voraus. Und darum entsteht durch die Erfahrung ihr Gegenstand gewissermaßen als
ein neuer, wie Hegel meint. Für Hegel ist die Erfahrung nicht schlichte Wahrnehmung oder Rezeption, sondern die Durchdringung des Wahrgenommenen, wir
können sagen „Perzeption“, in Hegels eigener Begrifflichkeit „diese dialektische
Bewegung, welche das Bewusstsein [Hervorh. H.B.P.] an ihm selbst, sowohl an
seinem Wissen als an seinem Gegenstand ausübt“, und aus welcher „insofern ihm
der neue wahre Gegenstand daraus entspringt.“77 Vereinfacht gesagt: Erfahrung ist
das, was ich aus dem Erfahrenen für mich zur Erfahrung gemacht habe. Ganz so ist
auch die Pointe von Kants Erkenntnistheorie zu verstehen, die wir vorhin nur
vorläufig zitiert haben; Kant fährt nämlich fort (mit einigen erläuternden
Kommentaren meinerseits): „Wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis mit der
Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung [E.
hier im Sinne des unter (a) beschriebenen allgemeinen Erfahrungsraums, also als
experience]. Denn es könnte wohl sein, daß selbst unsere Erfahrungserkenntnis [mit
diesem Kunstwort ist eben die jetzt thematische Erfahrung als subjektive, die
empeiria, gemeint] ein Zusammengesetztes aus dem sei, was wir durch Eindrücke
76
Im folgenden sind die entscheidenden begrifflichen Qualifikationen genannt, die Aristoteles
vornimmt in Metaphysik 980b und 981a.
77
Hegel: Phänomenologie (1807), S. 78.
40
Einleitung
empfangen, und dem, was unser eigenes Erkenntnisvermögen … aus sich selbst
hergibt.“78 Diese Zusammensetzung aber kommt nicht einfach zustande, sondern
wird von Kant im weiteren Verlauf als synthetische Leistung des erfahrenden
Subjekts herausgearbeitet.
Unter Voraussetzung dieser begrifflichen Differenzierung ist dann verständlicher,
um was es geht, wenn Religion zur Erfahrung gebracht werden soll: Damit Religion
zur Erfahrung werden kann, muss ich selbst, der ich mich durch eine religiöse
Erfahrung angesprochen fühle, diese Erfahrung zu meiner machen. Das heißt noch
nicht, dass dies zu existentiellen, mein Leben bestimmenden Konsequenzen führt;
aber es heißt, dass dies nur möglich ist, wenn ich selbst nicht nur angesprochen bin,
sondern auch mich angesprochen fühle und überhaupt dann erst mich damit auch
auseinandersetzen kann.
Dass die Einbindung des subjektiven Interesses eine notwendige Bedingung ist,
damit Religion tragfähig vermittelt werden kann, gehört (inzwischen) zu religionspädagogischen Selbstverständlichkeiten.79 In den Kapiteln 1-3 und 2-1 erfährt dies
im Kontext der vorliegenden Arbeit eine auch theoretische Begründung, insofern die
fides qua und nicht die fides quae als eigentlicher und wesentlicher Gegenstand
religiöser Bildung herausgestellt wird. Konkrete unterrichtliche Anwendung erfährt
dies in der Skizze 4-2, die von einer existentiellen Erfahrung ausgehend Religiosität
als elementare Dimension von Menschsein zu erschließen versucht. In anderer Weise
hebt das Kapitel 4-4 zur Moralerziehung ganz auf den subjektiven Faktor ab als
notwendiger Bedingung gelingender ethischer Bildung.
ad (4) Erfahrung als Prozess der Er-Fahrung - die reflexive Zielsetzung
Eng mit der eben erläuterten Ebene hängt die nächste zusammen. Im Hegel-Zitat war
sie bereits klar ausgesprochen: Erfahrung ist nur Erfahrung, wenn sie eine
„Bewegung“ beinhaltet. In dieser begrifflichen Erläuterung ist festgehalten, was das
Wort „Erfahrung“ auch etymologisch birgt: Es geht um ein Fahren, einen Weg, den
ich gegangen bin, auf dem ich einiges erprobt habe, so dass ich nun erprobt oder
er-fahren bin (das meint auch das griechische „em-peiros“). Erfahrung bestätigt sich
somit als etwas, das aus vielem sich erst zusammensetzt. Der Prozess dieser
78
Kant: Kritik der reinen Vernunft (1787), Einl. B 1.
79
Dass die Einbindung des Subjektiven auch biblisch elementar ist, mag an dieser Stelle nur kurz per
Fußnote erinnert werden. Warum sonst würde Abraham bei der Bindung bzw. Entbindung
Jizchaks jeweils zweimal mit Namen angesprochen (Gen 22,1.11), auch Mose oder Samuel bei
ihrer Berufung Ex 3,4 und 1 Sam 3,10? Und auch der Besessene von Gerasa oder die blutflüssige
Frau werden persönlich von Jesus angesprochen, damit sie Heilung erfahren (Mk 5,9 und 31).
Einleitung
41
Bewegung ist freilich, so jedenfalls Hegel, kein willkürlicher, als ob irgendwelche
Eindrücke irgendwie zusammengesetzt würden, sondern ein ganz bestimmte
Elemente einbeziehender. Im Fortgang der zitierten Passage der „Phänomenologie“
wendet sich Hegel ausdrücklich gegen einen Erfahrungsbegriff, der sich bloß aus der
Aneinanderreihung von unterschiedlichem, vielleicht auch gegensätzlichem zufällig
Aufgefasstem zusammensetzte. Mit der bekannten Differenzierung der Elemente des
Ansich-Seins und des Für-es (=das Bewusstsein)-Seins dieses Ansich erläutert er den
vorhin zitierten Satz, wonach es bei der Erfahrung um eine Bewegung gehe, die das
Bewusstsein „sowohl an seinem Wissen als an seinem Gegenstande ausübt.“ Mithin
bleibt durch diesen Erfahrungsprozess nicht nur der Gegenstand nicht der, der er
unmittelbar zu sein schien, auch das Bewusstsein verändert sich. Um eine solchermaßen komplexe Form von Erfahrung aber geht es auch, wenn davon zu sprechen
ist, Religion werde zur Erfahrung gebracht.
In diesem Lichte stellt sich auch die zuvor erläuterte Ebene des Subjektiven neu
dar. Als absurd sind nun zwei beliebte Einwendungen gegen eine erfahrungsdimensionierte Religionspädagogik zurückzuweisen. Die eine meint, es sei überflüssig, ja häretisch, Religion zur Erfahrung bringen zu wollen; denn stets gehe
einem solchem Ansinnen eine je schon erfolgte religiöse Erfahrung voraus, die allenfalls zur Sprache zu bringen sei, im Bildungsprozess aber nicht erzeugt werden
könne. Dieser Einwand dient nicht selten eher sog. konservativen Kreisen als
Argument zur Beibehaltung des konfessionellen Religionsunterrichts. Um
Erfahrungsprozesse könne und müsse es im Religionsunterricht natürlich gehen, aber
was da zur Erfahrung gebracht würde, sei allenfalls ein Durchsprechen und
Verinnerlichen von etwas, was schon vorhanden sei. Die bildende Kraft des
Religionsunterrichts beschränkt sich dann darauf, Kinder und Jugendliche in
Religion (hin-)einzubilden oder gar einzubinden. Nicht ernst genug genommen wird
von diesem Einwand, dass Erziehung nicht nur in Korrespondenz zum eigenen
Leben zu gestalten ist, sondern sich an ihm auch bricht.80
80
Konkret und explizit scheint mir diese Position eines auf (Hin)Einbildung des Religiösen
reduzierten Religionsunterrichts heute kaum noch vertreten zu werden. Wer allerdings in meiner
Kritik auch eine Kritik an manchen Passagen der bischöflichen Schrift zum Religionsunterricht
(Die deutschen Bischöfe 1996) herausliest, liest richtig: In der Tat meine ich, dass es dieser Schrift
gerade in ihrem ersten bildungstheoretischen Teil nicht wirklich ernst ist mit dem Stichwort
Erfahrung (etwa S. 28 od. 42), vor allem mit einem Satz wie diesem: „Besonders religiöse
Erziehung macht nur Sinn in Korrespondenz zum eigenen Leben des jungen Menschen“ (S. 28).
Ansonsten gäbe es keine Argumente, sich so vehement gegen einen (auch) propädeutischen
Anspruch von Religionsunterricht (S. 18) und vor allem gegen einen von den Kirchen gemeinsam
verantworteten Religionsunterricht (S. 79f.) zur Wehr zu setzen.
Diese Kritik wird, das sollte betont werden, hier nicht in Fixierung auf bestimmte kirchliche
Verlautbarungen geäußert, sondern um auf die Gefahr aufmerksam zu machen, mit Begriffen wie
„Erfahrung“ tendenziell phrasenhaft und insofern verschließend statt öffnend zu arbeiten.
42
Einleitung
Der andere Einwand setzt dagegen bewusst auf Konfrontation gegen einen
(angeblichen) Ausverkauf des Religionsunterrichts durch das sog. „Erfahrungsdogma“. Wer so redet und schreibt, weiß nicht um den Inhalt des so Gesagten und
Geschriebenen, hat ihn zumindest nicht durchdacht. Natürlich muss ein rein an
Schülerinteressen orientierter Religionsunterricht seine Sache verfehlen, weil er sich
in einer Widerspiegelung von ohnehin Vorhandenem verflüchtigen würde. Ein
solcher Unterricht hat aber rein gar nichts mit Erfahrungskunde zu tun, ist es doch,
wie eben erläutert, ein wesentliches Element der Erfahrung, in Bildungsprozesse zu
verwickeln, und das heißt in bezug auf Religion, nicht nur die religiöse Botschaft an
der sog. Erfahrungswelt Jugendlicher zu brechen, sondern auch umgekehrt die
Erfahrungswelt (die ja in Wirklichkeit noch gar nicht zur Erfahrung gekommen ist,
sondern lediglich aufgefasst und wiedergegeben ist) zu brechen an dem in ihr zu
erfahrenen Gegenstand des Religiösen.81
Ich meine, ganz so sind auch die programmatischen Einlassungen zu einem
erfahrungsorientierten Religionsunterricht zu verstehen. So spricht etwa Jürgen
Werbick ganz bewusst von einem Verhältnis von „menschlichen Lern- und
Reifungsprozessen“ auf der einen und Glaubensprozessen auf der anderen Seite, um
das sensible Feld von Glaubenlernen als erfahrungsdimensionierten Lernbewegungen
zu beschreiben.82 Am überzeugendsten ist der Sinn einer erfahrungsdimensionierten
Religionspädagogik nach wie vor in der berühmten Korrelationsformel des sog.
Synodenbeschlusses auf den Begriff gebracht worden: „Der Glaube soll im Kontext
des Lebens vollziehbar, und das Leben soll im Lichte des Glaubens verstehbar
werden.“83 Korrelation ist hier ernst zu nehmen als nicht bloß oberflächlicher Bezug
von Glaube und Leben aufeinander, sondern als eine in einem theologischen
Menschenbild und einem anthropologischen Glaubensverständnis begründete gegenseitige Ausleuchtung, so dass das eine nicht ist, was es ist, ohne Einbindung in das
jeweils andere. Die Worte „vollziehbar“ und „verstehbar“ deuten aber schon darauf
hin, dass dies nicht statisch gedacht werden kann, sondern nur als ständiger Prozess
erfahrbar wird.
Mit dem Stichwort der Erfahrung als Prozess lässt sich sicher auch der religionspädagogische Ansatz von Hubertus Halbfas charakterisieren. In grundsätzlich
81
Auch hier irrt nicht, wer hier eine deutliche Kritik an jüngeren Einlassung von Thomas Ruster
gegen sog. Erfahrungslernen heraus liest. Es reicht eben nicht zu sagen, dass „der Erfahrungshintergrund der Schüler im Unterricht“ ohnehin zur Sprache käme, weil es „ein unvermitteltes
Lernen“ gar nicht gebe (Halbfas/Ruster 2001, S. 27). Der sog. Erfahrungshintergrund ist im
Religionsunterricht nicht irgendein zufälliger, sondern der Horizont junger Menschen, in dem
allein religiöse Erfahrung für den einzelnen wirklich zur Erfahrung werden kann.
82
Werbick: Glaubenlernen aus Erfahrung (1989), S. 29.
83
Synode (1974), Nr. 2.4.2.
Einleitung
43
sympathetischer Haltung sind dem zwei Kapitel meiner Arbeit gewidmet, das Kapitel
5-1 in Konzentration auf die Religionsbuchreihe von Halbfas, das Kapitel 5-2 zur
Auslotung eines entsprechenden bildungsplankonformen unterrichtlichen Einsatzes.
Einen umfassenden Beleg für das Konzept von Erfahrungslernen stellt sicher das
Kapitel 3 dar: Wie Jugendliche und Kinder in theologische Gespräche zu verwickeln
sind und durch diese Gespräche Erfahrungsprozesse machen, das wird hier nicht nur
ausführlich dokumentiert, sondern auch kommentiert. Einen besonderen Hinweis
verdient an dieser Stelle auch das Kapitel 4-3, das das Gebet als einen Weg der
Erfahrung von Religiosität und Glauben verdeutlicht.
Wie oben zur Ebene (4) erläutert, beinhaltet Erfahrung für Aristoteles noch nicht
die Kraft des Allgemeinen. Das setzte ein gegenüber dem Fluss der Erfahrung
intensiveres Vermögen der Reflexion auch auf die Erfahrung voraus. Gleichwohl
beinhaltet Erfahrung zumindest im Horizont von Prozessualität schon mehr als reines
Auffassen; im Prozess der Erfahrung wird vielmehr das zur Erfahrung Gebrachte
auch durchdrungen, also nicht nur rezipiert, sondern auch perzipiert. Dieser Hinweis
ist wichtig für den speziell schulischen Rahmen religiösen Lernens. In einen Prozess
wird auch der Glaubende verwickelt, wenn er in kultischen Akten sich stets neu und
ritualisiert sich des Glaubens nicht nur vergewissert, sondern ihn darin auch zur
Entfaltung bringt. Das kann nicht Anliegen eines schulischen Unterrichts in Religion
sein. Die Durchdringung aber der Prozesse, die Religiosität ausmachen, sind
Voraussetzungen auch dafür, sollen im Religionsunterricht Religion und Glaube
reflektiert werden. Diese reflexive Zielsetzung steht daher zumindest im Sichtkreis
der Erfahrung. Vor allem in den Kapiteln 2-1 und 4-3 bildet dieser Gedanke einen
wichtigen Horizont, im Kapitel 1-3 findet sich dazu die entsprechende
religionsphilosophische Begründung.
ad (5) Erfahrung von Tiefe - zur religiösen Zielsetzung
Die letzte Ebene des Prinzips Erfahrung nimmt ihren Ausgangspunkt von dem
dialektischen Charakter der vorangehenden Ebene: Wenn Erfahrung ein Prozess ist,
der sich wesentlich aus den in ihm enthaltenen Momenten zusammensetzt, führt die
Erfahrung denjenigen, der sie macht, stets auch über sich selbst hinaus bzw. immer
näher zu einer ohne die Erfahrung nicht bewussten Tiefe. Das ist zunächst noch gar
nicht religiös zu verstehen, sondern ganz im Sinne Hegels, für den die Erfahrung des
Bewusstseins es letztlich „zu seiner wahren Existenz forttreibt“, indem nämlich die
einzelnen Gestalten des Erfahrenen sich als Momente seiner selbst erweisen.84
84
Hegel: Phänomenologie (1807), S. 80.
44
Einleitung
Übertragen auf unsere Thematik, Religion zur Erfahrung zu bringen, meint das ein
doppeltes: Mit der Kategorie der Erfahrung soll angezeigt werden, dass zum einen
Religion nicht als irgendetwas Beliebiges zur Kenntnis zu bringen ist, auf das man
sich einlassen könnte oder auch nicht, sondern als etwas, dass uns als ErfahrungsWesen betrifft. Wenn Ernst Bloch in seiner Tübinger Einleitung in die Philosophie
davon spricht, dass wir nur sind, was wir sind, indem wir werden, und dass wir uns
dazu lernend aus uns heraus in einem Außen uns bewegen müssen, „so erst erfahrend
und so erst auch, mittels des Draußen, das eigene Innen selber erfahrend“, dann
entwirft er damit einen allgemeinen anthropologischen Horizont, den wir hier auf die
Erfahrung des Religiösen anwenden können: Auch das Religiöse gilt es als etwas zu
erfahren, das den Menschen auf einen solchen Weg führt, „damit er überhaupt nur
wieder auf sich zurückkommen könne und so bei sich gerade die Tiefe finde, die
nicht dazu da ist, daß sie in sich, ungeäußert bliebe.“85
Dass durch die Erfahrung von Religion wir zum Tiefsten unserer selbst geführt
werden, hat seinen Grund aber auch darin, dass in diesem Erfahrungsprozess auch
die Religion als Gegenstand unserer Erfahrung als das, was sie wesentlich ist, zur
Erfahrung kommen kann. Religion kann aber nicht zur Erfahrung gelangen, wenn ich
nur in oberflächlicher Weise von ihr Kenntnis nehme oder auch nur ihre äußeren
Fassaden in Erfahrung bringe. Zur Erfahrung kann sie nur gelangen, wenn sie in
dem, was sie existentiell ist, als eine originäre Dimension unserer Erfahrung
überhaupt erfahren werden kann.
Aus diesem Grunde erhalten Konzepte der Reduzierung von Unterricht zu
religiösen Themen auf reine Religionskunde in der vorliegenden Arbeit eine klare
Absage. Das wird begründet einerseits in dem religionsphilosophischen Kapitel 1-3
durch einen differenzierten Begriff von Religion, andererseits im Kapitel 1-2 durch
ein entsprechendes Bildungskonzept. Zu konkreten Konsequenzen führt dies in der in
Kapitel 5-3 vorgetragenen Kritik des LER-Konzepts sowie in dem eigenen in 5-4
vorgestellten Konzepts eines Unterrichts in Religion für alle. Konkrete Erfahrungen
von existentieller Tiefe aber sollen zur Erfahrung gebracht werden durch Impulse in
den Kapiteln 4-1 durch das Jona-Buch, 4-2 mit der Gestalt des Simon Petrus und 4-3
durch den Ausschnitt aus Psalm 119 und die Konfrontation mit den Confessiones des
Augustinus.
Angst vor einer übermächtigenden Einbindung in das Religiöse braucht deswegen
niemand zu haben. Der traditionelle konfessionelle Unterricht hütet sich ohnehin
davor, Glaubensunterweisung als direktes Ziel des Unterrichts zu formulieren. Im
Horizont steht hier der je persönliche Glaube gleichwohl, weil der Religionsunterricht zumindest Wege zu ebnen hat für eine je persönliche Glaubens85
Bloch (1963), S. 11.
Einleitung
45
entscheidung.86 Dieser Verantwortung darf und braucht sich freilich auch der
Ethikunterricht nicht entziehen, wenn er denn Ernst damit macht, dass es beim
Thema Religion um etwas uns existentiell Beanspruchendes geht. Dass in diesem
Sinne Orientierung im bzw. für das Religiöse in gleichem Maße eine Aufgabe des
Religions- wie des Ethikunterrichts ist, das wird am Ende des Kapitels 1-4 erläutert
wie auch in den Ausführungen zur Konfessionalität im Kapitel 5-4.
86
Ausdrücklich in Erinnerung zu rufen ist in diesem Zusammenhang die Ziffer 2.5.1 des sog.
Synodenbeschlusses (Synode 1974). Dass der Religionsunterricht „zu persönlicher Entscheidung
in Auseinandersetzung mit Konfessionen und Religionen, mit Weltanschauungen und Ideologien“
befähige, diese Zielsetzung kann natürlich auch für den Ethikunterricht gelten. Wie sehr dies eine
Orientierungsleistung beinhaltet, verdeutlicht die unmittelbar zuvor stehende Passage, die freilich
in manchen späteren Bildungsplänen nur verkürzt wiedergegeben worden ist: „Dem gläubigen
Schüler hilft der Religionsunterricht, sich bewußter für diesen Glauben zu entscheiden und damit
der Gefahr religiöser Unreife oder Gleichgültigkeit zu entgehen. Dem suchenden oder im Glauben
angefochtenen Schüler bietet er die Möglichkeit, die Antworten der Kirche auf seine Fragen
kennenzulernen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Er kann somit seine Bedenken und
Schwierigkeiten in den Erkenntnisprozeß einbringen. Dem sich als ungläubig betrachtenden
Schüler, der sich vom Religionsunterricht nicht abmeldet, ist im Religionsunterricht Gelegenheit
gegeben, durch die Auseinandersetzung mit der Gegenposition den eigenen Standpunkt klarer zu
erkennen oder auch zu revidieren.“
46
3
Einleitung
Bausteine einer Didaktik des Religiösen.
Überblick über den Aufbau der Arbeit
Meine Arbeit gliedert sich in die umfangreiche, da auch systematisch orientierende
Einleitung und fünf folgende ungleich große Teile, die ihrerseits insgesamt sechzehn
ebenfalls unterschiedlich lange Teilkapitel umfassen. Die einzelnen Kapitel sind in
unterschiedlichen Kontexten entstanden, über die jeweils zu Beginn kurz per Fußnote
orientiert wird.
Zusammengebunden werden die einzelnen Kapitel in einem religionspädagogischen Interesse, das leitend gewesen ist für einen großen Teil meiner bisherigen
beruflichen Tätigkeit, und das zu dokumentieren ein Anliegen der vorliegende Arbeit
ist. Wenn auch die Idee zu dieser Zusammenstellung der Arbeit recht spontan
geboren wurde, ist doch ihr thematischer Kern in vielen Jahren auch allmählich
entstanden. Der Ausdruck „Erfahrung“ kann daher auch, wie im Vorwort angedeutet,
für die Genese meiner Arbeit als Leitmotiv gelten. Die inhaltliche Kontur dieses
Interesses habe ich im Punkt (2) der Einleitung zu erläutern versucht. Mit dem Titel
„Religion zur Erfahrung bringen“ wird, denke ich, in angemessener Weise ein roter
Faden formuliert, die Perspektive also, die die einzelnen Teile der Arbeit zusammenhält. Einen wichtigen systematischen Bezugspunkt andererseits, der mich zur
Skizzierung einer Didaktik des Religiösen angetrieben hat, habe ich im Punkt (1) der
Einleitung entwickelt.
Trotz dieser relativ klaren Zusammenhänge bleiben die einzelnen Teile und
Kapitel doch auch disparat, so sehr, dass über das persönliche Interesse, wichtige
Arbeiten in ein Buch zusammenzufassen, auch einige inhaltliche Erläuterungen zum
Zusammenhang der Teile sinnvoll sind, soll doch die Arbeit insgesamt mehr als bloß
eine Aufsatzsammlung darstellen. Nachfolgend biete ich daher unter Punkt 3.1 eine
kurze Zusammenfassung der einzelnen Kapitel, aus denen die Verbindung der Teile
und der letztlich kontinuierlich durch sie hindurch entwickelte Gedanke deutlich
werden soll. Zuweilen wird diese Übersicht ergänzt durch einige systematische
Erläuterungen bzw. Hinweise, die in einzelnen Kapiteln selbst nicht immer geliefert
werden können, um den ursprünglichen Duktus der Gedankenführung beizubehalten.
Dass in der bleibenden Heterogenität von Teilen sich gleichwohl auch ein FormGedanke verbirgt, darauf sei kurz in einem abschließenden Punkt (3.2) eingegangen.
Einleitung
3.1
47
Die Teile der Arbeit
Teil I Religionsphilosophische Grundlegung
Ursprünglich weder unter einer theologischen noch einer pädagogischen Zielsetzung
geschrieben, sondern in philosophischer Perspektive, bietet der Teil I den systematischen Grundstock der Arbeit. Von vorneherein ist er unter wissenschaftlichen
Kriterien verfasst worden, bedenkt einschlägige Literatur zur Themenstellung und
stellt wichtige Diskussionen systematisch dar. Zwar haben nicht alle seine Abschnitte
einen im engeren Sinne religionsphilosophischen Charakter, doch wird erst durch
ihren Zusammenhang die These gewonnen, die sich als tragende Idee durch die
weitere Arbeit zieht: Ich behaupte nämlich, dass Religion eine originäre Form
menschlicher Erfahrung darstellt und deshalb, so meine weitere These, ein unverzichtbarer Bestandteil auch von Bildung sein muss, gerade von öffentlich installierter
und staatlich verantworteter Bildung, wenn sie denn in einem demokratisch sich
verstehenden Gemeinwesen an elementaren Fragen von Menschsein interessiert ist.
Eine Bildung in Religion, das ist meine spezifizierte bildungspolitische Meinung,
gehört darum auch nicht allein in den kirchlich verantworteten konfessionellen
Religionsunterricht, sondern ebenso in den staatlich verantworteten nichtkonfessionellen Ethikunterricht.87 Umgekehrt setzt eine Bildung in Religion mehr voraus als
eine zuweilen selbstverständlich vorausgesetzte Weitergabe des Glaubens an religiös
gebundene junge Menschen wie auch mehr als eine anderweitig oft ebenso selbstverständlich unterstellte schlichte Information über Religionen, nämlich die Auseinandersetzung damit, was überhaupt Religion ist.88 Damit wird die Tür aufgestoßen zu
einem allgemeinen Unterricht in Religion, der über das traditionell für den Religionsunterricht einerseits, den Ethikunterricht andererseits oft Unterstellte hinausgreift.
Diese These mag diejenigen verstören, die das Thema „Religion“ ohne weitere
Reflexion als selbstverständlichen Inhalt des Religionsunterrichts ansehen, den
Ethikunterricht aber davon freihalten wollen. Dieses Vorurteil setzt jedoch ein
konfessionell enggeführtes Verständnis von Religion voraus. Zu eng ist dieses
Verständnis zunächst nicht systematisch, sondern angesichts faktischer soziologisch
zu erhebender Lebensverhältnisse. In einem ersten Teilkapitel (1-1) orientiere ich
87
Vgl. dazu neben dem Teil I (vor allem Kapitel 1-2, Abschnitt 2) auch die Kapitel 5-3 und 5-4.
88
Dazu sei nochmals verwiesen auf die in Anm. 86 wiedergegebenen wegweisenden Passagen der
Synode (1994) und die von mir daraus gezogenen Konsequenzen im Kapitel 5-4.
48
Einleitung
darum über einige soziologische Eckdaten zum Phänomen „Religion“ in gesellschaftlichen Verhältnissen, wie wir sie in einem Land wie Deutschland heute
vorfinden. Ich halte mich freilich nicht mit der Aufzählung empirischer Daten auf,
sondern setze mich gleich mit ihren in der einschlägigen soziologischen Literatur
gezogenen Konsequenzen auseinander. Dabei muss es notwendig zu einem differenzierten Blick auf das soziologische Paradigma „Pluralismus“ kommen wie auch zu
einem kritischen Begriff von „Säkularisierung“. Besser zunächst als „Pluralismus“
fängt der Begriff „Kontextualisierung“ ein, was aus soziologischer Perspektive zum
Phänomen „Religion“ in einer Gesellschaft wie der heutigen deutschen zu
beobachten ist. Das wirft ein neues Licht auch auf die zuweilen zu selbstverständliche Rede von säkularen Verhältnissen. In einem, wie ich zugebe, nicht empirischen,
sondern philosophischen Verständnis von Soziologie komme ich zu der Einschätzung, dass wir uns im Zuge der neuzeitlichen und modernen Säkularisierungsprozesse zwar faktisch zunehmend in Verhältnissen von Säkularität bewegen, auch
im Bereich des Religiösen, dass aber als quasi späte „Rache“ an der Säkularisationsbewegung sich zugleich mehr und mehr Bedürfnisse nach Orientierung artikulieren,
die durch Säkularität nicht mehr befriedigt werden können. Insofern bewegen wir
uns durchaus auf postsäkularen Geleisen.89 Dabei bricht vor allem eine Frage nach
säkularitätstranszendierenden Horizonten auf. Das lässt nicht nur allgemein die
Frage nach Religion wieder interessant erscheinen, sondern auch ihre Rolle in der
Bildung.
In einem zweiten Kapitel (1-2) versuche ich, die erwähnten Rufe nach einer
Orientierung leistenden Bildung zu dechiffrieren. Wenn dabei einerseits auf
Religion als Bildungsgut rekurriert wird, zeigt sich darin m.E. wiederum ein ungenügendes Verständnis von Religion, und zwar sowohl in dem säkular-atheistischen
Versuch einer Reduktion von Religion auf ein sozialgeschichtliches Kulturgut wie
auch in dem eher verzweifelten Versuch mancher kirchlicher Kreise, Religion auf
den Bestand und die Vermittlung konfessioneller Glaubensgüter zu reduzieren. In die
Entwicklung dieses Gedankens versuche ich komprimiert wichtige Diskussionen
auch um die Konzepte eines sich von Religion freihaltenden Ethikunterrichts wie um
den Religionsunterricht einzubinden, vor allem in ausführlichen Fußnoten.90
Orientierung wird, so meine weitere Überlegung, andererseits nicht nur von
Religion, sondern gerade in säkularen Zeiten auch von der Ethik bzw. Philosophie
erwartet. Hier aber zeigen sich ganz ähnliche Reduktionstendenzen: Keineswegs nur
konservative Vertreter eines werteorientierten Bildungskonzepts verwechseln
89
Vgl. dazu weitere Erläuterungen im Abschnitt 1 der Einleitung zur Wiederkehr des Religiösen.
90
Weitere Entfaltung erfahren diese Überlegungen in den Kapitel 5-3 und 5-4.
Einleitung
49
zuweilen Moralunterweisung mit philosophischer Ethik. Die Möglichkeiten philosophischer Orientierung werden dabei überschätzt, das stellt eine wiederum auf
engem Raum gedrängte Erläuterung und Argumentation mit einer Vielzahl von
Verweisen heraus.91 Auf der anderen Seite werden sie auch unterschätzt, wenn
Orientierung tendenziell auf Information und Einschätzungen in rein kognitiver
Hinsicht reduziert wird, als ob die philosophische Vernunft sich nicht auch über sich
selbst zu orientieren und damit auch Grenzen ihrer selbst und ihrer Basis im
reflexiven Denken zu beschreiben hätte. Mit diesem an Hegels Kritik der Reflexionsphilosophie geschulten92, hier aber explizit an Kant ausgerichteten Gedanken der
Orientierung im Denken versuche ich die Philosophie gerade hinsichtlich der an sie
herangetragenen Bildungsansprüche für die Dimension des Religiösen zu öffnen.
Mit diesem dichten und stark thetischen Kapitel ist der Boden bereitet für meine
zentrale These, dass wir für einen bildungsrelevanten Begriff von Religion einerseits
einen kulturgeschichtliche wie konfessionalistische Engführungen sprengenden
philosophischen Begriff von Religion brauchen, andererseits auch ein den Bereich
der Religion einbeziehendes Verständnis von Philosophie. Dem widmet sich das
folgende dritte Kapitel (1-3). Ebenfalls eher thetisch, um dem Missverständnis einer
in diesem Rahmen nicht zu leistenden Grundlegung von Religionsphilosophie zu
entgehen, andererseits jedoch ausführlich genug, um ein tragfähiges Verständnis von
Religion zu erarbeiten, behaupte ich in diesem Kapitel nicht nur die Möglichkeit und
auch Notwendigkeit von Religionsphilosophie, sondern versuche in Orientierung an
einer Definition von Gustav Mensching zudem einen arbeitsfähigen Begriff von
Religion zu erstellen. Arbeitsfähig ist er in dreierlei Hinsicht: Zum ersten kann ich
damit die These von Religion als originärer Dimension menschlicher Erfahrung
erläutern. Zum zweiten werden mit den darin enthaltenen Strukturelementen wichtige
Prüfsteine zur Einordnung von Phänomenen als religiös gewonnen. Und drittens
bieten diese Strukturelemente im Schlussabschnitt zugleich die konzeptionelle
Grundlage für eine Didaktik des Religiösen.
Das 4. Kapitel (1-4) stellt dann eher nur eine Skizze einer solchen Didaktik des
Religiösen in religionsphilosophischer Perspektive dar. Systematisch entfalte ich
damit die später im Kapitel 5-4 auch organisatorisch zu erläuternde These, dass
diesseits des konfessionellen Religionsunterrichts, aber auch jenseits des nichtkonfessionellen Ethikunterrichts ein philosophischer Unterricht in Religion nicht nur
möglich, sondern auch unerlässlich sei, unerlässlich für den inneren Anspruch der
91
Zum Problem moralischer Orientierung vgl. meine weiteren Erläuterungen im Kapitel 4-4.
92
Vgl. dazu insbesondere die frühen programmatischen Schriften Hegels „Differenz“ (1801) und
„Glauben und Wissen“(1802).
50
Einleitung
Orientierung zur Glaubensentscheidung im Religionsunterricht wie der orientierenden religiösen Bildung im Ethikunterricht. Aus den vier Elementen dieser These
werden Bausteine einer Didaktik des Religiösen entwickelt und durch Anmerkungen
zu Unterrichtsmodellen exemplarisch z.T. auch ausführlicher erläutert. Fußnoten
verweisen zudem auf die nachfolgenden Teile der Arbeit, die dann einzelne dieser
Bausteine modellhaft zur Ausführung bringen.
Teil II Religiöse Sprache
Auch der Teil II der Arbeit hat grundlegenden Charakter, konzentriert sich jedoch
auf das Thema „Sprache“, genauer auf die Auslotung dessen, was es heißt, Religion
zur Sprache zu bringen. Das betrachte ich, trotz der oben erläuterten Änderung des
Titels der Arbeit, als zentrale Zielsetzung für gelingenden Religionsunterricht. Die
beiden Kapitel bieten dafür Orientierungen und Begründungen.
Als systematische Exposition dieses Teils lässt sich gut die Einleitung zum zweiten
Kapitel (2-2) lesen. Mit wenigen Strichen wird hier, ausgehend von der dafür
zentralen biblischen Passage 1 Kor 14, das Verhältnis von Religion bzw. Glauben
und ihrer vernünftigen Erschließung durch Sprache skizziert: Erläutert wird erstens
die zumindest im jüdisch-christlichen Rahmen selbstverständliche These, dass
Glauben stets auf vernünftige Erschließung angelegt, ja sogar angewiesen ist.
Zweitens wird erinnert an die ebenfalls vielen Religionen eigene Tradition, dass
vernünftige Auslegung, sprich begriffssprachlich sich artikulierendes philosophisches Denken als auch authentische Form von Glauben angesehen wird. Drittens
jedoch geraten gerade im Prozess der vernünftigen Erschließung von Glauben die
Vernunft wie ihr Artikulationsmedium, die Sprache, radikal an ihre Grenzen,
wodurch sich Glaube als letztlich vernünftig uneinholbares Ereignis zeigt. Damit ist
der Rahmen vorgezeichnet für eine detailliertere Auseinandersetzung mit religiöser
Sprache wie auch mit konkreten Gestaltungsformen ihres Zur-Sprache-Bringens im
Unterricht.
Das erste Kapitel (2-1) setzt sich genauer mit dem dafür wesentlichen menschlichen
Organ auseinander, mit der Vernunft. Die Vernunft ist, so meine These, das
entscheidende Element dafür, dass es überhaupt zu religiöser Sprache kommt: Das
im Akt einer religiösen Erfahrung Vernommene drängt danach, durch das Organ
dieses Ver-Nehmens, die Vernunft, zur Sprache gebracht zu werden. Das geschieht
einerseits durch die Philosophie, die damit, wie in einem ersten Abschnitt gezeigt
wird, keineswegs „bloß“ einen Gott der Philosophen konstruiert. Ebenso, und das ist
Einleitung
51
eine möglicherweise verblüffende Variante, vollzieht sich dieses Zur-SpracheBringen auch in einem Akt, der vorderhand gar keine Vernunftstruktur aufzuweisen
scheint, sondern ganz aus dem Glaubensgefühl heraus geschieht, dem Gebet. Beide
Gestalten aber bieten die Basis dafür, warum es überhaupt sinnvoll sein kann,
Religion zum Gegenstand von Bildung zu machen. Sinn macht das nämlich
deswegen, (und so schließt sich eine didaktische These unmittelbar an eine religionsphilosophische an), weil Religion sich in und als Vernunft äußert, und weil Religion
deshalb auch über und mit Vernunft erschlossen werden kann. Gestalt gewinnen
diese Möglichkeiten im Phänomen der (in Texten der Tradition überlieferten)
religiösen Sprache. Diese Sprache aber muss wiederum, damit ihr Sinngehalt
deutlich wird, nicht nur äußerlich zur Kenntnis gebracht werden, sondern auch zur
Erfahrung kommen. Daran lässt sich erneut die Intention ablesen, die ich mit dem
weiter gefassten Titel „Religion zur Erfahrung bringen“ im Sinn habe. Hier gieße ich
sie in die vielleicht etwas zugespitzte These, Religionsunterricht als Glaubensvermittlung aufzufassen, freilich in einem tieferen, mit Hegel das Vermittelnde und
die Vermittlung kategorial auslotenden Sinne des Wortes „Vermittlung“, als
vernünftig erschließende Glaubens-Ver-Mittlung. Von diesem Gedanken her liegt es
nahe, dass das insgesamt eher essayistisch angelegte Kapitel 2-1 in seinem vierten
Abschnitt sogar mit einigen Skizzen zur Konzeption eines tragfähigen Religionsunterrichts schließt, die in komprimierter Form die Grundlage für den im Kapitel 5-4
vorgestellten konzeptionellen Entwurf bieten und damit das in Kapitel 1-4 eher
didaktisch Gesagte in systematischer Form artikulieren.
Das zweite Kapitel dieses Teils (2-2) setzt sich nach der oben erwähnten Einleitung
das Ziel, eher lexikalisch über einige zentrale Möglichkeiten, Methoden, Formen und
Ebenen zu orientieren, die es zu berücksichtigen gilt, wenn religiöse Sprache
erschlossen werden soll. Natürlich steht dabei die Tradition der Hermeneutik im
Mittelpunkt. Schon darüber wird aber nicht bloß informiert, sondern ihre „Methodik“
muss notwendig zu konzeptionellen Konsequenzen führen, etwa einen grundsätzlich
stark dialogisch orientierten Unterricht oder auch eine Differenzierung in Phasen der
Erschließung, der Weitergabe und der verantwortlichen Lebensgestaltung. Nicht nur
konzeptionell, auch positionell erhebliche Konsequenzen haben dann die Erläuterungen zu Intensionalität und Verdichtung als Formen religiöser Sprache sowie die
abschließende kurze Orientierung über den Sinn unterschiedlicher Sprachebenen.
Wenn dabei neben der dogmatischen, mythischen, legendarischen Sprache der
symbolischen Sprache besonderes Gewicht zukommt, verweist das nicht zuletzt
wiederum auf die diesen gesamten zweiten Teil durchziehende Grundfrage: Wie sind
zum einen die vernünftige Erschließung von Sprache, die notwendig ist, damit nicht
nur Religion, sondern auch Glaube weitergegeben und vermittelt werden können,
52
Einleitung
und zum anderen die Einsicht in die Begrenztheit solchen Tuns, die der urreligiösen
Erfahrung und dem je persönlichen Akt des Glaubens ihre letztliche Uneinholbarkeit
durch das Denken belassen, miteinander ins rechte Lot zu bringen?
Teil III Gesprächsführung
Mit dem dritten Teil ist meine Arbeit an einem neuralgischen Punkt angelangt: Die
Grundlegungen der beiden ersten Teile haben sich nun an unterrichtlicher Praxis zu
bewähren. Bevor dafür im Teil IV einige Beispiele geliefert werden sollen, ist
zunächst grundsätzlich zu klären, warum und wie eine in den beiden ersten Teilen
vorgestellte durchaus anspruchsvolle Auseinandersetzung mit dem Religiösen auch
für jüngere Menschen geeignet ist. Die Frage nach einer Didaktik des Religiösen
wird damit zugeschnitten auf den Bereich des schulischen Unterrichts. Ich konzentriere mich bei der Erörterung dieser Frage auf Kinder, und zwar vom Rede-, Frageund Antwort-fähigen Alter bis zum Erreichen des selbstreflexiven Jugendalters, also
Kinder zwischen vier und zwölf Jahren. Auf eine entwicklungspsychologische Auseinandersetzung kann ich mich dabei allerdings nicht einlassen, um den Rahmen
nicht zu sprengen.93 Vielmehr geht es um die grundsätzliche Frage, warum und dann
vor allem inwiefern Kinder, die zwar elementare Formen sprachlicher Artikulation
beherrschen, noch nicht aber die reflexiv-logische Auseinandersetzung mit abstrakten Begrifflichkeiten, gleichwohl in der Lage sind, auch komplexe philosophische
und theologische Gedanken zu erfassen und in der ihnen möglichen Form zu
erörtern. Und zwar wird diese Frage aus dem Selbstverständnis von Philosophie und
Theologie verhandelt. Entscheidend dafür ist der Abschnitt 2 des Kapitels, in dem
zur Entfaltung kommt, warum Philosophie bzw. Philosophieren im kindlich-elementaren Denken eine Grundlage hat. Das geschieht hier freilich ebenfalls eher leitlinienartig und thetisch. Noch stärker im Sinne einer bloß fundierenden, noch nicht
differenzierenden Skizze wird diese Frage für die Theologie im Abschnitt 3 erörtert.
Beide Teile freilich beanspruchen, in nuce durchaus eine Philosophie bzw. eine
Theologie des Kindes anzudenken.94 Bloß angedacht wird dies hier, weil diese
93
Weitere Studien dazu sind im Entstehen begriffen. Hinweise, in welche Richtung dies führen wird,
gibt der Abschnitt 2 dieses Kapitels. Insbesondere mit dem Begriff der Zweiten Naivität habe ich
mich in den letzten Jahren wiederholt auseinandergesetzt, in Vorträgen und Seminaren. Eine
wichtige Basis einer (kinder-)philosophischen Kritik an gängigen entwicklungspsychologischen
Einwänden gegen die Relevanz kindlichen Denkens (namentlich von Seiten Piagets selber) bietet
G.B.Matthews in seinem Buch „Denkproben“ (1991), S. 55ff.
94
Dazu darf erwähnt werden, dass dieser Fragerichtung bislang in der Bewegung des Philosophierens mit Kindern kaum Beachtung geschenkt wird. Im Gegensatz dazu bemüht sich die Theologie,
obwohl auf Vorgaben der Philosophie zurückgreifend, nicht nur um Handlungsmodelle oder
pädagogische Entwürfe eines Theologisierens mit Kindern, sondern durchaus um eine Theologie
Einleitung
53
Abschnitte nur zur Erarbeitung von Kriterien dienen, nach denen im nachfolgenden
zentralen Abschnitt 4 drei konkrete Unterrichtsprotokolle analysiert werden. Diese
Analysen stellen zugleich die Pointe dieser meiner Einlassung auf die Frage nach
Möglichkeiten des Philosophierens und Theologisierens mit Kindern dar. Denn sie
kann für sich in Anspruch nehmen, zu den wenigen Auseinandersetzungen in der
Bewegung des Philosophierens und Theologisierens mit Kindern zu gehören, die ihre
Thesen an konkretem Unterricht auch überprüfen. Um diesen Anspruch zu belegen,
orientieren die beiden ersten Abschnitte dieses Kapitels kurz, aber einschlägig über
die Bewegung des Philosophierens mit Kindern.
Der Gewinn dieses Kapitels für den Kontext der Arbeit liegt in zweierlei Richtung.
Zum einen wird hier eine wichtige auch empirisch nachweisbare Basis geliefert für
die grundsätzliche These, dass religiöses Lernen stets Erfahrungslernen ist: In ihren
Äußerungen dokumentieren die Kinder, dass sie durchaus an theologischen und
philosophischen Gedanken interessiert sind, doch nur, wenn über sie Orientierung für
Fragen zum eigenen Leben zu erfahren sind. - Zum andern bieten sowohl die Unterrichtsprotokolle als auch meine entsprechenden Analysen eine Vielzahl methodische
Hinweise, wie erfahrungsorientiertes Lernen sich planen und gestalten lässt.
Insbesondere für einen dialogisch konzipierten Unterricht in Religion wollen sie Mut
machen.
Teil IV Unterrichtsmodelle
Es liegt in der Konsequenz meiner Arbeitsthese, dass der Versuch einer Grundlegung
des Unterrichtens, also einer Didaktik von Religion, sich zu bewähren hat an
Modellen konkreter unterrichtlicher Umsetzung, also an auch methodischen
Hinweisen, in denen grundlegende didaktische Überlegungen zum Tragen kommen.
Dem dient der vierte Teil meiner Arbeit. Ich konzentriere ich mich dabei auf fünf
Fragestellungen, deren Reihenfolge bewusst in Orientierung an die im Kapitel 1-4
erläuterten Ebenen gewählt ist: Im Sinne einer für Religiosität sensibilisierenden
Propädeutik beginne ich im Kapitel 4-1 mit einer religionsphilosophischen Aufbereitung einiger (vorderhand nicht unbedingt) religiöser Bilderbücher. Dass in meinen
Augen auch eine Religionskunde im Sinne des Kennenlernens religiöser Lebensanschauungen, Lebensvollzüge und tradierter Symbole ertragreich nur geleistet
werden kann, wenn sie erfahrungsdimensioniert arbeitet, dafür bietet dieses Kapitel
ebenso ein Beispiel wie das folgende Kapitel 4-2, das in die zentrale Frage
des Kindes. Vgl. dazu die z.Zt. noch nicht veröffentlichte Arbeit von Gerhard Büttner: Jesus hilft.
Stuttgart 2002, sowie seine Studie zu Religion als einer „specific domain“ im intuitiven kindlichen
Denken (demn. in: KatBl 2002).
54
Einleitung
glaubender Existenz über religionskundliche Stoffe einführt. In 4-3 liefere ich ein
Beispiel einer pädagogisch angelegten Hermeneutik religiöser Sprache. Die Kapitel
4-4 und 4-5 sind demgegenüber einzuordnen in die Ebene der Orientierung im Sinne
einer Befähigung zu eigenverantwortlicher Lebensentscheidung, 4-4 leistet das auf
der Ebene der Moral, 4-5 auf der Ebene des Politischen.
Das erste Kapitel dieses Teils (4-1) löst den Anspruch eines Erfahrungslernens in
besonderer Weise ein: Mehr als Texte und auch Erzählungen vermögen ganz äußerlich Bilder unsere Sinne als der Basis aller Erfahrung zu faszinieren. Die Weitergabe
und Vermittlung von Glauben über Bilder hat zumindest im Christentum eine lange
Tradition, was in der malerischen Ausgestaltung von Kirchen seit dem frühesten
Christentum oder in den sog. Armenbibeln am sichtbarsten Ausdruck gefunden hat.
Auch Kinderbibeln oder Bilderbögen zu einzelnen biblischen Geschichten sind nicht
erst im 20. Jahrhundert ein verbreitetes Medium der Religionspädagogik geworden.
Andererseits sind auf diesem Gebiet auch Tendenzen auszumachen, die mit einer
erfahrungsorientierten Religionspädagogik nur schwer in Einklang zu bringen sind.
Insbesondere die pure Abbildung des äußeren Geschehens von Geschichten vermag
nicht ohne weiteres auch ihren religiösen Anspruch zu vergegenwärtigen, gar ihn zu
vermitteln. Diese Kritik gilt m.E. für viele biblische Bilderbücher, auch Kinderbibeln, wie auch für die meisten in den letzten Jahren bekannt gewordenen BibelComics.95 Weder eine vordergründige Angleichung an eher zufälligen Zeitgeschmack noch die historisierende Abbildung vermag für die unsere Existenz in
Frage stellende Tiefendimension des Religiösen zu öffnen, verstellt eher und führt zu
Irritationen, wenn Geschehnisse in problematischer Engführung als naturwissenschaftliche oder historische Tatsachen und nur um den Preis der Verflachung ihrer
existentiell beanspruchenden Botschaft ins Bild gesetzt werden, wie etwa der
brennende Dornbusch, Wunderheilungen oder die Auferstehung Jesu.96
Gelungene Bilder bieten dagegen Folien, auch eigene Erfahrungen einzutragen in
das durch sie Ausgedrückte und diese Erfahrungen sodann zu konfrontieren mit den
dargestellten Gehalten, wenn diese sich durch die Bilder ihrerseits entschlüsseln
95
Vgl. dazu meine kurze „Contra“-Stellungnahme zu Comic-Bibeln im Rahmen einer Auseinandersetzung mit Kinderbibeln in: Standpunkte 8/1997, S. 25; sowie Halbfas: Bilder in Religionsbüchern (in: Halbfas 1987, S. 51ff).
96
In einem gemeinsam mit den Kolleginnen aus der Theologie veranstalteten Seminar zur
Entwicklung kindlichen Denkens im Sommer 1999 brach diese Schwierigkeit exemplarisch auf bei
der Suche nach geeigneten Bilderbüchern zum Geschehen um Noah. Entweder gerieten die Bücher
angesichts der „großen Flut“ in den Strudel moralisierender und auch Angst machender
Pädagogik, oder die Frage nach Gut und Böse, Gnade und Strafe wird durch vordergründig
niedliches Abzählen putziger Tiere einfach vermieden. Vgl. dazu demnächst meinen Aufsatz in
dem von Gerhard Büttner herausgegebenen Jahrbuch für Kindertheologie.
Einleitung
55
lassen als Verdichtungen von Erfahrungen, die hinter religiösen Geschichten stehen.
Das gilt es exemplarisch an den hier zu deutenden Bilderbüchern zu erläutern.
Inhaltlich konzentriere ich mich in dieser Annäherung an das Phänomen des
Religiösen über Bilderbücher nicht auf die wichtige Frage nach geeigneten Kinderbibeln97, verzichte aber auch nicht ganz auf Bücher zu biblischen Inhalten. Wenn
jedoch auf den ersten Blick gar nicht religiöse Bilderbücher im Zentrum der Untersuchung stehen, so hat das für den Kontext der vorliegenden Arbeit zwei Gründe:
Zum einen halte ich es für spannend, die religiöse Frage gerade auch im Nachspüren
der Tiefendimensionen eher alltäglicher Fragen zu entdecken; – das jedenfalls nehme
ich für das erste hier vorgestellte Bilderbuch in Anspruch. Zum andern war es meine
Absicht, die Frage nach dem Religiösen hier relativ breit anzulegen; in Orientierung
an die in den Kapiteln 1-3 und 5-4 vorgeschlagene und erläuterte Differenzierung
zwischen Religiosität, Glauben, Konfession und Religion untergliedert sich das
Kapitel in drei Abschnitte: Ich gehe aus von der Frage religiöser Urerfahrungen,
setze mich dann mit der davon zu unterscheidenden Erfahrung von Glauben
auseinander, um in einem dritten Teil zur Frage nach Gott vorzustoßen, zunächst
eher allgemein als tragenden Grund meiner Existenz, dann bestimmter in einem
christologischen Kontext auf der Ebene von Alltagserfahrungen.
Dass äußere Bedeutung und tieferer Sinn eines religiösen Geschehens miteinander
zur Kenntnis genommen, ja auseinander erschlossen werden können, diesen Versuch
unternimmt die in Kapitel (4-2) vorgestellte Unterrichtsskizze. Mein Interesse an
präsentativen Unterrichtsformen wird hier fortgesetzt, indem ich aus einem
spätmittelalterlichen Bild zuerst die existentielle Begegnung und dann den
biblischen Bezug der Berufung der ersten Jünger durch Jesus erschließe. Die eher
religionskundliche Zielsetzung einer Einführung in biblische Grundkenntnisse (hier
geht es exemplarisch um den Aufbau der Evangelien und den Einblick in die Arbeit
der Synoptiker) soll so ihrerseits eingebunden werden in die für Jugendliche
unmittelbar viel interessantere Sinnfrage, konkret die Frage nach dem Sinn von
Religiosität. Überzeugt dieser Entwurf, ist er ein weiterer Beleg für einen erfahrungsdimensionierten Unterricht in Religion, der zu helfen vermag, existentielle Lebenserfahrungen auf ihre religiöse Dimension hin zu lesen und zu deuten und umgekehrt
religiöse Traditionen als mögliche Lebensmodelle zu erschließen und erfahrbar zu
machen. Der letzte Teil des Kapitels orientiert kurz über den Rahmen, in den diese
Unterrichtsskizze eingebunden ist: Exemplarisch stelle ich damit ein Modell vor für
97
Das liegt an dem Kontext, in dem dieses Kapitel entstanden ist: Im Rahmen einer Einführung in
philosophisches Denken über Bilderbücher hätte die Einbindung von Kinderbibeln das Thema
verändert hin zur Frage einer Einführung in Glaubenstraditionen.
56
Einleitung
den Religionsunterricht der Klasse 11, in der bibelkundlich wie fundamentaltheologisch die tragfähige Basis zu legen ist für gelingenden Oberstufenunterricht.
Auch das Kapitel 4-3 verbindet in gewisser Hinsicht eine eher religionskundliche
Zielsetzung mit einer religiös-existentiellen. Vorgestellt wird ein ausführlich
erläutertes Unterrichtsmodell zum Thema Religiöse Sprache. Ich konzentriere mich
dabei auf einen vielschichtigen Zugang zum Psalm 119. Das ist insofern ein
gewagtes Unternehmen, als es sich hier um einen Gebetstext handelt und dieser
Entwurf ursprünglich im Rahmen des Philosophie- und nicht des Religionsunterrichts entstanden ist. Das Gebet scheint sich auf den ersten Blick einer
reflexiven Auseinandersetzung zu entziehen, kann es doch eigentlich gesprochen und
vollzogen werden allein im Innenraum des Glaubens. Gegen diesen Eindruck,
vielleicht besser ihn ergänzend und erweiternd, entwickle ich (in erkennbarer
Parallele zu den Ausführungen im Kapitel 2-1) die These, dass gerade über das
Gebet sich auch ein dem Glauben scheinbar fremder reflexiver Zugang eröffnen
kann. Grundlage für diese These bieten vor allem Aufbau, Struktur und Sinngehalt
des zur Debatte stehenden Psalms selber. Sie werden über einfache und zugleich
differenzierte Zugangsfragen erarbeitet. Einfach sind diese Fragen, weil sie sich nicht
auf eine ausführliche Auseinandersetzung mit exegetischer Fachliteratur einlassen98,
sondern sich aus der unmittelbaren Beobachtung des Textes ergeben. Differenziert
sind sie, weil sie darin gleichwohl einen geschärften Blick auf den Text voraussetzen, insbesondere hinsichtlich der im Kapiteln 2-2 vorgetragenen Kriterien zur
Auseinandersetzung mit religiöser Sprache. Insofern bietet das Kapitel 4-2 ein
Beispiel der konkreten unterrichtlichen Umsetzung der dort aufgestellten Thesen.
Zugleich zeigt gerade dieser Unterrichtsentwurf, dass erfahrungsorientiertes und
logisch-verständiges Lernen nicht nur nicht im Widerspruch zu sehen sind, sondern
sich gegenseitig ergänzen und stützen können. Wenn die Auseinandersetzung mit
dem Psalm 119 über einen rein ästhetischen Zugang eröffnet wird, so ist das kein
methodischer Trick, um Schülerinnen und Schüler, wie man so schön sagt, bei dem,
was ihnen nahe zu liegen scheint, dem sinnlichen Reiz also, „abzuholen“. Der ästhetische Zugang führte vielmehr zu Irritationen und Unverständnis, wenn seine Eindrücke, insbesondere das hebräische Schriftbild, aber auch eine fast technische Logik
in der Abfolge bestimmter Begriffe für „Wort Gottes“ nicht auch rational, ja im
Sinne technischer Erklärungen eingeholt würden. Dieser technische Zugriff würde
aber seinerseits sinnleer bleiben, gelänge es nicht, ihn wiederum an die konkrete
98
Das geschieht nicht nur deswegen nicht, weil es möglicherweise den Rahmen eines
Unterrichtsmodells sprengen würde, sondern zugegebenermaßen aus einem gewissen Vorbehalt
gegen (vorsichtig gesagt) nicht selten gegenüber dem inneren Sinn aufgrund übertriebener
Historizität oder auch Assoziativität äußerlich bleibenden Auslegungspraxis.
Einleitung
57
Erfahrung eines existentiellen Lebensvollzugs zurückzubinden, der erneut sprachlich,
nämlich durch die eindrückliche Übersetzung von Martin Buber sinnlich fassbare
Gestalt gewinnt. Für eben diese Bewegung von der unmittelbaren Erfahrung über
den reflexiven Nachvollzug zurück zu einer konkreten, also das Leben vermittelnden
Erfahrung bietet dieses Modell ein Beispiel.
Ein für religiöse Erziehung elementares Problem wird mit dem Kapitel (4-4) angerissen. Bei der Frage nach Moral und Ethik geht es zunächst einmal darum zu
klären, was eigentlich darunter zu verstehen ist. Das ist Thema des ersten Teils. Das
dient nicht als Selbstzweck oder im Sinne einer philosophischen Belehrung. Vielmehr hat eine solche Klärung erhebliche Konsequenzen auch für eine tragfähige
Religionspädagogik. Darauf gehe ich in diesem Kapitel selbst nicht weiter ein, weil
es (s.u.) in einem anderen Kontext entstanden ist. Zur Einbindung in den Rahmen der
vorliegenden Arbeit sind daher einige zusätzliche Erläuterungen hilfreich:
In das allgemein verbreitete Bedürfnis nach Orientierung, und um das genau geht
es hier, fließen religiöse wie moralische Motive ein. Weder aber geht Religion in
Moral auf, noch ist Moral allein aus Religion begründbar.99 Aus philosophischer
Sicht ist solch ein Satz unproblematisch. Theologisch, genauer gesagt kirchlich ist es
eher möglich, damit in die Schusslinie der Kritik zu geraten, was am Fall
Drewermann deutlich ablesbar ist: Sein ausführlich begründetes Plädoyer für eine
Nachordnung des Moralischen hinter das Religiöse100 sah sich heftigen Anfeindungen ausgesetzt. Umgekehrt geriet aber nicht erst in dieser Debatte das kirchliche
Lehramt in die Gefahr, den Vorrang des Glaubens durch eine Überbetonung der
Moral einzuschleifen, genauer den Glauben abhängig zu machen von der Beachtung
ganz bestimmter moralischer Normen.101 Dass dies erhebliche religionspädagogische
Konsequenzen hat, liegt auf der Hand: Die letztgenannten Tendenzen gaben denjenigen Meinungen Argumente in die Hand, die schon immer darauf drängten, den
Religionsunterricht als Institution vor allem moralischer Unterweisung zu verstehen.
Mit Sicherheit ist hierin ein eklatantes Missverständnis des religionsunterrichtlichen
Auftrags zu sehen ist, nicht nur im Sinne des schulischen Charakters von Religionsunterricht, welcher in meinen Augen so zu einem Instrument einer letztlich staatlich
99
Vgl. dazu auch die grundsätzlichen Überlegungen im Teil 1 dieser Einleitung zu einem (bloß) als
Moral wiederkehrenden Begriff von Religion.
100
Einschlägig vgl. dazu vor allem die dreibändigen Studien zu Psychoanalyse und Moraltheologie:
Drewermann (1982-84).
101
Diese Tendenz ist deutlich abzulesen an allen Verlautbarungen des kirchlichen Lehramts seit Mitte
der 80er-Jahre. Vgl. insbesondere die Enzyklika Veritas Splendor (Johannes Paul II. (1993)), aber
bereits auch die Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre (1990) über die kirchliche
Berufung des Theologen. – In der Fülle der Kritik zu diesem weitreichenden Problem kann ich
verweisen auf meine eigene Einlassung zur letztgenannten Instruktion: Petermann (1990).
58
Einleitung
gewollten Moralunterweisung verkommen würde, sondern auch im Horizont des
kirchlichen Lehrauftrags, im Religionsunterricht, „Glaube im Kontext des Lebens
vollziehbar, und das Leben im Lichte des Glaubens verstehbar“ zu machen, so die
berühmte Formel des Synodenbeschlusses von 1974.102
Hinter solch einem Verständnis steht systematisch sicher die insbesondere von
Karl Rahner insinuierte anthropologische Wende in der Theologie insgesamt, also
weg von einer deduktiv Glaubenssätze entfaltenden hin zu einer von menschlichem
Fragen und Infragegestelltsein ausgehenden Rede über Gott. Darauf kann Religionspädagogik heute ebenso wenig verzichten wie auf die konkreteren Einsichten zu
Fragen der moralischen Unterweisung. Als zentral darf in diesem Zusammenhang
angenommen werden die These von einer gerade auch im Horizont christlichen
Glaubens autonom sich verstehenden Moral.103 Natürlich muss man einräumen, dass
es zusätzlicher Überlegungen bedarf, darin nicht eine Moral relativierende und
entwertende Abkoppelung der Moral von religiöser Begründung zu sehen, sondern
vielmehr die Ermächtigung und den Auftrag zu eigenverantwortlichem Handeln aus
der Erfahrung geschenkter Freiheit heraus. Hat man dies aber einmal eingesehen, ist
es ganz leicht, die Rede von der biblischen Botschaft als Botschaft der Freiheit mit
Sinn zu füllen: Natürlich ist der Christ zu Nächstenliebe aufgefordert, nur weil er
zuvor sich als von Gott geliebt erfahren hat; und natürlich sind die sog. Zehn Gebote
keine Gesetze, sondern Weisungen zu eigener Verantwortung für gelingendes Leben,
weil ihnen die Erfahrung existentieller Freiheit vorausgeht; und natürlich ist der
Mensch in biblischer Sicht nur deswegen ein moralisches Wesen, also fähig zur
Unterscheidung von Gut und Böse, weil er sich als zu Freiheit und Verantwortung
geschaffenes Wesen verstehen darf; anders machen die zentralen biblischen Überlieferungen in Mk 12 (das Doppelgebot), Ex 20 (der Dekalog) und Gen 1/2 (die
Schöpfung) keinen Sinn. Theologisch ist es insofern klar, worauf an dieser Stelle zu
verweisen war, weil ich es im Kapitel 4-4 nur mit wenigen Strichen philosophisch zu
erläutern versuche: Zur Moral, gar zu der Moral lässt sich ernst genommen kein
Mensch erziehen; demgegenüber ist die Erziehung in Moral oder eine Erziehung
dazu, sich als moralisches Wesen ernst zu nehmen, sehr wohl ein Ziel von Bildung.
Dass sich mit dieser These das Kapitel leicht einbinden lässt in die Grundüberzeugung einer erfahrungsorientierten Religionspädagogik, liegt auf der Hand, kann
doch eine Erziehung dazu, sich als moralisches Wesen ernst zu nehmen nur gelingen,
wenn die Unterrichtenden auch die Schülerinnen und Schüler ernst nehmen. Zur
Erfahrungsorientierung gehören daher auch Hinweise einer entsprechenden didaktischen Umsetzung. Sie werden im zweiten Teil des Kapitels ausführlich und lebens102
Synode (1974), S. 136.
103
Vgl. dazu der wegweisende Titel von Alfons Auer (1971).
Einleitung
59
nah geboten, lebensnah, weil ich mich zum einen auf ganz aktuelle Konfliktfälle der
Bioethik konzentriere, die uns mit der neuen Eigentümlichkeit konfrontieren, dass
eine Entscheidungsfindung keineswegs durch den Fall selber schon präformiert ist;
denn bioethische Konfliktfälle bringen in der Regel ein hohes Maß an Komplexität,
ja Unübersichtlichkeit mit, was mit anderen moralischen Problemen nicht ohne
weiteres zu vergleichen ist. Das fordert ganz pragmatisch, und damit ist ein zweiter
Aspekt von Lebensnähe genannt, zu einer differenzierungsfähigen Ethik heraus, für
die ich im Abschnitt 2.2. eine übersichtliche Orientierung liefere. Und schließlich,
das ist die vielleicht entscheidende Dimension von Lebensnähe, sollen in einem
moralisch orientierten Unterricht die Schülerinnen und Schüler auch zu ganz
konkreten Entscheidungsfindungen ermutigt werden. Wie sie in geeigneter Weise
eigenständig und an der eigenen Erfahrungswelt orientiert in solche Prozesse verwickelt werden können, dazu bietet der Abschnitt 2.3. ganz konkrete Möglichkeiten.
Mit Moral hat auch das folgende Kapitel 4-5 zu tun. Nach alter philosophischer und
auch theologischer Tradition macht es jedoch guten Sinn, zwischen einer eher
individuellen Moral und einer Sozial-Moral zu unterscheiden. Natürlich wird es auch
die sog. Individualmoral letztlich immer mit dem anderen Menschen zu tun haben,
und umgekehrt wäre eine Sozial-Moral nicht mehr moralisch, würde sie dafür nicht
den moralischen Eigensinn des Einzelnen als einen elementaren Faktor ansehen. Und
doch greifen die jeweiligen Fragen in unterschiedliche Richtungen aus: Kommen
beide, Individualmoral wie Sozialmoral in der zweiten Kant’schen Frage überein
„Was soll ich tun?“, so tendiert die Individualmoral viel stärker zu der in die erste
Kant’sche Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des Wissens („Was kann ich
wissen?“) eingebundenen Frage „Wer bin ich?“, die Sozialmoral dagegen zu der die
Grenzen des zu Wissenden und des Machbaren betreffenden dritten Frage „Worauf
darf ich hoffen?“.
Von dieser Systematik her steht im Kapitel 4-5 das Verhältnis von Recht und
rechtstranszendierender Gerechtigkeit im Zentrum. Das wird jedoch nicht abstrakt
diskutiert, sondern anhand der Problematik der Menschenrechte, im zweiten Teil des
Kapitels exemplarisch zugespitzt auf das Menschenrecht auf Nahrung. In dieser
Konkretion gelingt es am eindringlichsten, die hier zur Debatte stehenden Kategorien
von Moral, Gefühl, Anspruch, Recht, Politik, Gerechtigkeit auszuloten und gegeneinander zu diskutieren (Abschnitt 1.1). Durch seinen lexikalischen Anspruch bietet
das Kapitel dazu freilich nur Impulse, wenn auch im zweiten Teil ganz konkret auf
Unterrichtspraxis zugeschnittene.
Systematisch interessant ist dabei zum einen sicher der Versuch eines Begriffs von
Menschenrechten (1.3), nicht um einer abstrakten Definition willen, sondern um für
60
Einleitung
die ganz konkrete Auseinandersetzung Problemhorizonte zu haben. Besonders
deutlich wird darin mein Anspruch, es in didaktischer Perspektive nicht bei bloßen
Informationen zu belassen, sondern eine solche Thematik problemorientiert und
erfahrungsdimensioniert aufzubereiten.
In philosophisch-theologischer Perspektive wie auch für den religionspädagogischen Rahmen meiner Arbeit ist zum anderen wichtig die geschichtsphilosophische
Perspektive, die historisch am klarsten aufbricht bei Benjamin (vgl. Abschnitt 1.4):
Systematisch kommt hier in dem ansonsten eher rechtsphilosophisch orientierten
Kapitel die Dimension des Religiösen zur Geltung. Sie sollte nicht verwechselt
werden mit einer besonders emphatischen moralischen Einstellung zur Frage der
Menschenrechte; dazu brauche ich, drastisch formuliert, keine Religion. Wenn sie
gleichwohl zu Konsequenzen für die Auseinandersetzung mit Menschenrechten
führt, dann vielmehr deshalb, weil damit ein alle rechtlichen Verhältnisse transzendierende sie aber zugleich auch der kritischen Prüfung unterwerfende Vision von
Gerechtigkeit ins Spiel kommt. In der Auseinandersetzung um Hunger bzw. den
elementaren Anspruch auf Sättigung kann das, so die These des zweiten Teils, für
Schülerinnen und Schüler besonders konkret zur Erfahrung wie zur Diskussion
gebracht werden.
Alle im Teil IV vorgestellten Modelle sind trotz des religionspädagogischen
Rahmens der Arbeit getragen von einer gezielt philosophischen Perspektive.
Natürlich ließen sich die genannten Themen durchaus auch anders unterrichtlich
aufbereiten. Doch mit der philosophischen Perspektive verbinde ich eine in den
anderen Kapiteln ausführlicher entfaltete Idee. Keineswegs nämlich ergibt sich der
philosophische Horizont lediglich aus den zufälligen Entstehungskontexten der
Modelle, in denen ich jeweils eher als Philosoph und weniger als Theologe gefragt
war. Auch für die religionspädagogische Fragestellung geben sie vielmehr Einblick
in die meine Arbeit insgesamt leitende Perspektive: In einem wie auch immer
verstandenen oder getragenen schulischen Unterricht in Religion geht es wesentlich
um Reflexion und Auseinandersetzung mit Gründen, Motiven und Perspektiven, nie
allein um Information. Dazu aber ist eine problemorientierte Aufbereitung von
Themen notwendig, für die die Philosophie jedenfalls die notwendigen analytischen
und kritischen Fragestellungen bereitstellen kann.
Einleitung
61
Teil V Religionsunterrichtliche Konzeptionen
Wenn ich gesagt habe, dass es mir in der vorliegenden Arbeit weniger um eine
religionsunterrichtliche Didaktik, sondern um eine Didaktik des Religiösen gehe,
mag die Überschrift dieses fünften Teils meiner Arbeit irritieren. In der Tat gilt sie in
einem engeren Sinne nur für die beiden ersten Kapitel. Denn sie haben auf den ersten
Blick tatsächlich eine im engeren Sinn rein religionsunterrichtliche Ausrichtung. Die
genauere Lektüre aber wird schnell darüber aufklären, dass auch hier die bildungskonzeptionelle Umsetzung meiner im Teil I elaborierten Perspektive einer allgemeinen, nicht nur religionsunterrichtlich zu verstehenden Didaktik des Religiösen das
tragende Fundament der Auseinandersetzung bildet. Freilich sind diese konzeptionellen Gedanken aus der intensiven mehrjährigen Auseinandersetzung um eine
tragfähige Konzeption des traditionellen konfessionellen katholischen Religionsunterrichts entstanden (vgl. Vorwort). Die Dokumentation wichtiger Stationen eben
dieser Auseinandersetzung ist ein Anliegen dieses fünften Teils. Gleichwohl hat er
nicht rein historisch-biografischen Charakter, sondern bringt auch in den beiden
ersten Kapiteln, in den beiden anderen ohnehin, mein grundsätzliches Interesse an
tragfähigen Konzeptionen eines Unterrichts in Religion zum Ausdruck.
Von den Teilen I und II unterscheidet sich dieser Teil V, weil nicht mehr die
Begründung einer Didaktik des Religiösen im Mittelpunkt steht, von den Teilen III
und IV, weil es hier nicht in erster Linie um konkrete Unterrichtspraxis geht.
Vielmehr gilt das Interesse nunmehr konzeptionellen Rahmenbedingungen, unter
denen die zuvor skizzierte Didaktik und Unterrichtspraxis zur Entfaltung kommen
können. Dabei gehe ich gewissermaßen eher von innen nach außen vor: Thema des
Kapitels 5-1 sind Schulbücher, Thema des Kapitels 5-2 Lehrpläne, Kapitel 5-3
verteidigt einen kirchlich verantwortetem Religionsunterricht gegen einen vom Staat
eingerichteten allgemeinen Ethikunterricht, und Kapitel 5-4 diskutiert Möglichkeiten
zur Konkretisierung einer Fächergruppe Philosophie - Religion - Ethik.
Das Kapitel 5-1 setzt sich ausführlich mit der Religionsbuchreihe von Hubertus
Halbfas auseinander. Der normale Rahmen einer Rezension wird dabei freilich
verlassen; sowohl vom Umfang, vor allem aber von ihrem systematischen Anspruch
her problematisiert diese Auseinandersetzung zugleich Grundlagen gelingender
religiöser Bildung. In zehn Unterpunkten rekonstruiere ich zunächst die Konzeption,
die diesem Werk zugrunde liegt, und biete damit konkret Einblick auch in
Grundsätze der Halbfas’schen Religionspädagogik, nicht zuletzt um sie in ihrem
Anliegen gegen diverse Vorwürfe auch zu verteidigen. So wird vor allem die
Erfahrungsdimensionierung gegen den Vorwurf der Unterbietung konfessioneller
62
Einleitung
Glaubensvermittlung gerechtfertigt104 wie auch das hohe Anspruchsniveau gegen den
Vorwurf der Überforderung der Schülerinnen und Schüler.105 Zugleich liefern diese
Punkte jedoch Kriterien für ein gelungenes Religionsbuch überhaupt. Vor allem drei
Aspekte sind dabei festzuhalten:
Mit dem Stichwort „Einwurzelung“ wird für eine Pädagogik geworben, die einen
Sinn entwickelt für längerfristig angelegte, also nicht aktuell überprüfbare, sowie
subjektiv eigene und nicht objektiv deduzier- und vermittelbare Lernprozesse
(vgl. die Punkte 7, 8, 9). Das sog. Korrelationsprinzip erfährt darin eine
Einlösung durch konkrete Unterrichtskonzeption. In diesem Sinne plädiere auch
ich in meiner Arbeit für einen auf Sensibilisierung für das Religiöse angelegten
Unterricht in Religion.106
Den als Punkt 3 skizzierten Aspekt einer religiösen Sprachlehre halte ich, wie
im Teil II der Arbeit ausgeführt, in den Kapiteln 1-3 und 1-4 begründet und im
Kapitel 4-3 entfaltet, für eine notwendige und unerlässliche Ebene gelingender
religiöser Bildung.
Und schließlich ist gegen unverbindlich und beliebig bleibende Unterrichtseinfälle hervorzuheben das Konzept eines aufbauenden Lernens, das entwicklungspsychologisch, vor allem aber sachlich gut begründet bestimmte Themenstellungen bestimmten Jahrgangsstufen zuordnet.
Vor allem dieser letzte Aspekt wird aufgenommen auch im Kapitel 5-2. Es bietet in
seinem ersten Teil streckenweise nur eine Zusammenfassung des vorangegangenen
Kapitels. Noch expliziter aber als im Kapitel 5-1 wird die Auseinandersetzung mit
den Religionsbüchern von Halbfas zum Mittel genommen, einige grundlegende
Kriterien für tragfähigen Religionsunterricht allgemein und für Religionsbücher im
besonderen zu benennen und kurz zu erläutern, auch im einleitenden Teil.
Der zweite Teil dieses Kapitels ist auf den ersten Blick von nur historiografischem
Wert, weil er mit seiner These, der baden-württembergische Lehrplan und der Plan
der Halbfas-Bücher seien kompatibel, auf einen inzwischen veralteten Lehrplan
zurückgreift. Nicht veraltet aber ist das damit benannte Problem: Warum, so muss
104
Dieser Vorwurf wurde bekanntlich bereits in den 70er- und 80er-Jahren geäußert und ist jetzt mit
variierter Motivation erneuert worden etwa bei Ruster (2000). Vgl. auch Halbfas/Ruster (2001).
105
Vgl. in diesem Zusammenhang die unmittelbare Reaktion von A.A. Bucher (1992b) auf Halbfas
allgemein und meine Rezension im besonderen. Ich fand seinerzeit leider keine Gelegenheit, in
diese Debatte einzugreifen, verweise aber vor allem auf die Ausführungen von Halbfas zur Frage
„Was heißt ‚kindgemäß’?“ (in: Wurzelwerk. 1989, S. 319ff), die Diskussion bei Allmen (1992,
insbes. S. 194ff) und die Belege von Oberthür (1995) zum metaphorischen Denken bei Kindern.
106
Vgl. dazu die im Kapitel 1-4 erläuterte Ebene (1) einer Didaktik des Religiösen.
Einleitung
63
mit Halbfas kritisch gefragt werden, werden immer wieder Lehrpläne nur am grünen
Tisch produziert, nach denen dann in aller Schnelle und oft eher schlecht als recht
Schulbücher gestrickt werden; und warum geht es nicht auch anders, dass aus einem
vernünftig gedachten Schulbuchkonzept her tragfähige Lehrpläne abgeleitet
werden?
Mit dem Kapitel 5-3 wechselt der Blick zu bildungspolitischen Auseinandersetzungen. Diskutiert werden sie anhand der Kontroverse um das brandenburgische
Schulfach „LER“ („Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde“). Diese Kontroverse nehme ich wiederum eher zum Anlass, auch grundsätzliche Überlegungen zu
einem Religionsunterricht der Zukunft anzustellen. So wird in der kurzen Skizze zur
Geschichte von LER (Abschnitt 1) eine Sympathie für den ursprünglichen Ansatz
des Fachs deutlich, die in meinem eigenen im Kapitel 5-4 vorgetragenen Vorschlag
aufgenommen wird. Auch die Rekonstruktion wichtiger in der Anfangsphase der
Diskussion107 geführter Argumente im Abschnitt 2 geschieht weniger historisierend
als vielmehr im Bemühen, die zentralen Kriterien für einen öffentlich eingerichteten
Unterricht in Religion gegeneinander abzuwägen, das verfassungsrechtliche, das
demografische, das schulreformerisch-demokratische und das konfessionstheoretische. Insofern glaube ich, in diesem Beitrag die zentralen Argumente in der
langwierigen Auseinandersetzung um LER auf den Punkt gebracht zu haben.
Konsequent schließt das Kapitel mit eigenen Thesen für einen Religionsunterricht
der Zukunft. Sie haben an dieser Stelle in der Tat eher dokumentarischen Charakter,
insofern durch sie zum einen seinerzeit nicht unwichtige Diskussionen ausgelöst
worden sind108, zum anderen, weil sie für mich selbst wichtige Anstöße geliefert
haben zu den sehr viel präziseren Überlegungen im Teil I der Arbeit wie im
abschließenden Kapitel 5-4.
Als Schlusspunkt der Arbeit ist das Kapitel 5-4 umfangreicher geraten als ursprünglich avisiert. Grund dafür ist, dass mein Vorschlag einer die Schülerinnen und
Schüler integrierenden wie auch differenzierenden Fächergruppe Religion-EthikPhilosophie, den ich im Teil (3) vorlege, genauer begründet werden musste, um ihn
auch als logische Konsequenz meiner Arbeitsthese herausstellen zu können.
Dazu liefert der erste Teil (1) eine umfangreichere und, wie ich meine, recht
präzise systematische Auseinandersetzung mit dem Konfessionalitätsprinzip,
zunächst (1.1) mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben zum Religionsunterricht in
107
Das Kapitel geht zurück auf einen bereits 1996 veröffentlichten Aufsatz.
108
Gemeint sind intensive Auseinandersetzungen sowohl auf Verbandsebene wie auch überregional;
vgl. die genaueren Hinweise im Kapitel.
64
Einleitung
Deutschland, an denen auch der Ethikunterricht hängt, hinsichtlich seiner religiösen
bzw. religionskundlichen Perspektive ohnehin. Die religionspädagogisch sicher
interessanteste Auseinandersetzung folgt im Abschnitt 1.2, der das kirchlicherseits
vorgebrachte Konfessionalitätsprinzip in theologisch-dogmatischer Perspektive
kritisch unter die Lupe nimmt. Ein kürzerer Abschnitt 1.3 greift dann die Überlegungen aus dem ersten Teil der Arbeit auf und führt zu einer differenzierenden
Klärung der hier zur Debatte stehenden Ebenen von Religiosität, Glaube, Bekenntnis,
Konfession, Religion. Daraus werden dann im Abschnitt 1.4 die Konsequenzen
gezogen für die entscheidende Frage, um welchen Sinn von Religion es in einem an
öffentlichen Schulen eingerichteten Religions- wie Ethik-Unterricht eigentlich zu
gehen hat.
Um zu dokumentieren, dass mein eigener Vorschlag nicht im luftleeren Raum
anzusiedeln ist, liefert der zweite Teil des Kapitels (2) dann einen relativ kurzen
kritischen Überblick zu anderen Modellen eines kooperativen Unterricht in Religion.
Im Horizont dieser Diskussionen ist schließlich mein Vorschlag zu verorten zu
einem Unterricht in Religion, der einerseits die Schülerinnen und Schüler aller
Herkunft und Konfession zu integrieren und zur gemeinsamen Auseinandersetzung
zu führen in der Lage ist, andererseits auch konfessionell differenziert, um ihren je
besonderen und auch unterschiedlichen Beheimatungen wie Neigungen gerecht zu
werden (Teil 3). Der Vorschlag weiß als Organisationsmodell um seinen visionären
Charakter, ist jedoch davon überzeugt, dass er ein realistisches und auch umsetzungsfähiges Modell anbietet, das die bisherigen Formen von Religions- und Ethikunterricht in Deutschland nicht nur nicht ins Abseits führt, (was in meinen Augen
durch eine weitere Diversifikation etwa durch Aufnahme von Islamunterricht in
unterschiedlicher konfessioneller Prägung droht), sondern die unterschiedlichen
berechtigten Ansprüche und Erwartungen an diese Fächer gerade ernst nimmt und zu
integrieren beansprucht. Insofern bildet dieser Vorschlag mit Grund den Schlussstein
meiner Auseinandersetzungen mit den Möglichkeiten, Religion zur Erfahrung zu
bringen.
3.2
Baustein-Didaktik
Dem aufmerksamen Leser wird nicht die stilistische Heterogenität der einzelnen
Teile und Kapitel entgehen. Sie ist kurz zu erläutern. Als erste Rechtfertigung mag
der unterschiedliche Entstehungskontext gelten. In der Tat sind die meisten Teile der
Arbeit zunächst unabhängig vom Plan einer religionspädagogischen Dissertation
Einleitung
65
entstanden.109 Da es sich dabei zum großen Teil um bereits veröffentlichte oder für
eine unmittelbar bevorstehende Veröffentlichung angefertigte Arbeiten handelt,
waren damit auch unterschiedliche Gliederungs- und Zitationsformen vorgegeben.
Sie habe ich zumindest insofern in eine einheitliche Form gebracht, als a) alle Zitate
und Verweise in Fußnoten nachgewiesen werden, b) alle zitierte und verwendete
Literatur im Literaturverzeichnis aufgeführt ist110 und c) eine durchgängig einheitliche auf Lesbarkeit hin angelegte Gliederung der Unterabschnitte eingearbeitet
wurde.
Wichtiger ist der Verweis, dass die ursprünglichen Zusammenhänge auch je unterschiedliche Formen der Darstellung erforderten. Sie habe ich nicht nur aus Bequemlichkeit weitgehend beibehalten. Damit soll einerseits dem dokumentarischen
Interesse meiner Arbeit Genüge getan werden; so habe ich bewusst, aber jeweils
begründet (so etwa für die Kapitel 5-2 und 5-3) darauf verzichtet, hier oder da
möglicherweise sinnvolle Ergänzungen aus heutiger Sicht oder aufgrund neuerer
Literatur vorzunehmen. Vor allem aber habe ich für die einzelnen Kapitel den sehr
unterschiedlichen Adressaten-Kontext und weitgehend auch den ursprünglich
inneren Zusammenhang der Gedankenführung beibehalten. Darum finden sich neben
wissenschaftlich angelegten Kapiteln (insbesondere gilt das für den Teil 1, bedingt
auch für Kapitel 5-4) eher lexikalisch-zusammenfassende (wie 2-2 oder 4-5); andere
sind ganz auf Lehrerfortbildung ausgerichtet (wie 4-4) oder haben gar essayistischen
Stil (wie 2-1). In dieser Zusammenstellung finden sich hier und da auch Parallelen,
auf die ich nach Möglichkeit per Fußnote aufmerksam mache; nur offenkundige
Dubletten, die für den ursprünglichen Kontext unproblematisch, ja für den
Zusammenhalt sinnvoll waren, habe ich gestrichen und durch Verweise auf das
jeweils einschlägigere Kapitel ersetzt.
Der Preis für diese Zusammenstellung auch heterogener Teile sind Mängel in der
inneren Systematik der einzelnen Teile, die auch durch den größeren Zusammenhang,
den ich oben im Teil (2) der Einleitung zur Kategorie der Erfahrung hergestellt habe,
nicht behoben werden. Das mag aus wissenschaftlicher Sicht, gerade in philosophischer Perspektive, schmerzlich sein, weil keineswegs notwendig oder zumindest
naheliegend sich ein Gedanke konsequent aus dem vorangegangenen ergibt. Doch ist
109
Darüber wird zu Beginn der Kapitel per Fußnote jeweils kurz Auskunft gegeben. In den meisten
Fällen führte der Einbau in den Rahmen der vorliegenden Arbeit jedoch auch zu mehr oder
weniger großen inhaltlichen Eingriffen oder Umstellungen.
110
Der Lesbarkeit halber sind aber die Anmerkungen selbst nicht alle in die gleiche Form gebracht;
so finden sich in den Fußnoten teilweise, wie oft üblich, schlicht Autorenname mit
Erscheinungsjahr und Seitenzahl unter Verweis auf das Literaturverzeichnis, zuweilen habe ich es
aber bei der wegen des Literaturverzeichnisses an sich überflüssigen ausführlichen Literaturangabe
belassen, um unbequemes Herumblättern zu vermeiden und so bestimmte Teile in ihrem
ursprünglichen Zusammenhang für sich lesbar zu halten
66
Einleitung
es nicht abwegig, darin auch einen Vorteil zu sehen, ist es doch mein Interesse nicht,
den ursprünglichen Kontext für die vorliegende Arbeit zu übertünchen, sondern
vielmehr als Teil meiner These gerade herauszustellen. Religion zur Erfahrung zu
bringen, das geschieht eben stets kontextbezogen; und so liegt gerade darin ein Reiz,
von Religion einmal im Kontext eines wissenschaftlichen Diskurses über die
Aufgaben und das Selbstverständnis von Philosophie zu reden (in 1-3), ein andermal
im Kontext einer erfahrungsorientierten Einführung ins Philosophieren (in 4-1), im
Kontext der Orientierung für Nichtphilosophen und Nichttheologen (in 4-4) oder im
Kontext religionsunterrichtlicher Selbstbesinnung (in 2-1), in Konzentration auf ein
spezifisch religiöses Thema (in 2-2) oder im Zusammenhang eines eher politischen
Themas (in 4-5), im Versuch einer wissenschaftlichen Bestimmung des Religiösen
(in 1-1 oder 1-3) oder in der exemplarischen unterrichtlichen Umsetzung (im Teil
IV) oder im Versuch bildungspolitischer Konzeptionen (im Teil V).
Mit solcher Kontextualisierung sollte sich eine wissenschaftliche Arbeit freilich
nicht ohne Not an zufällige Figuren des Zeitgeschmacks angleichen. Und das täte sie,
wenn ich unter Verabschiedung des Gedankens einer einheitlichen Systematik die
postmoderne Patchwork-Struktur zum Form-Prinzip erheben würde, zumal dies mit
eigenen im Teil I entwickelten Prinzipien im Gegensatz stehen würde. Gleichwohl
kann man sich nicht davor verschließen, dass Zeiten, in denen sich Sinn aus einem
einheitlichen Konzept stiften ließe und dies zudem zu einer allgemeinen und
allgemeingültigen Anerkennung führen würde, zumindest faktisch vorbei sind.
Insofern sollte man sich davor hüten, und sei es als Gegenrezept, mit Versuchen
eines einheitlichen Konzepts etwas gegen vielerorts zu beobachtenden Diversifikationstendenzen zu setzen, es sei denn, man würde die Rettung in Fundamentalismen sehen. Davon kann und darf aber schon deshalb nicht die Rede sein, wenn es,
wie bei religiöser Bildung, um eine Auseinandersetzung und eine Bildung des
Menschen mit bzw. zu sich selbst geht, ein Konzept, das nicht nur konträr zu jeder
Form von Fremdbestimmung läuft, sondern sich als innerster Gegensatz zu
Fremdbestimmung versteht. Das mag wiederum den Grund dafür liefern, Bildung
über möglichst viele Facetten, Perspektiven und Dimensionen anzusprechen, nicht
nur weil es viele mögliche Bildungswege gibt, sondern weil Bildung sich auch wohl
erst im Zusammenwirken vielfältiger Ebenen einstellt.
Insofern mag man es nicht nur als Mangel ansehen, viele Punkte eher nur skizzenhaft anzudeuten statt konzentriert systematisch auch auszuleuchten, sondern als
Möglichkeit, zu weiteren Gedanken anzuregen statt ein fertiges Konzept schlicht zu
vermitteln. Zu solch freundlicher Lesart der einzelnen Kapitel lädt meine Arbeit ein.
I
Religionsphilosophische
Grundlegung
Abgrenzungen und Fragestellung
einer philosophisch begründeten
Didaktik des Religiösen 1
„Religion ist eine der wichtigsten Angelegenheiten unseres Lebens.“2 - Vor gut 200
Jahren konnte der spätere Systemphilosoph des Deutschen Idealismus, der damals
noch junge Student der Theologie Georg Wilhelm Friedrich Hegel diese Meinung
noch ganz selbstverständlich zu Papier bringen. Freilich hatte Hegel bereits damals
ganz unorthodox einen institutionenkritischen Blick auf Religion3: Gegen „ein totes
Kapital … von religiösen Kenntnissen“ setzte Hegel auf eine Religion, die einerseits
gut aufklärerisch ganz „auf der allgemeinen Vernunft gegründet“ ist, andererseits
gegen die Abstraktheit des bloß „raisonierenden Verstandes“ vor allem „Herz und
Phantasie beschäftigt“.
1
Dieses und die als Teil I nachfolgenden Kapitel sind eine umgearbeitete, um einige Anmerkungen
gekürzte und aktualisierte, an anderen Stellen um Erläuterungen nicht unwesentlich erweiterte
Fassung meiner Abhandlung: Religion zur Sprache bringen. Lehraufgaben im Bereich aus philosophiedidaktischer Perspektive. In: Dieter Fauth / Ulrich Bubenheimer (Hg.): Hochschullehre und
Religion – Perspektiven verschiedener Fachdisziplinen. Würzburg: Religion & Kultur 2000, S.1769. – Die Herausgeber hatten für diesen Band Vertreter verschiedener Fachdisziplinen um Beiträge
zu der Frage gebeten, welche Rolle die Religion in der Lehre und Ausbildung der jeweiligen
Fächer spielt. Zugleich war damit die Gelegenheit geboten, das „Religion“ eingehender zum
Thema der Auseinandersetzung zu machen, als dies in Aufsätzen üblicher Länge möglich ist. Ich
habe damals versucht, diese Gelegenheit ausgiebig zu nutzen, so dass bald die ursprünglich
geplante Länge erheblich überschritten wurde. Das war vor allem darin begründet, nicht nur die
faktische Rolle zu beleuchten, die das Thema Religion im philosophischen Zweig der Lehrerbildung spielt, sondern dafür zugleich eine Begründung zu liefern. Dieser Versuch bietet sich
darum gut an als Grundlegungskapitel für die vorliegende Arbeit.
2
Dieses wie die folgenden Zitate stammen aus Hegels Fragment 1 der sog. „Fragmente über Volksreligion und Christentum“ vom Winter 1792/93; in: Hegel, Werke. Bd.1. Ed. Moldenhauer /
Michel. Frankfurt 1970, S. 9ff. - Die sog. Jugendschriften Hegels bieten bekanntlich reichhaltiges
Material für das auch hier zur Debatte stehende Verhältnis von Religion und Philosophie. Die
frühesten Fragmente aus der Tübinger Studentenzeit konzentrieren dieses Thema zudem auf eine
aufklärerisch gefasste Bildungskonzeption. Das erklärt die Rezeptions-Renaissance dieser
Schriften zu Beginn des 20.Jh. (vgl. insbes. Dilthey (1905), Nohl (1907)) wie auch unter stärker
gesellschaftspolitischen Fragestellungen in den 50er- und 60er-Jahren (vgl. Lukács (1948), Ritter
(1965)). Mich selbst haben diese Schriften seit dem Theologiestudium beschäftigt und waren
Thema der theologischen Diplomarbeit unter dem Titel: Der Anspruch der Versöhnung unter den
Bedingungen der Geschichte. Überhänge aus der Rezeptionsgeschichte der Hegelschen Jugendfragmente zur Klärung ihrer systematischen Implikationen und ihrer Bedeutung für die Theologie.
MS (113 + 39 S.)Tübingen 1975.
3
Biografisch erklären sich diese orthodoxiekritischen Äußerungen aus Hegels Begegnungen mit der
Schultheologie in seinen Tübinger Studienjahren.
1 Religionsphilosophische Grundlegung
71
In dieser Perspektive galt Religion für Hegel, und damit sind wir beim Thema, als
wesentliches Element von Bildung: Dass aus den natürlichen Anlagen des Menschen
„eine wirkliche Rezeptivität für moralische Ideen und Empfindungen entstehe, dies
ist Sache der Erziehung, Bildung“; und eben „die Religion gibt also der Moralität
und ihren Beweggründen einen neuen erhabeneren Schwung“. Religion bietet für
Hegel mehr als individuellen Seelentrost; „die Kraft der Religion [muss] in das
Gewebe der menschlichen Empfindungen eingemischt, ihren Triebfedern zum
Handeln beigesellt [sein] und sich in ihnen lebendig und wirksam erweise[n]“.
Heute, gut 200 Jahre später, muss Hegels Auskunft anachronistisch erscheinen.
Auch wenn der religiösen Frage, ja selbst der Gottesfrage „an der Schwelle des
Jahrtausends“ wieder hohes Interesse entgegengebracht wird4, bereitet es heute
gerade in philosophischer Perspektive eher Probleme, sich mit der Frage nach
Religion auseinander zu setzen. Doch Schwierigkeiten schärfen den Blick, verdeutlichen Stoßrichtungen und gliedern Gedanken; darum beginne ich mit einigen
Problemen, die sich in den Weg stellen, soll, so die Zielsetzung der nachfolgenden
Kapitel, der Umgang mit Religion unter der Perspektive von Bildung beschrieben,
4
Während 1999 der diesem Kapitel zugrundeliegende Beitrag verfasst wurde, mussten dem
aufmerksamen Zeitgenossen eine Reihe aktueller Beiträge ins Auge fallen: Nicht nur die Theologie, insbesondere in ihrer religionssoziologischen Disziplin, auch Organe, von denen man es
weniger erwarten würde, griffen 1999 die religiöse Frage intensiviert auf: So veröffentlichte die
Wochenzeitung für Deutschlands Bildungsbürgertum [„Die ZEIT“] in ihrem Magazin „Leben“
unter der ständigen Rubrik „Entscheiden“ (!!) am 24.6.1999, S.8, einen Beitrag von Franz Kardinal König mit der eigentümlichen Ankündigung „An der Schwelle des Jahrtausends stellt sich erst
recht die Gottesfrage - auch für Sie.“ Die Formulierung „erst recht“ indiziert, dass die Gottesfrage
in einer Zeit gestellt werde bzw. werden müsse, die sich vordergründig bereits von ihr verabschiedet habe. Und die Zuspitzung „auch für Sie“ unterläuft das gängige Urteil, der religiöse
Mensch am Ende des 20. Jahrhunderts sei in der Minderheit und zunehmend weniger in der
Schicht der aufgeklärten, das eigene Leben selbst bestimmenden und organisierenden Menschen
der reichen Industrienationen zu finden. - Gegen dieses Vorurteil, explizit sogar gegen die spätoder nach-aufklärerische Interesselosigkeit, sich im dritten Jahrtausend noch mit dem Thema
„Religion“ auseinander zu setzen, veröffentlichte die spätaufklärerische Zeitschrift für europäisches Denken, die nach eigener Auskunft „nie theologische Interessen“ verfochten habe, der
„Merkur“, sein Doppelheft im Herbst 1999 zum Thema „Nach Gott fragen. Über das Religiöse“
[Merkur. Heft 605/606, hg. v. K.H.Bohrer u. K.Scheel, Stuttgart 1999]; die Herausgeber behaupten
gar, wer sich mit dieser Frage nicht auseinandersetze, nehme Schaden „an seinem Intellekt“,
gerade auch der sog. Ungläubige (S.771). - Das dritte Beispiel: Ein wenig vorsichtiger, vielleicht
spöttischer im Titel, doch in gleicher Weise an der Frage interessiert: „Welche philosophischen
Bedingungen des menschlichen Weltbezuges sind es, die dazu führen, dass alle Kulturen Religion
ausbilden?“ konzipierte das unorthodoxe, eher an philosophischen Nachtstücken denn an traditionellen Diskursen interessierte Journal für Philosophie „der blaue reiter“ sein letztes Heft 1999
zum Thema „Götter“ [der blaue reiter. Journal für Philosophie. Nr.10. Stuttgart 1999]. Schließlich: Die letzte TV-Sendung des sog. „Baden-Badener Disputs“ im Jahr 1999, also im
ausgehenden zweiten Jahrtausend, sollte sich dem Thema stellen: „Hat Gott noch Zukunft?“ Dass bei Redaktion des Kapitels für den Zusammenhang der vorliegenden Arbeit Ende 2001
dieses Thema erneut in den Mittelpunkt deutscher Feuilletons rückte, dazu s.o. meine Einlassungen zur Wiederkehr des Religiösen im Einleitungskapitel im Abschnitt 1.
72
1 Religionsphilosophische Grundlegung
kritisch beleuchtet und auch begründet werden. Vier Probleme sehe ich vor allem,
die kurz zu entfalten sind, um damit zugleich die Zielsetzungen der vier Folgekapitel
(1-1, 1-2, 1-3, 1-4) zu skizzieren:
(1) Macht es in säkularen Zeiten überhaupt noch Sinn, sich auf die Frage nach
Religion einzulassen?
(2) Warum und wie kann heute sinnvoll von Religion als „Bildungsgut“ geredet
werden?
(3) Welche grundsätzlichen Orientierungen liefert dafür ein philosophischer
Begriff von Religion?
(4) Welche Grundlinien einer Didaktik des Religiösen sollten aus Sicht der
Philosophie im Kontext schulischer Bildung festgehalten werden?
(1) Die Ausgangsschwierigkeit ist wissenschaftstheoretischer bzw. wissenschaftsgeschichtlicher Natur. Genauer steht die Konkurrenz von Philosophie und Soziologie
in ihrem Blick auf Religion zur Debatte. Das Eingangszitat von Hegel verdeutlicht,
dass für Hegel ein philosophischer von einem soziologischen Blick auf Religion
nicht zu trennen war. Wie sonst könnte die Religion ganz selbstverständlich als eine
„Angelegenheit unseres Lebens“ in den Blick genommen werden und zugleich eben
damit nach einem „Begriff der Religion“ gefragt werden? Gerade Hegel gehört zu
den neuzeitlichen Philosophen, die den genauen nicht nur diagnostischen, sondern
zunächst auch schlicht historiografischen Blick auf Wirklichkeit zum Fundament
philosophischer Spekulationen gemacht haben. Wie sonst wäre sein berühmter Satz
zu verstehen, Aufgabe der Philosophie sei es, das was ist zu begreifen.5 Dieses
Verständnis von Philosophie zieht sich zweifelsohne bis in die gegenwärtige
Philosophie; insbesondere die Kritische Theorie der Frankfurter Schule hat es
geradezu zu ihrem Grunddogma erhoben.6 Und doch ist die Philosophie heute mehr
5
Hegel (1821): Grundlinien der Philosophie des Rechts. Vorrede.
6
Vgl. dazu als zentrale Dokumente zu Entstehung und Selbstverständnis der Kritischen Theorien
der (älteren) Frankfurter Schule: Max Horkheimer: Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie
und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung [1931]; in: Ges.Schr. Bd.3, Frankfurt 1988,
S.20ff; sowie der berühmte Aufsatz Horkheimers von 1937: Traditionelle und Kritische Theorie;
in: Ges. Sch. Bd. 4, Frankfurt 1988, S.162ff; auch die Antrittsvorlesung von 1931 von Theodor W.
Adorno: Die Aktualität der Philosophie; in: Ges.Schr. Bd. 1, Frankfurt 1973, S. 325ff.
Programmatisch fordert vor allem Horkheimer in seinem Eröffnungsvortrag als Direktor des
berühmten Frankfurter Instituts für Sozialforschung eine Sozialphilosophie, die „sich daher vor
allem um solche Phänomene zu bekümmern [habe], die nur im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Leben der Menschen verstanden werden können“, worunter Horkheimer ausdrücklich
auch die Religion zählt (a.a.O. S.20).
Auch der eher theoretisch denkende Adorno ist davon überzeugt, dass alle philosophische Deutung
„ihr einzelwissenschaftliches Material vorwiegend der Soziologie zu entnehmen habe“ (a.a.O.
S.340), ja plädiert nach dem „endgültige(n) Zerfall der phänomenologischen Philosophie“ (331)
1 Religionsphilosophische Grundlegung
73
denn je auf Eckdaten angewiesen, die sie einer selbständig gewordenen soziologischen Wissenschaft verdankt. Das hat aber bisweilen dazu geführt, dass die
Soziologie glaubt, die Philosophie beerben und ersetzen zu können. Zumindest
hinsichtlich der Religion ist dies meines Erachtens ein schwerer Irrtum, weil so
elementare Dimensionen des Phänomens Religion nicht genügend in den Blick
kommen; auch deshalb bin ich von der Notwendigkeit einer philosophischer Theorie
von Religion überzeugt. Dafür eine Begründung zu liefern, die soziologischer
Diagnostik nicht nur standhält, sondern sie überhaupt erst recht zu deuten weiß, dem
dient das erste Teilkapitel.
(2) Die zweite und für den Zusammenhang vielleicht zentrale Schwierigkeit ist
bildungstheoretischer Natur: Philosophie hat im deutschen Bildungssystem,
insbesondere an höheren Schulen, stets eine Rolle gespielt, wenngleich in den letzten
Jahren eher nur als ergänzendes Wahlfach7. Doch mit der Etablierung eines
Alternativfachs8 für den Religionsunterricht wächst der Philosophie eine ganz neue
Aufgabe zu, nämlich die der entsprechenden Bezugswissenschaft und Lehrerfür eine Verwandlung der Philosophie „in philosophischen Essayismus“ (343), der es dann in nur
noch kritischer Perspektive darum zu gehen habe, „im kleinen einzudringen, im kleinen die Maße
des bloß Seienden zu sprengen“, so der letzte Satz des Aufsatzes (344). Freilich weist Adorno
zugleich darauf hin, dass Fakten noch nicht für sich selbst sprechen, sondern gedeutet werden
müssen, und zwar in folgender, deutlich hegelianisch-marxistischer Weise: „Deutung des Intentionslosen durch Zusammenstellung der analytisch isolierten Elemente und Erhellung des
Wirklichen kraft solcher Deutung: das ist das Programm jeder echten materialistischen
Erkenntnis.“ (336).
Diese Auffassung von Philosophie als Kritischer Theorie reicht trotz der Kritik an geschichtsphilosophischen Interpretamenten bei Adorno und Horkheimer hinüber auch bis zu den vielfältigen
Entwürfen von Jürgen Habermas, etwa in seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ (Frankfurt 1981)
7
Nur wenige Länder sehen z.Zt. überhaupt (noch) die Möglichkeit eines eigenständigen, d.h. zunächst einmal von einem Alternativfach gegenüber Religion prinzipiell unterschiedenen Unterrichtsfachs Philosophie vor. Mit der wieder zunehmend stärkeren Festlegung des Fächerkanons in
der Sekundarstufe II ist aber faktisch auch die Attraktivität eines zusätzlichen Wahlfachs für
Schüler gesunken. In Nordrhein-Westfalen etwa, wo sogar Leistungskurse in Philosophie vorgesehen waren, wird diese Möglichkeit heute meines Wissens kaum noch wahrgenommen.
8
In der bildungspolitischen Diskussion um ein solches Fach ist man sich inzwischen weitgehend
einig, dass die Nomenklatur „Ersatzfach“ unangemessen, zumindest aber anachronistisch ist, vor
allem wenn man auf die ostdeutschen Bundesländer schaut. Ausgehend von K.E. Nipkows Idee
einer Fächergruppe (vgl. Nipkow 1998 sowie Evangelische Kirche 1994) und angesichts der
Diskussionen zum Brandenburgischen Fach „LER“ (vgl. dazu unten Kap. 4-4-1) scheint sich
zunehmend das Konzept eines Wahlpflichtbereichs durchzusetzen, in dem neben dem tradierten
konfessionellen Religionsunterricht ein philosophisch fundierter Ethikunterricht fest verankert ist.
Der angemessene Name für ein solches Alternativfach zum Religionsunterricht ist hingegen bis
heute umstritten, die Angebote lauten von „Ethik“, über „Werte und Normen“, „Praktische Philosophie“, bis zu „Philosophie“. Dass sich hinter dem Namen auch konzeptionelle Unterschiede
verbergen, ist offenkundig. - Vgl. dazu meine Bemerkungen zum Verständnis philosophischer
Ethik in Kapitel 1-3. - Zum Thema Fächergruppe sei verwiesen auf das Abschlusskapitel 5-4.
74
1 Religionsphilosophische Grundlegung
ausbildung. Entsprechende Angebote an den Hochschulen sind jedoch noch nicht
recht etabliert.9 In der Tat hat sich, wie etwa Matthias Tichy bemerkt10, die Fachphilosophie im Streit um die rechte Bezugswissenschaft für das Fach Ethik bislang
eher bedeckt gehalten; andere Disziplinen, die Erziehungswissenschaften, die
Religionspädagogik, insbesondere aber die Religionswissenschaften haben sich
stärker zu Wort gemeldet.
Hintergrund der philosophischen Zurückhaltung mag vor allem die Gefahr einer
philosophischen Ansprüchen prinzipiell widerstreitenden Einbindung um nicht zu
sagen Funktionalisierung der Philosophie für eine allgemeine Werteorientierung
gerade im Bereich des Themas Religion sein.11 - Warum und wie philosophisch
gleichwohl sinnvoll von einem Bildungsgut „Religion“ geredet werden kann, dieser
Schwierigkeit stellt sich das zweite Unterkapitel.
(3) Hegel hatte nicht nur bildungskonzeptionell, auch philosophisch ein ungebrochenes Verhältnis zu Religion. Voller Überzeugung konnte er festhalten, „dass der Inhalt
der Philosophie und der Religion derselbe ist“12. Davon können wir heute nicht mehr
ausgehen; zum einen hat sich die Philosophie im Zeitalter nachmetaphysischen
9
In Baden-Württemberg werd beispielsweise erst seit Winter 1999/2000 überhaupt die Möglichkeit
geboten, durch das Studium Philosophie/Ethik eine spezielle Qualifikation auch für das Fach Ethik
zu erwerben. In fachdidaktischer Hinsicht wird das Lehrangebot für ein Ethik-Studium seitens der
Hochschulen bundesweit jedoch überwiegend noch über Lehraufträge abgedeckt.
10
Matthias Tichy: Die Vielfalt des ethischen Urteils. Grundlinien einer Didaktik des Faches
Ethik/Praktische Philosophie, Bad Heilbrunn 1998, S. 9.
11
In den wenigen philosophischen Fachdidaktiken findet das Gebiet des Religiösen kaum Erwähnung: Heinz Schmidt (Didaktik des Ethikunterrichts, 2 Bde., Frankfurt: Kohlhammer 1982) spricht
im Band I „Grundlagen“ das Thema „Religion“ gar nicht an, offenkundig aufgrund des hier
unterstellten Ethik-Verständnisses; im Band 2 „Unterricht“ subsumiert Schmidt den Bereich der
Religion dem Lernfeld „Sinndeutung und Lebensorientierung“, in eher religionskritischer, allenfalls noch religionskundlicher, nach meinem Eindruck aber nicht in Religion erschließender
Hinsicht. - Die jahrelang einschlägige Philosophiedidaktik von Wulff D.Rehfus: Didaktik der
Philosophie. Düsseldorf: Schwann 1980 geht auf das Thema Religion überhaupt nicht ein. Ebenso
wenig findet das Thema Erwähnung in dem breit angelegten „Handbuch des Philosophie-Unterrichts. Hg.v.W.D.Rehfus/H.Becker, Düsseldorf: Schwann 1986“, nicht einmal in der umfangreichen Glossarliste. - Auch in Ekkehard Martens: Dialogisch-pragmatische Philosophiedidaktik.
Hannover: Schroedel 1979, sucht man eine Auseinandersetzung mit dem Thema „Religion“
vergeblich, ebenso in seiner didaktisch angelegten Arbeit E.M.: Sich im Denken orientieren.
Philosophische Anfangsschritte mit Kindern. Hannover: Schroedel 1990 (jetzt revidiert als „Philosophieren mit Kindern. Stuttgart: reclam 1999“ neu erschienen). - Matthias Tichy (1998, wie oben
Anm.10) geht auf das Thema „Religion“ immerhin in der Perspektive der Auseinandersetzung mit
religionsunterrichtlichen Konzeptionen ein.
12
G.W.F.Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), § 573
Anm.; in: Hegel: Werke. Bd.10. Ed. Moldenhauer/Michel. Frankfurt 1970, S. 371.
1 Religionsphilosophische Grundlegung
75
Denkens13 zunehmend von religionsspezifischen Reflexionen gelöst, zum andern
stellt sich das Phänomen Religion in nachmodernen Zeiten vielfältiger, offener,
weniger greifbar dar als zu Zeiten Hegels. Auf diese veränderte Theorielage kann im
Rahmen dieser Arbeit nicht ausführlich geantwortet werden. Wenn aber auch die
Didaktik der Philosophie sich mit dem Thema Religion ernsthaft befassen soll, so
nicht zuletzt weil sie der Ansicht ist, einen durch andere Wissenschaften nicht ohne
weiteres abzudeckenden Beitrag leisten zu können und zu müssen - und das ist meine
These. Darum sind in einem dritten Teilkapitel einige grundsätzliche Perspektiven,
eher leitlinienartig im Blick auf das Verhältnis der Philosophie zur Religion nötig.14
(4) Die vierte Schwierigkeit kann ebenfalls mit Hegel verdeutlicht werden, der,
obwohl selbst acht Jahre lang Philosophielehrer an einem Gymnasium, stets recht
despektierlich auf Versuche einer Didaktisierung der Philosophie geblickt hat.
Didaktik ist innerhalb der philosophischen Wissenschaft nach wie vor ein eher
ungeliebtes Stiefkind. Philosophie, so ein schnell beigebrachtes, oft wenig reflektiertes Argument, habe es stets mit der abstrakten Arbeit des Begriffs, dem Denken
des Denkens zu tun, dürfe nicht verwechselt werden mit alltäglichem Welt- und
Lebensraisonnement. Manche Versuche in Richtung einer „angewandten Philosophie“ scheinen tatsächlich diese Differenz überspringen zu wollen; dazu fällt dem
Philosophen Hegels Spott über gehaltloses Herumraisonnieren ein.15 Meine Absicht
ist es, gegenüber solchen Vorurteilen und Missverständnissen zu zeigen, wenn auch
nur in Konzentration auf die Religions-Thematik, dass die Philosophie durchaus
richtungsweisende didaktische Beiträge zu erbringen vermag. Darum entwirft das
vierte Teilkapitel Leitlinien einer Didaktik des Religiösen in philosophischer Perspektive, die dann in den folgenden Teilen der Arbeit exemplarisch zu entfalten sind.
13
Mit dieser Formulierung beziehe ich mich auf eine „weiche“, d.h. zunächst nur diagnostische,
noch nicht positionelle Lesart des Titels von Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken,
Frankfurt 1992. Diagnostisch meint die Rede vom nachmetaphysischen Denken, dass die Philosophie heute faktisch „dem privilegierten Zugang zur Wahrheit und der Heilsbedeutung der
Theorie entsagen“ musste (57). Positionell freilich behauptet Habermas in seiner Aufsatzsammlung mehrfach, dass wir nach Hegel „zum nachmetaphysischen Denken keine Alternative“
hätten (36), weder im Sinne einer Theorie der Erreichbarkeit eines Vernunftideals, welche hinter
Kants kritische Einsichten zurückfallen würde, noch aber auch im Sinne einer negativen
Metaphysik, deren paradoxalen Aussagen Habermas die philosophische Zustimmung versagt, auch
wenn er im gleichen Satz der Religion solche Aussagen zuzugestehen scheint, so dass er von einer
Koexistenz zwischen Philosophie und Religion spricht (185).
14
Vgl. dazu auch meine Auseinandersetzung mit der Ende 2001 verschiedentlich proklamierten
Wiederkehr des Religiösen in der Einleitung der Arbeit, Abschnitt 1.
15
Etwa in G.W.F.Hegels Privatgutachten „Über den Vortrag der Philosophie auf Gymnasien; in:
Hegel: Werke. Bd.4. Ed. Moldenhauer/Michel. Frankfurt 1979, S. 414.
Kapitel
1-1
Religionssoziologische Eckdaten
Vielleicht wird zuweilen zu selbstverständlich behauptet, religiöse Orientierung sei
heute, in Zeiten zunehmenden Verschwindens des Religiösen anachronistisch
geworden. So habe ich selbst in der Einleitung der Arbeit lediglich unterstellt,
Religiosität werde hier und heute nicht mehr so selbstverständlich gelebt, dass wir
für den Religionsunterricht religiöse Beheimatung als Basis unterstellen dürften1.
Selbstverständlich muss eine solche Behauptung sich zunächst einmal auch an
faktisch nachprüfbaren Zahlen oder Verhältnissen messen lassen, um das gleichzeitige Plädoyer für die Unverzichtbarkeit religiöser Bildung nicht von vornherein
banal-selbstverständlich oder aber anachronistisch-spekulativ erscheinen zu lassen.
Wenn auch die empirischen Grundlagen solcher Zahlen hier im nicht einzelnen
aufgeführt werden2, sollen darum wenigstens einige aus ihnen gefolgerte
religionssoziologische Eckdaten in den Blick genommen werden.
1
Der Prozess der Säkularisation
Franz-Xaver Kaufmann schreibt 1989: „Die Denkhorizonte des Religiösen und des
Modernen scheinen sich irgendwie auszuschließen, wenigstens für das zeitgenössische Bewusstsein.“3 Kaufmanns Diagnose bietet einen guten Ansatz, die These
vom zunehmenden Verschwinden des Religiösen zu differenzieren, lädt er doch
durch die Kennzeichnung „scheinbar“ dazu ein, sich erst einmal genauer vor Augen
zu halten, was denn eigentlich die Denkhorizonte des Religiösen zum einen, des
Modernen zum zweiten und des zeitgenössischen Bewusstseins zum dritten meinen.
1
Vgl. dazu die Thesen des Deutschen Katecheten-Vereins (1992), insbesondere die These 8, sowie
exemplarisch für die breite Auseinandersetzung in der Religionspädagogik Scholl (1989) und
(1993) sowie F.X.Kaufmann (1989b). Für mich selbst kann ich verweisen auf meine Thesen
Petermann (1991) und (1996).
2
Dazu darf ich verwiesen auf die nachfolgend verarbeitete soziologische Standardliteratur. Speziell
für die Frage nach der Religiosität Jugendlicher sollten hier hervorgehoben werden die
Untersuchungen von Barz: Religion ohne Institution (1992) sowie Barz: Postmoderne Religion
(1992) und neuerdings die Studie von Bucher: Religionsunterricht zwischen Lernfach und
Lebenshilfe (2000) sowie die jüngste Schell-Studie (2000).
3
Dieser Satz findet sich in der Einführung des religionssoziologischen Standardwerks: Franz-Xaver
Kaufmann: Religion und Modernität Tübingen 1989, S.1.
1-1 Religionssoziologische Eckdaten
77
Da es ja um die Frage nach Religiosität im Horizont der Moderne bzw. Postmoderne geht, macht es keinen Sinn, mit einer abstrakten Definition des Religiösen
zu beginnen. Vielmehr ist zuerst der Horizont des Modernen zu erläutern. Die
Grundthese von Modernität scheint mir die der Durchschaubarkeit und damit einhergehend der Gestaltungsmöglichkeit von Welt und Leben zu sein. Diese Weltanschauung bricht sich Bahn vor allem in den naturwissenschaftlichen Entdeckungen
des 16. und 17. sowie des 19. Jahrhunderts.
Die erste Epoche wird gemeinhin unter das Stichwort „Kopernikanische Revolution“ gefasst. Möglich gemacht wurden die hier erfolgten astronomischen Erkenntnisse jedoch durch eine radikal veränderte Sicht auf wissenschaftliche Erkenntnis,
wie sie paradigmatisch durch Francis Bacons „Novum Organum (1620) postuliert
wird: Mit seinem Satz: Der Mensch, als Diener und Erklärer der Natur, wirkt und
weiß nur so viel, als er von der Ordnung der Natur durch die Sache oder seinen
Geist beobachtet hat; mehr weiß und vermag er nicht. (I,1) bringt Bacon die
moderne Einstellung zu dem, was wir auch heute noch in der Regel alltäglich unter
Natur verstehen, auf den Punkt.4 Daraus folgt für ihn zugleich: Da unser Bestreben ist,
die Natur den menschlichen Bedürfnissen und Wünschen zu unterwerfen, so ist es
folgerecht, dass diese Werke, die schon längst von der Macht des Menschen abhängen, gleich Provinzen, die bereits früher erobert und unterworfen worden sind,
verzeichnet und festgestellt werden, namentlich solche, die am meisten ausgearbeitet
und vollendet sind (II,31.). Die Natur erklärt sich für Bacon insofern vollkommen aus
sich selbst, ebenso wie der daraus abzuleitende Umgang mit Natur, der folgerichtig
unter rein technischen Kategorien gesehen wird. Die Annahme einer göttlichen
Schöpferinstanz ist dafür nicht mehr nötig. Diese Ansicht leitete auch Galileis Untersuchungen physikalischer Gesetze, selbst wenn Galilei wie auch Bacon sich selbst
subjektiv noch als gottesgläubige Menschen ansahen.
Die zweite Epoche des 19. Jh. führt nach dieser ersten Kränkung des menschlichen
Geistes zur zweiten durch die Evolutionslehre von Charles Darwin einerseits und zur
dritten durch die Entdeckung der Psychoanalyse durch Sigmund Freud zum andern.
Die hier vorherrschenden Auffassungen zur Erklärung von Welt und Leben haben
sich damit nicht geändert, sondern bestätigen Bacons Postulat, was sich kaum besser
fassen lässt als durch Ernst Haeckels berühmte Einlassung am Ende seiner „Welträtsel“ (1899): Die Zahl der Welträtsel hat sich durch die angeführten Fortschritte
der wahren Naturerkenntnis im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts stetig vermindert; sie ist schließlich auf ein einziges allumfassendes Universalrätsel zurückgeführt, auf das Substanzproblem. Indem dieses höchste Naturgesetz festgestellt und
alle anderen ihm untergeordnet wurden, gelangten wir zur Überzeugung von der
4
Bacon (1620).
78
1-1 Religionssoziologische Eckdaten
universalen Einheit der Natur und der ewigen Geltung der Naturgesetze. Der
Monismus des Kosmos, den wir darauf begründen, … zertrümmert aber zugleich die
drei großen Zentraldogmen der bisherigen dualistischen Philosophie, den persönlichen Gott, die Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit des Willens.5
Durchschaubarer und machbarer geworden sind Welt und Leben für die Vernunft
mithin infolge ihrer Emanzipation von (religiöser) Autorität. Schon von ihrem
Selbstverständnis her setzt sich Moderne ab von der Ansicht, menschliche Lebensgestaltung sei präformiert durch Strukturen, die menschlichem Leben vorgelagert
seien. Solche Formen präformierter Sinngebung betrachtet die Moderne als Vergangenheit. Und zu solchen Formen zählen vor allem religiöse Systeme, nicht nur die
Kirchen, sondern auch der Glaube an Gott. Er kann im Bewusstsein der Moderne
verabschiedet werden, weil Welt und Leben weitgehend ohne ihn erklärbar geworden
sind und sich auch ohne ihn gestalten lassen. Entdivinisiert ist alles dem
menschlichen Zugriff unmittelbar zugänglich wie auch unterworfen. Selbst der
moralische Umgang mit Welt und Leben fußt nunmehr allein auf Vernunft.6 Diese
Entdivinisierung von Welt und Leben wird seit Max Weber als Prozess der
Säkularisation begriffen.7
Doch über die Entdivinisierung hinaus, und das ist die Kehrseite, tendiert der
Prozess der Säkularisation zu der Ideologie, dass die Welt daher alles sei, was der
Fall ist, also nicht nur Gott ersetzt habe, sondern ihrerseits als nunmehr einzig gültige
Perspektive zu etablieren sei.8 Damit aber ist die gängige Rede von Säkularisation
zugleich untergraben: Wir leben nicht mehr bloß in einem Prozess der Säkularisation, sondern in Verhältnissen faktisch vollzogener Säkularität, einer Säkularität freilich, die in ihrer säkularen Qualität gegenüber nicht säkularisierten Lebensverhält5
Haeckel (1899).
6
Zumindest gilt das in der Hinsicht, dass die Begründung moralischen Handelns allein durch die
Vernunft erfolgen kann, bereits für Kant die erste Voraussetzung seiner Ethik. Kant ist sich freilich
der Ambivalenz dieser Subjektivierung von Moral durchaus bewusst, wenn er etwa in seinen
geschichtsphilosophischen Überlegungen konstatiert, dass es, obwohl der Mensch danach strebe,
dass sein ganzes Leben “gänzlich sein eigen Werk sei“, nicht darum gehen könne dass der Mensch
„wohl lebe, sondern dass er sich so weit hervorarbeite, um sich, durch sein Verhalten, des Lebens
und des Wohlbefindens würdig zu machen“ [„Idee zu einer allgemeinen Geschichte...“, in: Werke,
ed. Weischedel, Frankfurt 1958, Bd.VI, S.41]. – Zur Ambivalenz autonomer Moral vgl. die
Notizen zu Kapitel 4-4 in der Einleitung.
7
Vgl. den diesbezüglich als einschlägige Quelle oft zitierten Aufsatz aus dem Jahr 1920 von
Max Weber: Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus, in: Ges. Aufsätze zur
Religionssoziologie Bd.I. Tübingen 51972, S. 207ff.
8
So hat es Peter Sloterdijk in seinen zeitdiagnostischen Einlassungen treffend formuliert, etwa in:
Chancen im Ungeheuren. Notiz zum Gestaltwandel des Religiösen in der modernen Welt, im
Anschluss an einige Motive bei William James, Vorwort zu: William James: Die Vielfalt
religiöser Erfahrung, Frankfurt 1997, S.13f.
1-1 Religionssoziologische Eckdaten
79
nissen gar nicht mehr erkennbar ist.9 Diese Einsicht liefert zugleich eine Rechtfertigung für die inzwischen gängige Rede von „postsäkularen“ Lebensverhältnissen.10
Was bedeutet diese Diagnose für unsere Frage nach Religion? Zunächst einmal
sprechen soziologische Daten noch nicht für sich selbst, auch wenn sich Theorien zu
einem Phänomen wie dem Religion sich zumindest an entsprechenden Daten messen
lassen müssen. Auch zurückgehender Gottesdienstbesuch und zunehmende
Kirchenaustritte sind Daten, die noch zu interpretieren sind. Ohne Zweifel aber fallen
religiös-kirchliche Sozialmilieus zunehmend auseinander; Entkonfessionalisierung
und vor allem die Entkoppelung von Konfession (hierzulande vor allem:
Christentum) und Religion sind allenthalben festzustellen; gegenüber tradierten
gewinnen neue Formen von Religiosität an Bedeutung, sei es aus anderen religiösen
Traditionen, sei es als neue Wege von Spiritualität und Sinnfindung; auch in
westlichen Ländern macht sich eine Tendenz zu polykonfessionellen Verortungen11
bemerkbar, etwa eine nicht mehr aus tradiertem Glaubensvollzug begründete
Inanspruchnahme
kirchlicher
Riten
wie
Hochzeiten,
Beerdigungen,
Weihnachtsgottesdiensten, oder auch die Selbstverständlichkeit, die Bedeutung der
Kirchen an ihren sozialen und kulturellen Aktivitäten zu messen. Und doch berühren
solche Feststellungen nur die Oberfläche, was sich leicht an entsprechenden
Erklärungsmustern zeigen lässt: Insbesondere das in der religionssoziologischen
Literatur beliebte Paradigma „Pluralität“12 scheint mir zur Bezeichnung dieser
9
Diese Einschätzung hat im übrigen bereits vor mehr als 100 Jahren Nietzsche gegeben in seiner
berühmten Parabel vom tollen Menschen, dessen Diagnose, dass Gott tot sei und wir ihn getötet
hätten, trotz der eindringlichen Bilder, in denen er sie zu vermitteln sich bemüht, keiner versteht.
Nietzsche hat damit hellsichtig auf den Punkt gebracht, dass die Menschen der Moderne sich
einerseits ihre Welt selbst errichtet haben, ohne zurückgreifen zu müssen auf die Vorstellung eines
ihrer Willkür letztlich entzogenen Sinns von Welt, dass ihnen aber andererseits diese ihre eigene
Welt keineswegs durchsichtiger geworden ist, sie der Lebenswelt mithin nach wie vor ausgeliefert
sind, doch nun ohne Maßstab einer Orientierung, so dass es kein Oben oder Unten, keinen
Horizont mehr gibt.
10
Zur Angemessenheit des Begriffs „Postsäkularität“ vgl. die entsprechenden Passagen in meiner
Einleitung, Abschnitt (1). Zu Habermas’ Verwendung dieses Begriffs vgl. jetzt kritisch Hans Joas
(2002): Eine Rose im Kreuz der Vernunft.
11
Gemeint ist das in Japan bereits seit längerem bekannte Phänomen, sich in verschiedenen
Religionen bzw. Konfessionen ohne Orthodoxieprobleme gleichzeitig zuhause zu finden. Auch in
Mitteleuropa ist es zunehmend unproblematisch, etwa als bekennender Christ zugleich
buddhistische Meditations-Sessions zu besuchen oder indianische Naturkulte in traditionell biblische Schöpfungskontexte einzubinden. Für Länder Lateinamerikas, Afrikas und Asiens gilt dies
ohnehin bereits länger nicht nur als gängige, sondern auch als anerkannte Praxis. Vgl. die kirchlichen Diskussionen zum Bedeutungswandel von Missions- in Inkulturationsarbeit. Hintergrund
dieser Praxis scheint ein sehr viel stärker pragmatisch als orthodoxal empfindendes religiöses
Bedürfnis zu sein. - Ausführlicher zu diesem Thema vgl. W.Gephart / H.Waldenfels (Hg.):
Religion und Identität, Frankfurt: Suhrkamp 1999.
80
1-1 Religionssoziologische Eckdaten
Verhältnisse nicht zureichend; zumindest müsste die Rede von Pluralität, um aussagefähig zu bleiben, differenziert werden.
2
Differenzierungen in der Pluralismus-These
Zunächst ist es hilfreich, zwischen Pluralismus als Antwort auf eine Situation und
Pluralität als Diagnose dieser Situation zu unterscheiden.13
Eine differenzierte Diagnose von Pluralität würde zunächst zumindest folgende
Ebenen unterscheiden:
• Von Multiperspektivität können wir sprechen, insofern Horizonte zur Orientierung
und Gestaltung des eigenen Lebens dem einzelnen in vielfältiger, eben nicht mehr
eindimensionaler bzw. allgemein verbindlicher Weise angeboten werden und zur
Verfügung stehen.
• Diversifikation bezeichnet näher die Form, in der sich die vielfältigen Angebote
darstellen, nämlich ungeordnet, unübersichtlich und daher vielfach auseinanderlaufend; der einzelne reagiert darauf entsprechend mit Orientierungsproblemen.14
• Die entsprechende Anforderung an den einzelnen, aber auch seine Antwort, ist
Mobilität; zu konstatieren sind jedenfalls erhöhte Umtriebigkeit und Flexibilität in
vielerlei Hinsicht: geografisch, berufsbezogen, aber auch hinsichtlich zwischenmenschlicher Beziehungen und persönlicher Ansichten; festlegen mag sich heute
niemand mehr ohne weiteres.15
• Mit Globalität ist zunächst lediglich die Offenheit für größere Sinnzusammenhänge angesprochen, auf die ein bestimmter Lebenshorizont sich heute beziehen
lassen muss. Die Frage ist dann freilich, inwieweit damit ein neuer Einheitsanspruch
12
Das Stichwort „Pluralität“ fehlt in kaum einer religionssoziologischen Veröffentlichung der letzten
zehn Jahre, wird aber kaum reflektiert. Auch die jüngste, umfangreich angelegte Bildungsstudie
von Karl Ernst Nipkow: Bildung in einer pluralen Welt. 2 Bde. Gütersloh 1998, differenziert zwar
das Phänomen des Pluralismus in verdienstvoller Weise und wird so ohne Zweifel ein Standardwerk werden, lässt sich aber kritisch-reflektierend auf den Begriff der Pluralität zur Kennzeichnung der pluralen Verhältnisse eigentlich nicht ein.
13
Ich übernehme diese Unterscheidung in Analogie zu der zwischen „Globalisierung“ und
„Globalität“, wie sie eindrucksvoll und überzeugend Ulrich Beck vorgelegt hat. (Ulrich Beck: Was
ist Globalisierung? Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S.26ff)
14
Vgl. hierzu die systemtheoretische Beschreibung der "Segmentierung" bei Niklas Luhmann:
Gesellschaftsstruktur und Semantik. Frankfurt 1989.
15
Vgl. dazu vor allem die Überlegungen von Michael Walzer; z.B. in: Die kommunitaristische Kritik
am Liberalismus; in: A.Honneth (Hg.): Kommunitarismus. Frankfurt 1993, S. 164 f.
1-1 Religionssoziologische Eckdaten
81
sich geltend macht, dem zunächst auseinanderlaufende Lebenshorizonte schließlich
doch unterzuordnen wären.16
• Schließlich indiziert das Modewort der Vernetzung, dass trotz auseinanderlaufender Lebenswelten wir doch bislang nicht gekannte Möglichkeiten des Bezugs auf
Anderes, Neues, Unbekanntes ausgebreitet finden. Offen bleiben dabei freilich die
Kompetenzen, die Möglichkeiten auch zu nutzen, sowie die Qualität der durch
Vernetzung allein gebotenen Kommunikation.17
Im Kontext dieser Ebenen von Pluralität zeichnen sich dann sehr viel genauer
bestimmte Antwortversuche als Phänomene von Pluralismus ab, die unmittelbar
eine Herausforderung auch für eine heute tragfähige Religionspädagogik bedeuten:
• Als erster Reflex auf die Situation von Pluralität ist die sich verstärkende Tendenz
nicht nur zu Subjektivität, sondern auch zu Individualisierung und Vereinzelung zu
sehen: Der Einzelne will nicht nur stärker selbst gefragt sein, er ist auch mehr und
mehr gänzlich auf sich allein gestellt in Fragen von Lebensführung, Lebensgestaltung und Sinnsuche.
• Parallel zur Individualisierung ist die Veränderung der Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit zu diagnostizieren: Die Verwirklichung von Leben hic et nunc gewinnt
Priorität gegenüber dem Lebensentwurf in geschichtlichen Zusammenhängen und
Verantwortungen. Geschichte hat zumindest die Wertigkeit eines Ideenrahmens, in
den ich verantwortlich eingebunden bin, verloren.
• Immer weniger eine Rolle spielen entsprechend mehr oder weniger allgemeinverbindliche Lebensformen und Sinnhorizonte, sowohl ideologisch als auch vom
individuellen Bildungsstand her; das „Ende der großen Entwürfe bzw. Metaerzählungen“ (Lyotard) einschließlich der Religion ist postmodern wiederholt
verkündet worden.
• Die Frage nach Sinn stellt sich unter den Vorzeichen von Pluralität gleichwohl
oder deshalb extensiver; extensiver meint offener, ohne vorgegebene Orientierung,
und stärker die Suchbewegung des Einzelnen fordernd. Zu verabschieden ist die
Voraussetzung einer quasi anthropologische Sinn-Konstante, auf die Religiosität
16
Zur genaueren Auslotung des Begriffs der Globalität, auch in Unterscheidung von denen des
Globalismus und der Globalisierung vgl. die neueren Arbeiten von Ulrich Beck, etwa: Was ist
Globalisierung? Frankfurt 1997, aber auch die Schlusspassagen in Peter Sloterdijk: Globen.
Frankfurt 1999.
17
Vgl. dazu die Studien von Vilém Flusser, gut einzusehen etwa in dem „Flusser-Reader“: Die
Revolution der Bilder. Mannheim: Bollmann 1995, mit programmatischen Aufsätzen wie „Bilderstatus“ (1991) und prägenden Stichworten wie dem der „telematischen Informationsgesellschaft“
(ebd. S.85ff).
82
1-1 Religionssoziologische Eckdaten
dann die Antwort böte. Die auch für Religiosität eigentlich interessante Frage ist
zunächst einmal: Wer bist du, dass du meinst, ganz du selbst sein zu können ?
• Entsprechend kurzsichtig wäre es auch, in der neuerdings als gleichsam „natürlich“ beschriebenen Sehnsucht nach Werten vorschnell ein Indiz für einen vorgegebenen (religiösen) Wertekanon zu sehen. Eine als Sehnsucht sich äußernde Werteorientierung scheint angesichts der skizzierten Pluralität vielmehr grundsätzlich die
Nachfrage erforderlich zu machen, warum wir denn überhaupt Werte brauchen.
• Auch die anthropologische Offenheit hin auf Transzendenz ist neu zu sehen.
Gestalten postmoderner Transzendenz verdeutlichen in ihrer bloßer Funktionalität
oder als rein ästhetisierender Lebensgenuss schnell das Ungenügen bloß formaler
Vieldeutigkeit, die Orientierung nur noch zufällig zu bieten vermag. Offener denn je
sind wir daher konfrontiert mit der Frage, was denn grundsätzlich der Mensch sei,
dass er über sich hinausfragt und hinausgreift.
• Suchend tritt uns der Mensch heute eher entgegen als Bediener von Suchmaschinen, mehr oder weniger hilflos jedoch, denn vorausgesetzt ist bei aller
konkreten Suche ein je schon vorhandenes Objekt der Suche. Die postmodern unbestimmte Form der Suche aber scheint hinter Phänomenen zu stehen wie Wander-,
Bastel- (Bricolage-), oder Cafeteria-Religiosität.
Natürlich müssen heutige bildungstheoretische Entwürfe solche Bewusstseins- und
Daseinsformen ernst nehmen. Das bedeutet aber eben nicht nur, dass Religiosität
heute nicht mehr in festen religiösen Systemen vorkomme, sondern unsichtbar,
polytheistisch, um affirmativ verwendete Prädikate zu zitieren, oder auch beliebig,
relativistisch, austauschbar; vielmehr ist auch hier tiefer zu fragen nach den Gründen
solch unsystematischer, sich nicht festlegen wollender Suchbewegungen.
3
Kontextualisierung
Aufschlussreicher ist die Beobachtung, dass hinter den genannten Phänomenen sich
eine stärkere Lebensweltorientierung und -fixierung auch religiöser Haltungen und
Vollzüge zeigt, eine sehr viel eher pragmatisch als orthodoxal ausgerichtete Religiosität. Geeigneter als der Begriff „Pluralität“ scheint mir zur Kennzeichnung postsäkularer Religiosität daher das Paradigma „Kontextualisierung“.18 Die inzwischen
18
Die Wahl dieses Begriffs nährt sich nicht nur aus den eben vollzogenen Differenzierung des
Pluralitäts-Paradigmas und den nachfolgend kommentierten Beobachtungen, sondern ist auch in
Korrelation zu sehen zu anderen in der Soziologie in den letzten Jahren zum Standard gewordenen
heuristischen Begriffen, neben dem der Globalisierung (vgl. insbesondere Beck 1997a) auch den
der Zweiten Moderne (vgl. Giddens 1995 und Beck 1997b) sowie schon früher dem der Individu-
1-1 Religionssoziologische Eckdaten
83
zum Allgemeingut gewordenen Rede von der unsichtbaren Religion19 bestätigt eine
solche Sicht: Sie macht klarer, warum Religion und Religiosität zunehmend auseinander laufen, vor allem aber warum und inwiefern Religion in heutiger Lebenswelt
durchaus eine Rolle spielt. Deutlich wird nämlich, dass Religion sich heute an
anderen Orten und vor allem in anderer Weise „ereignet“20: Statt tradierter kirchlicher Riten gilt mehr und mehr die Alltagskultur als Ort des Religiösen, zuweilen
sind Alltagskultur und gelebte Religion gar nicht zu trennen21: Selbst die Dechiffrierung von Sportevents als religiöser Gemeinschaftsformen oder das Aufdecken
kultischer Rituale im Fernsehkonsum überrascht von daher nicht mehr, denn religiöses Erleben findet weniger an festen, gar sakralen Orten statt, sondern in der Kultivierung von Alltagswelt, von G. Thomas als „sekundäre Ritualisierung“ bezeichnet.22 Religion zeigt sich im Lebensstil23, ereignet sich eher als „religiöses Feld“, in
dem wir uns mitten im Alltagsvollzug bewegen.24 Was sich dabei ändert, sind zudem
die entsprechenden Bilder von Transzendenz; zur Charakterisierung dessen, „was
alisierung (vgl. etwa Beck/Beck-Gernsheim 1994). Für den Zusammenhang dieser allgemeinen
soziologischen Deutungen mit dem Thema Religiosität ist an dieser Stelle ausdrücklich meine
Einlassung auf die jüngste zum Paradigma erhobene Wiederkehr des Religiösen in der Einleitung
(Abschnitt 1) hinzuweisen. In diesem Kontext wird auch die oben bereits angedeutete Kategorie
des Postsäkularen kurz erläutert.
19
Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion, Frankfurt 1991 [The Inivisible Religion. New York
1967].
20
Vgl. Kaufmann (1989a), S.8.
21
Über diesen Zusammenhang informiert ausführlich z.B. der Band Wolf-Eckhard Failing,/ HansGünter Heimbrock: Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt - Alltagskultur - Religionspraxis,
Stuttgart 1997. - Zur Phänomenologie von Religion in moderner Lebenswelt, auch zu Phänomenen wie Kulturalisierung von Religion, Zivilreligion, Alltagssynkretismus, Ritualisierungen
von Alltagskulturen wie Sport etc., bieten umfangreiche Einblicke und Analysen auch die Studien
von Karl-Fritz Daiber: Religion in Kirche und Gesellschaft. Theologische und soziologische
Studien zur Präsenz von Religion in der gegenwärtigen Kultur, Stuttgart: 1997, sowie Karl-Fritz
Daiber: Religion unter den Bedingungen der Moderne. Die Situation in der Bundesrepublik
Deutschland, Marburg 1995.
22
Günther Thomas: Medien - Ritual - Religion. Zur religiösen Funktion des Fernsehens, Frankfurt
1999. Vgl. für den Zusammenhang auch die Studien von Gunter Gebauer zur religiösen Bedeutung
des Sports, zuletzt etwa: Religiöse Gemeinschaften im Sport, in: Merkur 1999, S.963ff. - Die
Suche nach Spuren des Heiligen in der Lebenswelt der Moderne ist so neu im übrigen nicht: Vgl.
bereits die umfangreiche Studie von Dietmar Kamper / Christoph Wulf (Hg.) : Das Heilige. Seine
Spur in der Moderne, Frankfurt 1987, mit Untersuchungen zu Heiligem etwa in der Psychoanalyse, in der Erotik, in der bildenden Kunst, im Alltag, in der Geschichte, im Geldverkehr, im
Sport usw. Die Suche nach religiösen Spuren im Alltag ist spätestens mit William James’
berühmtem Buch „Die Vielfalt religiöser Erfahrung“ von 1901 zum Standard religionssoziologischer Untersuchungen geworden.
23
Vgl. dazu die Studien des Marburger Graduiertenkollegs zur Religion in der Lebenswelt der
Moderne, zuletzt veröffentlicht von Kristian Fechtner / Michael Haspel (Hg.): Religion in der
Lebenswelt der Moderne. Köln 1998.
24
Peter Sloterdijk: Selbstversuch. Ein Gespräch mit Carlos Oliveira, München 1996, S.96.
84
1-1 Religionssoziologische Eckdaten
Menschen heute wirklich glauben“, spricht K.P. Jörns gar von den „neuen Gesichtern
Gottes“, einer von Lebenskontexten abhängigen Gestalt auch religiöser Gehalte.25
Wenn aber die konkrete Existenz, der gelebte Vollzug des Alltags nicht nur die
Ebenen sind, in denen bzw. auf die hin sich Religion vollzieht - denn das galt zumindest im biblischen Kontext immer schon so26 -, sondern auch mit Religiosität
identisch sind, stellt sich die Frage, ob Religion durch Alltagskultur nicht sogar
ersetzt wird. Für den Sinngehalt des Begriffs Säkularisation meint das zunächst gar
nichts Neues27, und doch verändert sich mit dieser Form von Säkularität Entscheidendes: Dreh- und Angelpunkt für säkularisierte Religiosität ist nicht mehr ein
religiöser Bezugsrahmen, sondern das Religiosität ausübende Individuum und seine
von ihm selbst geschaffene Lebenswelt. Das hat aber eine doppelte Konsequenz:
Einerseits scheint Religion als nur noch religiöses Feld sich so zu verlieren.28 Und
damit droht zugleich das als Akteur dieses Prozesses unterstellte Subjekt selbst sich
aufzulösen, nur noch im Kontext seiner Lebenswelt fassbar zu sein, also in völlige
Abhängigkeit von Kontextualität zu geraten, ja gänzlich in diesen Kontexten sich zu
verlieren, vergleichbar dem, was Marx unter den Kategorien der Entäußerung und
der Entfremdung beschrieben hat.29
25
Klaus-Peter Jörns: Die neuen Gesichter Gottes. Was die Menschen heute wirklich glauben,
München 1999. Jörns stellt (S.27) die These zur Debatte, die konkrete Gestalt der Transzendenzbeziehung beeinflusse die konkrete Gestalt von Lebenssituation, wie auch das „transzendente
Gegenüber („Gott“) ein mit der Lebenssituation verbundenes ‘Gesicht’“ habe (S.27). Zur Stützung
dieser These konstatiert Jörns einen weitgehenden Abbruch tradierter dogmatischer Glaubensüberzeugungen (vgl. S.210), eine starke Tendenz zu Individualisierung bzw. individualisierter Deutung
von Glaubenstraditionen (S.212), womit der Mensch sich zunehmend zum Maß und Gegenüber
seiner selbst und seiner Welt stilisiere (vgl. S.220; in diesem Zusammenhang spricht Jörns vom
„Heiligen Kosmos“ des Atheismus), konstatiert aber trotz dieser Traditionsbrüche bzw. -veränderungen ein bleibendes Bedürfnis nach Heil und Bewahrung von Leben (S.221).
26
Unbestritten gilt das für den Prototyp des Glaubenden, Abraham, aber natürlich zeichnet dieses
Verhältnis von Existenz bzw. Lebensgestaltung und Glauben auch alle anderen biblischen Figuren
aus, was sich an den entsprechenden Texten genau nachzeichnen lässt. (Zur Entfaltung dieser
Behauptung vgl. die Anmerkungen zum Abschnitt 1 des Kapitels 1-4.) Im nichtbiblischen Religionen ist diese Verbindung fast selbstverständlich in allen Stifterreligionen nachzuweisen, so im
Buddhismus. Wenn aber auch in den anderen großen Religionen, wie etwa im Hinduismus die
Einbindung des Glaubens in die Existenz fundamental ist, wird diese Behauptung nahezu banal.
27
Bekanntlich ist „Säkularisation“ ursprünglich ein Begriff aus dem kirchlichen Recht und
bezeichnet den Ausgriff bzw. Zugriff kirchlicher Befugnisse auf innerweltliche Zusammenhänge.
28
Sloterdijk (1996), S.96.
29
Gemeint ist neben der Kritik ökonomischer Entfremdung die auch heute noch glänzende Kritik an
einer Ideologisierung des Bewusstseins, wie sie die nach Marx unvollständige philosophische
Kritik der Junghegelianer geleistet habe: In der Fixierung auf die Religionskritik sei die Religion
„als letzte Ursache aller … widerwärtigen Verhältnisse angesehen und behandelt worden“. Das
daraus folgende veränderte philosophische Bewusstsein laufe aber darauf hinaus, lediglich „das
Bestehende anders zu interpretieren“ und somit nicht nur weiterhin „vermittelst einer anderen
Interpretation anzuerkennen“, sondern seinerseits sogar erneut zu mystifizieren. Was also
eigentlich von Menschen um der Emanzipation von Ideologien gemacht worden sei, verändere sich
1-1 Religionssoziologische Eckdaten
4
85
Unabgeschlossene Säkularisation
In diesem Sinne erweist sich der Prozess der Säkularisation als ganz und gar nicht
abgeschlossen, weil er nun gegen die eigenen Grundlagen sich wendet: Die vom
Einzelnen selbst geschaffenen aber unsichtbaren Quasi-Institutionen religiöser
Betätigung machen die Religiosität des Einzelnen aus, ja definieren sie. Damit aber
droht zugleich ihr Akteur, die menschliche Vernunft, hinter der Macht der faktisch
waltenden Verhältnisse zurückzufallen, der Einzelne scheint sich in religiösen
Betätigungen nurmehr selbst verehren zu können, was sich ausnimmt wie eine späte
Rache an Feuerbachs Religionskritik. Die zur Zeit gängige Rede von postsäkularen
Lebensverhältnissen30 macht von dieser Offenheit, besser Unbestimmtheit her, meine
ich, guten Sinn. Es kann nicht Sinn kritischer, auf Autonomie und
Eigenverantwortung abzielender Bildung sein, zu solchen Formen scheinhafter
Orientierung zu erziehen. Aber auch das Projekt einer Erziehung zu kritischem
Umgang mit religiösen Äußerungen bliebe dieser Dialektik von Säkularität und
Selbstentfremdung noch ganz verfallen. Anspruchsvolle, auf Orientierung ausgerichtete Bildung müsste und würde demgegenüber einklagen, diese Säkularität
wiederum zu profanisieren, d.h. ihr den Schleier eines Heiligen Kosmos zu nehmen,
den sie sich hypertroph selbst umgelegt hat; sie müsste säkularitätstranszendierende
Horizonte aufweisen, um „gegenüber der Wirklichkeit Offenheit der Wahrnehmung
zurückgewinnen“ zu können31. Das aber lässt die Dimension des Religiösen aus
kritisch-philosophischer Sicht wiederum interessant erscheinen.
In dieser Perspektive stellt sich auch die Frage nach der Berechtigung religiöser
Bildung differenzierter: Zur Debatte steht eigentlich nicht mehr, ob religiöse Bildung
angesagt ist, sondern wie Religion so vermittelt werden kann, dass das eben
30
31
unter der Hand zu etwas, was den Menschen und sein Bewusstsein mache. Auch in dieser
Perspektive, also mit der Pointe eines kritischen Untertons gegen uns übermächtigende
Verhältnisse ist der berühmte Satz der sog. 5.Feuerbach-These zu lesen, in der Wirklichkeit sei der
Mensch „das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“. Vgl. dazu Karl Marx: Deutsche
Ideologie (1845), in: MEW Bd.3, Berlin: Dietz 1963, S.13ff, Zitate S.19f.
Ins Gerede gekommen ist solche Rede parallel zu der im Abschnitt 1 andiskutierten vielfach
proklamierte Wiederkehr des Religiösen. Genauere Erläuterungen, vor allem auch zu Habermas’
Friedenspreisrede (2001b) siehe dort.
Peter L. Berger: Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Widerentdeckung
der Transzendenz. Freiburg: 1991 (Frankfurt 1969), S.157. Berger plädiert in seinem Buch für ein
theologisches Programm, das die „Säkularität transzendentalisieren“ würde (Einführung zur TBAusgabe, S.10). Diese Idee variierend und zuspitzend habe ich von der Profanisierung der
Säkularität gesprochen. In ähnlicher Sinngebung, nämlich als Programm gegen Verabsolutierung
wie auch Nihilisierung der Vernunft in einer zunehmend rationalisierten Welt, sprach bereits 1957
Adorno von Säkularisation (in: Vernunft und Offenbarung, in: Stichworte, Frankfurt 1969, S.23).
Auch dieser Zusammenhang von nachaufklärerischer Vernunftkritik und kritisch zu rehabilitierender Metaphysik und Religiosität wird in meiner Einleitung im Abschnitt 1 thematisiert.
86
1-1 Religionssoziologische Eckdaten
angedeutete kritische Potential zur Sprache zu kommen vermag. Diese Sicht bricht
sich freilich an der Realität mancher bundesdeutscher Bildungskonzeptionen, wenn
Religion eher als Kulturgut zum Gegenstand schulischer Bildung gemacht wird.
Der Auseinandersetzung damit ist das folgende Kapitel gewidmet.
Kapitel
1-2
Welchen Sinn macht die Rede von Religion
als „Bildungsgut“?
Nicht allein das A B C / Bringt den Menschen in die Höh’; / Nicht allein im
Schreiben, Lesen / Übt sich ein vernünftig Wesen; / Nicht allein in Rechnungssachen
/ Soll der Mensch sich Mühe machen; / Sondern auch der Weisheit Lehren / Muss
man mit Vergnügen hören. - Diese Verse aus Wilhelm Buschs „Max und Moritz“
zitiert Heinz Schmidt zu Beginn seiner Ethik-Didaktik als Beleg für die Möglichkeit,
„denen, die der Religionsunterricht nicht mehr erreicht, Sittliches denken zu geben“.1
Sittliche Unterweisung also als Ersatz für Religionsunterricht? Ekkehard Martens
konzentriert sich in seinen Überlegungen zu einer Ethik-Didaktik demgegenüber
ganz auf die orientierende Kraft des Denkens, plädiert für das Philosophieren als
vierter Kulturtechnik.2 Damit ist er zumindest näher an Wilhelm Busch, denn dort
heißt es weiter: … Dass dies mit Verstand geschah, / War Herr Lehrer Lämpel da …
- Richtschnur für das angemessene Thematisieren der Weisheitslehren und auch der
Sittlichkeit scheint somit der (im Denken orientierende) Verstand zu sein. Das ist
begründeter eine philosophische Position, wenigstens wenn man an Kant denkt, auf
dessen kritischen Ansatz sich Martens beruft. Doch kann Philosophie deshalb
wirklich als Verstandestechnik aufgefasst werden? Oder gilt nicht umgekehrt, dass
auch der Verstand lediglich ein Organ ist zum Hören einer dem Verstand selbstverständlich vorgeordneten Weisheit? Auch für eine solche weder auf Sittlichkeitsunterweisung, noch auf Kulturtechnik reduzierte Lesart philosophischer Bildung
könnte Wilhelm Busch gewonnen werden, zumindest aufgrund seiner hintersinnig
humorvollen Parteinahme für das Vergnügen am Weisheits-Lernen: Max und Moritz
klagen ja, wenngleich unmoralisch und gewalttätig, vor allem gegen die strenge
Verstandeszucht ihres Lehrers Lämpel, den sie darob „gar nicht leiden“ mochten,
nicht aber gegen ein Hören der Weisheit, zu welchem Vergnügen sie ja gar nicht
kommen..
1
Schmidt (1983), Bd. I, S.9.
2
Vgl. sein an verschiedenen Orten geäußertes Plädoyer für Philosophieren als vierter Kulturtechnik,
etwa: Ekkehard Martens: Philosophicum elementare. Zur (Wieder-)Einführung von Philosophie in
der Lehrerbildung, in: Akademische Philosophie zwischen Anspruch und Erwartung. Hg.v.
K.R.Lohmann u. Th.Schmidt, Frankfurt 1998, S.196-208, zuletzt auch in: Martens 1999, bes.
S.184-191. In mündlichen Referaten hat Martens in diesem Zusammenhang wiederholt die
Passage von Wilhelm Busch als ermunternden Beleg angeführt.
1-2 Religion als Bildungsgut?
89
Die kleine Busch-Exegese könnte durchaus zu einer didaktischen Kontroverse
ausformuliert werden; hier dient sie nur als Einstieg für die Frage nach einer bloß
äußerliches Verstandeslernen ergänzenden, vielleicht auch sie überhaupt erst recht
dimensionierenden Bildungsgröße. Religion bietet dafür selbst in nur halbwegs
säkularisierten Lebensverhältnissen (siehe Kapitel 1-1) keine allgemein anerkannte
Voraussetzung mehr. Säkular stellt sich daher am unmittelbarsten die Frage nach
Ersatz. Und was läge da näher als die Philosophie in ihrem ethischen Bereich zu
bemühen? Unserer Frage nach Religion als Bildungsgut gehen wir unter dieser
Vorgabe also aus einer gewendeten Perspektive nach: Kann bzw. inwiefern kann
nunmehr philosophische Bildung herhalten als (ersatzweise) Unterweisung in
Sittlichkeit?3
Unmittelbar ist darauf zu antworten mit einer Gegenfrage: Handelt sich die Philosophie damit nicht zugleich kompetenzüberschreitende Probleme ein? Die Möglichkeiten und Grenzen einer angemessenen Antwort darauf hat Odo Marquard treffend
und selbst-ironisch als „Inkompetenzkompensationskompetenz“ beschrieben, um die
zunehmend unübersichtlichen und orientierungsbedürftigen Lebensverhältnisse
ebenso ernst zu nehmen wie das kritische, zur Ideologisierung untaugliche Selbstverständnis der Philosophie.4 Vermag die Philosophie gleichwohl Orientierung zu
3
Zur Einordnung dieser Wendung ist natürlich auch darauf zu verweisen, dass dieses Kapitel
ursprünglich im Kontext einer ursprünglich nicht religionspädagogischen, sondern philosophiedidaktischen Einlassung auf Religion stand.
4
Vgl. Odo Marquard: Inkompetenzkompensationskompetenz? Über Kompetenz und Inkompetenz
der Philosophie; in: ders: Abschied vom Prinzipiellen. Stuttgart 1981, S.23-38. - Was ist gemeint?
Im Zuge nachmetaphysischen Denkens haben sich im 19. und 20. Jahrhundert nach und nach die
(heute selbständigen) Einzel-Wissenschaften aus der Philosophie verabschiedet. Da müsste es
eigentlich einfacher geworden sein, da eingeschränkt fassbarer, einen Gegenstand aus philosophischer Perspektive zu beschreiben. Doch das ist meist nicht der Fall, was den hier zur Debatte
stehenden Gegenstand, die Religion, angeht, allemal nicht. Denn mit ihrer Verabschiedung aus der
Philosophie haben die Wissenschaften zudem versucht, traditionelle der Philosophie eigentümliche
Gegenstände des Denkens als vorwissenschaftlich oder hinterweltlerisch abzutun. Andererseits
haben die Wissenschaften die sich selbst aufgeladenen Probleme keineswegs zu größerer Zufriedenheit lösen können als vormals die spekulative Philosophie; zwar leben wir durch sog. wissenschaftliche Entdeckungen in einer Zeit ständig sich steigernder Informationsgehalte, andererseits
steigen damit paradoxerweise auch Orientierungs- und Legitimationsprobleme für neu sich
bietende Lebensformen. Entsprechend meldet sich ein Bedarf nach Bewältigungs-Theorien. Auch
die Philosophie wird angesichts dieser Schwächen neu befragt. Das macht ihr Geschäft auch nicht
einfacher, schwieriger vielleicht auch nicht, aber heikler und gefährlicher. Warum? Einerseits kann
die Philosophie angesichts der aus ihr ausgezogenen Wissenschaften nicht mehr ohne Probleme
mit allgemeingültigen Orientierungssätzen aufwarten, war doch dieser Auszug ein Indiz für das
anbrechende nachmetaphysische Zeitalter, - ihr ist also eine gewisse Zurückhaltung bei allgemeinen Sinnfragen auferlegt; auf der anderen Seite aber wächst in einer zunehmend sich diversifizierenden und auseinanderlaufenden, aber auch komplexer und zusammenhängender werdenden
Welt, sowie konkurrierender Entlastungstheorien Orientierungsbedarf, den die Wissenschaften
aufgrund ihrer zunehmenden Spezialisierung nicht mehr einlösen können. In dieser Situation wird,
so meint Odo Marquard, der Philosoph zunehmend als „Stuntman des Experten“ gefragt,
„Experten - die ja kostbarer sind als Philosophen - zu doubeln in Situationen, die jenen Riskanz-
90
1-2 Religion als Bildungsgut?
bieten? Und was lädt sie sich auf, wenn sie solche Orientierung ersatzweise nun
gerade für religiöse Orientierung anbieten soll? - Dazu bieten sich drei Wege an: Als
erste Möglichkeit einer Orientierung könnte die Philosophie Religion entschlackt von
ihrem transzendenten Anspruch als kulturelles Gut ansehen und das darin bewahrenswürdiges Erbe ausmachen (1). Weiter würde die Lösung reichen, die Werte, die
bislang durch Religion verkörpert wurden, nun als ethische (im philosophischen
Sinn) zu begründen und herauszustellen (2). Und schließlich bliebe noch, ganz auf
das philosophische Proprium zu setzen und Orientierung im Denken als Ersatz für
religiöse Orientierung zu bieten (3). Prüfen wir diese Möglichkeiten:
1
Religion als Kulturgut
Unter der Perspektive, Religion als Kulturgut zum Gegenstand schulischer Bildung
zu machen wurde das Fach Ethik in den 70er-Jahren ausdrücklich für diejenigen
Schüler eingeführt, „die nicht am Religionsunterricht teilnehmen“5; seine Orientierung an den „allgemein anerkannten Grundsätzen der Sittlichkeit“ bzw. des
„natürlichen Sittengesetzes“6 versuchte, sich auf religiöse Elemente ausdrücklich
nicht zu beziehen. Gleichwohl haben in den Bildungsplänen von Anfang an religiöse
Gehalte eine Rolle gespielt, jedoch in einer Religion bzw. Religiosität nicht vermittelnden, sondern eher in einer über Religion als Kulturgut informierenden, also
religionskundlichen Perspektive. Die Religionswissenschaft wurde damit zunehmend zur entscheidenden wissenschaftlichen Bezugsdisziplin.7
grad erreichen, den interdisziplinäre Kooperationen nun einmal haben“ [Odo Marquard: Der
Mensch „diesseits der Utopie“. Bemerkungen über Geschichte und Aktualität der philosophischen
Anthropologie, in: ders: Glück im Unglück. Philosophische Überlegungen. München 1995,
S. 154.].
5
So die Verfassungen der Länder Bayern (Art.137.2) und Rheinland-Pfalz (Art.35), die seinerzeit
Vorreiter waren in der Einführung von Ethik als Schulfach.
6
Ebd.
7
Vgl. Peter Antes: Ethiklehrerausbildung ohne Religionswissenschaft? Ein Plädoyer, in: EU 1995,
H.4, S.43f. - Antes fordert hier „die Religionswissenschaft als [gegenüber der Philosophie]
gleichwertige und gleichberechtigte Leit- und Bezugswissenschaft“.
Drei Begründungen liefert er dafür:
Erstens sei für die heute in interkultureller Wirklichkeit gefragte Auseinandersetzung mit andersartigen Denkansätzen „eine an der abendländischen Philosophie orientierte Ethik allein nicht mehr
ausreichend“. - Diesem Argument hat mit Recht Heinz-Albert Veraart (Wie philosophisch darf die
Ethik sein ? Eine selbstverständliche Antwort auf eine erstaunliche Frage, in: EU 1996, H.3,
S.41f.) eine unphilosophische Verkürzung des Ethikbegriffs durch Antes entgegengehalten: Philosophische Ethik hat ihren Gegenstand nicht in der faktischen Geltung bestimmter Normen, sondern
in der Reflexion auf sie bzw. in der Frage ihrer möglichen Begründung. - Vgl. dazu auch unten die
Anmerkungen 44 und 45 sowie das Kapitel 4-4, in dem ich selbst versuche, einen philosophisch
wie didaktisch tragfähigen Begriff von Ethik zu entwickeln.
1-2 Religion als Bildungsgut?
91
Die Pointe wie Problematik dieser Sicht auf Religiöses ist dann am deutlichsten
geworden in der Diskussion um das brandenburgische Fach LER (LebensgestaltungEthik-Religionskunde). Bekanntlich erfolgte hier in der Phase der Einführung eine
Veränderung der Nomenklatur von „Religion“ über „Religionen“ zu „Religionskunde“, die die Verschiebung und letztlich auch Engführung der Perspektive auf das
Phänomen des Religiösen sicher am evidentesten verdeutlicht. Auf die umfassende
Diskussion kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden.8 Unbestritten ist aber,
dass das Fach LER unter völlig anderen Bedingungen als der westdeutsche Ethikunterricht eingeführt wurde: Zumindest auf den ersten Blick schienen dies, und
darum ist in unserem Zusammenhang darauf kurz einzugehen, vor allem religionskundliche Aufgabenstellungen erforderlich zu machen.9 - Die Problematik dieses
Zweitens, so Antes, ermögliche gerade die (zunächst deskriptive) Religionswissenschaft einen
„kognitiven Nachvollzug“ religiöser Traditionen „von außen“. Diesem Argument vor allem wird
in der Folge durch Etablierung eines philosophischen Begriffs von Religion zu begegnen sein.
Siehe dazu die Ausführungen im folgenden Kapitel 1-3.
Und drittens erlaube die Religionswissenschaft einen kontextualisierten Zugang zu religiösen
Phänomenen und Begriffen. Auch dazu vgl. unten meine Ausführungen in Kapitel 1-3.
Offener für ein „Bündnis zwischen Philosophie und Religionswissenschaft“ hat Ulrike Brunotte
plädiert (Ethik und Religion in der Schule, in: ZDPE 1995, H.2, S.130-136, hier S.136). Sie sieht
den religionswissenschaftlichen Beitrag vor allem in dem „am tatsächlich vorhandenen Interesse
der Schüler“ anzuknüpfenden „Erfahrungsmodus“ (ebd. S.132), welchen religionswissenschaftlich
zu erschließende Deutungstraditionen eröffnen. Vgl. dazu unten das Kapitel 1-4, insbesondere im
Zusammenhang meines Plädoyer für einen propädeutisch verfahrenden Unterricht in Religion,
sowie auch die Erläuterungen zur Kategorie der Erfahrung in der Einleitung, Abschnitt 2.
8
Vgl. dazu diverse umfangreiche Dokumentationen, u.a.: Religionsunterricht und LER im Land
Brandenburg. Hg. v.d. Evang.Kirche in Berlin-Brandenburg 1995, oder die epd-Dokumentation
19/96 „Pro und contra ‘LER’“. - Zu diesem Thema vgl. auch mein jetzt als Kap. 5-3 in die vorliegende Arbeit aufgenommener Beitrag: H.B. Petermann: LER - eine Herausforderung für den
Religionsunterricht der Zukunft, in: IRP-Mitteilungen 2/96, Freiburg 1996, S.22-29.
9
Drei Gründe sehe ich vor allem, die für die Einführung des Faches LER im Unterschied zum
Ethikunterricht angeführt werden konnten und angeführt wurden:
(1) Es ging zunächst einmal nicht um das Auffangen von „Abmeldern“ aus dem Religionsunterricht, die gleichwohl, in einer neutral Wissen vermittelnden Form, in religiösen Dingen unterrichtet werden sollten; Ausgangspunkt für das Fach LER (wie im übrigen auch für das Fach Ethik
in allen anderen ostdeutschen Bundesländern) war vielmehr die demografische Tatsache von
ca. 80% nichtreligiösen, d.h. ungetauften und i.d.R. über religiöse Traditionen völlig uninformierten Schülern; ihnen sollten zunächst einmal Grundkenntnisse vermittelt werden.
(2) Natürlich hatte solche Vermittlung bekenntnisneutral zu erfolgen; angesichts der Vielfalt
gelebter und lebbarer Religionen wie auch nichttreligiöser Weltanschauungen schien die Maxime
einer eher informativen Religionen-Kunde einleuchtend. „LER soll keine Religion bekennend
vermitteln, sondern Wissen über die verschiedenen Religionen“, so programmatisch die ehemaligen Brandenburgische Bildungsministerin Peter Angelika Peter gegenüber der „Frankfurter Rundschau“, [zitiert in dem Artikel von Christian Füller: „Um Gottes willen, kein Weltanschauungsfach“. Religion als Nebenfach: In Brandenburg verschärft sich der Konflikt zwischen Staat und
Kirche, in: FR v. 12.10.1995]
(3) Schließlich musste man sich der neuen Situation einer pluralen demokratischen Gesellschaft
stellen, zu deren Überleben Toleranz und Fähigkeit zur Auseinandersetzung gehören. In diesem
Sinne meinte seinerzeit auch der LER-Kritiker Werner Simon durchaus affirmativ: „Eine plura-
92
1-2 Religion als Bildungsgut?
pädagogisch innovativen Ansatzes hat Karl Ernst Nipkow auf den Punkt gebracht:
Abgesehen von allen bildungskonzeptionellen und politischen Einwänden reflektierte
das LER-Modell sicher zu wenig auf die gerade auch von Religionswissenschaftlern
beschriebene strukturelle Aporie des religionskundlichen Zugangs zu Religionen:
Sofern es sich bei Religionen um gelebte und lebbare, auch heute noch aktuelle und
nicht rein historische Lebensbezüge handelt, kann ein informierender, sachkundlicher Zugang nie am Anfang einer Auseinandersetzung stehen, sondern ist stets
von Lebensfragen getragen. Pädagogisch ist ein solcher Zugang daher problematisch,
in der Erwachsenenperspektive kann er sinnvoll sein, nicht aber für die
Erstbegegnung mit dem Religiösen.10
Dass bei der Bildung in religiösen Dingen die Dimension religiösen Erlebens bzw.
von Religion als Beziehungsgeschehen ein unverzichtbares Element ist, diesen
Schluss hat Klaus-Peter Jörns auch aus seinen soziologischen Erhebungen ziehen
können.11 Gleichwohl ist keineswegs nur in philosophie- bzw. ethikdidaktischen,
sondern auch religionspädagogischen Überlegungen die Ansicht nicht unverbreitet,
heute sei es lediglich noch möglich, Religion als Bewahren kultureller Traditionen zu
vermitteln.12 Ohne Zweifel besteht für eine elementare Wissensvermittlung in
Sachen Religion nicht nur in den überwiegend nichtreligiös geprägten ostdeutschen
Bundesländern Handlungsbedarf; auch in Westdeutschland ist die Rede vom
religiösen Analphabetismus längst common sense.13 Auch den Herausforderungen
listische Gesellschaft lebt von der Vielfalt begründeter, nicht beliebiger Überzeugungen. Sie
fordert insofern eine ‘kenntnisreiche’ Toleranz.“ (Simon 1995).
10
Vgl. insbesondere zuletzt Nipkow (1998), Bd.2, S.144ff, 179f., 450ff. - Einen Weg, diesen Einwänden zu begegnen, weist Ulrike Brunotte mit ihrem auf Erfahrungslernen aufbauenden
religionsdidaktischen Plädoyer (Brunotte 1995, S.132).
11
Jörns 1999, S.229.
12
Zu verweisen ist hier insbesondere auf die Überlegungen von Gerd Otto, zusammengefasst etwa
in: Gerd Otto: Allgemeiner Religionsunterricht - Religionsunterricht für alle. Sieben Thesen mit
Erläuterungen, in: Lott, Jürgen (Hg.), Religion - warum und wozu in der Schule?, Weinheim:
Dt.StudienVerlag 1992, S.359-374. - Hintergrund für solche Konzeptionen bietet einerseits die
Diagnose, Gesellschaft und (christliche) Kirche bildeten heute keine Einheit mehr, andererseits die
Herausforderung, gegen die Mängel eines rein problemorientierten Religionsunterrichts, wie er in
den 70er-Jahren gegen eine anachronististisch gewordene und nicht mehr akzeptanzfähige
katechetische Glaubensunterweisung entwickelt wurde, gleichwohl an objektivierbaren stofflichen
Bildungselementen festzuhalten.
Für einen Rückzug der Kirchen aus dem schulischen Religionsunterricht und die Einbindung von
„einschlägige(m)“ kirchlichen Gedankengut als „wesentliche(n) Stücken unserer moralischethischen Tradition“ in einen für alle verbindlichen „Ethik- oder Moralunterricht“ (sic!) plädierte
1988 aus Josef Brechtken in den „Katechetischen Blättern“ und zettelte damit eine heftige
Diskussion unter Religionspädagogen an (Brechtken 1988).
13
Vgl. etwa auch Annette Schavan: Wozu brauchen wir noch einen Religionsunterricht ?, in: Stimmen der Zeit 1997, H.1, S.3-10. - Schon früh auf die zunehmende religiöse Sprachlosigkeit haben
von Seiten der Religionspädagogik hingewiesen Norbert Scholl (zusammengefasst in: RU 2000.
Welche Zukunft hat der Religionsunterricht? Zürich: Benziger 1993) und Günter Lange; Lange
1-2 Religion als Bildungsgut?
93
multikultureller und auch multireligiöser gesellschaftlicher Verhältnisse insbesondere in westdeutschen Großstädten haben sich religionspädagogische Überlegungen
in den letzten Jahren verstärkt zu stellen versucht. Dabei scheint man augenblicklich
noch eher darauf zu setzen, vor allem für die vielen islamischen Kinder und
Jugendlichen (an einigen Schulen inzwischen mehr als 70% der Schüler) einen
eigenen Religionsunterricht einzurichten, und nicht einen allgemeinen Religions- und
Orientierungsunterricht für alle.14
Als zentrales Gegenargument gegen einen allgemeinen Religionsunterricht wird
von kirchlicher Seite eben die fehlende Ebene persönlicher Erfahrungsbezogenheit
eingeklagt. So formuliert etwa die Denkschrift der Evangelischen Kirche es sogar als
Grundsatz für den Religionsunterricht, jene von Nipkow oder Jörns angemahnte
„selbständige erfahrungsbezogene Aneignung und Auseinandersetzung zu fördern“.15
Der Religionsunterricht will demnach „ein Beitrag zur persönlichen Orientierung und
Bildung sein“ und elementarisiert Fragen wie Lebenszuversicht, Identitätsentwicklung aufwerfen, freilich mit Religion als „Erfahrungen ganz eigener Art“, als „eine
unverwechselbare Dimension des Lebens“.16 Die katholische Kirche arbeitet den hier
zugrundeliegenden Bildungsbegriff in ihrer programmatischen Schrift zum
Religionsunterricht noch deutlicher heraus, wenn das Thema „Erziehung als
Bildung“ ausdrücklich im Horizont jugendlicher Erfahrungswelt und insbesondere
des jugendlichen Selbstwerdungsprozesses erläutert wird:17 Die „konkrete Existenz“
der Jugendlichen wie der Lehrenden biete den Boden zur Ausbildung von Zielen wie
„aus der Perspektive anderer sehen zu lernen“, um so „Perspektivenübernahme
einzuüben“, oder „Selbstständigkeit“ zu entwickeln, was auch „Ermutigung zu kritischer Selbstdistanz“ mit einschließe.18
konstatierte bereits 1988 auch für den tradierten konfessionellen Religionsunterricht ein Verhältnis
von 9:1 von kirchlich nicht mehr sozialisierten zu kirchlich gebundenen Schülern (Religionsunterricht auf dem Prüfstand, in: KatBl 1988, S.490); ebenso vgl. die kurze Notiz bei Scholl (1989).
14
Gegen die Einführung von Islamunterricht spricht m.E. nicht bzw. weniger die Schwierigkeit,
geeignete Ansprechpartner und Träger zu finden. Vielmehr würde dadurch einer weiteren Aufspaltung in Konfessionalismen Vorschub geleistet mit der (fast notwendigen) Folge zunehmender
Ausgrenzung von Religionsunterricht aus dem allgemeinen schulischen Bildungsangebot. Eine
lobenswerte Ausnahme stellt demgegenüber der Hamburger Versuch eines Religionsunterrichts für
alle dar, zumal dessen Konzeption auffälligerweise nicht bei bloßer Kenntnisvermittlung stehen
bleibt, sondern versucht, die Dimension des Erfahrungs-Lernens auch in einem interreligiösen
Kontext ernst zu nehmen. Vgl. dazu F.Doedens / W.Weiße: Religionsunterricht für alle.
Hamburger Perspektiven zur Religionsdidaktik, Münster: Waxmann 1997. – Weitere Auseinandersetzungen dazu s.u. im abschließenden Kapitel 5-4.
15
Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität.
Hg.v.d. Evang. Kirche i. D. Gütersloh: 1994, S 27.
16
Ebd., S.26,28,30.
17
Die deutschen Bischöfe: Die bildende Kraft des Religionsunterrichts (1996), S.26ff.
18
Ebd., S.61ff.
94
1-2 Religion als Bildungsgut?
Eigentümlicherweise wird kirchlicherseits (und aufgrund der sog. religionsunterrichtlichen Trias von der katholischen Kirche noch stärker19) gleichwohl am Prinzip
des konfessionellen Religionsunterrichts festgehalten, zugleich an der Pflege der
konfessionellen Beheimatung20, so dass weiterdenkenden Versuchen, die den propädeutischen Charakter des Religionsunterrichts stärken wollen, um der angesichts
konfessioneller Marginalisierungen notwendigen Ebene des Erfahrungslernens
stärkeres Gewicht zu verschaffen21, vorschnell und paradoxerweise mit dem gleichen
Argument wie gegenüber einem allgemeinen Religionsunterricht begegnet wird:
„Ein solcher Religionsunterricht müsste gerade die konkret gelebten, anschaulichen
und lebensnahen Elemente vernachlässigen, sich auf eine wenig fassbare, allgemeine
Religiosität beschränken“.22 - Die Frage ist aber, ob ein puristisches Festhalten am
konfessionellen Religionsunterricht nicht selbst dem als Gegenargument aufgebauten
Abgleiten „in eine abstrakte Religionskunde“23 anheim fällt, da dabei abstrakt eine
Verwurzelung in religiöser Erfahrung vorausgesetzt wird, die demgegenüber durch
einen erfahrungsorientierten Unterricht angesichts weithin entkonfessionalisierter
Sozialisation zuerst einmal aufbereitet werden müsste.24
19
Die Trias meint die Bindung des Religionsunterrichts an das Bekenntnis von Lehrer, Schülern und
Lehrinhalten. Sie wird katholischerseits als Konstituens des Religionsunterrichts festgehalten (vgl.
Die deutschen Bischöfe (1996), S.77), evangelischerseits zumindest, was die Ebenen Lehrer und
Lehrinhalte angeht. Versuche, das Konfessionalitätsprinzip nicht als formale Voraussetzung,
sondern eher als inhaltliche Aufgabe im Sinne einer Konfessionabilität des Religionsunterrichts
aufzufassen, also als Orientierung auf eine konfessionelle Entscheidung hin, haben sich bislang
nicht durchsetzen können. Vgl. dazu mein eigener Vorschlag: H.B.Petermann: Religion im
Religionsunterricht ? Thesen zu einem Religionsunterricht der Zukunft, in: Mitt.d.Verb.Kath.RL,
Freiburg 1996, H.2, S.14ff., sowie das Kapitel 5-4.
20
Zur Kritik vgl. auch Petermann (1997b) sowie Kapitel 2-1, Abschnitt 4.
21
Vgl. dazu die Vorschläge Petermann 1996a sowie zuletzt Hans Julius Schneider: Das neue Fach
"Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde": Sinnvolle Propädeutik oder fragwürdiger Ersatz für
den Religionsunterricht ?, in: Dt.Ztsch.f.Philos., Berlin 1998, S. 305ff.
22
Die deutschen Bischöfe (1996), S.77f.
23
Ebd.
24
Zur Entfaltung dieser Position vgl. unten die Kapitel 1-4 sowie 5-4.
1-2 Religion als Bildungsgut?
2
95
Werteorientierung und Ethik
Wie aber kann Religion nicht nur als allgemeines und damit tendenziell beliebiges,
zumindest kontingentes Kulturgut, sondern auch als unser Leben elementar berührende Erfahrung vermittelt werden, wenn konfessionell-religiöse Bindung den dafür
notwendigen Erfahrungshintergrund faktisch nicht mehr bietet? Auf dem Hintergrund dieser Diagnose ist es beliebt geworden, von Werteorientierung zu sprechen
und sie als zentrale Bildungsaufgabe einzuklagen. Das war die Pointe auch der
Bildungsrede des früheren Bundespräsidenten Roman Herzog mit seiner ersten
Forderung „Ich wünsche mir ein Bildungssystem, das wertorientiert ist“.25 Der
Versuch des Rückgriffs auf Werteorientierung in Zeiten größerer Orientierungsschwäche hat Vorbilder, man vergleiche die Grundwertedebatte der 80er-Jahre oder
den Kongress „Mut zur Erziehung“ von 1978.26 Nicht immer wird in diesen Appellen
deutlich, inwiefern es dabei um einen Ersatz gegenüber verlorengegangener oder
nicht mehr verallgemeinerungsfähiger religiöser Erziehung geht. Hartmut von
Hentig scheint mit eben dieser Begründung Werteerziehung zu fordern (wenn auch
in allgemeinerer Akzentuierung als Herzog): „Als Ursprung von Werten“ sieht
v. Hentig ausdrücklich das Thema Religion „und Religionsunterricht als Instrument
einer ‘Werteerziehung’“.27 Doch ist auch für ihn „in der multikulturellen und
multireligiösen Gesellschaft“ ein allgemeiner Wertekonsenses nicht mehr
selbstverständlich und „mit konfessionsbewussten Religionen [auch] nicht zu
haben“. Darum plädiert v. Hentig für einen allgemein verpflichtenden Unterricht in
Philosophieren, in dem Wertvorstellungen sich bilden und geübt werden können oder
zumindest als „Grundbedingung geklärt und bewusst gemacht“ werden.28
Eine solche Begründung von Werten ist philosophisch problematisch. Zwar versuchte bereits die sog. materiale Wertethik vom Beginn des 20. Jh.29 philosophisch
25
Roman Herzog: Sprengt die Fesseln. (Rede zur Zukunft unseres Bildungssystems), in: Die Zeit
1997, H.46, S.49f. - Herzog fordert darin nicht nur allgemein eine wertorientierte Erziehung,
sondern auch einen Wertekatalog einschließlich der Vermittlung von konkreten (Sekundär-)
Tugenden wie „Verläßlichkeit, Pünktlichkeit und Disziplin, vor allem aber Respekt vor dem
Nächsten und die Fähigkeit zur menschlichen Zuwendung“, um eine Erziehung zu Selbständigkeit
und Kreativität nicht in orientierungslose Irre laufen zu lassen, sondern ihr Ziele vorzugeben.
26
Zur Kritik vgl. u.a. Ruth Dölle-Oelmüller: Philosophisches Orientierungswissen in Erziehung und
Bildung, in: Philosophische Orientierung. FS z. 65. Geb.v. W.Oelmüller. Hg.v. F.Hermanni u.
V.Steenblock, München: Fink 1995, S.163-186.
27
Hartmut von Hentig: Ach die Werte. München: Hanser 1998, S.14.
28
Ebd., S.134f.
29
Vgl. insbes. Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. 1913; sowie
Nicolai Hartmann: Ethik. 1925.
96
1-2 Religion als Bildungsgut?
einen Rückgriff auf konkrete Werte auch im Hinblick auf inhaltliche Orientierung.
Und auch Otfried Höffe glaubt in seinem frühen Programmaufsatz zum Ethikunterricht, die „Problematik einer sittlichen Verbindlichkeit in pluralistischer Gesellschaft“ durch Konzentration auf einige „elementare Verbindlichkeiten“ wie
Tötungsverbot, Toleranz und Verständigungsbereitschaft, also konkrete Werte lösen
zu können.30 Demgegenüber zeigen jedoch Winfried Franzen31 und Georg
Lohmann32 aufgrund des heutigen Diskussionsstandes, insbesondere in der politischen Philosophie33, erhebliche Skepsis gegenüber einem werteerziehenden Unterricht. Lohmann fordert anstelle der problematischen und stets interpretationsbedürftigen Vermittlung eines konkreten Wertekanons die „Stärkung der sittlichen Urteilskraft“, mithin auch der „moralischen Autonomie und Urteilsbildung“, „die Fähigkeit
jedes einzelnen, Werte überprüfen und Situationen angemessen einschätzen und
überlegt zwischen ihnen wählen zu können.“34 - Kenner und erfahrene Vertreter des
Ethikunterrichts haben diese Einsicht längst übernommen und wissen, wie etwa
Konrad Baldrian: „Religion und Ethik sind weit mehr als ‘Wertefächer’“.35
Den entscheidenden Hintergrund für die Kritik eines werteorientierenden Unterrichts liefert ein reflektierter philosophischer Begriff von Ethik.36 Gegen die
Alltagssprache und den etymologischen Wortsinn ist es in der Philosophie üblich
geworden, Ethik von Moral zu unterscheiden: „Nach einem sich einbürgernden
Sprachgebrauch bezeichnen wir als ‘Moral’ den [erg.: für den Einzelnen oder auch
30
Otfried Höffe: Ethikunterricht in pluralistischer Gesellschaft (1974), überarbeitet in: Ethik und
Politik, Frankfurt: Suhrkamp 1979, hier S.470ff. - Auch die Konstanzer Philosophen Hubert
Schleichert, Gottfried Seebaß und Peter Stemmer sprechen in ihrer bekannten Einlassung zum
Fach LER von „grundlegenden Werten“, „von denen jedes Zusammenleben in der Gesellschaft
abhängt“ und plädieren dafür, dass sie auch in ihrer inhaltlichen Bestimmung „den Bürgern eines
demokratischen Staats vermittelt werden“ müssten, nicht nur hinsichtlich ihrer eigenverantwortlich
zu treffenden Beurteilung. [Hubert Schleichert / Gottfried Seebaß / Peter Stemmer: Respekt für
Menschen braucht Distanz zur Sache, in: FAZ v.14.01.1997].
31
Winfried Franzen: Wertevermittlung und Philosophie, in: Philosophie und Religion. Zukunft einer
Fächergruppe. Hg. H.Hastedt. Rost.Phil. Manuskripte H.5, Rostock: 1998, S.17-30.
32
Georg Lohmann: Probleme der "Werteerziehung" im Ethikunterricht, in: Dt.Zt.Philos., Berlin
1998, S.291-303.
33
Hintergrund dieser Skepsis scheint mir die in der politischen Philosophie zunehmend verbreitete
Tendenz zu deliberativen Entscheidungsbegründungen zu sein. Vgl. dazu die jüngeren Arbeiten
von Jürgen Habermas. – Zu den Konsequenzen für eine Moralerziehung vgl. auch meine eigenen
Einlassungen in Kap. 4-4.
34
Ebd., S.300f.
35
Konrad Baldrian: Zum immer noch umstrittenen Verhältnis zwischen Religions- und
Ethik/Philosophieunterricht, in: www.fv-ethik.de 1999, S.1.
36
Vgl. dazu auch meine Ausführungen unten in Kap. 4-4, die nicht nur den Unterschied zwischen
Moral und Ethik klären, sondern auch das Problem einer unreflektierten Übernahme sog. Werte
reflektieren sowie aus diesen Überlegungen didaktische Konsequenzen ziehen.
1-2 Religion als Bildungsgut?
97
bestimmte Kulturen geltenden] Inbegriff moralischer Normen, Werturteile, Institutionen, während wir den Ausdruck ‘Ethik’ für die philosophische Untersuchung des
Problembereichs der Moral reservieren“, so Günter Patzig.37 Ihre Begründung
gewinnt diese Unterscheidung in der Ablösung der ethischen Grundeinsicht von
einer metaphysischen Begründung. Der Titel „Ethik ohne Metaphysik“ (Patzig)
leistet allerdings zugleich einem ganz bestimmten (Miss-)Verständnis ethischer
Autonomie Vorschub: Was von Kant zunächst zur Begründung von Freiheit als
Konstituens allen Handelns behauptet wurde, dient nun als Zurückweisung jeglicher
religiöser Grundlegung menschlichen Handelns. Philosophische Ethik wird so, was
von dieser Argumentation her keinesfalls notwendig ist, in die Position einer gegenüber und von religiöser Ethik emanzipierten Begründung von Moral gerückt.38
Entsprechend ist es vielfach üblich geworden, die Orientierung an der Vernunft als
Ziel des Ethikunterrichts auszurufen und der Orientierung an der Offenbarung als
Ziel des Religionsunterrichts gegenüberzustellen.39 Die Bestimmung von moralischer
Autonomie als „letztes regulatives Ziel des Ethikunterrichts“40 wird unter dieser
Perspektive leicht zu einem Argument für Distanz gegen die Vermittlung konkreter
persönlicher Handlungsbezüge. Entsprechend wollen Autoren wie Heinz-Albert
Veraart den Ethikunterricht „auf die kognitiven Momente des sittlichen Handelns
konzentrieren“.41 Erst neuerdings klagen demgegenüber andere Autoren zunehmend
auch den erfahrungsorientierten und kommunikativ ausgerichteten Prozess des
Zustandekommens von Wissen als Basis des Ethikunterrichts ein42 oder auch
präsentative statt bloß diskursive Formen des Philosophierens.43 Darin mag sich
37
Günther Patzig, Ethik ohne Metaphysik. Göttingen 1971, S.3.
38
Eine solche Gegenüberstellung bringt sich sogar in die Gefahr, philosophische Ethik zu verwechseln mit der Begründung einer ganz bestimmten konkreten Moral, was andererseits der als
religiös apostrophierten Ethik unterstellt wird.
39
Vgl. sogar die EKD-Denkschrift zum Religionsunterricht „Identität und Verständigung“
(Ev.Kirche 1994), S.79.
40
So Heinz-Albert Veraart: Wie philosophisch darf die Ethik sein ? Eine selbstverständliche Antwort
auf eine erstaunliche Frage, in: EU 1996, H.3, S.42, Sp.3.
41
Ebd. - Veraart sieht das philosophische Spezifikum des Ethikunterrichts, dem die ethischen, dann
wohl auch die religiösen Themen einzuordnen sind, in erster Linie in einer „geltungs- begründungs-und argumentationsorientierte(r) systematische(r)“ Fragestellung.
42
So etwa Richard Breun in: Überlegungen zu einem Curriculum für den Ethikunterricht, in: ZDPE
1994, H.4, S.269-277, sowie in: Kanonbildung im Ethikunterricht. Zur Frage des ethischen
Wissens in der Primarstufe und Sekundarstufe I, in: ZDPE 1997, H.2, S.100-109.
43
Vgl. dazu die grundlegende Arbeit der Cassirer-Schülerin Susanne Langer: Philosophie auf neuem
Wege. Frankfurt 1984, sowie die diesen Ansatz weiterführenden Beiträge von Susanne Nordhofen,
etwa: Didaktik der symbolischen Formen. Über den Versuch, das Philosophieren mit Kindern
philosophisch zu begründen, in: ZDPE 2/1998, S.127ff. – Auf Möglichkeiten der Umsetzung
dieses Ansatzes für den Unterricht komme ich selbst ausführlicher zu sprechen in den Kapiteln 4-1
98
1-2 Religion als Bildungsgut?
andeuten, dass Ethik auch als philosophische Disziplin zu kurz greift, wenn sie sich
beschränkt auf Begründungs- und Argumentationstheorien und nicht den konkreten
Lebensbezug des Handelns in den Blick nimmt. Schon für Aristoteles ist Ethik
jedoch keine rein wissenschaftliche Disziplin, sondern darauf ausgerichtet, im konkreten Leben auch „gut zu werden“, also entsprechend der rechten ethischen Einsicht
zu leben.44 Als philosophischer Disziplin geht es der Ethik gleichwohl nicht um
direkte Anweisungen zum guten Leben45, sondern um die grundlegende Einsicht,
dass überhaupt unser Leben führbar und durch uns selbst zu gestalten ist und nicht
schlicht verläuft. Wenn sie aber Strukturen der Lebensführung zur Einsicht bringt,
hilft sie durchaus auch, das Leben gut zu führen. Insofern bietet philosophische Ethik
Orientierung.46 Doch ist es gerade deshalb fraglich, dass sie dies ersatzweise für
religiöse Orientierung tut und tun kann.47 Eher scheint ihre Orientierungsleistung
darin zu bestehen, diese grundlegende Orientierung zur Einsicht zu bringen und so
der je eigenen Verantwortung den Weg zu bereiten.48
zur Arbeit mit Bilderbüchern, aber auch in 4-2 zur Erschließung biblischer Botschaften durch
Bilder.
44
Aristoteles, Nikomachische Ethik 1103b. Darum strebt für Aristoteles grundsätzlich jede Handlung wie auch jede Einsicht nach dem, was „gut“ ist, so der berühmte Anfangssatz der Nikomachischen Ethik 1091a.
45
Die Differenz von je konkreter guter Lebensführung und der Reflexion auf das, was gutes Leben
sei und was es heißt, es gut zu führen, wird tendenziell eingeschliffen von diversen Versuchen sog.
angewandter Philosophie oder von Philosophie als Lebenskunst. Die Aufrechterhaltung dieser
Differenz ist freilich keine philosophische Kopfgeburt, sondern ergibt sich notwendig aus der
menschlichen Möglichkeit zur Reflexion. Mit der Einbindung der Philosophie als Schulweisheit in
die Philosophie als Weltweisheit hebt beispielsweise Kant diese Differenz ebenso wenig auf wie
Aristoteles mit dem eben zitierten Bezug der Ethik auf das Gut-Leben. Ursula Wolf hat einleuchtend darauf hingewiesen, dass die Philosophie wesentlich in und von dieser Spannung lebt, die
existentiell elementare Frage nach dem guten Leben als das sie begründende Motiv zu verstehen
und zu ihrem zentralen Gegenstand zu machen, in dieser Reflexion aber zugleich mit der Unlösbarkeit dieser Frage konfrontiert zu werden, so dass immerhin die Explikation unseres existentiellen Selbstverständnisses, die Sinnfrage, notwendige Aufgabe der Philosophie bleibt. [Ursula
Wolf: Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, Reinbek: Rowohlt 1999].
46
So auch Gernot Böhme: Ethik im Kontext. Frankfurt 1997, S.7. Mit seiner Formel, die Ethik habe
zum Gegenstand moralische Fragen, und diese stellten sich, wenn es ernst werde (S.111,155,236),
vertritt Böhme zwar explizit auch die Ansicht von Philosophie als Lebensform und Weltweisheit
gegen ihre verwissenschaftlichte Form (S.7). Aber auch er hintergeht damit m.E. nicht die eben in
Anm. 45 beschriebene Differenz, insofern er zwar konstatiert, dass „der Entwurf einer moralischen
Lebensführung [nur] Sache des je einzelnen“ sein könne (S.237), die Bestimmung von Kompetenzen einer moralischen Lebensführung aber gleichwohl als originäre Aufgabe von Philosophie
anerkennt, die als Leben zu führen „nicht jedermanns Sache“ sei (S.7).
47
Auch Ursula Wolf (1999) sieht trotz einer hinsichtlich des praktischen Lebens eher agnostischen
Haltung die Auseinandersetzung mit der ihr vorgelagerten existentiellen Sinnfrage, wie sie die
Religionen stellen, für die Philosophie als notwendig an, will sie nicht spannungshaltig und unabgeschlossen bleiben. (Vgl. S.186).
48
Dass sich in dieser Aufgabe der philosophisch ausgerichtete Ethik- und der traditionelle Religionsunterricht treffen, hat m.E. sehr klar Heinz-Albert Veraart beschrieben, wenn er es als Aufgabe
1-2 Religion als Bildungsgut?
3
99
Orientierung im Denken?
Warum aber wird hier ein so deutlicher Unterschied gemacht zwischen dem einen
Ziel, Orientierung zu bieten, und dem anderen Ziel, Orientierung zur Einsicht zu
bringen? Ich will damit entgegen dem vielleicht ersten Eindruck die zuweilen unterstellte Identifikation des ersten Ziels mit religiöser und des zweiten mit philosophischer Orientierung nicht bestätigen, sondern aufsprengen. Gegenüber der starren
Trennung zwischen religiöser und philosophischer Orientierung vertrete ich die
These, dass zum einen als Schulfächer Philosophie wie Religion nicht mehr leisten
können und dürfen, als Orientierung zur Einsicht zu bringen, dass aber zum andern
diese Orientierung ihren Sinn verliert, wenn sie nicht auch die je persönlich beanspruchende Orientierung zur Erfahrung bringt, also hinausgreift über Informationen
zu Begründungs- und Argumentationswegen.
Nun wird Orientierung, und zwar Orientierung an der Vernunft, weithin als die
Aufgabe des Ethik- und Philosophieunterrichts schlechthin angesehen. Um die seit
Entstehung des Ethikunterrichts entstandenen konzeptionellen Varianten zu vereinigen, plädiert seit 1990 Ekkehard Martens wiederholt für die Aufnahme von Philosophie „als unverzichtbare(r) vierte(r) Kulturtechnik“ in den Kanon schulischer
Bildung.49 Er beruft sich dabei auf Kants Essay „Was heißt: sich im Denken orientieren?“50 Die Frage Kants hat Martens in einen Imperativ verwandelt und daraus einen
eigenen philosophiedidaktischen Ansatz entwickelt.51 Seitdem gilt die Orientierungsfunktion weithin als originäre Leistung der Philosophie, gerade im Bereich ihrer
schulischen Wirkung.
Zuweilen wird dieser Ausdruck jedoch nicht weiter ausgewiesen und tendiert dazu,
für sich selbst zu stehen, als böte die Einladung zu Orientierung schon selbst Orientierung.52 Dabei reicht es nicht aus, Orientierung als bloßes „Angebot“ zu verstehen,
beider Fächer beschreibt, „mit Orientierungen kritisch vertraut zu machen, die sich … auf das
Leben im Ganzen und damit auf Leben ermöglichende und existenztragende Sinnorientierungen
beziehen.“ (Heinz-Albert Veraart: Die Fächergruppe Religionsunterricht - Ethik - Philosophie.
Trennung oder Einheit? in: Ehman u.a.: Religionsunterricht der Zukunft. Aspekte eines notwendigen Wandels. Freiburg 1998, S.115f.). Vgl. dazu auch meine Bemerkungen unten in den
Kapiteln 1-4 und vor allem 5-4.
49
Vgl. Martens (1996) und (1998).
50
Immanuel Kant: Was heißt: Sich im Denken orientieren?, in: Werke Bd.V, 265-283; im folgenden
zitiert nach der originalen Paginierung in der Berl. Monatszt. Okt.1786, S.304-330.
51
Martens (1990) und (1999).
52
Diesen Eindruck könnte man gewinnen, wenn man etwa den Satz liest: „Philosophie in der Schule
kann und sollte Orientierungshilfe nur im Sinne eines Angebots sein“. So zu lesen bei Gisela
100
1-2 Religion als Bildungsgut?
dem gegenüber die je persönliche Entscheidung völlig dem Einzelnen überlassen
bleiben müsse. Als wahre Aufklärung ist Philosophie stets Herausforderung zum
Denken und auch zum Entscheiden, darf sich also letzter Überzeugungsgrundsätze
gerade nicht enthalten.53
An dieser Stelle, auch aus Gründen des Bezugs zum Thema „Religion“, ist ein
ausführlicherer Verweis auf den vielzitierten Essay Kants „Was heißt: Sich im
Denken orientieren?“ angebracht. In den genannten und weiteren philosophiedidaktischen Einlassungen wird diese Schrift gern zitiert, freilich oft nur der Titel und ggf.
die Schlussanmerkung, insbesondere die Aufforderung Kants, man solle „bei allem
dem, was man annehmen soll, sich selbst fragen“, sich also „seiner eigenen Vernunft
bedienen“ (330). Damit verbindet sich die Option zu freiem Philosophieren gegen
bloße Kenntnisakkumulation oder auch praxisferne begriffliche Reflexion; das aber
führt leicht zum Missverständnis eines völlig ungebundenen, gänzlich auf sich selbst
fixierten schlichten Nachdenkens54, besser „Herumraisonnierens“. Ein tieferer Blick
in Kants Text vermag ein solches Missverständnis auszuräumen und bietet zudem ein
gutes Fundament, sich in die philosophische Auseinandersetzung mit der Religion
mit kritischem Blick einzulassen: In der Tat votiert Kant in seiner kleinen Schrift
entschieden für das „Selberdenken“ als „obersten Probierstein der Wahrheit“, stellt
dies aber bereits im Folgesatz klar als „die Maxime, jederzeit selbst zu denken“
(330), mithin in allem Denken nie die eigene Vernunft außen vor zu lassen. Das aber
meint keineswegs, alles Gedachte und zu Denkende lediglich aus sich selbst zu
schöpfen; denn Orientierung gewinnt das Denken für Kant nicht lediglich in sich
selbst, sondern vielmehr in der ihrer selbst bewussten Vernunft. Die Orientierung an
„Gemeinsinn, … gesunde(r) Vernunft, … schlichte(m) Menschenverstand“ kritisiert
Kant als bloß „vorgebliche(n) geheime(n) Wahrheitsinn“, „überschwengliche
Anschauung“ (306). Die Orientierung an der Vernunft dagegen weiß zugleich um die
Raupach-Strey: Ethik-Unterricht auf philosophischer Basis. Zum Berliner Schulversuch Ethik /
Philosophie, in: Dt.Zt.Philos., Berlin 1998, S.654f.
53
In missverständlicher Weise wird diese Abgrenzung vollzogen bei Raupach-Strey (1998), S.655.
Auch der von R.S. behauptete Gegensatz von philosophischer Rationalität zu einem Überzeugungssystem ist auf dieser Grundlage nicht zu halten. - Zur Gegenargumentation vgl. meine
Skizzierung philosophischer Ethik im vorausgegangenen Abschnitt 2 dieses Kapitels.
54
Martens hat in seinem programmatischen Bezug auf Kant zumindest auf den Anlass des Kantschen
Aufsatzes Bezug genommen; er wendet diesen Bezug aber in ein vom Text nicht abgedecktes
Plädoyer für ein ohne Anleitung durch den Lehrer tätiges „Selbstdenken“ aus je eigener moralischer Erfahrung [Martens 1999, S.55], sogar dafür, eine Gesamtperspektive für unser Denken
„durch [Hervorh. i. Orig.!] Selbstdenken zu gewinnen und sich insgesamt auf das eigene, freie
Denken … zu verlassen“ (S.58). Für problematisch halte ich dabei das „insgesamt“ wie auch das
„durch“, mit dem das Selbstdenken gegenüber der Kantschen Intention auch als Substanz aller
Denkbemühungen hochgespielt wird. Kant war demgegenüber bei aller aufklärerischen Emphase
stets daran interessiert, im Selbstdenken wesentlich auch das Bewusstsein von der Begrenztheit der
Vernunft zu verwurzeln.
1-2 Religion als Bildungsgut?
101
„Unzulänglichkeit der objektiven Prinzipien der Vernunft“ (310), also die „Grenzen
aller Erfahrung“ und die Gefahr ihrer in der Kritik der reinen Vernunft ausführlich
als Dialektik beschriebenen unzulänglichen Erweiterung. Im Wissen um diese
Unzulänglichkeit aber kann und soll man sich „im Fürwahrhalten nach einem
subjektiven Prinzip derselben [sc. der Vernunft] bestimmen“.
Entscheidend zum Verständnis der Orientierungsleistung - und damit sind wir bei
religionsphilosophischen Bezügen angelangt - ist der Zusammenhang dieser These:
Orientierung im Denken ist offenbar in besonderer Weise gefragt beim „spekulativen
Gebrauche der Vernunft“ (305), womit der Vernunftgebrauch in bezug auf Übersinnliches gemeint ist, vor allem die Begriffe vom höchsten Gut, von Gott, von
Freiheit, von Glückseligkeit (316). Orientierung ist hier angesagt, eben weil es keine
klare Erkenntnis dieser Gegenstände des Denkens geben kann, obgleich, und das ist
entscheidend, der Vernunft das Bedürfnis, auch hier zu Wissen, zumindest aber zu
Annahmen zu kommen, nicht verwehrt werden darf, also „sich im Denken, im unermesslichen und für uns mit dicker Nacht erfülleten Raume des Übersinnlichen,
lediglich durch ihr eigenes Bedürfnis zu orientieren“ (311). Interessanterweise wehrt
Kant sich im folgenden ausdrücklich gegen jegliches bloß vorgebliche Bedürfnis des
Denkens, was keineswegs immer ein Bedürfnis der Vernunft sei (311ff). Ein Bedürfnis freilich „auf die Voraussetzung des Daseins desselben [eines uneingeschränkten
Wesens als Grund für das konkret erfahrene beschränkte des eigenen Ich], ohne
welche sie [die Vernunft] sich von der Zufälligkeit der Existenz der Dinge in der
Welt, am wenigstens aber von der Zweckmäßigkeit und Ordnung … gar keinen
befriedigenden Grund angeben kann“ (313f.), ein solches Bedürfnis der Vernunft
wird von Kant nicht nur ausdrücklich akzeptiert, sondern sogar für erforderlich
gehalten, soll es nicht zur Zerstörung der Freiheit im Denken durch sich selbst
kommen (328). Die Orientierung ist also keineswegs eine Orientierung schlicht an
sich selbst, sondern eine an der Vernunft, und zwar an einer kritischen, ihrer eigenen
Grenzen wie auch Möglichkeiten bewussten Vernunft. Eine solche Orientierung an
der Vernunft nennt Kant „Vernunftglaube“, ein notwendiger „Wegweiser oder
Kompaß, wodurch der spekulative Denker sich auf seinen Vernunftstreifereien im
Felde übersinnlichen Gegenstände orientieren“ kann (320).
Ohne Kant zu weit in unsere religionsphilosophische These zu pressen, kann man
zumindest dies mit Fug und Recht behaupten, dass Kant hier mit den Fragen und
Themen der Religion eine Dimension thematisiert, die die Vernunft offen zu halten
erlaubt für die Reflexion auch ihrer eigenen Grenzen. An ihr, der Religion, hätte
insofern das Denken einen wesentlichen Maßstab zur Orientierung.
102
1-2 Religion als Bildungsgut?
Willi Oelmüller hat in seinen zahlreichen Veröffentlichungen zum Thema „philosophische Orientierung“ immer wieder darauf hingewiesen, dass Orientierungswissen sich nicht formalisieren lässt, nicht beliebig verfügbar ist, und dass auch die
entsprechenden Orientierungsfragen nicht frei verfügbar sind, sondern dass sie sich
uns stellen, wenn Gewohntes fragwürdig wird; und sie stellen sich in einer Weise,
dass sie uns „belästigen“, also sie selbst es sind, die sich uns stellen, dass letztlich
nicht wir selbst es sind, die wir sie uns machen. Oelmüller nennt sie deshalb „letzte
Fragen“55. Ich würde sie lieber elementare Fragen nennen, weil sie zugleich grundlegend für alle anderen Fragen sind.56 Noch deutlicher wird damit, dass es sich um
unserem Denken bereits vorausliegende Fragen handelt. Die Philosophie erstellt sie
nicht selbst, sondern ebnet Wege, dass wir sie formulieren und aussprechen können.
Insofern leistet Philosophie Orientierung, doch nur, weil sie ihrerseits Orientierung
wohl eher an dem findet, was zu suchen sie sei ihren Entstehungstagen unterwegs
ist.57
55
So etwa in: Willi Oelmüller: Philosophische Aufklärung. Ein Orientierungsversuch, München:
Fink 1994, S.32f.
56
Vgl. dazu weitere Erläuterungen im Abschnitt 2 des Kapitels 3 dieser Arbeit.
57
Ohne im einzelnen die Philosophie Heideggers mitgehen zu wollen, ist ihm an dieser Stelle m.E.
durchweg Recht zu geben, wenn er die Philosophie grundlegend als eine Bewegung, als ein
Streben beschreibt auf etwas zu, was nicht sie selbst ist, mit dem aber sie und damit wir im Einklang stehen wollen, das, was die Tradition das Sein oder „das Eine, Einzige, alles Einigende“
nennt. Vgl. Martin Heidegger: Was ist das - die Philosophie? Pfullingen: Neske 1956, S.12f.
Kapitel
1-3
Religion in philosophischer
Auseinandersetzung
1
Schwierigkeiten in der Bezeichnung „Religion“
Religion begegnet heute, so scheint es nach den Ausführungen in Kapitel 1-1, als ein
nur noch kontextuell zu fassendes Phänomen, ein Phänomen im Kontext von alltäglicher Lebenswelt oder von Kultur, vorgängig gegenüber dem, was heute eher als
Sinnfrage oder Werteorientierung thematisiert wird. Doch was ist das, was in den
bisherigen und in den folgenden Überlegungen jeweils als „Religion“ gemeint ist,
wird dabei nicht stets stillschweigend eine Bedeutung von „Religion“ vorausgesetzt?
Was also überhaupt ist Religion?
Der Versuch, bestimmen zu wollen, was Religion überhaupt, wesentlich sei,
scheint also aufgrund der bisherigen Überlegungen zwar problematisch, er ist aber
nicht unsinnig. In keiner philosophischen Auseinandersetzung kann die seit Sokrates
elementare philosophische Frage, „ti estin“, was ist das, mit dem wir es zu tun haben,
ausgeklammert werden, vor allem nicht mit der Behauptung der faktischen Unmöglichkeit einer Antwort; gerade dann bleibt sie im Gegenteil ein notwendiger Stachel
der Auseinandersetzung.1 Bedenkt man weiterhin die Probleme, die sich eine
unreflektierte Verwendung der Bezeichnung „Religion“ einhandelt, ist die
Grundsatzfrage „ti estin“ nicht mehr verdächtig. Zwar erscheinen Definitionen unangemessen oder einseitig oder abstrakt, doch das hängt mit mindestens einer der
folgenden vier Grundschwierigkeiten zusammen, die einer vereinheitlichenden Rede
von „Religion“ entgegenstehen; sie aber zu bedenken, ist eine erste philosophische
Aufgabe:
1
Bewusst nehmen diese Formulierungen Bezug auf das von Platon in seinen Dialogen dokumentierte Vorgehen des Sokrates, die Versuche einer Bestimmung eines Phänomens oder Begriffs
durch Beispiele zu destruieren und stattdessen auf die Frage nach dem „überhaupt“ zu drängen,
auch um den Preis einer vordergründig noch größeren Verwirrung, aber mit dem Gewinn,
wenigstens den Sinn einer Frage besser verstanden zu haben. (Vgl. dazu exemplarisch Platon:
Menon, 80a.b, und 84b). Diese im wörtlich Sinne sprach-analytische Fragestellung durchzieht die
Geschichte zumindest abendländischer Philosophie und ist (wenigstens in diesem grundsätzlichen
Verständnis) keine Neuentdeckung moderner sprachanalytischer Philosophie, so dass Wittgensteins Auskunft für alle Philosophie gelten kann: „Die Philosophie soll die Gedanken, die sonst,
gleichsam, trübe und verschwommen sind, klar machen und scharf abgrenzen.“ (Ludwig
Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt: Suhrkamp 1960, Nr.4.112).
1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung
105
1. Die Vielfalt der Religionen ist nicht nur unübersichtlich, sondern auch so disparat,
dass ein einheitlicher Oberbegriff für alle Religionen kaum möglich ist.2
Insbesondere scheint es schwer, eine sinnstiftende Mitte auszumachen zwischen
Naturreligionen einerseits, Offenbarungsreligionen andererseits, Religionen mit
personalem Transzendenzbezug einerseits, Religionen andererseits, die (nach
einem verbreiteten Urteil) Personalität des Heiligen, aber auch Transzendenzbezug ausschalten, schließlich die Unterscheidung zwischen tradierten Religionen
und sog. Ersatzreligionen oder als Religion sich (bloß) qualifizierenden Sinnsuchbewegungen, zwischen allgemeinen Religionen und nur für wenige bestimmten
Sekten; diesen Gegenüberstellungen ist freilich schon zu entnehmen, dass es auf
den je zugrundegelegten, aber nicht weiter explizierten Religionsbegriff ankommt,
der das Urteil einer Unterscheidung bzw. von Gemeinsamkeit ermöglicht.
2. Auch die Vielfalt der Möglichkeiten und Weisen religiöser Äußerung lässt sich
offensichtlich nicht mit einem einheitlichen Begriff von Religion oder Religiosität
erfassen, geschweige denn qualifizieren. Die Unterscheidung in persönliche
Gotteserkenntnis einerseits, allgemeinen Kult andererseits3, oder der früher
beliebte Versuch der etymologischen Aufschlüsselung des Begriffs „Religion“4,
auch die historische These von der Entwicklung weg von öffentlich und ritualisiert praktizierter Religion hin zu persönlicher Religiosität5, oder die neuerliche
2
Vgl. diesbezügliche Auskünfte in den einschlägigen Lexikon-Artikeln zum Begriff „Religion“.
3
So galt lange Zeit die scholastische Definition von Religion als „modus cognoscendi et colendi
Deum“ als brauchbare und ausreichende Antwort auf die Frage nach dem, was Religion sei. Über
die dahinter stehende Vielfalt religiöser Formen in Antike und Mittelalter, die in den Übersetzungen verschiedener Begriffe in das lateinische „religio“ Eingang gefunden haben (von latreia,
caeremonia, obsequium, threskeia, eusebia, pietas bis zu theou therapeia usf.) geben neuere Lexika
kaum mehr Auskunft. Vgl. dazu aber noch das Vorgänger-Lexikon zum LThK, Wetzer/Welte:
Kirchenlexikon oder Encyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hülfswissenschaften,
etwa in 2.Aufl.Freiburg 1897 (Bd.10, Sp.1002ff). - In theologischen Lexika der Gegenwart findet
sich diese Materialfülle nicht mehr; vgl. jedoch die umfangreichen Artikel zu „Religion“ von
U.Dierse, C.H.Ratschow, S.Lorenz u.a. im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd.8, Basel
1992, Sp.632-713.
4
Beliebt ist mit Verweis auf Cicero die Begründung in „relegere“ („immer wieder (zusammen)
lesen“, von Thomas variiert zu „sammeln/sorgfältig bedenken“) einerseits, mit Verweis auf
Laktanz in „religare“ („zurückbinden, fest anbinden an“) andererseits, wohingegen der Versuch
von Augustinus, R. aus „reeligere“ („wieder, neu erwählen“) abzuleiten, als etymologisch unangemessen angesehen wurde, ebenso wie die zuweilen belegte Ableitung aus „relinquere“ (das Irdische „zurücklassen/aufgeben“). - Für genauere Quellennachweise vgl. Wetzer/Welte (1897),
Sp.1002f. – Solche etymologischen Erklärungsversuche machen natürlich nur dann Sinn, wenn die
dabei herausgearbeitete Bedeutung auch ihrerseits erläutert und mit Sinn gefüllt werden kann.
5
Offenkundig stößt die Frage „nach dem wahren Wesen der R. unabhängig von den einzelnen
R.en“ seit dem 18.Jh. auf erhöhtes Interesse. Damit einher geht die Betonung einer der wahren R.
eher entsprechenden inneren R. im Unterschied zu der geschichtlicher Kontingenz und der Gefahr
des Formellen ausgesetzten äußeren, bloß kultisch sichtbaren R.. Diese Lesart findet ihre Bestäti-
106
1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung
Unterscheidung von Dimensionen religiöser Betätigung6 helfen nicht weiter,
wenn es um die Frage geht, was all diese Formen zusammenhält, was das ihnen
gemeinsame Religiöse sei.
3. Eine Vielfalt gibt es auch hinsichtlich möglicher wissenschaftlicher Zugänge zum
Phänomen „Religion“. Hier ist es das Problem, implizit mit einem Begriff von
„Religion“ zu arbeiten, der nicht von vorneherein andere ausschließt und so
bestimmte Phänomene von Religion oder Religiosität gar nicht in den Blick
bekommt.7
4. Schließlich müssen wir uns die interpretatorische Grundschwierigkeit vor Augen
halten, mit einer Definition von Religion je nur a posteriori etwas sagen zu
können über das beschriebene Phänomen und somit seinen apriorisch behaupteten
Wahrheitsanspruch tendenziell nicht ernst zu nehmen.8
gung im Versuch der Elaboration einer allgemein gültigen Vernunft-R. im 18.Jht; vgl. Hist.WB
d.Philos.Bd.8 (1992), Sp.653ff.
6
Von nicht nur religionssoziologischem Interesse sind die bekannten von Charles Glock aufgestellten, immer wieder, zuletzt von F. Benthaus-Apel weiterentwickelten 5 Dimensionen der Religiosität: a) ideologisch (R. als Glaube), b) ritualistisch (R-Praxis), c) Erfahrung (religiöses Empfinden), d) intellektuell (rlg. Wissen), e) Akzeptanz rlg. Rituale (Teilnahme an rlg. Vollzügen); vgl.
Charles Y. Glock: Über die Dimensionen der Religiosität [1962], in: J.Matthes (Hg.): Kirche und
Gesellschaft. Einführung in die Religionssoziologie II, Hamburg 1969; sowie Friederike BenthausApel: Religion und Lebensstil. Zur Analyse pluraler Religionsformen aus soziologischer Sicht, in:
Fechtner/Haspel 1998, S.102-122.
7
So glaubt etwa Norbert Schiffers wissenschaftstheoretisch 8 Methoden eines möglichen Zugangs
zu Religion herausarbeiten zu können, (1) abstraktionsmethodisch als Frage nach dem Wesen von
R., (2) additiv als Summe der positiven Aussagen aller R,’en, (3) substrahierend als Frage nach
dem Kern von R. unabhängig von empirischen Erscheinungsweisen, (4) identitätsmethodisch als
Suche nach dem in allen R.en identischen Religiösen, (5) isolatorische als Frage nach rlg. Vorgängen und rlg. Erleben, (6) evolutiv-genetisch als Frage nach der (historischen) Entwicklung der
R.en, (7) interpratationsmethodisch als (philosophische) Frage nach dem Sich-Einlassen auf die
Dimension der Transzendenz, (8) funktional als Frage nach den konkreten Aufgaben von R. für
Mensch und Gesellschaft [in: Norbert Schiffers: (Art.) Religion, in: Herders Theolog. Taschenlex.,
hg.v.K.Rahner, Bd.6, Freiburg 1973, S.204f]. Man sieht leicht, dass hier je nach Frage als
Gegenstand der Frage etwas je unterschiedliches vorausgesetzt wird. Einen grundsätzlich guten Überblick über heute relevante religionsphilosophische Fragestellungen
liefert nach wie vor: Halder/Kienzler/Möller (Hg.): Religionsphilosophie heute. Chancen und
Bedeutung in Philosophie und Theologie, Düsseldorf: Patmos 1988. Als in der heutigen Forschung
relevante Richtungen kommen darin Vertreter der analytischen, der soziologisch implizierten, der
psychoanalytisch fragenden, der transzendental-hermeneutischen, der phänomenologischen, der
ontologisch-metaphysischen bzw. personal-antimetaphysischen und der postmodern-dekonstruktivistischen Religionsphilosophie zur Sprache.
8
So lautet z.B. der Einwand von H.R.Schlette: (Art.) Religion, in: LThK 2.Aufl., Bd.8, Freiburg
1963, Sp.1164.
1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung
2
107
Wie fragt die Philosophie nach Religion?
Die Frage „Was ist das, die Religion?“ scheint somit schlicht nicht zu beantworten.
Doch hat das „ti estin“ der philosophischen Tradition seit jeher zwei Ebenen: Einerseits wird nach dem Gegenstand gefragt, dem wir begegnen, andererseits aber immer
zugleich auch nach der Art diesem Gegenstand zu begegnen. Eine Auseinandersetzung mit Religion, die Schwierigkeiten des Zugangs zum Phänomen „Religion“
thematisiert, ist mithin schon der Versuch einer philosophischen Antwort.9
Eine kleine wissenschaftstheoretische Vorüberlegung mag das erläutern: Es ist
nicht nur Faktum, dass es verschiedene Wissenschaften gibt, die sich sachkundig mit
Religion beschäftigen10, sondern auch, dass diese Wissenschaften in je unterschiedlicher Weise nach Religion fragen. Zumindest für den im vorliegenden Kapitel
vorausgesetzten Zugang ist daher zu klären, wie eigentlich die Philosophie nach
Religion fragt. Zunächst ist es sinnvoll, grob zu unterscheiden zwischen den eher
empirisch ausgerichteten verschiedenen Religionswissenschaften zum einen, der
begrifflich-strukturell fragenden Religionsphilosophie zum zweiten und der Religion
selbstbezüglich und vor allem einverständlich auslegenden Theologie zum dritten.
Das Schema der beiden folgenden Seiten kann diese Unterscheidung ein wenig
genauer erläutern.
9
Eine ausgezeichnete Orientierung zu dieser Art Fragestellung liefert der Beitrag von Richard
Schaeffler: Orientierungsaufgaben Religionsphilosophie, in: Peter Koslowski (Hg.): Orientierung
durch Philosophie, Tübingen: Mohr 1991, S.196-224. Schaeffler macht überzeugend deutlich, dass
entgegen dem Verdacht remetaphysizierender Wesensfragen einerseits und trotz der problematischen Vielfalt von Religion „die alte Frage ‘Was ist Religion?’ nicht übergangen werden kann“
(S.209). Schaefflers Hinweis, dass die religionsphilosophische Frage nach der Eigenart des
Religiösen heute nicht mehr als „Hinweis auf den Gegenstand aller religiösen Akte“ beantwortet
werden kann, sondern „durch Analyse der Akt-Struktur“ (ebd.), macht sich auch der vorliegende
Beitrag zueigen.
10
Das wird deutlich nicht zuletzt durch die Intention des Bandes: Hochschullehre und Religion.
Perspektiven verschiedener Fachdisziplinen. Hg. v. D.Fauth u. U.Bubenheimer, Würzburg 2000,
in dem auch die vorliegenden Überlegungen als philosophischer Beitrag zuerst erschienen sind.
108
1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung
SICHTWEISEN
Disziplin / Wissenschaft
AUF DAS
PHÄNOMEN „RELIGION“
Teildisziplinen
[ in allgemeinstem
Verständnis ]
Sichtweise
möglichst umfassende
und differenzierte,
allgemein und vernünftig
nachvollziehbare
Darstellung des Religiösen
(i.d.R. von außen vollzogene)
Darstellung expliziter bzw. allgemein
erfahrbarer religiöser Phänomene,
Verhaltensweisen, Riten,
Glaubensvorstellungen,
auch jeweiliger historischer
[in empirischem Verständnis]
Entwicklungen
Religions-Kunde /
ReligionsPhänomenologie /
ReligionsWissenschaft
Religions-Geschichte
ReligionsWissenschaft
ReligionsPhilosophie
Darstellung der historischen Entwicklung
der Religionen
im Zusammenhang der
Menschheitsgeschichte
Religions-Psychologie
Darstellung und Deutung
von Formen der Religiosität
als psychische Gestalten/Dimensionen von
Menschsein
Religions-Soziologie
Darstellung und Deutung von
gesellschaftlichen Ausprägungen
von Religiosität als sozialen Formen /
Dimensionen von Menschsein
Religions-Philosophie
Hinterfragen, Erklären und Deuten
der Strukturen (Erfahrungsebenen,
sprachliche Formen, Handlungsebenen) von Religiosität als Dimensionen
von Menschsein /
als menschliche Äußerungsformen
- weltanschaulich /
hermeneutisch
Reflexion auf Religiosität
als Dimension von Menschsein /
als menschliche Äußerungsform
- ideengeschichtlich /
phänomenologisch
[ im philos. Sinn]
vernünftiges Hinterfragen, Erklären,
Deuten der Strukturen von Religiosität
als Formen menschlichen Verhältnisses
zu sich selbst, zu Welt, zu Sinn
- analytisch
Analyse / Begreifen der (sprachlichen)
Muster von Religiosität:
Was wollen sie in welcher Form zum
Ausdruck bringen?
1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung
Disziplin / Wissenschaft
Teildisziplinen
Exegese
Auslegung der Heiligen Schriften
Dogmatik
Formulierung der zentralen
Glaubensauffassungen
Ethik
Impulse / Anweisungen zur
Lebensführung
Praktische Theologie
Deutung/Einübung von
Glaubensäußerungen (Riten u.a.)
Vollzugsform
[ als praktisch
vollzogene Religion ]
fides qua creditur
[Glaube, mit dem
/ durch den man glaubt]
Konfession
fides quae creditur
[Glaube, den man glaubt]
Religion
Sichtweise
grundsätzliche Offenheit
menschlicher Existenz für Religion
Religiosität
Glaube
Sichtweise
Zur-Sprache-Bringen der Grundlagen,
Erfahrungsebenen, Lebensdeutungen und
Handlungsimpulse einer Religion
aus der Sicht des Glaubens (von innen)
Theologie
Religions-Vollzug
109
persönliches Festhalten und Vollzug
zentraler religiöser Lebensdeutungen
und Lebensanweisungen
je subjektiver, auf Deutung und Vollzug
des Lebens bezogener Akt des Glaubens /
Organ des Glaubens
- Vollzug des Glaubens
durch Festhalten, Bekenntnis,
Lebensführung, Feier,
Gemeinschaftsbezug
- ausdrückliches Bekenntnis
zu bestimmten Glaubensaussagen
- Bekenntnis der Zugehörigkeit
zu einer bestimmten GlaubensRichtung
System / Summe zentraler
Glaubens-Aussagen,
die zu glauben sind / geglaubt werden
objektives (historisch gewordenes) System
von Glaubens-Vollzügen / -Äußerungen
110
1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung
Aus dieser Übersicht ergibt sich: Um einen auch didaktisch aufzubereitenden
Zugang zum Phänomen „Religion“ zu erlangen, ist die religionsphilosophische
Perspektive unverzichtbar11: Was Religion ist, kann nicht deutlich werden, kann vor
allem nicht zur Auseinandersetzung gelangen, wenn ich mich nicht auf die
Erörterung der Strukturen von Religiosität einzulassen bereit bin. Zugespitzter
formuliert: Es muss in der Auseinandersetzung mit Religion auch prinzipiell zur
Sprache gebracht werden, warum und in welcher Weise ein sich als religiös verstehender Akt oder ein als religiös eingeordnetes Phänomen als religiös zu deuten ist
und als religiös sich verstehend auch betrachtet werden will und kann.
Die Theologie kann und vermag sich auf solche grundsätzlichen Fragen nicht oder
nur bedingt einlassen, weil es ihr zwar um Auseinandersetzung gehen kann und
sollte, aber stets im Sinne der Ausleuchtung des bereits Geglaubten, also im nicht
mehr zu hinterfragenden Einverständnis des Religiösen, nicht aus der Position der
grundsätzlichen Infragestellung der Religiosität der zur Debatte stehenden Akte und
Phänomene. Warum? Theologie ist bei aller Wissenschaftlichkeit immer auch den
Glauben erschließende Antwort auf das im Glauben ergangene Wort Gottes. Im
engeren Selbstverständnis von Theologie meint bereits das Wort „Theologie“ stets
die doppelte Dimension: Einmal das im menschlichen Logos formulierte Wort
Gottes, und dann die entsprechende Auslegung des göttlichen Wortes. Die eine
Ebene ist an die andere streng gebunden und wird ohne die jeweils andere nicht
verständlich. Insofern verliert, wissenschaftstheoretisch gesehen, theologische Rede
umgekehrt ihren Sinn als theologische, wenn sie sich beispielsweise nur noch historisch-kritisch oder empirisch-darstellend auf ihren Gegenstand bezieht.12
Die empirische Sicht auf Religion hingegen vermag zwar, weil sie zunächst auf
Deutung verzichtet, unter Umständen Phänomene gegenüber einer bereits deutenden
Sicht vielfältiger und insofern aufschlussreicher zu entdecken, wird sie aber, solange
sie dabei bleibt, sie als äußerlich sichtbare Phänomene einzuordnen, nicht als das,
11
Auf die Erläuterung des zweiten Teils des Schema, die unterschiedlichen Vollzüge von Religion
betreffend, komme ich unten im Abschnitt 5 des Kapitels kurz und ausführlicher dann im Kapitel
5-4 zu sprechen.
12
Das ist bereits in der sog. Leben-Jesu-Forschung des 19. Jahrhunderts schmerzlich zur Erfahrung
geworden, glänzend dargestellt von Albert Schweitzer in seiner Geschichte der Leben-JesuForschung (1906). Im Streben nach größerer Wissenschaftlichkeit, die als Historizität oder
linguistische Genauigkeit enggeführt nur vermeintlich größere Verlässlichkeit verbürgt, scheinen
diese Geschichte wie auch den erläuterten Sinn von Theologie manche zeitgenössische Theologen
vergessen zu haben, insbesondere im exegetischen Raum.
Andererseits darf natürlich auch die Bedeutung von Theologie als vernünftiger Auslegung des
zuvor gehörten Wortes nicht beiseite geschoben werden. Dann würde Theologie in der Tat ihren
wissenschaftlichen Anspruch verlieren und zu einem rein esoterischen Geschäft werden. Insbesondere die Reflexion auf Sprache gehört daher elementar zum Theologisieren. Dazu vgl. genauer den
Teil II meiner Arbeit.
1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung
111
was sie zu sein beanspruchen, zur Sprache bringen können, bleibt insofern stets
Hilfsdisziplin.13 Die empirische Religionswissenschaft sollte daher, auch wenn sie
zuweilen den Titel „Religionsphänomenologie“ trägt, nicht von vorneherein mit
einer philosophisch zu verstehenden Phänomenologie identifiziert werden, wie vor
allem von Edmund Husserl sie entwickelt hat; diese hat es entgegen dem alltagssprachlichen Gebrauch von „Phänomen“ eben nicht bloß mit äußeren Erscheinungen,
Phänomenen, zu tun hat, sondern ihr Gegenstand ist (im Gegensatz zu einem eng
verstandenen cartesianischen Rationalismus) die Korrelation zwischen dem cogito
und dem in seine Welt eingebundenen cogitatum, bzw. zwischen Bewusstseinsakt,
noesis, und intentionalen Gegenständen dieses Aktes, noemata. Aufgrund dieser
Unterscheidung sind in meinem Schema auch empirische Religionsphänomenologie
und phänomenologisch ausgerichtete Religionsphilosophie unterschieden. Das heißt
natürlich nicht, dass sich nicht auch die empirische Religionsphänomenologie, ihre
empirische Grundlage überschreitend bzw. vertiefend, in philosophischer Weise
äußern kann.14
Damit bleibt die Philosophie als diejenige Ebene übrig, deren originäre Aufgabe
eben jenes gesuchte reflektierte Zur-Sprache-Bringen des als Religion sich Zeigenden und Äußernden in der je eigenen „Sprach“-Form ist. Die oben genannten
Schwierigkeiten einer einheitlichen Definition von Religion sollten daher nicht zu
dem Schluss führen, eine Auseinandersetzung mit dem, was „Religion“ eigentlich
sei, sei absurd, sondern gerade provozieren zur Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Apostrophierungen von Akten und Formen als religiös, inwiefern sie mithin
als religiös anzusehen sind.
3
Möglichkeit einer Philosophie der Religion
Mit dieser Überlegung ist die Möglichkeit und auch Notwendigkeit einer Philosophie
der Religion erläutert, noch nicht aber die einer Philosophie der Religion. Damit
sehen wir uns einer anderen, nämlich innerphilosophischen Schwierigkeit gegenüber,
ob es nämlich aus philosophischem Selbstverständnis heraus überhaupt möglich und
sinnvoll ist, sich mit dem Phänomen Religion auseinander zu setzen. Den Hintergrund dieser Schwierigkeit bildet der bislang implizit eher gegen den religionswissenschaftlichen Zugang vorzubringende Einwand, dass es sich bei dem Bereich
13
So auch völlig zu Recht ausgerechnet von philosophiedidaktischer Seite der Einwand von Veraart
(1996) gegen Antes (1995).
14
Dass dies auch im Sinne einer Weiterentwicklung der religionswissenschaftlichen Perspektive
nicht nur sinnvoll, sondern auch möglich ist, darauf hat wiederholt Ulrike Brunotte hingewiesen,
etwa: In LER hat auch ER seinen Platz, in: Die Zeit 1999, H.3, S.33.
112
1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung
des Religiösen um einen spezifischen, von anderen Formen menschlichen Selbstund Weltverhältnisses wesentlich unterschiedenen Bereich handle, der deswegen als
das, was er ist, auch in seiner besonderen Struktur zu erfassen sei, also auch, dass das
Religiöse nicht reduzierbar sei auf eine erkenntnistheoretische oder eine ethische
oder eine politische oder eine ästhetische Form der menschlichen Begegnung mit
Wirklichkeit. Dieses Argument, das eben noch für die Notwendigkeit einer philosophischen Perspektive herhalten konnte, wendet sich nun gegen die Möglichkeit einer
philosophisch sinnvollen Auseinandersetzung mit Religion. Genauer geht es um die
Frage, mit welchem Verständnis von Religionsphilosophie der vorliegende Beitrag
arbeitet. - Auf drei Ebenen sind, wenn ich recht sehe, Einwände gegen eine Philosophie der Religion denkbar:
(1) Der erste äußert sich als systematischer Verdacht, ist aber eher historisch
begründet, wenn er in jeder als Religionsphilosophie sich verstehenden Denkbewegung einen Rückfall in eine überwunden geglaubte metaphysische Denk- und
Sprechweise ausmacht. - Dem ist in zweifacher Form zu begegnen: Zum einen ist
historisch gesehen die Disziplin der Religionsphilosophie bekanntlich erst nach dem
Zerbrechen metaphysischer Selbstverständlichkeiten entstanden. Wie Jörg Splett
bemerkt, wird erst damit eine prinzipielle Reflexion auf Religion als Religionsphilosophie möglich wie auch nötig.15 Religionsphilosophie ist insofern auch nicht eine
Nachfolgedisziplin der theologia naturalis16, bzw. einer allgemeinen philosophischen
Begründung von Religion im Geiste und aus Perspektive der Theologie, sondern eine
im nachmetaphysischen, ja metaphysikkritischen Sinne grundlegende Infragestellung
und Auseinandersetzung mit dem Religiösen. Darum ist Religionsphilosophie, und
das ist die eher terminologische Entgegnung, auch nicht zu verwechseln mit der vor
allem in der katholischen Theologie bis heute verbreiteten Disziplin der Fundamen15
Vgl. Jörg Splett: Religionsphilosophie? Vorentwurf zu einem Lexikonartikel - samt Glossen, in:
L.Hauser, E.Nordhofen (Hg.): Im Netz der Begriffe. Religionsphilosophische Analysen,
Altenberge: Oros 1994, S.215.
16
Das gilt m.E. auch für Hegels Einordnung von Religionsphilosophie. Hegel behauptet zwar (missverständlich) in seiner Einleitung zur Religionsphilosophie [Einleitung nach dem Manuskript, in:
G.W.F.Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 1: Einleitung. Der Begriff der
Religion. Hg.v.W.Jaeschke. Hamburg: Meiner 1983, S.3], die Religionsphilosophie habe „im allgemeinen, ganzen denselben Zweck als die vormalige metaphysische Wissenschaft hatte, die man
theologia naturalis nannte“; doch identifiziert er damit m.E. keinesfalls Religionsphilosophie und
theologia naturalis; der Zweck, so Hegel, ist zwar bei beiden der gleiche, nämlich die Frage, „was
die bloße Vernunft von Gott wissen könne“ (ebd.), doch damit haben, würde ich ergänzen, beide
nicht die gleiche Absicht: Während die theologia naturalis in durchaus apologetischer Absicht
Religion aus der bloßen Vernunft auch zu begründen beabsichtigt hat, verzichtet die Religionsphilosophie, der gegenüber die theologia naturalis eben „vormalige“ metaphysische Wissenschaft
war, auf diese Perspektive, ohne damit die Fragestellung preiszugeben; im Gegenteil: die Frage,
was die bloße Vernunft wissen überhaupt könne, kann erst jetzt eigentlich so prinzipiell gestellt,
d.h. auch infrage gestellt werden.
1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung
113
taltheologie, hat also nicht wie diese eine wesentlich religionsbegründende, sondern
lediglich -erschließende Aufgabenstellung.17
(2) Eine zweite Ebene von Einwänden gegen die Möglichkeit einer Philosophie
von Religion gründet sich auf Wittgensteins frühe Einordnung von religiösen Sätzen
als unsinnig.18 Demnach ist die Philosophie, der es allein um „das Klarwerden von
Sätzen“ gehen kann19, in der Religion mit einem Bereich konfrontiert, in dem etwas
gesagt würde, was sich (logisch) nicht sagen lässt.20 Die Konsequenz eines solchen
philosophischen Selbstverständnisses ist ambivalent, und in dieser Ambivalenz steckt
zugleich die Entgegnung gegen diesen Einwand: Einerseits kann ein solches Selbstverständnis eine logisch-positivistische Selbstbeschränkung nach sich ziehen, die
latent in Widerspruch gerät mit dem philosophischen Anspruch, alles Denkmögliche
zum Gegenstand der Kritik machen zu können: Auch die als unsinnig apostrophierte
Sprache der Religion ist Sprache, und schon daher ist es eher fraglich, ob in Bezug
auf das Religiöse jenseits wissenschaftlicher Fragen keine Frage mehr bleibt.21 Andererseits wird - das hat gerade Wittgenstein in seiner persönlichen Hochachtung
gegenüber Religion stets gesehen und auch betont - die Philosophie in der Aussparung möglicher Rede über Religion mit der Grenze ihrer selbst konfrontiert.22
Von daher kann sie sich nicht in einen platten Agnostizismus flüchten, gar nichts
mehr zu Religiösem sagen zu wollen. Ein fundierterer Agnostizismus im Sinne
negativer Religionsphilosophie bliebe eine mögliche Alternative, doch würde er ja
die Möglichkeit einer Reflexion auf Religiöses bereits wieder bejahen, ohne sich
freilich auf (philosophische) Möglichkeiten ihrer Entfaltung einzulassen.
(3) Die dritte Ebene möglicher Einwände knüpft an die o.g. vierte Grundschwierigkeit einer verständigenden Rede über Religion an: Sie arbeitet mit dem eher
17
Dabei ist es natürlich nicht ausgeschlossen, dass spezifisch religionsphilosophische, und das heißt
im wörtlichen Sinne auch religionskritische Perspektiven in die Fundamentaltheologie aufgenommen werden können, so dass auch die theologische Disziplin der Fundamentaltheologie sich
heute faktisch vielfach als Erschließung von Religiosität, weniger als (traditionelle) apologetische
Begründung darstellt.
18
Einen ausführlichen Kommentar der Unterscheidung von sinnvollen, sinnlosen und unsinnigen
Sätzen bei Wittgenstein sowie zur folgenden Einordnung religiöser Aussagen als sinnlose im
Logischen Empirismus gibt Hermann Schrödter: Analytische Religionsphilosophie. Hauptstandpunkte und Grundprobleme, Freiburg/München: Alber 1979, S.65ff und 87ff.
19
Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt: Suhrkamp 1960, Nr.4.112.
20
Das würde die durch die Philosophie selbstgesetzte Grenze sprengen, „nichts zu sagen, als was
sich sagen lässt“. (Ebd., Nr.6.53).
21
Vgl. ebd., Nr. 6.52; so jedenfalls äußerst sich Wittgenstein in seiner frühen Phase.
22
Vgl. dazu nur die vielzitierte Nr. 6.52 des Tractatus: „Wir fühlen, daß selbst, wenn alle möglichen
wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt
sind…“
114
1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung
innerreligiösen Einwand, die dem Religiösen eigentümliche Wahrheit sei eben nicht
die Wahrheit philosophischen Denkens, das der Religion gegenüber immer äußerlich
bleiben müsse.23 Das mag insofern richtig sein, als der religiöse Akt selbst nicht von
vornherein ein Akt philosophischen Denkens ist, auch eher seltener sich als Akt des
Denkens äußert, auf keinen Fall aber schlicht in ihm aufgehen kann.24 Doch kann
daraus nicht geschlossen werden, als das ganz Andere gegenüber dem philosophischen Denken sei die Religion ein diesem Denken wesentlich entzogener Bereich.25
Im Gegenteil ist dabei an die schlichte Tatsache zu erinnern, wie sie etwa Bernhard
Welte feststellt, „dass die Religion - wie sehr sie auch aus eigenem Ursprung leben
mag und vielleicht ein Geschenk Gottes ist - sich doch vollzieht als ein menschliches
Geschehen und eine Form des menschlichen Lebens und Daseins. Und also geschieht
sie im Horizont des Menschen.“26 Entsprechend verlangt sie ganz naturgemäß auch
23
So der gängige Einwand gegen einen (religiös letztlich irrelevanten) Gott der Philosophen. - Auf
Pascal (und sein berühmtes Mémorial) kann sich dieser Einwand m.E. nur bedingt berufen, denn
Pascal wendet sich zunächst keineswegs pauschal gegen philosophische Gotteserkenntnis überhaupt und fordert demgegenüber auch keineswegs einen auf jede gelehrige Erkenntnis verzichtenden, unhinterfragt (ge)horchenden Glauben an die Offenbarung. Vielmehr sucht er - bewusst
doppelt gesetzt - „Gewißheit; Gewißheit“, und sie ist es, so meint Pascal, die nicht durch gelehrige
Philosophie, sondern allein im sich offenbarenden Gott erreichbar ist. Durchaus offen bleibt damit
der Status der erkennenden Vernunft in Bezug auf die Einsicht in diese Gewissheit, auch wenn
Pascal selber seine Logik "par le coeur" polemisch gegen die Erkenntnis "par le raison" des
Descartes meinte setzen zu müssen. Der sogenannte Gott der Philosophen jedoch muss keineswegs
verstanden werden als bloß diskursiv reduzierbares und insofern quasi mathematisch "beweisbares" Produkt unserer Verstandeskonstruktionen; mit Berufung auf gute Tradition, nicht zuletzt
biblische Tradition, lässt sich die Rede vom Gott der Philosophen vielmehr verstehen als geistige
Rechenschaft über jene Bedingung, unter der Gott sich von uns in all unserer Beschränktheit überhaupt erfahren lässt; die Rede vom Gott der Philosophen kann mithin sogar jene eher theologische
Ebene markieren, empfangenen Glauben auch zu erschließen, weiterzugeben und verantwortlich
zu gestalten, die Ebene der vernünftigen oder im wörtlichen Sinne intellektuellen Erfahrung
Gottes, auf der nämlich die (unmittelbare) Glaubens-Erfahrung zugleich zum Bewusstsein
gebracht und insofern eingesehen und überhaupt erst begriffen und weitergegeben werden kann. Ausführlicher wird dieser Gedanken entfaltet unten im Kapitel 2-1. - Die von hier her mögliche
Verbindung von Philosophie und Theologie kann an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden,
scheint mir aber nicht zuletzt auch in hochschuldidaktischer Sicht wichtig, zur Möglichkeit nicht
nur abgestimmter, sondern auch kooperativer Interdisziplinarität.
24
Insofern, aber auch nur insofern, um die Eigenheit des religiösen Aktes gegenüber dem Akt des
Philosophierens zu betonen, (was im übrigen auch Hegel tut), ist in der Tat Hegels Gleichsetzung
von Religion und Philosophie zu widersprechen.
25
Insofern ist auch der Verweis auf Aristoteles, Philosophie sei wesentlich Denken des Denkens,
genau zu lesen. Keineswegs kann daraus geschlossen werden, Gegenstand der Philosophie sei
allein das Denken und insofern sei die Religion, die sich zunächst einmal nicht als Denken äußert,
kein möglicher philosophischer Gegenstand. Wohl aber bezieht sich die Philosophie auf ihre
Gegenstände so, dass sie zu Gegenständen des Denkens gemacht werden. Daraus ergibt sich, dass
eine Philosophie der Religion zwar eine mögliche (und vielleicht auch notwendige) Auseinandersetzung mit Religion ist, aber keineswegs die einzig angemessene oder gar mögliche.
26
Bernhard Welte: Religionsphilosophie, 5. überarb. u. erw. Aufl. hg. B.Casper u. K.Kienzler,
Frankfurt 1997, S.56 (§2.2).
1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung
115
stets nach vernünftiger Auslegung, zumindest aber ins Leben eingreifender
Äußerung und kann deshalb nie allein im Binnenraum religiöser Erfahrung verharren.27
4
Ein philosophischer Begriff von „Religion“
Wenn demnach Religionsphilosophie möglich und sinnvoll, ja unter der Annahme,
dass es sich beim Bereich des Religiösen um ein originäres, nicht in anderen Bereichen menschlichen Lebensvollzugs aufgehendes Geschehen handelt, auch notwendig
ist28, dann ist es nun doch sinnvoll, einige Elemente für einen Begriff von Religion
zu benennen. Damit kann und soll nicht aus philosophischer Sicht das Wesen von
Religion bestimmt werden, wohl aber sind Kriterien zu nennen, unter denen Religion
sinnvoll zum Gegenstand philosophischer Auseinandersetzung gemacht werden
kann. Zudem soll darüber auch jenes Proprium des Religiösen im Rahmen menschlicher Lebensvollzüge herausgestellt werden. Unter allen „Definitionen“ von
Religion scheint mir für dieses Unternehmen am hilfreichsten der Versuch von
Gustav Mensching zu sein, weil er selbst seine Definition eher als Summe formaler
Strukturelemente auffasst.29
27
Vgl. auch dazu mehr vor allem im Teil II meiner Arbeit. Für die Möglichkeit der auch didaktischen Umsetzung dieses Gedankens liefert das Kapitel 4-2 einen Beleg.
28
Mit dieser Behauptung ist noch nicht differenziert zwischen verschiedenen Ansätzen von
Religionsphilosophie. In meinem Schema oben habe ich dafür drei Wege genannt, die sich selbstverständlich gegenseitig ergänzen können: (1) Die eher ideengeschichtliche Richtung erfasst nicht
nur religiöse Phänomene, Verhaltensweisen, Riten, Glaubensvorstellungen, Schulen, sondern
deutet sie auch als Formen menschlichen Verhältnisses zu sich selbst, zu Welt, zu Sinn. - (2) Die
weltanschaulich-hermeneutisch sich verstehende Religionsphilosophie reflektiert auf die Strukturen von Religiosität, sieht und deutet sie jedoch als eine ganz eigentümliche, von anderen unterschiedene Dimension von Menschsein. - (3) Die analytische Religionsphilosophie schließlich
konzentriert sich auf die Analyse und das Begreifen der sprachlichen Muster von Religiosität und
fragt, was diese in welcher Form zum Ausdruck bringen wollen.
Der Verweis auf Schaeffler (199 hat deutlich gemacht, dass der Versuch etwa von Jörg Splett, die
analytische Religionsphilosophie mit der Behauptung zu unterminieren, sie verzichte auf die
zentrale Frage nach „der Wahrheit ihres Bekenntnisses“ [Splett 1994, S.218] nicht zu halten ist.
Zu einer genaueren Übersicht und Erläuterung tragfähiger Ansätze von Religionsphilosophie heute
vgl. Halder (1988).
29
Wie durch die folgenden Ausführungen ersichtlich, handelt es sich bei den meisten anderen
Definitionsversuchen entweder nur um Teile von Menschings differenzierten Vorschlag oder vor
allem um diese Definition nicht weiter als strukturierend erläuternde Versuche.
So leiden vor allem eher analytische Versuche eines Religionsbegriffs an der (bewussten) Aussparung des Begegnung mit Heiligem bzw. auf die Reduktion dieser Begegnung auf den bloßen
Akt der Begegnung ohne Reflexion auf ihren Gegenstand. Unter dieser Einschränkung können
systemtheoretische Definitionen dann durchaus ihren Nutzen haben, so vor allem Luhmanns
Beschreibung der Funktion von Religion (wohlgemerkt nicht mehr!), „die unbestimmbare … Welt
116
1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung
Mensching bestimmt Religion
„als erlebnishafte Begegnung mit heiliger Wirklichkeit
und als antwortendes Handeln
des vom Heiligen existentiell bestimmten Menschen“.30
Die genaueren Auslotung der hier genannten Strukturelemente ermöglicht eben jene
gesuchte Kriteriologie zur Unterscheidung bestimmter Lebensvollzüge als religiös,
aber auch zur Abgrenzung eigentlich nicht religiös zu nennender Lebensvollzüge.
Damit sollen (im Hinblick auf das hier zur Debatte stehende Didaktik-Thema)
zugleich Strukturelemente genannt werden, auf deren Artikulation eine Didaktik der
Religion nicht verzichten darf.31
(4.1) Das erste Element bei Mensching ist „Begegnung“. Damit wird, was auch
immer Religion ist, von vornherein in den Horizont menschlicher Erfahrung gerückt.
Religion geschieht, so Welte32, „im Horizont des Menschen“. Dabei geht es aber,
[an anderer Stelle, S.38, heißt es „Transzendenz“ oder „das Unfaßliche“] in eine bestimmbare zu
transformieren“ [Niklas Luhmann: Funktion der Religion, Frankfurt: Suhrkamp 1977, S.26]. Hermann Schrödters Bestimmung von Religion als „Gesamtheit der Erscheinungen (Objektivationen), in denen Menschen das Bewusstsein der radikalen Endlichkeit ihrer Existenz und deren
reale Überwindung (Religiosität) ausdrücklich machen“ [Schrödter 1979, S.298] spart in dem
Ausdruck „Erscheinungen“ ebenfalls die Begegnung mit Heilige eher aus, assoziiert mit dem
erläuternden Stichwort „Objektivationen“ eher die unten näher erläuterte Ebene von sichtbaren
religiösen Formen, Riten usw.; dann aber würde Religion auf ein rein menschliches Verhältnis
reduziert, ohne die Bedingung der Möglichkeit für „Bewusstsein der Endlichkeit“ und vor allem
„deren reale Überwindung“ (die in der Definition offenkundig als Akt des Menschen, nicht als
(möglicherweise per Geschenk an den Menschen möglichen) Gegenstand menschlichen Bewusstseins gefasst wird), zu nennen. Der eher theologische Vorbegriff von Religion, mit dem Bernhard Welte arbeitet, unterläuft
hingegen die Differenzierung bei Mensching: „Unter Religion wird seit alters her die Beziehung
des Menschen zu Gott oder auch zum Bereich des Göttlichen verstanden.“ (Welte 1997, S.63). Dass viele nichtphilosophische Versuche eines Begriffs von Religion, das hier vorgestellte
Niveau unterbieten oder allenfalls Teilaspekte von Religion zur Sprache bringen, mag der von
Ulrike Brunotte (wohl missverständlich formulierte) Versuch dokumentieren, mit Verweis auf
Klaus Heinrich „Religionen…als Formen der Selbstvergewisserung…zu begreifen“ [Brunotte
1999]. Gewiss sind Religionen auch Formen menschlicher Selbstvergewisserung, werden aber
durch eine solche pauschalisierende Beschreibung in ihrer Eigenart gerade nicht erfasst.
30
G. Mensching: Religion. Erscheinungs- und Ideenwelt; in: RGG 31961, Bd.5, Sp.961ff. Mensching
versucht mit seiner Definition von Religion bewusst lediglich formale Strukturelemente zu benennen, die in der mannigfaltigen inhaltlichen Bestimmung dann die Erscheinungsweise bestimmter
Religionen bilden. In der genaueren Erläuterung der von ihm genannten Grundelemente nennt
Mensching dann freilich eher einzelne Phänomene, statt die Elemente als formale Strukturen
weiter zu erläutern und so zu einer unterscheidungsfähigen Kriteriologie auszuformulieren.
31
In Orientierung an diesen Strukturelementen sind die meisten der in Teil IV der Arbeit dokumentierten Unterrichtsmodelle konzipiert, aber auch mein Vorschlag zu einem organisatorischen
Konzept eines Unterrichts in Religion im Kapitel 5-4.
32
Welte (1997), S.56.
1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung
117
Welte ergänzend, nicht nur um Fragen des Ursprungs der Religion, sondern auch um
je mögliche religiöse Gegenstände. Selbst die Rede von Transzendentem und göttlich
Numinosem ist stets menschliche Rede, muss also immer auch in diesem Horizont
verstanden werden, was nicht heißt, das mit dieser Rede Bezeichnete sei nichts
anderes als bloß von Menschen Produziertes.33 Erkenntnistheoretisch gesehen ist
Gegenstand der Religion nie das Religiöse an sich, etwa Gott oder Heiliges an sich,
sondern nur das, was religiöse Gehalte für uns sind. Schon von daher muss stets auch
eine reflexive Rede über Religiöses möglich sein, ja das religiöse Erlebnis drängt
sogar danach, zur Sprache gebracht zu werden, selbst wenn seine Botschaft sprachlich nie vollständig zu fassen ist. Auch religiöse Rede, mithin auch in sog. heiligen
Schriften fixierte religiöse Rede steht unter dieser Voraussetzung.34 Abgrenzend
fallen damit selbsternannte rein und ausschließlich esoterische Modi religiöser
Begegnung zumindest tendenziell aus dem Horizont des Religiösen heraus.35
(4.2) Freilich begegnet dem Menschen in dieser religiösen Begegnung, und damit
erst sind wir bei dem zentralen Kriterium, der differentia specifica des Religiösen,
immer „heilige Wirklichkeit“, man sollte ergänzen auch Wirklichkeit als heilige. Das
Prädikat „heilig“ meint dabei ein Doppeltes:
Einerseits geht es in Religion um Begegnung mit einer dem Menschen zugleich
wesentlich entzogenen Wirklichkeit, vielleicht sollte man auf einer einfacheren Stufe
zunächst von einer unseren Erfahrungshorizont transzendierenden Wirklichkeit
sprechen, dann erst von einer ihm gegenüber auch transzendenten. Natürlich ist diese
Ausdrucksweise dem Einwand ausgesetzt, wie denn etwas zur Wirklichkeit werden
33
Diese Redeweise setzt freilich einen Sinn von Sprache voraus, der Sprachliches nicht auf eine
durch Reflexion immer einholbare Selbstäußerung des Menschen reduziert, sondern zumindest die
durch die Sprecher selbst nie einholbare „sprachliche Weltkonstitution“ anerkennt [so Hans-Georg
Gadamer: Die Universalität des hermeneutischen Problems, in: GW Bd.2, Tübingen ²1990, S.228].
Martin Heidegger ist dabei noch weiter gegangen und hat Sprache als je schon Vorgefundenes
angesehen. –
In diesem Zusammenhang ist von Interesse auch der Blick auf den religionskritischen Vorwurf
nach dem Feuerbachschen Muster, Gott sei nichts anderes als die Projektion menschlicher
Wünsche. Über das Wesen der Religion ist damit, entgegen Feuerbachs Meinung, noch nicht viel
ausgesagt, solange die Frage nicht gestellt wird, woher und warum der Mensch dergestalt projeziere. Strukturell betreffen solche Äußerungen zu Religion daher lediglich bestimmte Umgangsweisen mit dem Religiösen, nicht das Religiöse in seinem (möglicherweise durch Sprache nicht
fassbaren) extensionalen Gehalt. (Zur Kategorie des Extensionalen vgl. genauer meine Ausführungen in Kapitel 1-2.)
34
Zur Entfaltung dieses Gedankens vgl. unten den Teil II der Arbeit und auch das Kapitel 4-2.
35
Damit wird nicht unterstellt, dass esoterische Erlebnisse keine religiöse Struktur hätten; aber zur
Erschließung dessen, was Religion ist, vermögen sie nichts beizutragen. Vgl. in diesem Zusammenhang bereits die innerreligiöse Kritik an esoterischen Erlebnissen, etwa in der paulinischen
Kritik am geisterfüllten Zungenreden in 1Kor 14.
118
1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung
soll, was darin sich als benennbare Wirklichkeit zugleich entzieht, wo doch nur (so
das erste Element) das je im menschlichen Horizont Benennbare begegnen kann.
Möglicherweise ist aber diese Paradoxie genau die Eigenart religiöser Wirklichkeitserfahrung. Gegen die Blochsche Forderung nach einem Transzendieren ohne Transzendenz36 geht es um die in Lebenshorizonte transzendierenden Erfahrungen aufbrechende Frage, woher diese Kraft des Transzendierens kommt und wohin hier zu
überschreiten wäre. Diese Frage ist von vornherein nur ungenügend beantwortet,
wenn das Woher und das Wohin des Transzendierens mit der Erfahrung des Transzendierens, gleichgesetzt wird. Die Rede von Transzendenz als Bezeichnung eben
dieses Woher und Wohin markiert aber lediglich das Problem, das sich hier auftut,
bezeichnet noch nicht eine faktisch auszumachende Bedeutung. Einen entsprechenden Schluss legt auch die logische Überlegung von der Möglichkeit einer privativ
negierenden Redeweise nahe; demnach macht es durchaus einen Sinn, den Verweis
auf einen sprachlich nicht mehr benennbaren je größeren Horizont per privativer
Negation auszudrücken. Dass eben hierin ein spezifisches Kennzeichen religiöser
Sprache liegt, haben wiederholt einige Autoren zum Ausdruck gebracht.37 In religiöser Begegnung, und eben dies unterscheidet sie von anderen Erfahrungsebenen,
begegnet also etwas die eigene Erfahrung wesentlich Übersteigendes, theologisch
würde man hier von „Anspruch“ oder „Anruf“ reden. Die Identifikation säkularer
Sinnsuchbewegungen oder gar bereits benennbarer Sinnerfüllungen mit Religion
scheidet durch dieses zentrale Kriterium für Religion von vornherein aus. Selbst die
Rede von Religion als einer Weltanschauung oder als eine Form von Sinnsuche ist
daher als unangemessen oder zumindest einseitig zurückzuweisen (was nicht heißt,
dass Sinnsuche und auch Weltanschauung nicht auch wesentliche Elemente von
Religion sind).38
36
Diese These formuliert Ernst Bloch als „entscheidend“ für seine Sicht auf Religion, wie er sie in
„Atheismus im Christentum“ (1968) entfaltet hat. Seine Lesart von „Exodus“, ein Begriff, der
auch im Untertitel des Buchs auftaucht, verdeutlicht das hier gemeinte besser: Die Bewegung des
Herausgehens aus einem Zustand in einen befreiteren, das Überschreiten von Lebenshorizonten,
wie es zweifelsohne in der Exoduserfahrung deutlich geworden ist, meint Bloch von der Religion
beerben zu müssen, ohne die darin mitgedachte Rückbindung an eine befreiende Instanz. Es
kommt ihm auf den Akt des Überschreitens an. Die Erfahrung des Überschreitens aber reduziert er
auf einen Akt des Überschreitens. Damit wir der Gegenstand der Erfahrung und auch die Frage
nach einer Bedingung der Möglichkeit solcher Erfahrung ausgeklammert. Transzendenz hat wie
auch Religion in Blochs Überschreitungs-Philosophie keinen Platz.
37
Im Anschluss an Hermann Schrödters religionsphilosophische Überlegungen hat vor allem Eckard
Nordhofen diesen Gedanken eindrucksvoll wie verständlich herausgearbeitet: Eckhard Nordhofen:
Glaube, in: Ethik. Ein Grundkurs, hg.v. H.Hastedt/E.Martens, Reinbek 1994, S.278f., zuletzt auch:
Die Zukunft des Monotheismus, in: Merkur 53.(1999), S.828ff.
38
Auch an diesem Punkt irrt m.E. Gisela Raupach-Strey, wenn sie die Feststellung, Philosophie sei
keine Weltanschauug, als Argument verwendet für eine Trennung von Philosophie- und Religionsunterricht, welchem damit unterstellt wird, er sei Weltanschauungsunterricht: R.S.: Das
Verhältnis des Ethik/Philosophie-Unterrichts zu den religiösen und nicht-religiösen Weltanschau-
1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung
119
Das zweite im Prädikat „heilig“ indizierte Element bringt diese Konfrontation mit
wesentlich anderer Wirklichkeit in religiöser Begegnung nun in einen Zusammenhang mit dem ihr Begegnenden. Für ihn nämlich begegnet darin Heil. Auch dieses
Wort ist erklärungsbedürftig. Es verweist zunächst auf die Idee einer alle anderen
Wahrheiten umfassenden absoluten Wahrheit. In diesem Sinne ist Hegels nur
vorderhand altertümliche Beschreibung von Religion ganz ernst zu nehmen, Religion
nämlich als „die Region, in der alle Rätsel der Welt, alle Widersprüche des Gedankens, alle Schmerzen des Gefühls gelöst sind - eine Region der ewigen Wahrheit und
Ruhe, der absoluten Wahrheit selbst.“39 Die Wahrheit der Religion übersteigt in der
Tat die Wahrheit im Sinne von Übereinstimmung möglicher Wahrnehmungen, also
von Objektivität, auch die Wahrheit im Sinne unmittelbarer Einstimmigkeit, als
Schönheit also, ebenso die logische Wahrheit der Richtigkeit (orthotes), aber auch
die Wahrheit der Übereinstimmung mit dem eigenen Handeln, also die Wahrheit als
das Gute. Absolut und alles übersteigend ist diese Wahrheit jedoch eher eine Idee,
nicht auf der gleichen Ebene wie die anderen, genauer zu bezeichnenden Wahrheiten.
Es bleibt dafür nur eine Idee von Wahrheit, die nämlich hinter allem als Ganzes sich
verbirgt, die aletheia der Griechen.40 Zugleich, und das ist die weitere Ebene, wird
mit dem Begriff Heil eine soteriologische Dimension angezeigt. Theologisch gesprochen zeigt sich in der religiösen Erfahrung von Heil die Dimension der Erlösung
gegenüber der als endlich erfahrenen menschlichen Wirklichkeit.
Diese zweite Ebene von Transzendenz macht die zuweilen geführte Rede von
Religionen ohne Transzendenzbezug zu einem hölzernen Eisen.41 Zu einer Verdeutlichung oder Erweiterung des Religionsbegriffs jedenfalls trägt sie nichts bei.42
ungen, in: Philosophie und Religion. Zukunft einer Fächergruppe. Rost.Philos.Manuskr.H.5,
hg.v.H.Hastedt, Rostock 1998, S.59. Zur didaktischen Konsequenz einer solchen Fächertrennung
vgl. unten Kap. 1-4.
39
Hegel (1983), S.3.
40
Sie aufgelöst zu haben gegen die bloße Adäquationswahrheit, die letztlich nicht mehr als Richtigkeit oder Übereinstimmung ist, hat bekanntlich Heidegger der abendländischen Metaphysiktradition vorgeworfen. Wenn er, Heidegger, demgegenüber auf eine Wahrheit im Sinne von
aletheia rekurrieren will, gewinnt dieser Gedanke zumindest kryptotheologische Züge.
41
Wenn diese Rede auf östliche Religionen, insbesondere den Buddhismus, vor allem in Form des
Zen, oder auch auf den Konfuzianismus angewandt wird, wird die Rede von Transzendenz wohl
eher mit der aus westlicher Sicht konnotierten Form personaler Transzendenz unzulässigerweise
identifiziert. Dem Buddhismus insofern einen grundsätzlichen Transzendenzbezug, und sei es nur
im Sinne einer endliche Erfahrungen kategorial übersteigender „Negativ“-Erfahrungen, abzustreiten, halte ich dagegen für absurd. Andererseits wäre etwa ein Konfuzianismus, der tatsächlich
lediglich als ethisch-politisches Ordnungssystem sich verstünde oder verstanden würde, und die
Orientierung an sog. himmlischen Mächten außer acht lassen würde, keine Religion mehr, sondern
eben nur noch Weltanschauung.
42
Die Rede von „Ersatzreligionen“ oder „quasireligiösen“ Phänomenen halte ich daher entgegen
verbreiteter soziologischer Einwände für durchaus klärend, da sie mit Grund zur Bezeichnung
eben solcher Phänomene dienen, die zwar bestimmte Parallelen mit religiösem Erleben aufweisen,
120
1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung
Bei der Erläuterung des anderen in diesem Zusammenhang genannten Begriffs,
also dem der Wirklichkeit, stellen sich die gleichen Probleme: Einerseits wird mit
dem Ausdruck „heilige Wirklichkeit“ behauptet, dass es tatsächlich um eine andere
Wirklichkeit gehe als die täglich erfahrbare, andererseits meint dieser Ausdruck
ebenso, dass in der Erfahrung heiliger Wirklichkeit unsere alltägliche Wirklichkeit
anders, nämlich im Horizont von Heil erfahren wird. Beide Bedeutungen sind nicht
zu verwechseln, aber auch nicht voneinander zu trennen. Zu trennen sind sie nicht,
weil es unter Berücksichtigung des zuerst genannten Elements bei Religion nicht um
eine Anderwelt, eine jenseits des Erfahrbaren liegende Welt gehen kann, umgekehrt
aber die täglich erfahrene Wirklichkeit im Lichte des Religiösen auch wirklich als
andere erfahrbar wird. Zu verwechseln sind beide Wirklichkeit entsprechend auch
nicht, weil zumindest für die täglich erfahrbare die veränderte Wirklichkeit eine
absolute Grenze darstellt, an der gebrochen sie als endliche erscheint. Die Lehre von
den letzten Dingen, die Eschatologie, gehört insofern zu den wesentlichen Elementen
von Religion.43
(4.3) Als drittes Element bringt Mensching den Ausdruck „erlebnishaft“.
Mensching selbst betont, dass damit keineswegs nur die Ebene des Gefühls gemeint
ist, sondern: „Er-lebnis ist eigentlich ein Ergreifen eines Objektes mit dem ganzen
Leben, so daß das Ergriffene das eigene Leben erfüllt und existentiell bestimmt.“44 In
anderen Worten: Das Leben wird in einer vorher nicht erfahrenen Tiefendimension
erfahren. Alle in der Literatur beschriebenen religiösen Erlebnisse äußern sich in
eben dieser Weise. Religiosität ist insofern immer mehr als eine Bestätigung des
ohnehin gelebten und erfahrenen Daseins, nämlich zum einen die Erfahrung dieses
Daseins in seiner Endlichkeit und Kontingentialität45, dann aber auch in seiner auf
denen aber Transzendenzbezug fehlt, und die daher auch nicht als Gestalten von Religiosität anzusehen sind. - Auch die Rede von Selbsterlösungsreligionen ist irreführend: Gewiss gibt es Religionen, die den subjektiven Vollzug des Religiösen stärker betonen als andere. Daraus aber den
Schluss zu ziehen, Erlösung käme lediglich durch Selbstvollzug zustande, ist nicht zwingend und
zumindest erläuterungsbedürftig hinsichtlich des Sinns von „selbst“.
43
Das auszuführen, würde den Rahmen der Arbeit sprengen. Jedenfalls verwiesen sei daher auf das
Kapitel 4-5, in dem hinsichtlich der Frage nach Gerechtigkeit am deutlichsten das Problem der
Endlichkeit von Geschichte und einer alle Geschichte heilenden Gerechtigkeit weiter verhandelt
wird.
44
Mensching (1961), Sp.963.
45
Die Versuche, Religion als Bewältigung von Kontingenz zu begreifen, etwa bei Hermann Lübbe
und in anderer Weise auch bei Niklas Luhmann, teilweise auch bei Hermann Schrödter, sind von
daher durchaus angemessen, aber nicht hinreichend. Zur Bestimmung eines Aktes als religiös
gehört m.E. wesentlich auch die Benennung des Horizonts, aus dem heraus Kontingenz und auch
Endlichkeit, bzw. ihre Überwindung als solche erfahren werden.
1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung
121
Transzendenz hin offenen Anlage.46 In diesem Zusammenhang sprechen
religionsphilosophisch beeinflusste Theologen vom Menschen „als Geheimnis“.47
(4.4) Das vierte Element ergibt sich aus dem dritten. Mensching nennt es
„existentielles Bestimmtsein“. Damit ist mehr gemeint als die erlebnishafte
Begegnung. Das existentielle Bestimmtsein ist eine aus der Begegnung erwachsende
Folge, ja eine das Leben bestimmende Antwort auf diese Begegnung. Gewiss gibt es
religiöse Erfahrungen oder Begegnungen, die nicht zu einer existentiellen
Bestimmung führen. Dann aber, so ließe sich terminologisch differenzieren, hat ein
Mensch zwar eine religiöse Erfahrung gemacht, hat vielleicht auch sich als religiös,
also Religiosität erfahren, hat aber noch keine Religion. Mit Heidegger bezeichnet
Existenz im Unterschied zum schlichten Dasein, das sich diesem Dasein Stellen, das
aus der Erfahrung des Seins gewonnene Heraustreten ins Dasein. Die religiöse
Begegnung muss also, das meint „existentielles Bestimmtsein“, zur
Auseinandersetzung mit dem Dasein führen. Für den sich als religiös empfindenden
bzw. wissenden Menschen ist dies seine persönliche Religiosität bzw. sein Glaube.48
(4.5) Schließlich ist als fünftes Element „antwortendes Handeln“ genannt. Es
ergibt sich fast notwendig aus dem vierten und meint gleichwohl mehr: Sich dem
Dasein zu stellen, führt zur Auseinandersetzung mit dem Dasein; Handeln versucht
demgegenüber, das Dasein auch umzugestalten. Einerseits gehört zu Religion solche
das Leben gestaltende Praxis, andererseits gewinnt diese Praxis ihre Kraft aus der
46
Transzendenz ist darum mehr als die Bewältigung von Endlichkeit. Immerhin kann man mit gutem
Sinn von Wegen nichtreligiöser Bewältigung von Endlichkeit sprechen. Auch hierin findet sich ein
Argument dafür, Transzendenzbezug als notwendige Dimension von Religiosität anzusehen.
47
Dieser Terminus durchzieht etwa die Theologie von Karl Rahner, deutlich auch in seiner „Grundlegung einer Religionsphilosophie“: Hörer des Wortes, München 1941. Eine ausführliche Deutung
der Rahnerschen Anthropologie unternimmt unter diesem Titel Klaus P.Fischer: Der Mensch als
Geheimnis. Freiburg 1974. - Rahner ist ebenso bei Heidegger in die Schule gegangen wie der
buddhistische Religionsphilosoph Keiji Nishitani, der in seinem grundlegenden Werk „Was ist
Religion?“ (Frankfurt ²1986, jap.1980) als religiöse Urerfahrung beschreibt, „dass das Ich die
Seinsweise eines in sich selbst verschlossenen Selbst zeigt“ (S.57) und im weiteren, in auffallender
Parallele etwa zu den Denkfiguren spätmittelalterlicher Mystiker, sprich Religionsphilosophen,
wie Meister Eckhart die Erleuchtung im Buddhismus als „religiöse Existenz“ bezeichnet (S.66).
48
In diesem Zusammenhang wäre eine tiefere Auseinandersetzung mit der Bedeutung von „Glaube“
und „Religiosität“ notwendig. Die unten im Abschnitt 5 dieses Kapitels vorgestellten Koordinaten
von Religion liefern dazu nur grundlegend strukturierende Hinweise. Wichtig wäre darüber hinaus
insbesondere die Erläuterung davon, was Schleiermacher im „Gefühl schlechthinniger
Abhängigkeit“ herauszustellen versuchte, oder auch von Kierkegaards Unterscheidung von
„Religieusitet A“ und „B“ sowie die darauf aufbauende Kritik der dialektischen Theologie gegen
die Subsumierung des christlichen Glaubens unter den Begriff von Religion. Religionsdidaktisch
von hohem Interesse ist die Frage, inwiefern sich diese Dimension von Religiosität überhaupt mit
Mitteln der Vernunft erschließen lässt. Vgl. dazu auch oben die Anm. 23 zu Pascal sowie das
Kapitel 2-1.
122
1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung
durch das religiöse Erlebnis sich ergebenden existentiellen Bestimmtheit. Zum einen:
Religion, die das Leben flieht, untergräbt sich selbst. Das erste Element, die
Begegnung, erfährt durch den handelnden Lebensvollzug erst seine volle
Bestätigung: Religion ist nichts gegenüber dem Leben völlig anderes, abgehobenes,
sondern wesentlich in das Leben eingreifend und es mitgestaltend. Andererseits ist
dieses Handeln kein Selbstläufer, sondern geschieht im Horizont der religiösen
Begegnung; von da her gewinnt es seine Begründung, daraufhin aber ist es letztlich
auch ausgerichtet, so dass religiöses Handeln stets auch als Gottesdienst zu verstehen
ist. Alle religiöse Ethik - ein für den kommenden Didaktikteil wichtiger Hinweis - ist
nur von daher verständlich.49
5
Ebenen des Religiösen
Von diesem durch Strukturmerkmale gekennzeichneten Religionsbegriff ausgehend,
scheint es mir sinnvoll, auch Ebenen zu unterscheiden, in denen Religion begegnet.
Sie einander zuzuordnen und ihre Bezüge strukturell zu benennen, ist ebenfalls eine
Aufgabe der Religionsphilosophie. Das sei nachfolgend zumindest kurz angedeutet.
Unter Aufnahme der oben abgebildeten Schematisierung von religiösen Vollzügen
begegnet Religion auf vier Ebenen:
(1) als Möglichkeit religiösen Erlebens, die dem Menschen Religiosität als eine
originäre Dimension seines Daseins eröffnet,
(2) als Gegenstand der Religiosität, den der religiöse Mensch als als Heilige (oder
auch als Transzendenz) erfährt, als Ursprung und Ziel allen Lebensvollzugs,
49
Der Begriff des Handelns muss hier eher weit aufgefasst werden. Im Bereich des Religiösen kann
er durchaus auch Formen der Meditation und des Gebets, ja sogar von asketischer oder mönchischer Weltabwendung beinhalten, sofern damit gerade ein bestimmter Weltbezug herausgestellt
wird. Mit dieser Erläuterung religiöser Ethik soll andererseits keineswegs der Meinung das Wort
geredet werden, bei religiöser Ethik handle es sich um eine Sonderethik. Verbreitet ist bis in
richterliche Entscheidungen hinein die irreführende Ansicht, aus Religiosität heraus verantworteten Lebensgestaltungen entzögen sich der Beurteilung durch die reine Vernunft. Fatal wird diese
Ansicht, wenn sie als Argument herhalten muss für eine strikte Trennung von Religions- und
Ethikunterricht, als ob dieser völlig an die Begründung im Glauben gebunden, jener aber im
Gegensatz dazu vor der Vernunft zu rechtfertigen sei. Diese fehlerhafte Ansicht scheint mir
vorzuliegen in dem vielbeachteten Beitrag von Schleichert / Seebaß / Stemmer 1997; ebenso bei
Veraart 1998. Hier wird die Differenz zwischen einer Moral grundlegenden Begründung in bzw.
aus etwas und einer Moral einsichtig machenden Begründung vor etwas eingeschliffen zu werden:
Diese Differenz bedenkend ist es durchaus möglich, ja nach geltender zumindest jüdischer und
christlicher Theologie auch notwendig, moralische Einsichten und Entscheidungen einerseits im
Glauben zu gründen, zugleich aber auch je vor der kritischen Vernunft zu prüfen und zu
rechtfertigen.
1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung
123
(3) als lebenserschließende und -bestimmende Antwort des Menschen auf die
religiöse Erfahrung, sein Glaube oder seine (subjektive) Religion,
(4) als objektiv sich zeigende, institutionalisierte Gestalt von Glaubensbezügen,
als sichtbare (objektive) Religion, zu der sich eine Mehrzahl von Menschen
bekennen kann.
Die Erschließung von Religion auf strukturellem Wege kann versuchen, die Bezüge
zwischen diesen Ebenen zu erläutern, die so gleichsam als Koordinaten des
Religiösen erscheinen. Damit würden zugleich Bausteine einer Didaktik der Religion
aus philosophischer Sicht genannt: Aufgabe etwa wäre es, einzelne Phänomene in
diese Koordinaten einzubauen und zu prüfen, inwiefern beispielsweise50
Götter oder Gottesnamen Benennungen des Heiligen durch die (objektive)
Religion sind,
heilige Texte durch (objektive) Religion fixierte
Verdichtungen von Glauben anzusehen sind,
als
sprachliche
in Frömmigkeit oder Frömmigkeitsformen (wie Gebet) sich die zur
Erfahrung gebrachte Religiosität Ausdruck verschafft,
die fides qua creditur, also der glaubende Glaube, die subjektive
Realisierung einer religiösen Erfahrung darstellt,
dieser subjektive Glaube eher als tätige Antwort des Glaubenden auf die
religiöse Erfahrung zu verstehen ist oder als durch die religiöse Erfahrung
unmittelbar mitgegebenes „Geschenk“,
hingegen die fides quae creditur, also der geglaubte Glaube, die Akzeptation
eines bestimmtem Menschenbildes, bestimmter moralischer Normen,
bestimmter Jenseitsvorstellungen usw. ist,
moralische Normen aus religiösen Erfahrungen abgeleitet werden,
an der Erfüllung moralischer Gebote Religiosität gemessen werden kann,
Riten die Deutung von Wirklichkeit in der Dimension von Religiosität sind,
Konfessionen im Unterschied zum Glauben auch die Zugehörigkeit zu einer
bestimmten (objektiven) Religion(sgemeinschaft) anzeigen,
alle Menschen zwar (im Sinne der Ebene 1) religiös sind, aber keineswegs
auch gläubig bzw. Religion haben (im Sinne der Ebene 3),
50
Weitere Differenzierungen, insbesondere hinsichtlich der Frage, in welcher Hinsicht Religion
Thema einer schulischen religiösen Bildung sein kann und sollte, nehme ich vor im Kapitel 5-4.
124
1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung
viele Menschen zwar (im Sinne von Ebene 3) Religion haben, aber deshalb
noch nicht einer Religion (im Sinne von Ebene 4) angehören müssen,
(objektive) Religionen den Nährboden zur Entwicklung von Religiosität hin
zu Glauben bilden,
oder vielmehr Glauben rein aus (subjektiven) religiösen Erfahrungen
erwächst.
Zur einer noch differenzierteren Auseinandersetzung mag das auf der Folgeseite
kopierte Schema hilfreich sein. Die Kennzeichnungen verstehen sich dabei lediglich
als (freilich begründete) Vorschläge, nicht als Definitionen. Die farbliche Gestaltung
macht die problemorientierte Erschließung von Religion deutlich; dabei meinen in
Bezug auf Religion
die schwarzen Kästen die grundlegenden Ebenen (s.o. S. 122f.),
das blau Umkreiste sichtbare gelebte Formen,
das rot Umkreiste psychische und affektive Ebenen und Formen,
das braun Umkreiste sprachliche Ausdrucks- und Darstellungs-Formen,
die blau geschlängelten Pfeile Versuche der Definition bzw. begrifflichen
Bestimmung,
die grünen Pfeile Strukturmerkmale.
Zu weiteren Auseinandersetzungen führt das Schema, wenn man versucht, die
Strukturmerkmale und Definitionen als problemerschließende und kritische Fragen
zu formulieren, auch unter Aufbietung möglicher Alternativen.
1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung
125
Kapitel
1-4
Grundlinien einer Didaktik des Religiösen
Für das abschließende Kapitel der Grundlegung begnüge ich mich mit einer
religionsdidaktischen These, die durch wiederum eher thetisch vorgetragene
Differenzierungen ihrer Elemente erläutert wird. Durch z.T. ausführliche Anmerkungen und Fußnoten werde ich allerdings auch Hinweise zu möglichen Wegen einer
Konkretion geben sowie dazu, in welchen der nachfolgenden Kapitel einzelne dieser
Elemente exemplarisch entfaltet werden, bis hin zu Unterrichtsmodellen.1 Für eine
systematisch ausgeführte, gar umfassende Didaktik müssten gewiss zusätzliche
Überlegungen angestellt werden2; insofern verstehen sich die nachfolgenden Erläute1
In dieser Hinsicht ist das vorliegende Kapitel im Vergleich zur Vorlage (Abschnitt 3 meiner
Abhandlung Petermann 2000c) vollständig neu zusammengestellt worden. (Vgl. die redaktionelle
Anmerkung 1 zum einführenden Abschnitt des Teil I dieser Arbeit)
2
Bewusst spare ich in diesem Zusammenhang weitergehende allgemeine philosophiedidaktische
Erläuterungen aus, vor allem solche zur methodischen Erschließung einzelner Themen-, Frageund Problemstellungen.
Möglichkeiten einer differenzierten philosophischen Gesprächsführung werden immerhin angesprochen im Kapitel 3, anhand konkreter Unterrichtsprotokolle sogar diskutiert. Andere Methoden,
wie Wege einer hermeneutischen Textarbeit, aber auch sog. präsentative Formen des Philosophierens finden exemplarisch im Teil IV in den 5 vorgestellten Unterrichtsmodellen Verwendung,
ohne dass sie dabei im Detail erläutert werden können.
Für weitere Konkretionen, etwa das Arbeiten mit Dilemma-Geschichten, mit rekonstruktiven wie
kreativen Schreibübungen, Phantasie-Reisen, präsentativen und erfahrungsorientiert arbeitenden
Themenerschließungen verweise ich auf drei philosophiedidaktische Aufsätze: Petermann (1999)
zu einer rekonstruktiven, dilemmatisch-diskutierenden und kreativen Erschließung eines Satzes
von Montaigne; Petermann (2000), ausgehend von Hume, zu einer präsentativen, biografischerfahrungsdimensionierten und das eigene Denken anregenden Auseinandersetzung mit dem Sinn
von Philosophieren; Petermann (2001) zur spielerischen Erschließung unterschiedlicher Formen
von Philosophie durch eine Kindergeschichte.
Zum Hintergrund didaktischer Überlegungen für den Philosophie- und Ethik-Unterricht ist zu
sagen: Allgemeine Didaktiken des Philosophie- und Ethik-Unterrichts liegen im Unterschied zum
Religionsunterricht, wie bereits oben in der Einführung zum Teil I angedeutet, für den deutschsprachigen Raum bislang kaum vor; die von Schmidt (1983) ist gerade in ihren methodischen
Teilen, vor allem hinsichtlich ihres konzeptionellen Anspruchs veraltet; Rehfus (1980) ist im
Grund nur für die gymnasiale Oberstufe geeignet; Martens (1999) orientiert eher über unterschiedliche Ansätze des Philosophierens mit Kindern, liefert nur indirekt grundsätzliche Ansätze
einer Didaktik; und sowohl Tichy (1998) wie auch jetzt Steenblock (2001) liefern eher Vorüberlegungen zu einer Didaktik als eine detailliert ausgeführte Didaktik. - Immerhin gibt es neuerdings
in den Nummern 2/2000 sowie 2/2001 der ZDPE und dem bislang in zwei Bänden erschienenen
„Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik“, allesamt von Johannes Rohbeck (Dresden)
herausgegeben, einige über sporadische Beiträge hinausgehende Sammlungen zu diesem Thema.
1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen
127
rungen lediglich als kritischer Rahmen für die hier aus philosophischer Sicht zur
Debatte stehende Didaktik zum Thema „Religion“. Doch ohne diese Rahmenbedingungen kann meines Erachtens ein tragfähiger Unterricht zu Themen der
Religion in heutigen Lebenskontexten nicht gelingen.
Meine These zu einer Didaktik des Religiösen lautet:
Soll Religion bildungskonzeptionell konsistent3, der Sache der Religion
gegenüber angemessen4, heutiger Erfahrungswelt gewachsen5 und an den
Anforderungen schulischer Bildung orientiert6 zum allgemeinen
Bildungsgut werden, ist sie zumindest auf vier Ebenen zu thematisieren:
(1) als religiöse Propädeutik im Sinne einer Sensibilisierung und
Erfahrungskunde hinsichtlich dessen, was einen religiösen Menschen
auszeichnet;
(2) als religiöse Sprachlehre im Sinne einer Hermeneutik bzw. Kunst des
Deutens und Dechiffrierens des eigentümlich Religiösen;
(3) als Religionskunde im Sinne des Kennenlernens und Beurteilens
tradierter religiöser Lebensanschauungen, Vollzüge, Symbole;
(4) als religiöse Orientierung im Sinne der Befähigung zu je eigener
religiöser Lebensentscheidung.
Die folgenden Bemerkungen sind auch inhaltlich stark aus der Sicht philosophischer
Fragestellung formuliert.7 Dass die Philosophie aber selbst die Ausbildung von
Philosophie/Ethik-Lehrer/innen weder grundlegend, noch vor allem im Bereich
„Religion“ alleine bewältigen kann und will, sollte klar sein; insbesondere theologische sowie religionswissenschaftliche Fragestellungen sind notwendige Ergänzungen
3
Vgl. Kapitel 1-2.
4
Vgl. Kapitel 1-3.
5
Vgl. Kapitel 1-1.
6
Vgl. dazu meine Bemerkungen zur Eigenart eines schulisch verankerten Religionsunterrichts im
Vergleich zu anderen Formen der Glaubensvermittlung, insbesondere die Gemeindekatechese im
Abschnitt 4.2 des Kapitels 2-1 sowie in den Erläuterungen zur Konfessionalität im Kapitel 5-4.
7
Das ist begründet zum einen durch den ursprünglichen Kontext dieses Kapitels im Rahmen einer
philosophiedidaktischen Einlassung auf das Thema Religion, zum andern aber in meiner in der
vorliegenden Arbeit auch systematisch vertretenen These eines philosophisch fundierten Unterrichts in Religion; vgl. dazu insbesondere die Ausführungen in Kapitel 2-1.
Durch die philosophische Akzentuierung entsteht notwendig ein Schwergewicht in den
Ausführungen zum Punkt (1), der religiösen Propädeutik, die sich teilweise jedoch auch als
Erläuterungen zu den anderen Punkten lesen lassen.
128
1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen
für eine in Regie der Philosophie geleistete Ausbildung von Ethik/PhilosophieLehrer/innen.8 Für die Ausbildung von Religions-Lehrer/innen ist traditionell
ohnehin die Theologie/Religionspädagogik zuständig. Gleichwohl beanspruchen die
nachfolgenden philosophisch gefärbten Bemerkungen ihre Anerkennung auch in
diesem Rahmen als notwendige Elemente einer bildungskonzeptionell tragfähigen
Didaktik der Religion. Als Ansprechpartner einer solchen Didaktik ergeben sich
damit:
in erster Linie die Lehramts-Studierenden für das Fach Philosophie/Ethik, in
deren Aufgabenbereich der Unterricht zu religiösen Themen innerhalb ihres
Fachs gehört, um sie dafür grundlegend zu qualifizieren,
Theologie-Studierende, für die der schulische Religions-Unterricht in der
Regel zumindest zeitweise zu ihrem späteren Aufgabenbereich gehören wird,
um ihnen philosophische Perspektiven auf diesen Bereich offen zu legen,
alle Lehramtsstudierende, um ihnen in der je nach Fach unterschiedlichen
Begegnung mit religiösen Fragestellungen Ebenen der Auseinandersetzung zu
eröffnen.
Wie nun vermag eine philosophisch begründete Didaktik konkrete Beiträge in
Richtung der vier skizzierten Ebenen leisten?
ad (1) religiöse Propädeutik
(1.1) Am Beginn, aber auch als Prinzip jeder Auseinandersetzung mit Religion
muss die Frage stehen: Was ist ein religiöser Mensch? Unter Voraussetzung der oben
erläuterten Merkmale erschließt sich diese Frage auf der propädeutischen Ebene
jedoch nicht abstrakt-begrifflich, sondern am ehesten mittels konkreter biografischer
Zeugnisse. Unter dem Stichwort „biografisches Lernen“ wird dabei gezielt die
erlebnishafte Identifikation mit dem Lerngegenstand, in diesem Falle also einer
religiös handelnden Person, durch die Lernenden angestrebt, um das religiöse
Erlebnis, von dem die Rede ist, auch wirklich lebendig werden zu lassen. Aus philosophischer Sicht wäre kritisch allenfalls zu betonen, dass es dabei nicht um beliebige
Kontextualisierung oder zufällige Veranschaulichungen gehen kann, sondern um die
Intensivierung der Möglichkeit, das Religiöse wirklich als Religiöses begegnen zu
8
Zur Problematik der Trägerschaft der Ausbildung von Ethik-Lehrkräften vgl. meine Bemerkungen
im einleitenden Abschnitt zu Teil I sowie im Kapitel 1-2.
1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen
129
lassen, wozu sich am ehesten die (daraufhin fragende) Begegnung mit einer
religiösen Erfahrung eignet.
Der Religionsunterricht bietet dazu eine Vielzahl von Möglichkeiten, (die freilich in Auswahl
mehrheitlich auch im Ethikunterricht zur Sprache kommen können), an vorderster Stelle natürlich
durch Einlassung auf biblische Personen. Die Lehr- bzw. Bildungspläne sehen solche Themen
ausdrücklich vor, nicht immer freilich mit Hinweisen auch zu einem entsprechend (in meinen
Augen notwendigen) erfahrungsorientierten Zugang.
Eigentümlicherweise gelingt das auch trotz seines explizit erfahrungsorientierten Anspruchs
Halbfas in seinen Religionsbüchern nur bedingt: So werden Personen wie Abraham, König David
oder auch die alttestamentlichen Propheten wie auch einige weitere biblische Themen eher
informativ oder historisch aufbereitet, die angemahnte identifikatorisch-erfahrungsdimensionierte
9
Ebene wird allenfalls indirekt angesprochen. Angemessener ist bei Halbfas umgesetzt das alle
Bände der Sekundarstufe I durchlaufende Themenfeld „Menschen der Kirche“, in dem altersspezifisch begründet wie auch biografisch interessierend Figuren wie Martin von Tours, Franz von
Assisi oder Oscar Romero als Vorbilder vorgestellt werden.
Für entsprechende Unterrichtsmodelle liefere ich in der vorliegenden Arbeit mit dem Kapitel 4-3
in bezug auf die Jünger Jesu, hier Simon Petrus, selbst ein Beispiel: Über ein Bild wird zu Beginn,
die Erfahrung in ganz unmittelbarem Verständnis ansprechend, in das Thema „Religiöse Existenz“
eingeführt, als Schlüssel und Sensibilisierung zur erfahrungsdimensionierten Erschließung der
Perikope Lk 5, 1ff, womit erst dann auch bibelkritische Perspektiven durch einen synoptischen
Vergleich eröffnet werden, welcher somit von vorneherein im Horizont der hier zur Debatte
stehenden Sensibilisierung für das Religiöse getan wird, und nicht aus einem religiositätsirrelevantem historischen oder literarischen Interesse.
Einen weiteren Versuch habe ich zumindest ansatzweise auch für den Ethik-Unterricht vor10
gelegt. Mit nur wenigen Sätzen wird im Ethikbuch „Ich bin gefragt 9/19“ zur Thematik
„Religion – Suche nach Mehr“ exemplarisch die Gestalt des Abraham skizziert:
Auch die Religionen kennen die Sehnsucht nach dem „Mehr“, die über den Alltag hinaus will. So
erzählen Juden, Christen und Muslime von ihrem gemeinsamen Ursprung, ABRAHAM: Als Nomade
zog er mit seiner Familie und seinen Viehherden durch die Steppen Mesopotamiens, bis er in
seinem tiefsten Innern den Ruf vernahm: Geh fort! Auf dem Weg durch die Wüste war er ohne
Vater (der war gestorben), ohne Heimat (die hatte er verlassen) und ohne Aussicht auf Zukunft (er
war kinderlos). Ganz auf sich allein gestellt, setzte er sich mit der Frage auseinander: Wer bin
ich; und wohin soll ich gehen mit meinem Leben? Doch gerade in dieser extremen Lage wusste
sich Abraham ganz und gar getragen. Diese ursprüngliche Erfahrung, die fortan sein Leben
prägte und durch die er sich auch ganz auf sich selbst verlassen konnte, nannte er „Gott“ und gab
11
sie seinen Nachkommen weiter.
9
Vgl. dazu meine Kritik im Abschnitt 5 des Kapitels 5-1.
10
Dieser Text findet sich auf Seite 143 des Bandes „Ich bin gefragt. Ethik [bzw.LER] 9/10. Berlin:
Volk und Wissen 2000“ (Petermann 2000b).
11
Dieser von mir verfasste Text ist so entstanden aus der Idee, erfahrungsorientiert wie biografisch
verortet in die Frage einzuführen, wer ein religiöser Mensch ist. Nach dem ursprünglichen Plan
bildete dieser Text nur den ersten Teil weiterer Ausführungen zu Mose, Jesus und Mohammad als
130
1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen
Nicht uninteressant sind die meinerseits für den entsprechenden Lehrerband vorgeschlagenen
12
didaktisch-methodischen Anregungen :
» Der Schulbuch-Text S. 142 liefert lediglich einen zusammenfassenden Einstiegsimpuls zur
Auseinandersetzung mit der Frage, wonach eigentlich ein religiöser Mensch fragt. Über eine
Verständigung des SB-Textes hinaus bietet allein die Erschließung des entsprechenden biblischen
Quellentextes Gen 11,17-12,9 eine vertiefende Antwort.
eigentlichen „Stiftern“ der drei abrahamitischen Religionen. Unter dem Titel „Braucht Religion
Religionen?“ wollte ich zudem an diesen drei Personen elementare Eigenarten des Judentums, des
Christentums und des Islams festmachen. Der Text zu Abraham sollte einleitend die diese drei
Religionen verbindende Klammer herstellen. An der Diktion der zugegebenermaßen recht frei
sowie aufgrund des Gehalts symbolisch-hintergründig (vgl. dazu unten Anm. 14), aber doch sachangemessen formulierten Texte ist, denke ich, deutlich die erfahrungsdimensionierte Zielsetzung
herauszulesen:
Mose: aus dem Wasser gezogen
In die Wüste verschlagen hatte es auch Mose: als Kind aus dem tödlichen Wasser gerettet und als
Mann zum ägyptischen Verwalter aufgestiegen hatte er, vom Gerechtigkeitssinn übermannt, einen
Sklavenpeiniger erschlagen. Nun in der vor Hitze flirrenden Wüstenluft brennt sich ihm der
Auftrag in die Seele, die Gepeinigten und Gedemütigten zu retten: In einem „brennenden“, aber
nicht verbrennenden Dornbusch hört er den Anruf „Mose“ und versteht: Wie er selbst „aus
Wasser gezogen“ wurde, soll auch er sein Volk vor Untergang retten. Unausprechbare und doch
benennbare Hilfe erfährt er durch den, der immer für die da ist, die auf ihn vertrauen: JHWH.
Dieser Gott wird ihm und seinem Volk Lebensorientierung, die 10 Gebote in die Hand geben:
Denke an JHWH, der dich aus der Sklaverei gerettet hat, dann wirst du leben.
Jesus: Gott hilft
Wie alle frommen Juden fastete auch Jesus 40 Tage in der Wüste. Vom Geist Gottes gestärkt kann
er in der Synagoge das Wort des Propheten Jesaja deuten: „Der Geist des Herrn ruht auf mir;
denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht
bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht …“
Jesus weiß: Damit ist jeder gemeint, auch er selbst, und er setzt um, was er vernommen hat: Einen
Menschen z.B., der unfähig geworden war, sich, seine Mitmenschen und die Welt im rechten Licht
zu sehen, führt er aus seiner Umgebung weg, er bringt ihn zum Weinen, das löst den „Dreck“ aus
seinen Augen; da kann der Mann sagen „Ich sehe Menschen“. Aber nicht genug, Jesus legt ihm
die Hände auf die Augen, und plötzlich „sah der Mann alles ganz deutlich“ … Wer Jesus als
„Christus“ (=Gesalbter Gottes) glaubt, glaubt, dass diese Liebe zueinander real werden kann.
Muhammad, der Lobwürdige
In der Wüste erlebt auch der Kaufmann Muhammad seine Erwählung zum Propheten Gottes.
Erschüttert über die soziale Rücksichtslosigkeit und religiöse Gleichgültigkeit seiner Zeitgenossen
zieht sich Muhammad in die Einsamkeit der arabischen Berge zurück und erfährt Stärkung und
Orientierung durch den Engel Gabriel [die Stärke, Kraft Gottes]: „Lies, bei deinem Herrn, der
den Gebrauch der Feder lehrte und den Menschen lehrt, was dieser nicht gewusst hat.“
Muhammad macht sich diese Botschaft zu eigen, schreibt die Worte, die er vernommen hat, auf als
etwas, was immer wieder gelesen werden soll (=Koran), und wird zum Gesandten Gottes, der als
gütiger Schöpfer den Menschen zu sich selbst bringt - der Islam, die Hingabe an Gott zur
Erlangung von Lebensorientierung und Frieden ist gegründet.
12
Die nachfolgend in „» … «“ - Klammern gesetzten von mir verfassten Passagen finden sich demnächst (2002) in redigierter Form in: Lehrerband Ich bin gefragt Ethik 9/10. Berlin: Volk und
Wissen, vorauss. S.145f.u. S.150. – Dieses Modell beruht im übrigen auf eigenen Erfahrungen im
Religionsunterricht der Klasse 11, den ich in vielen Durchgängen nach diesem Grundmuster
erprobt habe. Zum konzeptionellen Zusammenhang eines solchen Unterrichts vgl. das Kapitel 4-2.
1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen
131
13
Dazu bietet sich am besten die sperrige, aber eindringliche Übersetzung von Buber
an:
Und dies sind die Zeugungen Tarachs: Tarach zeugte Abram, Nachor und Haran. Und Haran
zeugte Lot. Haran starb unterm Angesicht seines Vaters im Lande seiner Geburt, in dem
chaldäischen Ur. Abram nahm und Nachor sich Weiber. Der Name von Abrams Weib war Ssarai,
der Name von Nachors Weib war Milka: eine Tochter Harans, des Vaters von Milka und Vaters
von Jiska. Ssarai aber war eine Wurzelverstockte: sie hatte kein Kind. Tarach nahm Abram seinen
Sohn und Lot Sohn Harans seinen Sohnessohn, und Ssarai, seine Schwiegerin, Abrams seines
Sohnes Weib, sie zogen mitsammen aus dem chaldäischen Ur, ins Land Kanaan zu gehen. Doch
als sie bis Charan kamen, siedelten sie sich dort an. Und der Tage Tarachs waren zweihundert
Jahre und fünf Jahre, da starb Tarach in Charan.
ER sprach zu Abram: Geh vor dich hin aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft, aus dem
Haus deines Vaters in das Land, das ich dich sehen lassen werde. Ich will dich zu einem großen
Stamme machen und will dich segnen und will deinen Namen großwachsen lassen. Werde ein
Segen. … Abram ging, wie ER zu ihm geredet hatte …Sie kamen in das Land Kanaan … ER ließ
von Abram sich sehen und sprach: Deinem Samen gebe ich dieses Land. … Dort baute er IHM
eine Schlachtstatt und rief den NAMEN aus.
Die Entzifferung der hier vollzogenen „Verdichtungen“ kann z.B. nach folgender Methode
geschehen:
a) Erfahrungen A’s zusammenstellen, die einen Einschnitt in seinem Leben bedeuten;
b) die Tragweite dieser Erfahrungen ermessen (mit der Frage: Was bedeutete das für A. – vor
allem in damaliger Zeit?);
c) eine Lebenskurve A’s zeichnen;
d) als Vertiefung einen Vergleich anstellen und entfalten „A. verliert – A. gewinnt“
[Sachinformation, zugleich als Hintergrund für den letzten Satz S.142 „Diese ursprüngliche
Erfahrung, die fortan sein Leben prägte und durch die er sich auch ganz auf sich selbst verlassen konnte, nannte er „Gott“ und gab sie seinen Nachkommen weiter.:
Gen 12,1: A. verliert (1) Land (=äußere Lebensgrundlage, Heimat), (2) Verwandtschaft (=
inneres Lebensfundament, soziales Eingebundensein), (3) Vaterhaus (=abgestammte Identität,
Geschichte, Name) --- Gen 12,2: A. gewinnt (stattdessen): (1) Land Gottes (= nicht (allein)
geografisch festzumachen, sondern Lebenslandschaft, Kultur, die Lebensgrundlage bietet), (2)
großes Volk (= neue Sozialität, die mit allen Menschen verbindet allein durch das Menschsein;
vgl. Gen 12,3: „alle“), (3) großen Namen (vgl. Gen 17, 4f.!; d.i. nicht mehr nur gläubig seinem
Gott „unterworfen“ (=Abram), sondern selbst-bewusst, autonom für die eigenverantwortliche
Lebensgestaltung freigesetzt (= Abraham: das „abba“ in diesem neuen Namen realisiert den
Bezug auf jenen uns allen Leben spendenden „abba“-Gott in der Begegnung mit jedem anderen
Menschen, in dessen Antlitz sich das „abba“ wiederspiegelt, das ihn darum mit unverwechselbarer Würde ausstattet). Der biblische Gottesglaube, wie er in dieser Urerfahrung A’s paradigmatisch Gestalt festgehalten ist, realisiert sich in eben diesen hiermit komprimiert zusammengetragenen Dimensionen.]
e) als weitere Vertiefung: Die weiteren Lebenswege A’s erkunden und ihre überlieferten Verdichtungen entziffern, so Gen 18,1ff (Verheißung des Jizchak), Gen 18,16ff (Feilschen mit Gott),
Gen 22 (Bindung Jizchaks);
13
Buber / Rosenzweig (1932).
132
1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen
[Für die Erschließung dieser schwierigen Texte ist es absolut notwendig, nicht an der vorurteilsbeladenen Oberfläche zu bleiben, sondern in die Innendimension der Texte einzutauchen, um ihren symbolischen Gehalt in Erfahrung zu bringen. Dann ergeben sich für diese drei
Sagen-Elemente als Schlüssel z.B. folgende Leitfragen: Wer wie A. an Gott glaubt, a) wie wird
dieser Mensch eigene Kinder beurteilen, woher kommen sie, wessen „Eigentum“ sind sie?
(„Jizchak“ heißt: Gott ist es, der den Menschen zulacht => Kinder haben einen Eigenwert,
lassen sich endgültig nie „planen“, bleiben Geschenk); b) wie wird dieser Mensch mit seinem
Glauben angesichts von Unrecht und Leid umgehen? (A. fügt sich nicht einfach, sondern sein
Glaube führt zur dialogischen Auseinandersetzung, zum Kampf ums Leben); c) wie wird
dieser Mensch sich zu anderen, insbesondere seinen Kindern verhalten? (soll A. J. wirklich
„binden“ oder nicht letztlich doch freisetzen, weil er nicht ihm „gehört“, sondern Gott, d.i. sich
14
selbst? Wie schwer ist es für Eltern, ihre Kinder freizugeben?) «
In philosophiedidaktischer Ebene habe ich dazu einen Versuch vorgelegt und erläutert am Beispiel
von David Hume: Mein Aufsatz „Sei ein Philosoph, doch bleibe, bei all deiner Philosophie, stets
15
Mensch.“ nimmt im Titel einen programmatischen Satz von Hume auf und versucht, diesen Satz
in seinem Sinn über die Deutung eines zeitgenössischen Portaits vom jüngeren Hume und biografische wie autobiografische Notizen zu seiner Person und sein Verhältnis zur Philosophie
erfahrungsdimensioniert zu erschließen.
(1.2) Religiöse Erlebnisse haben mit Sinnsuche zu tun, reichen aber tiefer, in dem
Sinne, dass Sinnsuche selbst in ihrem Sinn erläutert wird. Insofern ist es wenig
hilfreich, sich bloß darüber in Kenntnis zu setzen, wie nach einer bestimmten
religiösen Vorstellung Sinnsuche sich phänomenal fassbar darstellt. Religiös
erschließend ist erst die Frage, was es ist, dass wir je nach Sinn suchen.16
14
Die hier zugrundeliegende Methode der Auslegung biblischer Texte ist nicht ganz selbstverständlich. Sie übernimmt einiges von dem, was als sog. tiefenpsychologische Exegese bekannt geworden ist, die besser unter dem Stichwort „existenzerhellende Bibelauslegung“ zu fassen wäre.
Vgl. dazu insbes. Maria Kassel: Biblische Urbilder. Tiefenpsychologische Auslegung nach
C.G.Jung. Freiburg: Herder 1992 [mit ausführlichen Deutungen zu Abraham und Jakob], sowie
Eugen Drewermann: Tiefenpsychologie und Exegese. 2 Bde, Olten: Walter 1985. Es sollte aber
auch erwähnt werden, dass es dabei nicht um modische Psychologisierungen geht, sondern, dass
eine solche Form existentiell erschließender Bibeldeutung eine lange Tradition aufzuweisen hat,
etwa in der anagogischen Deutung durch die Kirchenväter oder in der allegorischen durch die
großen Prediger des Mittelalters. - Zu grundsätzlichen Ebenen und Voraussetzungen der Deutung
religiöser Sprache vgl. Hans-Bernhard Petermann: Religiöse Sprache verstehen – eine religionsphilosophische Hermeneutik, in: Martens/Thomas (Hg.): Praxishandbuch Philosophie, Bd.4:
Religionsphilosophie, München: bsv 2002, [in veränderter Form als Kapitel 2-2 in der vorliegenden Arbeit].
15
Petermann (2000a).
16
In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, was hinsichtlich des Elements „heilige Wirklichkeit“ im Rahmen meines Versuchs zu einem Begriff von Religion oben (Kapitel 1-3) angedeutet
wurde: Ich empfehle von daher, deutlich zu unterscheiden, wann und warum wir von Weltanschauungen, Sinnsuchbewegungen und religiösen Erfahrungen sprechen. Sinnsuchbewegungen
bezeichnen sicher die grundlegendste Ebene, die Voraussetzung für die anderen ist, insofern damit
wir als Menschen zunächst einmal ernst genommen werden als Wesen, die nach sich selbst fragen
1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen
133
In dieser Perspektive einer Sinn-Orientierung einen religiös propädeutischen Unterricht zu konzipieren, der für das Fach Ethik/Philosophie in gleicher Weise geeignet ist wie für das Fach
Religion, ist kompliziert, da sensibel mit dem Problem umzugehen ist, junge Menschen einerseits
mit der Frage des Religiösen zu konfrontieren, andererseits jedoch so etwas wie Religionsvermitt17
lung, aber auch bloß äußerlich bleibende Religionskunde zu vermeiden.
18
In meiner Beteilung an dem Unterrichtswerk „Ich bin gefragt“ hatte ich diese reizvolle Aufgabe
gemeinsam mit zwei Kollegen. Für die Anlage des Kapitels, das jetzt den Titel trägt „Spurensuche
– dem Leben Sinn geben“ (S. 132ff), entwickelte ich folgende Grundidee, die in redigierter Form
19
in den Lehrerband Eingang finden wird:
Zielsetzungen:
1.) Die auch im Fach Ethik/Philosophie zu thematisierende religionskundliche Dimension (in
einem weiten Sinne des Wortes „Religionskunde“ als Auseinandersetzung mit dem Bereich des
Religiösen) geht im vorliegenden Band 9/10 über ein Kennenlernen der Grundlagen und des
ethischen Anspruchs der Religionen hinaus und versucht, eher grundsätzlich die religiöse Dimension menschlichen Lebens zur Sprache zu bringen. Zielsetzung ist insofern weniger die Begegnung
mit konkreten Erscheinungsformen der Religionen, vielmehr ein Zugang zu Religiosität, der durch
die Religionen in unterschiedlicher Weise eröffnet wird, aber nicht nur durch sie.
2.) Dafür ist es zweitens notwendig, die Frage nach Religiosität in die Frage grundlegender
Orientierung menschlichen Lebens einzubinden. Dabei geht es wiederum weniger um Erschließung alltäglicher menschlicher Befindlichkeiten, sondern um die Frage nach ihrer Tiefendimension und der Letztorientierung menschlichen Lebens. Darum steht im Zentrum des Kapitels die
Frage nach Sinn. Zielsetzung ist von daher eine Sensibilität für die über unsere aktuelle Befindlichkeit hinausgreifende und für sie Orientierung bietende Dimension. Hinsichtlich des gesamten
Buchtitels „Ich bin gefragt“ bedeutet das eine Öffnung für eine uns tragende Dimension, aus der
heraus ich gefragt bin, also mich im Anspruch des Gefragtseins zu verstehen.
3.) Drittens geschieht beides, die Frage nach Sinn wie die nach Religiosität in Perspektive
heutiger und jugendlicher Lebenswelt. Nach Sinn wie nach Religion kann ich nur fragen, wenn
und nach Orientierungen für sich und ihr Leben in der Welt, in der sie leben. Weltanschauungen
stellen demgegenüber schon Antworten bereit für einen der Welt, in der wir leben, unterstellten
Gesamtsinn; sie können uns zugleich Orientierung für unser Leben bieten und gehen dann über in
Lebensanschauungen, die uns zu Leben helfen; der dabei unterstellte Gesamtsinn meint dabei nicht
notwendig, dass alles letztlich Sinn mache; vielmehr können damit auch Tendenzen bezeichnet
sein, die allgemein zur Sinnfrage führen, möglicherweise auch die Auffassung, ein Sinn sei letztlich nicht vorhanden (in der Bedeutung, dass alles letztlich keinen Sinn mache). Religiosität
schließlich bezeichnet
17
Zu den Fragen der Konfessionalität einerseits, der Bekenntnisneutralität andererseits vgl. unten die
konzeptionellen Kapitel 5-3 und 5-4.
18
Ich bin gefragt. Ethik [bzw.LER] 9/10. Berlin: Volk und Wissen 2000 (Petermann 2000b).
19
Lehrerband Ich bin gefragt Ethik 9/10. Berlin: Volk und Wissen 2002, vorauss. S. 134ff. – Die o.a.
Erläuterungen stellen einen von mir ausführlicher kommentierten Vorschlag dar, der aufgrund der
Gesamtperspektive des Unterrichtswerks wie auch der Länge in redaktionell veränderter Form
erscheinen wird. – Ich veröffentliche meinen Vorschlag an dieser Stelle, um damit ein Beispiel für
meine These eines religiös sensibilisierenden Unterrichts in Religion zu liefern, von der dieser
Vorschlag getragen ist.
134
1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen
stets auch ich selbst gefragt bin; so kommt die eher subjektive Seite des gesamten Ethik-Werks zur
Sprache.
Unter diesen Perspektiven lernen die Schüler/innen im vorliegenden Kapitel
- ihr eigenes Leben unter der Perspektive der Suche nach Sinn und Religiosität zu verstehen,
- warum die Religionen der Welt in dieser Frage nach Sinn begründet sind,
- wie die Frage nach Sinn und Religiosität (in verschiedener Weise) zur Sprache und zur
Reflexion zu bringen ist,
- warum die Suche nach Sinn scheitern kann oder an Grenzen gerät.
Dieser Lernprozess wird unter dem erfahrungsorientiert formulierten Titel „Spurensuche“ zum
Thema gemacht.
Diese Zielsetzungen beruhen auf folgenden didaktischen Grundüberlegungen:
Spuren sind zu suchen, gar zu finden nur durch Nachspüren. Bloße Informationen reichen nicht,
man muss sie auch nachempfinden, um ihre Verläufe, gar ihre Orientierungsleistung verstehen
und deuten zu können. Mehr vielleicht als in den anderen Kapiteln des Buches ist hier darum die
Bereitschaft verlangt, sich auf Phänomene oder Verhältnisse auch einzulassen (weswegen man sie
sich nicht sofort zu eigen machen muss.) Das sei ausdrücklich auch für das Phänomen des
Religiösen betont, das hier im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht.
Bereits das Schülerbuch 5/6 stellte klar: Weltanschauliche Neutralität darf nicht mit Gleichgültigkeit verwechselt werden. Gerade im Bereich des Religiösen aber versteht vom Thema nichts, wer
es bloß neutral zur Kenntnis nimmt. Auch das Fach Philosophie/Ethik hat die Aufgabe, mit dem
Religiösen als wesentlicher Dimension von Menschsein vertraut zu machen, Formen zur
Verfügung zu stellen, Religiosität verstehen und reflektieren zu können, und Räume zu öffnen für je
persönliche verantwortete Sinn-Entscheidungen. Insofern stellt sich der Philosophie- und EthikUnterricht in Deutschland gemeinsam mit dem Religionsunterricht vor aller konfessioneller
Differenzierung der Aufgabe grundsätzlicher religiöser Bildung, auf die nach Art.4 u.7 GG alle
20
Menschen ein Recht haben.
Diese didaktische Grundüberlegung hat unterrichtsmethodische Konsequenzen: Kein Text oder
Bild ist schlicht als Information zu verstehen, sondern bedarf eines „Eintauchens“ in die Eigenart
seiner Erfahrung und Sprache. Das auf 34 Seiten komprimiert gebotene Material stellt daher
Impulse vor, Herausforderungen zu vertiefenden, weiterführenden und vor allem auch am Eigenen
sich brechenden Erfahrungen. Nicht alles kann dabei als kognitives Ergebnis festgehalten werden,
der Unterricht sollte Raum bieten für persönliche Berührungen durch das Material, ergänzt durch
den Reichtum religiöser Texte aus den angesprochenen Traditionen, durch künstlerische
Manifestationen oder durch filmische Dokumente, die religiösen Vollzügen oder Sinnsuchbewegungen nachspüren.
Verschriftlichungen müssen dabei einen anderen Charakter haben als Ergebnisse festzuhalten; im
Sinne eines Lerntagebuchs können auch Formen des Berührtseins, der Herausforderung, der
Irritation festgehalten werden, die sich im „Lern“-Prozess ergeben haben. Zu bewerten ist dabei
weniger nach dem Muster „richtig/falsch“, wichtig ist vielmehr, die Äußerung der Auseinandersetzung möglichst vielfältig zu fördern, um kritikfähig, das heißt sehend, urteilend, entscheidend
gegenüber den vor allem religiös tradierten Sinnsuchbewegungen zu werden.
20
Zur weiteren Begründung dieser These vgl. meine Einlassungen auf das LER-Konzept im Kapitel
5-3 sowie grundlegend das Kapitel 1-2.
1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen
135
Von diesen Grundüberlegungen her ist es sicher interessant, sich auch den Aufbau, die innere
21
Komposition des Kapitels anzuschauen :
• Die Auftaktdoppelseite eröffnet über eine Collage eher affektiv mit wenigen visuellen Mitteln
(Treppen, Stufen, „Sinn“-Faden/Knäuel, Auf und Ab, Raum-Grenzen) elementare Dimensionen von Sinnsuche.
• Das einführende Unterkapitel „Mensch fragen nach Sinn“ (S.134-137) liefert lebensnah und
an jugendlicher Lebenswelt orientiert Anstöße, wie, bei welchen Gelegenheiten und warum
Menschen die Sinnfrage stellen. Entscheidend ist dabei die Verortung der Sinnfrage im Alltäglichen, das in zufälligen „Rissen“ zur Frage wird
• „Sich selbst zur Frage werden“ (SB, S.138-141) entfaltet darüber hinaus wesentliche
Richtungen und Kategorien der Sinnfrage; es geht um Erfahrungen von Grenze (hier zum
Thema Liebe), von Abgründigkeit, von Existenz, Möglichkeiten und Grenzen der sprachlichen
Reflexion und von Freiheit, und zwar über literarische wie philosophische Texte.
• 10 Seiten (SB, S.142-151) sind der Sinnsuche „in Judentum, Christentum und Islam“
gewidmet. Diese drei Religionen sind bei uns mehr als alle anderen geschichtsmächtig
geworden (Lehrer-Band 5/6, S.91). In vier Schritten werden die Schüler/innen geleitet, in ihnen
Sinn-Spuren zu finden:
- Zunächst wird als Leitmotiv für alle Religionen die menschliche Suche nach Mehr, nach
Mitte und nach Orientierung herausgearbeitet (SB, S.142-143), zu Beginn über einen
22
Kinderbuch-Text (Sendak), dann über die Gestalt des Abraham , schließlich über das
Sinn-Symbol des Labyrinths. Insofern die Frage sich hier konzentriert darauf richtet, was
eigentlich einen religiösen Menschen ausmacht, findet man hier das Sinnzentrum des
gesamten Kapitels.
- Mit persönlichen Zeugnissen zweier Glaubensgestalten (Dietrich Bonhoeffer aus christlicher, der Sufi Ruma aus islamischer Perspektive) wird sodann die erste elementare Frage
der abrahamitischen Religionen aufgeworfen: „Wer bin ich eigentlich?“ (SB, S. 144-145).
- Der dritten elementaren religiösen Frage: „Worauf dürfen wir hoffen?“ sind die Folgeseiten gewidmet (SB, S. 146-147), exemplarisch über eine erfahrungsorientierte Aufarbeitung der christlichern Ostergeschichte aus heutiger Sicht .
- Schließlich werden auf 4 Seiten wichtige Dimensionen der zweiten elementaren Frage der
drei Religionen entfaltet: „Was sollen wir tun?“ (SB, S.148-151). Exemplarisch kommt
dabei die Ethik des Juden Schalom Ben-Chorin zur Sprache, die politische Entscheidung
des Christen Dietrich Bonhoeffer und eine Menschenrechtserklärung aus islamischer Sicht.
Am Ende wird die Vision eines alle Menschen verbindenden Weltethos ins Spiel gebracht.
• Die „Antworten ostasiatischer Religionen“ (SB, S.152-157) greifen die metaphysische wie
weltanschauliche Sinn- und Orientierungssuche in Hinduismus, Buddhismus, Taoismus und
21
Auch hier greife ich auf meinen Vorschlag für den Lehrerband zurück, ergänzt durch kleinere
Kommentare zur Veranschaulichung der hier nicht vorliegenden Texte und Bilder. – Zur Genese
dieses Kapitels ist zu sagen, dass es von mir gemeinsam mit Maria Greifenberg und Matthias Hahn
verfasst wurde; die vor allem bildnerische Ausgestaltung und Layoutierung lag in Händen der
Verlagsredaktion. Jeder von uns war für klar umrissene Unterkapitel verantwortlich. Da die
Gesamtanlage auf ein von mir eingebrachtes Strukturgitter zurückging, hatte ich auch die Aufgabe
einer redaktionellen Gesamtübersicht.
22
Zur Ausführung vgl. oben die Anmerkungen zum biografischen Lernen.
136
1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen
Konfuzianismus auf. Die Einführung in diese Sinnsuch-Bewegung wird hier verbunden mit dem
Ziel, auch einige Grundaussagen dieser Religionen kennen zu lernen.
• Mit der ausdrücklich nichtreligiösen Sinnsuche des Humanismus können sich die
Schüler/innen auf der folgenden Doppelseite auseinandersetzen (SB, S.158-159).
• Das Unterkapitel „Spurensuche – im Sande verlaufen“ (SB, S.160-161) artikuliert dagegen
Skepsis, Grenzen, Ohnmacht und auch Scheitern in der Suche nach Sinn.
• Die Besinnung auf das kulturelle Erbe unserer Vorfahren (SB, S. 162-163) verdeutlicht einerseits, dass Menschen immer schon nach Sinn gesucht haben, andererseits, dass die Auseinandersetzung mit Geschichte eine ganz eigene identitätsstiftende Dimension von Sinn-Suche
und –Findung darstellt.
• Auf der Ideendoppelseite (SB, S. 164-165) springt das Schild „Das Leben ist eine Baustelle“
ins Auge. Damit wird die bisherige Suchbewegung erweitert um das Thema „individuelle
Sinnsuche in pluraler Welt“; die Schüler/innen werden im Sinne des Titels „Ich bin gefragt“
zur persönlich betreffenden Auseinandersetzung mit der Frage nach Sinn und Religiosität
herausgefordert.
Diese Übersicht verdeutlicht ein in meinen Augen klar erkennbares Konzept aufbauenden Lernens,
ausgehend a) von einer erfahrungsorientierten, mit biografischen Elementen gesättigten Sensibilisierung für die Frage nach Sinn und Religiosität zunächst b) zu einer vertiefenden Einsicht in die
Dimension der Sinnfrage, in der die Frage nach einer angemessenen Sprache eine zentrale Rolle
spielt, aus der heraus dann c) der Sinn von Religiosität ins Spiel gebracht wird, welcher den
Schlüssel bietet, d) eher religionskundlich Elementares über Menschenbild, Ethik und Hoffnungen
der Religionen in Erfahrung zu bringen, um schließlich e) Anregungen und Orientierungen zu
geben, wie die Frage nach Sinn und Religion ins eigene Leben einzubinden wäre.
Dieser Aufbau kann, meine ich, in deutlicher Parallele zu meiner einleitend zu diesem Kapitel
formulierten didaktischen These gelesen werden. Ich habe aus diesem Grund die Schlüsselbegriffe
kursiv gesetzt.
(1.3) Konkreter zur Entfaltung bestimmter Erfahrungen oder Personen geht es dann
um die Entwicklung sog. Letztfragen, die ich besser elementare Fragen nennen
will23, weil sie als Fragen ihren Sinn weniger darin haben, andere Fragen in ihrer
Dimension zu übersteigen, sondern grundzulegen.
Vier Fragen sind es vor allem, die in ihrer Elementarität alle anderen auch alltäglichen Fragen
nach Ich und Welt und einem Gesamtsinn erschließen und stellen helfen: Wer bin ich? - Woher
komme ich? - Was soll ich tun? - Wohin gehe ich? Sie sind auffälligerweise allen großen
Religionen gemeinsam.
Zunächst einmal käme es darauf an, diese Fragen auch philosophisch zu formulieren, um zu
verstehen, was es eigentlich ist, dass wir sie stellen:
(1) Wer bin ich? Besser: Was ist es eigentlich, dass ich der bin, der ich bin? Und das setzt dann
voraus: Was ist es, dass ich mir zur Frage werde?
23
Vgl. dazu den Schlussabschnitt des Kapitels 1-2 sowie meine genauere Erläuterung von
Elementarität im Abschnitt 2 des Kapitels 3.
1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen
137
(2) Woher komme ich? Oder: Worin hat mein Leben seinen Grund? Auch hier gilt als Voraussetzung: Was ist es, dass in der Frage nach mir selbst mir der Grund meiner selbst zur Frage wird?
(3) Was soll ich tun? Oder: Woher erfahre ich Orientierung für die Lebensführung, für mich, mit
anderen, in der Natur? Und wiederum genauer: Was ist es, dass ich nach Orientierung suche,
wenn ich leben will?
(4) Wohin gehe ich? Hier zunächst grundlegend: Was ist es, dass ich über mein Leben hinausgreife, hoffe? Erst daraus macht die konkretere Frage Sinn: Gibt es eine Hoffnung über den
Tod hinaus? Und: Wie kann ich angesichts der Notwendigkeit endlichen Lebens mit Krankheit,
Versagen, Schuld, Endlichkeit umgehen?
Mit diesen Elementarfragen haben wir ein differenziertes Schema in der Hand, mit der sich die
eben genannten religiösen Erfahrungen, die biografisch zur Sprache gekommen sind, genauer
erschließen lassen.24
(1.4) Die grundsätzliche Forderung nach Erfahrungs-Lernen25 kann an dieser Stelle
nur wiederholt, nicht weiter erläutert werden. Gewiss hat gerade in diesem Zusammenhang die Philosophiedidaktik auch die entsprechenden Stile und Methoden von
Lehren und Lernen zu entwickeln.
Ohne die mitunter strittig diskutierte Frage zu entfalten, wie man besser Philosophie lerne, über
das Kennenlernen des Systems und der Positionen der Philosophie oder über das eigene Philosophieren, darf in didaktischer Hinsicht grundsätzlich mit Kant festgehalten werden, dass „sich
überhaupt keiner einen Philosophen nennen (kann), der nicht philosophieren kann. Philosophieren
lässt sich aber nur durch Übung und selbsteigenen Gebrauch der Vernunft lernen.“26
Bis in die Bildungspläne hinein (Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern) ist es inzwischen üblich geworden, diese Anweisung zum Philosophieren ebenfalls mit Kant als didaktische
„Vorschriften“ zu entfalten, wir würden vielleicht eher sagen Maximen, um zum ureigenen
„praktischen Gebrauch der Vernunft“ zu gelangen: „1) Selbstdenken, 2) sich (in der Mitteilung mit
Menschen) an die Stelle des anderen zu denken, 3) jederzeit mit sich selbst einstimmig zu
denken“.27
24
Vgl. dazu die im Punkt zuvor ausführlich erläuterte Erkundung der drei abrahamitischen
Religionen in dem Werk „Ich bin gefragt“ nach eben diesen Fragen.
25
In religionspädagogischer Perspektive dazu grundlegend: Jürgen Werbick: Glaubenlernen aus
Erfahrung. Grundbegriffe einer Didaktik des Glaubens, München: Kösel 1989. - Aus religionswissenschaftlicher Sicht vgl. Brunotte 1995, aus philosophiedidaktischer Sicht Breun 1994 u.1997.
Zur Erläuterung des für die vorliegende Arbeit tragenden Begriffs der Erfahrung vgl. auch oben
den Abschnitt (2) der Einleitung zu dieser Arbeit.
Der erfahrungsorientierte Zugang zum Phänomen der Religion hat natürlich eine längere Tradition
durch die Entwicklung der religionswissenschaftlichen Sicht auf Religion (vgl. dazu oben Kapitel
1-3, Abschnitt 2). Insbesondere auf die grundlegende Arbeit von William James (1901) sollte an
dieser Stelle nochmals ausdrücklich verwiesen werden.
26
Kant: Logik (1800), Einleitung A 26; in: Werke Bd.III, S.448.
27
Kant: Anthropologie (1798), 122, in: Werke Bd.VI, S.511.
138
1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen
Ich selbst habe in meinen Seminaren und auf Vorträgen versucht, diese Einteilung durch eine
weitere vorgelagerte Maxime zu ergänzen und zu präzisieren und schlage unter dem Titel
„Deutekompetenzen“ vier Ebenen vor:
empirisch-diagostische Kompetenz: Lebenswelt differenziert zur Erfahrung bringen,
autonoetische Kompetenz: selber denken,
dialogisch-kritische Kompetenz: sich an die Stelle des anderen denken,
logisch-reflexive Kompetenz: mit sich einstimmig denken.
In Orientierung an diesen Maximen sind für den Philosophieunterricht (nicht nur hinsichtlich des
Themas Religion) auch oberflächlich eher atmosphärisch-pädagogisch anmutende Bedingungen
wichtig wie:
den Schülern durch den Unterricht ein Forum bieten, dass sie sich zunächst einmal auch
sich selbst ernst nehmen können,
ihnen einen Raum zur Auseinandersetzung bieten, das heißt sowohl Anforderungen stellen,
wie Lernen als Prozess und Weg anbieten, zu Kritik und Streitgespräch herausfordern,
Strukturen und Verhaltensweisen des Lernens bewusst machen,
Tiefe zum Thema machen, also auch Brechungen zulassen, ja einbinden in die
Auseinandersetzung, an Grenzen führen und Suche gerade dadurch nachhaltig zu machen
(statt lediglich mit abfragbaren Ergebnissen zu arbeiten),
Kritikfähigkeit vermitteln als Weg zu bewusster Relativierung gegen indifferenten
Relativismus einerseits und zu rechter Entschiedenheit bzw. Entscheidungsfähigkeit gegen
unflexiblen Fundamentalismus und Dogmatismus.
Und schließlich ergibt sich, wenn es beim Thema Religion vorrangig und wesentlich um eine
Dimension menschlicher Erfahrung geht, die Einbeziehung affektiv-sinnlicher wie auch meditativer, den inneren Sinn betreffender Zugänge.28 Die Philosophie ist als Disziplin des Denkens ein
für diese Dimension nur scheinbar ungeeigneter Partner. Doch entsteht, ganz banal gesagt, in die
Tiefe gehendes Denken nie aus sich selbst, sondern hat, wie nicht zuletzt die Bewegung des Philosophierens mit Kindern deutlich gemacht hat29, seinen Anstoß in irritierenden Alltagserfahrungen,
die nicht selten ganz sinnlicher Natur sind. Erfahrungen, selbst Wahrnehmungserfahrungen
können insofern ein Schlüssel zu philosophischem Denken sein.30
(1.5) Die grundsätzliche Zielsetzung dieser ersten Ebene ist es, Religiosität als
wesentliche und originäre Dimension von Menschsein zu erschließen und damit
nicht zuletzt die den Religionen eigene Wahrheitsfrage wahrzunehmen.31
28
Zur Einbeziehung solcher Ebenen vgl. meine Vorschläge zu sog. präsentativem Unterrichten, wie
ich sie in den Unterrichtsimpulsen in den Kapiteln 4-1, 4-2, 4-3 und 4-5 vorlege.
29
Vgl. dazu die historische wie systematische Skizze zur Bewegung des Philosophierens mit
Kindern im Kapitel 3.
30
Vgl. dazu bereits Aristoteles, Metaphysik I.1 (980a). Aus dem Bereich des Philosophierens mit
Kindern kann für wahrnehmungsorientierte Erfahrungsübungen verwiesen werden auf Zoller
(1995) sowie die anregende Sammlungs von Erfahrungsgeschichten von Schreier (1993).
31
Zur Begründung vgl. oben das Kapitel 1-3.
1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen
139
ad (2) religiöse Sprachlehre
(2.1) Grundsätzlich ist hier zunächst zu sagen: Wenn die Wahrheit der einzelnen
Religionen ernstgenommen werden soll, gehört dazu die Fähigkeit, sich diese
vernünftig und das heißt kritisch erschließen zu können. Der entscheidende Weg
dazu aber ist die Fähigkeit zur sprachlichen Reflexion bzw. der Reflexion auf die
Sprache. Das zu leisten, ist aber nicht nur eine der zentralen Aufgaben von Philosophie, sondern gleichsam ihr innerstes Selbstverständnis.
Hier kann nicht der Ort sein, einen Begriff von Philosophie zu entwickeln. Doch stets hat Philosophie zu tun nicht nur mit der tieferen Auseinandersetzung mit Gegenständen des Denkens,
sondern immer auch mit dem Denken dieses Denkens selbst. Oft wird als Organ dieses Denkens
die Vernunft genannt. Wichtig ist aber in didaktischer Hinsicht auch die Entwicklung von Techniken zur Entfaltung der Vernunft. Auf grundsätzlicher Ebene ist das der kritische Charakter der
Vernunft. Kritisch ist hier im vollen Wortsinn gemeint:
als Fähigkeit Stellung beziehen zu können,
als Fähigkeit Unterscheidungen vorzunehmen und zu differenzieren,
als Fähigkeit auf der Grundlage begründeter Unterscheidungen zu Entscheidungen zu
kommen,
als Fähigkeit getroffene Entscheidungen der Diskussion auszusetzen, um sie zu vertiefen,
zu revidieren oder zu entfalten. Das Instrument des Denkens ist dann weiterhin die Sprache, die zur Reflexion zu bringen ist. Für
die Didaktik bedeutet das, Sprachtechniken zu entwickeln wie beispielsweise
Erwerb von Sprachkultur als Voraussetzung dafür, sich überhaupt Kenntnisse aneignen und
mit ihnen umgehen zu können, zuvorderst die Fähigkeit, Fragen zu stellen, und als Fähigkeit auszulegen, Lebenskontexte, Traditionen, vor allem manifeste Texte und Werke der
Kunst;
und im besonderen Hinblick auf das Thema Religion:
Sprachfähigkeit aufbauen in dem Sinne, elementare und existentielle Fragen als solche
benennen und im Austausch differenzierter erfassen zu können;
dialogische und soziale Kompetenz erarbeiten, sich über solche Fragen mit anderen austauschen zu können;
reflexive Erfahrungsmuster, Begriffe und Kategorien zur Entzifferung der vielfältigen Sinnangebote kennen und unterscheidend anwenden lernen.
(2.2) Um überhaupt sich mit Religion auseinandersetzen zu können, besser:
Religion zur Sprache bringen zu können, ist es notwendig, sich auf die eigentümliche
religiöse Sprache einzulassen. Damit ist zugleich die wichtigste didaktische, ja die
grundlegende hermeneutische Anforderung für jede Auseinandersetzung mit
140
1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen
Religion benannt. Ohne die religiöse Sprache zu verstehen, verstehen wir von
Religion nahezu nichts, jedenfalls nicht das originär Religiöse.
Das gilt natürlich in gleicher Weise auch für andere Gegenstände möglicher Erfahrung. Für die
Sprache der Naturwissenschaften wird diese Voraussetzung ganz selbstverständlich anerkannt:
Mitreden kann nur, wer sich auf die spezifische Terminologie versteht, die Wirklichkeit bewusst
isoliert betrachtet. Auch für das Verstehen von Kunst, der bildende Kunst, der Musik, und mit
Abstrichen der Literatur, wird das Verstehen der je eigentümlichen Formensprache als notwendige
Voraussetzung akzeptiert. Die Religion hat es da schwerer, weil das Gefühl für das besondere
Symbolsystem des Religiösen, wohl nicht zuletzt aufgrund der von den Religionen selbst verursachten Säkularisierung, auch der Sprache, verloren gegangen ist, was dann leicht zur
Verwechslung von Glaubensaussagen mit (in naturwissenschaftlicher Sicht gesehenen) Wirklichkeitsaussagen u.ä. führt.32 Als auch didaktisch relevante Voraussetzung dafür kann die Einsicht
gelten, dass Religion keine andere Sprache spricht in dem Sinne, dass damit eine andere Wirklichkeit bezeichnet würde, sondern dass ihre Sprache Wirklichkeit vor allem anders erfasst als etwa
die weitgehend üblich gewordene Wissenschaftssprache.
Das wäre im einzelnen zu erläutern etwa durch folgende Differenzierungen33:
• Religiöse Sprache erfasst Wirklichkeit zunächst intensional, d.h. als Herangehensweise, und
nicht extensional, also bestimmte (andere) Wirklichkeiten ausmachend und bezeichnend.
• Auch religiöse Sprache hat stets das menschliche Verhältnis zu Wirklichkeit, hier religiöser
Wirklichkeit im Auge. Selbst Aussagen über Gott, über Götter, über Paradies oder ewige
Gerechtigkeit oder Wiedergeburt müssen stets gelesen werden als Aussagen über menschliche
und menschlich erfahrbare Wirklichkeit, sonst können sie nicht verstanden werden.
• Religiöse Sprache „weiß“ andererseits sehr wohl, dass sie über eigentümlich religiöse „Gegenstände“ wie Gott oder Auferstehung nicht extensional sprechen kann. Und doch hat sie
letztlich keinen anderen Zweck, als Rede über diese Gegenstände möglich zu machen, um sei
es als bloße Markierung, z.B. mittels privativer Negation. Das gilt insbesondere zu allen
Wirklichkeit sprengenden Aussagen über Gott. Hier liegt eine besonders schwierige, aber
entscheidende Ebene zum Verständnis religiöser Sprache.
• Eine besonderes Verhältnis zu Wirklichkeit hat religiöse Sprache entwickelt durch die Form
der Verdichtung, insbesondere für existentielle Erfahrungen. Solche Verdichtungen müssen
erkannt und je neu wieder in Erfahrung, auch heutige, aufgelöst werden, um Zugang zu ihrem
34
Sinn erhalten zu können.
• Konkretere Entfaltung wird eine religiöse Sprachlehre finden müssen in der Erschließung
konkreter religiöser Sprachformen. Insbesondere die Sprachformen der Metapher, des
32
Grundlegend zu einer entsprechend differenzierenden Verwendung der Sprache hat sich HansGeorg Gadamer geäußert, etwa in: Sprache und Verstehen (1970), in: GW Bd.2, 21990, 184-198.
33
Das Folgende kann in diesem Punkt sich mit Andeutungen begnügen, weil sich zu dem Thema
„Religiöse Sprache“ sowie den einzelnen hier angedeuteten Elementen mit den Kapiteln 2-2 in
grundlegender und 4-3 in unterrichtspraktisch entfaltender Hinsicht zwei ausführliche Ausformulierungen im Verlauf dieser Arbeit finden.
34
Insbesondere zu dieser Punkt findet sich konkrete Entfaltungen im Kapitel 4-2 sowie im Abschnitt
2.6 des Kapitel 4-3.
1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen
141
Symbols, des Gleichnisses, des Wunders, der Legende, aber auch des Glaubensbekenntnisses,
des Dogmas usf. müssen zuerst als Sprachformen erkannt werden, um überhaupt „verstanden“
werden zu können.
ad (3) Religionskunde
(3.1) Grundsätzlich ist festzuhalten, dass sich religionskundliche Phänomene, seien
es bestimmte religiöse Lebensanschauungen oder sichtbare religiöse Riten oder
religiöse Stätten oder Symbole, nur unter der Voraussetzung der zuvor genannten
Ebenen der Erfahrung und der Sprachlichkeit als religiöse erschließen; ansonsten
bleiben es bloß historisch, sozial oder psychologisch interessante Phänomene.
In dieser Perspektive ist es interessant, Schulbücher darauf zu überprüfen, inwieweit es ihnen
gelingt, sog. religiöse Grundkenntnisse tatsächlich so zu thematisieren, dass auch ihr jeweiliger
religiöser Charakter deutlich wird. Das ist eine keineswegs banale Forderung, weil nur zu selbstverständlich einem als religiös angesehenen Phänomen oder Akt Religiosität unterstellt wird. Das
wird aber erst deutlich, wenn es gelingt, in ihm die oben im Kapitel 1-3 erläuterten Elemente der
menschlichen Erfahrung, der heiligen Wirklichkeit, der Erlebnisstruktur, des existentiellen
Bestimmtseins und der Herausforderung zu antwortendem Handeln freizulegen. Das aber
geschieht nicht nur in Ethik-Büchern nicht immer, auch in Religionsbüchern wird diese Komplikation nicht immer genügend bedacht.
In philosophiedidaktischer Perspektive verweise ich diesbezüglich auf das oben unter Punkt (1)
genauer vorgestellte Konzept des Sinn-Kapitels im Ethik-Buch „Ich bin gefragt“. Auch Teile des
unterrichtsbezogenen Modells im Kapitel 4-5 (vgl. die Punkte 2.4 und 2.6) sind unter dieser
Perspektive zu lesen.
Zur exemplarischen Verdeutlichung kann ich an dieser Stelle auf meine didaktische Aufbereitung
der Kenntnisnahme des sog. „edlen achtfachen Pfad“ im Buddhismus im gleichen Werk verweisen.
Er wird im Schulbuch nur kurz genannt: „rechte Sicht (1), rechtes Wollen (2), rechte Rede (3),
rechtes Handeln (4), rechter Lebenswandel (5), rechte Anstrengung (6), rechte Achtsamkeit (7),
35
rechte Sammlung/ Versenkung/Meditation (8)“. – Für den Lehrerband wird dazu folgende
36
Arbeitsanweisung vorgeschlagen und kurz kommentiert: „Die Schüler/innen konzentrieren sich
gesondert auf den „edlen achtfachen Pfad“ der „vierten Wahrheit“: Überlegt a) worin genauer
die Anweisung der einzelnen „Pfade“ bestehen könnten. [Als Hintergrund empfiehlt sich ein Blick
in Quellentexte, z.B. in: Glasenapp (Hg.): Pfad zur Erleuchtung. Buddhistische Grundtexte.
Düsseldorf: Diederichs 1956, S.92ff]; - b) was zu tun ist, um sie zu gehen; c) warum sie gerade in
dieser Reihenfolge stehen [Hinweis: die Tradition unterteilt sie in die Gruppe der „Erkenntnis“
(1,2), der „Zucht“ (3,4,5) und der „Versenkung“ (6,7,8)], warum also (1) seine Vollendung in (8)
35
Dieser Text findet sich auf Seite 154 des Bandes „Ich bin gefragt. Ethik [bzw.LER] 9/10. Berlin:
Volk und Wissen 2000“ (Petermann 2000b).
36
Wie im oben erwähnten Beispiel bietet dieser Text meinen noch zu redigierenden Vorschlag für
den „Lehrerband Ich bin gefragt Ethik 9/10. Berlin: Volk und Wissen 2002“ vorauss. S. 154.
142
1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen
hat, (8) aber nicht ohne die vorangegangenen Pfade erlangt werden kann.“ - Dieser Vorschlag
lässt sich zudem verbinden mit der Auseinandersetzung mit den anderen auf dieser Schulbuchseite
in Kürze gegebenen „Informationen“: eine Skizze der legendarischen Überlieferung von
Siddhartas sog. Erleuchtung sowie je ein Foto eines Zen-Gartens in Kyoto und der Buddha-Statue
von Kamakura. Natürlich wäre es unzureichend, die einzelnen Materialien hier schlicht zur
Kenntnis zu nehmen in dem Sinne von „Im Buddhismus gibt es...“. Vielmehr lassen sie sich
erfahrungsdimensioniert, nach dem jeweiligen Sinn fragend, auch auseinander erschließen: So
veranschaulichen die Fotos die Frage nach dem Sinn der acht Pfade, die Einlassung auf den achtfachen Pfad hilft umgekehrt, die auf den ersten Blick möglicherweise irritierende Anlage eines
Steingartens einzusehen.
Für den Religionsunterricht (aber nicht nur für ihn, da sich hier Teile durchaus auch im Ethikunterricht verwenden lassen) biete ich im Rahmen der vorliegenden Arbeit dazu Modelle an in den
Kapiteln 4-2 zum Thema Jüngerberufung, sowie im Kapitel 4-3, wenn es unter der Perspektive
„Bibelkunde“ gelesen wird.
(3.2) Die Vermittlung detaillierter religionskundlicher Phänomene, deren
Grundkenntnis ja immerhin ein notwendiges Element in der Lehrerausbildung
darstellt, sprengt die Möglichkeiten, aber auch die Aufgaben der Philosophiedidaktik. Sie ist hier angewiesen auf die Kooperation mit Theologie und Religionswissenschaft.37
(3.3) Lediglich auf der Ebene der Strukturierung der unterschiedlichen Inhalte
könnte die Philosophiedidaktik einen eigenen Beitrag leisten, indem sie nach Ort und
nach Formprinzip eines religiösen Phänomens innerhalb eines wie oben im Abschnitt
5 des Kapitels 1-3 erläuterten Koordinatensystems von Ebenen des Religiösen.
Insbesondere ginge es dabei um die rechte Einordnung und wechselseitige
Erschließung der Ebenen
- religiöser Lebens- und Weltanschauungen; dabei scheinen mir drei Felder
elementar zu sein, mit denen sich wohl jedes religiöse System auseinandersetzt: (1) das Menschenbild, (2) die Ethik bzw. der Bezug zur Lebens- und
Weltgestaltung38, (3) die Frage nach Transzendenz39;
37
Aus diesem Grunde wird auch dieser Punkt (3) zur Religionskunde im Rahmen der vorliegenden
Arbeit nicht weiter ausgeführt, sondern nur prinzipiell angedacht.
38
In diesem Zusammenhang wird klar, dass es entstellend, die religiöse Frage der Religionen ausklammernd ist, wenn die Auseinandersetzung mit Religion aus ethikunterrichtlicher Sicht reduziert
wird auf Aussagen zur Ethik und Lebensführung. Vgl. dazu aber auch meine Kritik gegenüber
einer religiösen Sonderethik in Kapitel 1-2, Abschnitt 2.
39
Nach diesem Muster führt die Sinn- und Religions-Einheit des Ethikbuchs „Ich bin gefragt“
(Petermann 2000b), wie oben unter Punkt (1) dieses Kapitels ausführlich vorgestellt, in die sog.
Welt- und Lebensanschauungen der abrahamitischen wie auch der ostasiatischen Religionen ein.
Ergänzend zu dieser Vorstellung sei an dieser Stelle exemplarisch auf den Taoismus verwiesen:
1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen
143
- des Kultus, der Riten, der religiösen Feiern, des Gebets, kurz der religiösen
Akte, durch die religiöse Anschauungen am unmittelbarsten fassbar werden40;
- sprachlicher und auch sichtbarer religiöser Symbole (in einem weiten Sinne,
also auch Chiffren), wozu nicht zuletzt auch bestimmte Gottesbilder oder
Götter gehören;
- gesondert davon religiöser Orte, Stätten, aber auch religiöser (Kunst-) Werke41;
- einen besonderen und ausgezeichneten Rang nehmen religiöse Texte ein, insbesondere, wenn sie als heilige Schriften das grundlegende Zeugnis einer
Religion zu sein beanspruchen;42 dass die Kenntnisnahme religiöser Texte sich
nicht mit ihren Sachaussagen oder über Inhaltsangaben erledigt, sondern die
Erfahrung der je eigenen Sprachlichkeit einschließt, ergibt sich aus dem
bislang Erörterten, sollte an dieser Stelle aber besonders betont werden;43
- schließlich die Dimension der Geschichte einer Religion bzw. einer religiösen
Bewegung, über die Religion sich erschließen kann.
Mit Auszügen aus vier Strophen des Tao-Te-King wird hier, dem inneren Anspruch des Taoismus
entsprechend, zunächst mit der alles Leben und alle Welt tragenden Ur-Einheit die Dimension der
Transzendenz zur Sprache gebracht; dann folgt eine Strophe mit Thematisierung des eher auf Stille
und Rückkehr zur Wurzel angelegten Menschenbilds; die dritte Strophe bietet eine komprimierte
Einführung in die taoistische Ethik, während die vierte mit dem Begriff des „Tao“ die innere
Einheit dieser Religion zum Inhalt hat.
40
Wie beispielsweise über die Erschließung eines Gebets der Zugang zu einer religiösen Tradition
vermittelt werden kann, verdeutliche ich im Kapitel 4-3 am Beispiel des Psalm 119.
41
Vgl. dazu in Ergänzung zu der eben exemplarisch skizzierten Erschließung des Buddhismus mein
Arbeitsvorschlag für einen Zugang zum Foto der Buddha-Statue von Kamakura (s.o. Anm. 34):
„Was fällt auf an der Haltung des Buddha? Achtet besonders auf seine Handhaltung, den Wurf des
Gewandes, den Blick! Stellt euch vor, ihr stündet morgens unmittelbar vor dieser von der
aufgehenden Sonne beschienenen Kolossalstatue; wie wäre euer Eindruck?“ (Vorschlag für den
Lehrerband Ich bin gefragt Ethik 9/10. Berlin: Volk und Wissen 2002, vorauss. S.154).
Als weitere Beispiel verweise ich auf die Arbeit mit dem Bild des Gerichtsengels am Ende von
Kapitel 4-5 und natürlich die ausführlicher dargestellte Skizze zu dem Berufungsbild von Duccio
di Buoninsegna im Kapitel 4-2, aber auch das Kapitel 4-1 zur Frage nach Religion und Gott im
Bilderbuch.
42
Die mündliche Weitergabe religiöser Traditionen wird deshalb nicht extra erwähnt, weil sie heute
i.d.R. bereits schriftlich fixiert ist oder zumindest als ritualisierte Erzählung phänomenal fassbar
ist.
43
Auch das hat erhebliche didaktische Auswirkungen: Wie können z.B. Texte des Koran in ihrem
religiösen Gehalt zur Darstellung kommen, wenn man es bei der Darstellung von Aussagen zu
sozialen, moralischen oder politischen Themen belässt und nicht auf einer ganz anderen Ebene
seinen Anspruch eines ästhetischen Erlebens wahrzunehmen in der Lage ist? Vgl. dazu exemplarisch das umfangreiche Buch von Navid Kermani: Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des
Koran. München: Beck 1999. (Als Unterrichtsmaterial wird dieser Zugang von mir aufbereitet im
Abschnitt 2.2 des Kapitels 4-3.) Natürlich ist eine solche Fragestellung entsprechend auf die
Auseinandersetzung mit heiligen Texten anderer Religionen zu übertragen.
144
1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen
ad (4) religiöse Orientierung
(4.1) Wenn Unterricht in Religion zur Orientierung beitragen soll, ist das eine
gefährliche Forderung, die unmittelbar mit dem verfassungsrechtlichen Aufschrei
rechnen muss, im Kontext allgemeinverbindlicher schulischer Bildung könne und
dürfe es nicht um religiöse Unterweisung gehen. Doch ist die in diesem Zusammenhang gern zitierte Bekenntnis-Neutralität des demokratischen Staates nicht zu
verwechseln mit Bekenntnis-Irrelevanz. Natürlich hat sich ein Staat in einer plural
verfassten Gesellschaft insofern bekenntnisneutral zu verhalten, als er nicht ein
bestimmtes Bekenntnis bevorzugen oder gar sich selbst mit einem bestimmten
Bekenntnis identifizieren darf; damit vollzieht er eine der elementaren Errungenschaften der Moderne: die Abkoppelung des Politischen von vorgegebenen religiösmoralischen Strukturen; und das gilt natürlich auch für jede vom Staat verantwortete
allgemeine Bildung. Doch ereignet sich weder Staat, noch Gesellschaft, noch auch
Bildung in einem religiös oder moralisch neutralen Raum. Im Gegenteil ist gerade
der von besonderer religiöser Begründung entkoppelte Staat darauf angewiesen, dass
Räume eingerichtet sind, in denen diese Begründung, nun freilich in einer reflektierenden und orientierenden, nicht mehr oktroyierenden Weise zur Sprache gebracht
werden. Der deutsche Staat hat daher ganz konsequent die Institution des Religionsunterrichts grundgesetzlich verankert und überträgt damit nicht zuletzt die Erörterung
der eigenen Grundlagen den Religionsgemeinschaften als gesellschaftlich tragenden
Kräften.44 In Zeiten, in denen diese den Status tragender und allgemeinverbindlicher
Kräfte verloren haben, ist eine solche Aufgabenübertragung als Prinzip natürlich
nicht erledigt.45
(4.2) Unabhängig von der in der Tat schwierigen Frage der Trägerschaft ist für die
Inhalte hier aus religionspädagogischen Überlegungen zum Problem der Konfessionalität zu lernen: So wie konfessionelle Prägung nicht notwendig Unterweisung in
den Grundlagen einer bestimmten Konfession bedeutet, sondern mit gutem Sinn die
44
Das vielfach zitierte Wort von Ernst-Wolfgang Böckenförde, „der freiheitliche, säkularisierte Staat
lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“ (E.W.Böckenförde: Die
Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation [1967], in: Recht, Staat, Freiheit. Studien
zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt: Suhrkamp 1991,
S.112) hat hierin seine Begründung. B. führt in seinem Aufsatz aus, dass der heutige Staat eben
nicht mehr die Religion „die tiefste Bindungskraft für die politische Ordnung und das staatliche
Leben“ biete (S.111), dass aber ein ersatzweiser Rekurs auf sog allgemeinverbindliche Werte „ein
höchst dürftiger und auch gefährlicher Ersatz“ sei (S.112). Vgl. dazu auch oben das Kapitel 1-2.
45
Zu den Problemen, die in diesem Zusammenhang aus dem in Brandenburg eingerichteten LERModell entstehen, wird genauer informiert im Kapitel 5-3.
1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen
145
Vermittlung der Fähigkeit zu je subjektiver konfessioneller Entscheidung meint46, so
meint religiöse Orientierung aus Sicht der Philosophie die Fähigkeit, Religiosität als
Dimension von Menschsein wahrnehmen zu können, Formen religiöser Äußerung
und Gestaltung verstehen und beurteilen zu können, sowie zu Möglichkeiten eigener
Religiosität Wege vermittelt zu bekommen. Eine solche orientierende Auseinandersetzung mit Religion sollte und kann m.E. auch die Philosophie und auch ein philosophisch dimensionierter Ethikunterricht uns nicht ersparen.47
46
Ich selbst habe aus diesem Grunde auch für einen kirchlich getragenen Religionsunterricht
plädiert, der unter Anerkennung zunehmender Marginalisierung konfessioneller Sozialisation (s.o.
Kapitel 1-1) seine erste Aufgabe nicht darin sieht, Schüler in ihrer konfessionellen Beheimatung
zu bestärken und insofern - kontrafaktisch - die Konfessionalität der Schüler als drittes Element
der konfessionellen Trias (neben der Konfessionalität von Lehrplan und der von Lehrkräften)
vorauszusetzen, - ein solcher Unterricht hat seinen Ort m.E. nicht in der öffentlich institutionalisierten Bildung, sondern in der gemeindlichen Katechese -, sondern darin, Schülern den Sinn einer
konfessionellen Entscheidung zur Erfahrung zu bringen und insofern von seinen Inhalten wie von
seiner Methodik her konfessionabel zu sein. Insofern würde auch der kirchlich verantwortete
Religionsunterricht vor allem propädeutischen, d.h. vor allem Religiosität erschließenden und für
je persönliche konfessionelle Entscheidungen orientierenden Charakter tragen. [vgl. Petermann
1996 sowie das Kapitel 5-4 der vorliegenden Arbeit]. - Dieser Ansatz ist auf einen nicht mehr von
den Kirchen allein verantworteten allgemeinen Unterricht in Religion zu übertragen: Auch hier
kann und muss, denke ich, Religion so zur Sprache kommen können, dass Religiosität als
elementare Dimension von Menschsein (im Sinne der oben im Abschnitt 5 des Kapitels 1-3 entwickelten Ebene 1) zur Einsicht gebracht und von daher dann auch die Fähigkeit zu je persönlicher
konfessionell-religiöser Entscheidung vermittelt wird. Vgl. dazu auch die Vorschläge von
Schneider (1999), sowie Heiner Hastedt: Vorwort (mit Thesen zum schulischen Religions- und
Philosophieunterricht), in: Philosophie und Religion. Zukunft einer Fächergruppe. Hg. H.Hastedt.
Rost.Phil. Manuskripte H.5, Rostock: 1998, S.6.
47
Nicht einleuchtend erscheint mir in diesem Zusammenhang die Argumentation von Schleichert /
Seebaß/Stemmer (1997). Die Autoren ziehen einen falschen Graben zwischen religionswissenschaftlicher und philosophischer Orientierungen einerseits, der durch intellektuelle Distanz
gekennzeichnet sei, und dem kirchlichen Auftrag, „Glaubensinhalte als gültige Wahrheiten zu
unterrichten“ andererseits. Zunächst einmal kann es nicht Aufgabe staatlicher Organe sein, (und ist
es nach höchstrichterlicher Auffassung auch nicht), die Kirchen auf das festzulegen, was sie im
Rahmen des Grundgesetzes im Religionsunterricht zu unterrichten haben. So ist aber das hier
zitierte Urteil des BVerfG von 1987 (Bd.74, S.244f.) auch gar nicht zu verstehen: Zwar heißt es
hier wörtlich zum Religionsunterricht: „Sein Gegenstand ist vielmehr der Bekenntnisinhalt,
nämlich die Glaubenssätze der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Diese als bestehende
Wahrheiten zu vermitteln, ist seine Aufgabe.“ Doch erstens handelt es sich bei diesem Auftrag
nicht, wie nicht nur die Autoren falsch unterstellen, um ein „Privileg“ der Kirchen, sondern um
eine ihnen vom Staat subsidiär übertragene Aufgabe und Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit. Und zweitens meint, ebenfalls gegen die Auffassung der Autoren, „zur Sprache bringen“
von Glaubensinhalten mehr als bloß informierende Religionskunde, aber zugleich auch weniger
als direkte katechetische Glaubensunterweisung. Der Religionsunterricht, auch der kirchlich
verantwortete, hat keineswegs Glaubensunterweisung, sehr wohl aber Glaubensvermittlung zum
Gegenstand, in eben dem oben ausführlicher erläuterten Sinn, Religion und ihre existentiell beanspruchende Wahrheit zur Sprache zu bringen und so Orientierung zu leisten, nicht zuletzt auf eine
je persönlich zu treffende Glaubensentscheidung der Schüler hin. Darin aber trifft sich ein kirchlich verantworteter Religionsunterricht mit einem philosophisch ausgewiesenen Unterricht in
Religion, wie oben bereits am Ende des Abschnitts 2 von Kapitel 1-2 erläutert (vgl. auch die
dortige Anm. 48 zu Veraart 1998). Vgl. dazu auch die Auseinandersetzung von Wolf (1999), auf
die ich oben im gleichen Zusammenhang mit zwei Anmerkungen eingegangen bin.
146
1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen
(4.3) Daraus ergibt sich fast notwendig: Zur religiösen Orientierung gehört aus
Sicht der Philosophie auch die Religionskritik, freilich in dem eben beschriebenen
weiten Sinne der Ausbildung der Fähigkeit zur Wahrnehmung, zum Verstehen, zur
Differenzierung und vor allem Beurteilung, sowie zur persönlichen Stellungnahme
religiöser Phänomene. Kriterien der Kritik liegen für die Philosophie in den Fragestellungen ihrer Einzeldisziplinen, für den Bereich des Religiösen sind das vor allem
Fragen erkenntnistheoretischer, (philosophisch-) ethischer, anthropologischer,
ästhetischer Natur. Heutzutage sehe ich die Aufgabe solcher Kritik in negativ wie
positiv kritischer Hinsicht: Negativ ist der Gefahr des Fundamentalismus vorzubeugen, wozu vor allem die Dechiffrierung abergläubischer, d.h. Religiosität reduzierender oder gegen vernünftige Erschließung immunisierender Strukturen gehört; als
positive Religionskritik würde ich es ansehen, Religion als wesentlicher Dimensionen von Menschsein herauszustellen gegen die Autonomie und verantwortliche
Lebensführung letztlich unterlaufende und beschneidende Privatisierung und
Relativierung religiöser Sinnangebote.
Schließlich ist zum Schluss dieser didaktischen Skizze nochmals zu betonen, dass es
bei den vier von mir skizzierten Ebenen nicht um disparate Bereiche gehen kann und
darf, so dass sie u.U. gar in die Kompetenz unterschiedlicher Unterrichtsfächer
verteilt würden. Im Gegenteil ist stets eine Ebene auf die anderen hin zu
durchleuchten, für die sie einen Schlüssel zum Verständnis zu liefern hat, wie
umgekehrt die je anderen Ebenen als notwendige Voraussetzungen oder Folgen zu
verdeutlichen sind. Insofern ist leider das ursprüngliche LER-Modell im Land
Brandenburg mit Grundlegungs-, Differenzierungs- und Zusammenführungs-Phasen
frühzeitig in den Mühlen nicht kooperationsfähiger Sonderinteressen untergegangen.
Eine große Chance für einen allgemeinen Religionsunterricht der Zukunft, der m.E.
durchaus auch im Interesse des tradierten Religionsunterrichts und der diesen
tragenden Kirchen wäre, ist damit vertan worden.48 Dabei sind Modelle zur
möglichen Umsetzung einer solchen Idee eines für alle offenen, gleichwohl
differenzierenden Religionsunterrichts gar nicht so kompliziert und auch bereits
heute in die Praxis umzusetzen49, zumal in Organisationsformen, an denen die Schule
48
Zu den Hintergründen vgl. genauer den Abschnitt 2 des Kapitels 5-3.
49
An anderen Orten habe ich selbst wiederholt dazu Vorschläge gemacht, vgl. Petermann (1991)
sowie Petermann (1996a). Entsprechende Modelle haben vorgelegt: Gabriele Miller: Vision eines
dreistufigen Religionsunterrichts, in: KatBl 1993, S. 831ff; oder die von Folkert Doedens in
Braunschweig vorgetragenen Thesen für einen differenzierten Lernbereich „Religion/Philosophie/
Ethik“ (in: J.Lott: Religion - warum und wozu in der Schule. Weinheim 1992, 421ff, bes. 429ff);
diesen Vorschlag konkretisierend hat Hamburg seit 1992 einen entsprechend differenzierten Lernbereich versuchsweise als Modell erprobt: Vgl. Doedens 1992, S.77f. - Diese Modelle dienen
1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen
147
der Zukunft ohnehin nicht wird vorbeigehen können und dürfen.50 Die Chancen einer
auch für das Bildungsgut Religion förderlichen Schulentwicklung liegen insofern
z.Zt. leider eher in Einzelinitiativen bzw. einzelnen Versuchen vorsichtiger
Kooperation im Gerüst konventioneller Fächeraufteilung. Die Hochschuldidaktik im
Bereich der Philosophie täte gut daran, ein Augenmerk auf die Förderung solcher
Ansätze zu richten, vermag sie doch durch ihre ureigene Methodik schon wesentliche
Bausteine für eine elaborierte Form von Interdisziplinarität beizutragen.51
zunächst als Möglichkeit religionsunterrichtlicher Zusammenarbeit, gehen also von dem konkret
machbarsten Modell eines konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts aus, wären aber ohne
größere Probleme auf eine Fächergruppe „Religion - Philosophie - Ethik“ hin konkretisierbar. In
diesem Zusammenhang scheinen mir die Modelle in Mecklenburg-Vorpommern (vgl. Kultusm. d.
L. M.-V. 1996), Berlin (vgl. Ev.Kirche Berlin-Brandenburg 1998a) und Sachsen-Anhalt (vgl.
Kultusm. d. L. S.-A. 2001) besonders interessant zu sein. (Vgl. dazu genauer die Anmerkungen im
Kapitel 5-4). Für entscheidend halte ich dabei eine Differenzierung nicht nach Fächern, sondern
nach Lernbereichen. Demnach wären wesentliche Elemente dessen, was ich als religiöse
Sprachlehre skizziert habe, ohne tiefere Probleme im Klassenverband zu unterrichten ebenso wie
eher religionskundliche Informationseinheiten; Begegnungen mit religiösen Einrichtungen und
Personen können ohne weiteres, wie im übrigen schon jetzt, als Projekt in den Schulablauf
integriert werden. Dadurch würde nicht zuletzt ein gutes Fundament gelegt auch für die darüber
hinaus durchaus sinnvollen konfessionellen Differenzierungsphasen, die so ihren je eigenen
Bildungsanspruch viel besser vermitteln können. Damit sind natürlich auch schulart- bzw. stufenspezifische und regionale Gegebenheiten zu berücksichtigen. (Vgl. die Ausführung dieser Idee im
Kapitel 5-4).
50
Bereits heute kommen viele Grundschulen vom herkömmlichen 45-Minuten-Takt los und
versuchen zunehmend projektorientiert und fächerübergreifend zu arbeiten. Das organisatorisch
interdisziplinäre, methodisch projektorientierte und inhaltlich stärker auf Strukturwissen denn auf
Einzelkenntnisse angelegte Lernen nimmt nicht nur in den Bildungsplänen zunehmend breiteren
Raum ein: Baden-Württemberg etwa sieht bereits seit Mitte der 90er-Jahre in allen Jahrgangsstufen in allen Schulformen verbindlich mindestens ein fächerübergreifendes Thema vor;
entsprechend wurde 1998 auch für die Oberstufe mit dem sog. „Seminarfach“ ein bewusst interdisziplinär und projektorientiert konzipiertes Zusatzfach eingerichtet, das von den Schülern auch
in die Abiturqualifikation eingebracht werden kann. Auch die neuen Studienordnungen für die
Studiengänge Grund-, Haupt-, und Realschulen in Baden-Württemberg sehen inzwischen einen
eigenen Bereich „Interdisziplinäres Lehren und Lernen“ bzw. „Interdisziplinäre Studien“ mit
erheblichen und auch prüfungsrelevanten Studienanteilen vor. Vgl. dazu den Dokumentarband zu
einer Grundlagenveranstaltung zu diesem Studienbereich Wellensiek/Petermann (2002).
51
Das gilt nicht nur in methodischer Hinsicht, insofern der eher wissenschaftstheoretische Zweig der
Philosophie die unterschiedlichen Fächer in einen differenzierenden und in ihren je besonderen
Fragestellungen wiederum sich ergänzenden Gesprächszusammenhang bringen kann, sondern
auch in inhaltlicher Hinsicht, insofern die Philosophie als Disziplin des Fragens und Hinterfragens
sowie in ihrer weniger ergebnis- als vielmehr problemorientierter Zielbestimmung einen heute
mehr denn je erforderlichen Weg des Lehrens und Lernens in schulisches Bildungssystem
einbringt. Vgl. dazu meine Andeutungen zu methodischen Elementen des Philosophierens oben
unter Punkt (1.4) dieses Kapitels.
II
Religiöse Sprache
Kapitel
2-1
Vernunft als wesentliches Element
religionsunterrichtlicher Bildung 1
Die Frage nach einem auch in der Zukunft tragfähigen Religionsunterricht ist nicht
neu, sie hat sich im Laufe der Geschichte dieses Schulfachs immer wieder gestellt.
Neu ist freilich die Richtung, aus der heute dem RU der Wind ins Gesicht bläst. In
fundamentalerer Form als früher stellen besonders zwei Symptome den RU auch als
ordentliches Schulfach in Frage, zum einen ist das die zweifelsohne zunehmende
Entkirchlichung in unserer Gesellschaft, zum andern quasi gegenläufig der verstärkt
sich äußernde Ruf nach einer säkularen, bekenntnisneutralen Werte-Erziehung. Zum
ersten: Wenn in Baden-Württemberg noch weit über 90% der katholischen und
evangelischen Schülerinnen und Schüler den RU besuchen und darüber hinaus
zunehmend Nichtgetaufte, darf dies nicht über die gesamtdeutsche Lage hinwegtäuschen, dass gerade einmal noch 2/3 der Bevölkerung den christlichen Kirchen
angehören, in Ostdeutschland sind es unter 30%. Schon demographisch hat insofern
der RU nicht mehr die Basis wie noch vor wenigen Jahrzehnten, abgesehen davon,
dass der christliche Glaube seine Monopolgeltung hinsichtlich von Fragen nach
Letztorientierung, Lebenshilfe und moralischer Bildung heute faktisch verloren hat
(auch wenn Bischöfe wie Dyba noch von den Gleichungen moralisch = christlich
1
Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht in den „Mitteilungen des Verbandes Katholischer
Religionslehrer/-innen der Erzdiözese Freiburg“ 1/1998. Er stellt eine zu einem ausführlicheren
Essay erweiterte Fassung meiner Dankesrede auf der Religionslehrertagung in Hohritt (Sasbachwalden) im November 1997 dar, auf der ich von meiner 21-jährigen religionsunterrichtlichen
Tätigkeit verabschiedet wurde. Wenn in dieser Einlassung die philosophische Perspektive ganz im
Zentrum steht, so nicht, um auch von meiner Seite zu betonen, was mir als Ruf bei den vielen
Fortbildungs-Begegnungen in Hohritt immer wieder nachgesagt wurde, anerkennend, aber auch
skeptisch, sondern weil ich mit dieser Perspektive, glaube ich, am besten verdeutlichen kann,
worauf es mir in meinem Einsatz für einen tragfähigen RU der Zukunft in den letzten Jahren,
zuletzt auch im Vorstand des Religionslehrerverbandes ankam, und was auch nach dem Wechsel
zur Philosophie ein wichtiges Element meines Engagements bleiben sollte.
Dass solcherlei Gedanken nicht einsam am Schreibtisch entstehen, sondern im lebendigen, am
Thema interessierten Gespräch, ist selbst eine der grundlegenden Einsichten der Philosophie, die
nicht wäre, was sie ist, würde sie nicht ihre Basis im konkreten Gespräch haben. In diesem Sinne
war der Beitrag auch als Dank für die vielen Begegnungen, Gespräche, Diskussionen mit
Kolleginnen und Kollegen gedacht.
Der Beitrag wurde lediglich um die Schluss-Passage gekürzt, die jetzt ausführlicher als Kapitel 5-4
entfaltet wurde, sowie in einigen Anmerkungen aktualisiert und ist ansonsten unverändert
geblieben. Auch den eher essayistischen Stil habe ich beibehalten.
2-1 Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung
151
und heidnisch = unmoralisch auszugehen scheinen2). Gleichwohl ist, zum zweiten,
das Bedürfnis nach einem welt-, lebens- und werteorientierenden Schulfach in
Deutschland steigend, so dass sich die Frage stellt, welche Aufgabe und Zielsetzung
ein originärer Religions-Unterricht angesichts dieser Situation (noch) haben kann,
bildungstheoretisch wie religionspädagogisch.3 Die deutschen Bischöfe haben diese
Spannung sehr wohl erkannt, wenn sie ihr Schreiben zur Zukunft des RU unter das
Thema der "bildenden Kraft des Religionsunterrichts" stellen, (wobei an dieser Stelle
offen bleiben muss, inwieweit dieser Anspruch in seiner Durchführung zu überzeugen vermag).4
Wenn ich im Folgenden einige Gedanken zur Vernunft als der gestaltenden Kraft
im RU formulieren möchte, so bewege ich mich einerseits auf eher „konservativen“
Geleisen, insofern ich an originärem RU als Schulfach festhalte; andererseits bin ich
mir möglicher Kritik von vornherein bewusst, weil das Setzen auf die Vernunft dem
RU sein Proprium zu entziehen und ihn in das Fahrwasser eines säkularen EthikUnterrichts zu leiten scheint. Dieser Gefahren wohl bewusst sind die folgenden
Gedanken durchaus als Provokation gedacht, freilich mit der Intention und Überzeugung verbunden, dass der RU anders als unter diesem notwendigen (nicht hinreichenden!) Kriterium der Vernunft keine Überlebenschance und auch keine Daseinsberechtigung im schulischen Bildungskanon mehr besitzt, ohne einen solchen RU
aber umgekehrt schulische Bildung substantiell verlieren würde.5
Meine Überlegungen beleuchten zunächst die Rolle der Vernunft in drei Schritten,
um schließlich viertens daraus Konsequenzen zu ziehen im Sinne eines Plädoyers für
einen RU der Zukunft.
2
Den Hintergrund dieser hier polemisch gelieferten Anmerkung zur Verwechslung von Moral und
Religion mache ich genauer zum Thema in den Kapiteln 4-4 sowie 1-2.
3
Zu der hier essayistisch recht pauschal getroffenen Feststellung von verlorengegangener religiöskirchlicher Bindung einerseits und wertekompensierender Orientierungssuche andererseits vgl.
genauer die Eingangskapitel 1-1 und 1-2.
4
Vgl. dazu meine kritisch kommentierenden Einlassungen Petermann (1997a) sowie Passagen im
Kapitel 1-2.
5
Diese hier sehr allgemein geäußerte These wird genauer entwickelt und begründet im Teil I dieser
Arbeit, insbesondere im Kapitel 1-2, organisatorisch-konzeptionell dann entfaltet im Abschlusskapitel 5-4.
152
1
2-1 Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung
Ärger mit dem Gott der Philosophen ?
Vor 343 Jahren6, am 23. November 1654, schleuderte der Philosoph Blaise Pascal
einige Worte auf ein Stück Pergament; sie halten eine Erfahrung fest, die er in der
Nacht zuvor gemacht hat. Er näht den Fetzen in sein Gewand ein, wo dieser erst nach
seinem Tode von einem Diener entdeckt wird. Das berühmte Memorial beginnt mit
dem Ausruf "Dieu d'Abraham, Dieu d'Isaak, Dieu d'Jacob, non des philosophes et
des savants."7 - Ich gestehe offen, dass ich selbst mich immer eher zu denen gerechnet habe, die sich über Pascals Ausruf geärgert haben, nicht zu denen, die sich
unmittelbar darin bestätigt oder getröstet fanden: Ich trat und trete immer noch
entschieden ein für den hier von Pascal (scheinbar) inkriminierten "Gott der
Philosophen" .
Um genauer verstehen zu können, was gemeint ist, muss aber sowohl die Rede
vom Gott der Philosophen als auch Pascals Einspruch genauer erklärt werden. Pascal
zunächst wendet sich keineswegs pauschal gegen philosophische Gotteserkenntnis
überhaupt und fordert demgegenüber keineswegs einen auf jede gelehrige Erkenntnis
verzichtenden, unhinterfragt (ge)horchenden Glauben an die Offenbarung. Vielmehr
sucht er - bewusst doppelt gesetzt - „Gewißheit; Gewißheit“, und sie ist es, so meint
Pascal, die nicht durch gelehrige Philosophie, sondern allein im sich offenbarenden
Gott erreichbar ist. Durchaus offen bleibt damit der Status der erkennenden Vernunft
in Bezug auf die Einsicht in diese Gewissheit, auch wenn Pascal selber seine Logik
"par le coeur" polemisch gegen die Erkenntnis "par le raison" des Descartes meinte
setzen zu müssen. Der sogenannte Gott der Philosophen jedoch muss keineswegs
verstanden werden als bloß diskursiv reduzierbares und insofern quasi mathematisch
"beweisbares" Produkt unserer Verstandeskonstruktionen; mit Berufung auf gute
Tradition lässt sich die Rede vom Gott der Philosophen vielmehr verstehen als
geistige Rechenschaft über jene Bedingung, unter der Gott sich von uns in all unserer
Beschränktheit überhaupt erfahren lässt; die Rede vom Gott der Philosophen
markiert entsprechend die Ebene, empfangenen Glauben auch zu erschließen, weiterzugeben und verantwortlich zu gestalten, also, und damit wäre ich bei einem ersten
Verständnis von "Vernunft" angelangt, die Ebene der vernünftigen oder im wörtlichen Sinne intellektuellen Erfahrung Gottes, auf der nämlich die (unmittelbare)
Glaubens-Erfahrung zugleich zum Bewusstsein gebracht und insofern eingesehen
und überhaupt erst begriffen und weitergegeben werden kann.
6
Wie in Anm.1 erwähnt, ist dieses Kapitel tatsächlich Ende November 1997 entstanden.
7
Blaise Pascal: Le Mémorial. In : Pensées. [Ed.L.Brunschvigg, Paris 1897]. Paris : GarnierFlammarion 1976, p.43.
2-1 Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung
153
Das kann nun ganz und gar nicht gegen den Gott der Bibel gerichtet sein, der
selbst in der gleichsam am stärksten verinnerlichenden Zuwendung zu einem
Menschen, nämlich zu Ezechiel, diesem auch nicht aufträgt, das Wort Gottes zu
essen, um es zu verschlucken, sondern um, seine Süße erfahrend, es verständig und
Verständigung ermöglichend weiterzugeben (Ez 3). - Auch Samuel "kennt" Gott
noch nicht, obwohl dieser sich ihm bereits geoffenbart hat (1Sam 3). Erst als er sich
auf den die Offenbarung erschließenden Dialog mit Gott, seine nicht mehr verheimlichende Kraft der Mitteilung einlässt, vermag er die Kraft des Prophetentums wahrzunehmen. - Gegen Mose und seine (vorgeschobene) Dialogunfähigkeit wird Gott
gar zornig, so dass er ihn erinnern muss, dass er in seinem Bruder Aaron sein redefähiges alter ego hat (Ex 4,14). - Und auch Paulus wendet sich in 1Kor 14 vehement
gegen die nur zu sich selbst und zu Gott gerichtete Form innerer Gotteserkenntnis
und plädiert zum Aufbau der Gemeinde unzweideutig für die dialogisch-reflekierte
und insofern verständigende Zuwendung zu Gott.
Diesen paulinischen Apell zur erschließenden und vermittelnd weitergebenden
Erkenntnis Gottes (1Kor 2), die als solche erst behaupten und sich imstande wissen
darf, die Tiefen des göttlichen Geheimnisses zu ergründen, habe ich immer als die
tiefere Erklärung für jenen Gott der Philosophen gedeutet. Zugleich darf diese
Aufforderung zur intellektuellen Annäherung an die Geheimnisse des Glaubens
verstanden werden als Möglichkeitsbedingung für Theologie überhaupt (in der Tat
wäre sie als Logos von Gott ohne diesen intellectus nie möglich) wie auch, und damit
bin ich beim eigentlichen Thema und einer ersten These zum pädagogischen
Verständnis von Vernunft, als Begründung für unsere religionsunterrichtliche Arbeit,
die ernst genommen tatsächlich nichts anderes sein kann als Glaubens-Vermittlung
(im tieferen Sinn des Wortes „Vermittlung“).
Damit wird ein Verständnis von Religionsunterricht behauptet, für das ich in den
Jahren des eigenen Unterrichtens stets eingetreten bin: Schon biographisch kam ich
selbst zum RU nicht mit dem Gedanken der Unterweisung, sondern auf dem Weg
des Gesprächs.8 Dieses Gespräch, an dem ich die Schülerinnen und Schüler zu interessieren mich bemühte, weil es auch mich selbst zutiefst interessierte, hatte zum
Grund wie auch zum Ziel nichts anderes, als das, was religiöse Erfahrung ist, zur
Sprache zu bringen; und eben dies ist Religion (d.h. die Ebene der sich äußernden,
8
Wenn ich damit für das Gespräch als elementarer Methodik des RU plädiere, dann selbstverständlich nicht, um das Vorurteil von RU als „Laberfach“ zu bestätigen. Vielmehr drängt sich das
erschließende Gespräch (darin nicht unverwandt der sokratischen Gesprächsführung) als Methode
für den RU schon deshalb auf, weil Glauben selber elementar als Gespräch zu verstehen ist. Das
Gespräch ist somit als religionsunterrichtliche Methode aus dem Horizont seines ureigenen
Gegenstands angemessen. – Für die konkretere Gestaltung von unterrichtlichen Gesprächsprozessen verweise ich auf das Kapitel 3, insbesondere die ausführlichen Unterrichtsanalysen im
4. Abschnitt.
154
2-1 Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung
sich mitteilenden, gestaltenden Erfahrung als Antwort und im Unterschied zur
Erfahrung als unmittelbarem religiösen Gefühl). Unterricht in Religion, hatte für
mich daher nie eine andere Aufgabe als eben jene Arbeit, die Sprache der Religion,
in der religiöse Erfahrungen sich artikuliert und verdichtet haben, verstehen und
dechiffrieren zu lernen, um so andererseits damit selber ermutigt zu werden, eigene
religiöse Erfahrungen zur Sprache zu bringen. In diesem Sinne RU als vernünftig
erschließende Glaubens-Vermittlung zu verstehen, war mir daher stets ein selbstverständlicher Gedanke. Und ich gebe gerne zu, dass die Rolle des Philosophen, der
sich der Sache der Religion zuwendet, hier nur graduell etwas anderes zum Ziel
haben kann; auch ein Ethik-Unterricht, (und mit seiner Ausbildung und Konzeption
werde ich künftig professionell zu tun haben), kann in meinem Verständnis mit dem
Unterrichtsgegenstand Religion nur so umgehen, dass er zumindest diesen Sinn von
Glauben als sich vermittelndem zur Sprache bringt, will er nicht von vornherein sich
allen erziehenden Anspruchs entledigen.9
2
Das Gebet als Aufklärung ?
Schon aufgrund des Begriffs von Religion als Gestalt gewordenem und insofern auch
je neu vermittelbarem Glauben stehen Aufklärung und Religion nicht im Gegensatz,
sondern bedürfen einander, wie unlängst Winfried Kretschmann von den Grünen in
einem wegweisenden Referat zum RU betont hat10. Und doch ist genauer zu bedenken, was Aufklärung im Kontext des RU heißt, um Missverständnissen von anderer
Seite vorzubeugen. Keineswegs nämlich ist vernünftig aufklärendes Erschließen des
Religiösen misszuverstehen als eine quasi äußere Herangehensweise an das
Religiöse, die dem Religiösen lediglich nicht schadet und unter Programmen wie
"Entmythologisierung" religiöse Traditionen dem Verstandesmenschen mundgerechter in „heutigem Deutsch“ zur Kenntnis zu bringen versucht.11 Insofern habe
auch ich mich stets gewehrt gegen eine Reduzierung von Religionsunterricht auf
9
Aus dieser Einstellung heraus ist letztlich der ganze Teil I dieser Arbeit entstanden, was deutlich
wird vor allem in der Kritik an einem lediglich religionskundlichen Ethikunterricht in Kapitel 1-2.
10
Kretschmann (1998), veröffentlicht jetzt in R. Ehmann u.a. (Hg.), Religionsunterricht der Zukunft.
Freiburg (Herder) 1998, 281ff. Siehe auch meinen Tagungsbericht zu Bad Boll (April 1997) in den
Mitteilungen 2/1997 (Petermann 1997b).
11
Als Karikatur solcher Versuche betrachte ich es zum Beispiel, Kindern (!) das Ereignis des
brennenden Dornbuschs (Ex 3) über physikalische Spiegelungseffekte in der heißen Wüstensonne
erklären zu wollen. Dass damit der religiöse Sinn einer solchen Erfahrung gerade verschlossen und
nicht eröffnet wird, liegt auf der Hand. – Die Formulierung von „heutigem Deutsch“ bezieht sich
natürlich kritisch auf die Gefahr ähnlich einzuschätzender Missgriffe im Versuch, Verstörendes,
damit aber zugleich religiöse Dimensionen Öffnendes in der biblischen Sprache zu glätten.
2-1 Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung
155
bloße Religions-Kunde12: Ebenso wie ein katechetisierender Religionsunterricht, der
lediglich anzudozieren sucht, was (angeblich) unmittelbar zu verstehen sei, verwirkt
seine Berechtigung ebenso ein RU, der sich auf eine letztlich atheologische Theologie-Wissenschaft beruft, die Wahrheitssuche mit Zugänglichkeit für das postmoderne technische Rezeptionsvermögen verwechselt13.
Was aber dann trägt Aufklärung bei zum Nutzen des Religiösen? Ich will dies
verdeutlichen an einem der aufklärenden Vernunft scheinbar entgegengesetzten
Element: Der große Heilige und Kirchenlehrer Augustinus beginnt seine berühmten
Confessiones mit einem Zitat aus dem Ps 147: "Groß bist du, o Herr, und hoch zu
preisen, groß ist deine Kraft und unermesslich deine Weisheit". Das Buch beginnt
und schließt auch mit einem Gebet, so dass das Gebet dem gesamten Text Rahmen
und Form verleiht. Und gleichwohl sind die Confessiones zu verstehen nur, wenn wir
sie ernstnehmen als eine außerordentlich differenzierte theologische Reflexion. Liegt
da nicht der Gedanke nahe, das Gebet liefere für die theologischen Reflexionen nicht
so sehr einen Rahmen, um sie in diesem letztlich aufzuheben, sondern sei vielmehr
die innere Form dieser Reflexion selbst, gleichsam als ihre Möglichkeitsbedingung?
In der Tat vertrete ich diese These, die einholend ich meinen Essay zum Verhältnis
von Vernunft und Religionsunterricht mit einer Reflexion auf das Gebet fortführen
möchte.14
Was aber hat eine solche Überlegung zu tun mit mit dem eigentlichen Thema, der
Konzeption des Religionsunterrichts? Nun, Beten ist aus dem RU heute weitgehend
verschwunden, und wenn wir bedenken warum, so werden uns spontan solche
Gründe einfallen, die im Verhältnis von Glaubensvermittlung und dem spezifischen
Bildungsverständnis des RU liegen: Um Glauben geht es im RU ohne Zweifel, aber
nicht, da werden die meisten zustimmen, um ihn beizubringen, direkt zu vermitteln,
sondern um Gründe, Facetten, Traditionen für seine Äußerung zu erschließen.
Obwohl auch ich für diese Sicht religiöser Bildung eintrete, möchte ich, vielleicht
überraschend, wie bereits angedeutet, ein Plädoyer für das scheinbare Gegenteil
vortragen, nämlich für das Element der Glaubensvermittlung als innerstem Anliegen
des RU, freilich um gerade so den unverwechselbaren Eigenwert des RU gegenüber
anderen Formen des Glaubenszeugnisses wie auch anderen Fächern in der Schule
herauszustellen. Die Leser vermuten richtig, wenn ich hier wiederum ein genaueres
12
Vgl. meine entsprechende Kritik an dem zur bloßen Religionskunde verkommenen „R“-Element
des brandenburgischen LER-Modells (Petermann 1996b, jetzt als Kapitel 5-4).
13
Aus diesem Grunde halte ich Arbeiten wie die von Gerd Lüdemann für bedenklich, ja un- und
a-theologisch, da sie dem Grundanliegen jeder Theologie grundsätzlich zuwiderlaufen.
14
Im Kapitel 4-3 mit dem Unterrichtsmodell zum Thema „Religiöse Sprache“ nehme ich diese
Thematik wieder auf. Die „Confessiones“ zitiere ich hier nach der Ed. W. Thimme (1950).
156
2-1 Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung
Verständnis von "Vermittlung" voraussetze. Dieses Plädoyer beinhaltet zugleich ein
Votum für das Gebet im RU. Das Thema „Gebet im RU“ ist insofern nur vordergründig bloß Anlass für meine im Folgenden zu entwickelnden Gedanken; es wird
sich als Exempel erweisen, an dem meine These zur Vernunft im RU sich besonders
gut verdeutlichen lässt.
Wenn, um auf die Eingangsdiagnose zurückzukommen, das Beten aus dem RU
heute weitgehend verschwunden ist, und dies auch akzeptiert wird, so ist das, denke
ich, nicht so sehr begründet im Anachronismus eines bloß auf Glaubens- (besser
Konfessions-) Rekrutierung abzielenden RU, (und damit verursacht durch ein
demgegenüber stärker auf sog. Erfahrungs-Lernen angelegtes Konzept religiöser
Bildung). Wenn das Gebet aus dem Unterricht zunehmend verdrängt ist, so vielmehr
aufgrund des Vergessens eines wesentlichen Elements im Verständnis von Gebet.
(Diese vergessene Dimension wird einen weiteren Zugang zu meinem Plädoyer für
Glaubensvermittlung im RU ebnen): Vergessen wird oft die Dimension der Selbstvergewisserung und der Reflexion durch das Gebet, in dem der Betende sich keineswegs bloß im Gefühl unmittelbarer Betroffenheit vor Gott stellt, sondern zunächst
einmal sprechend, und wenn schon als Antwort auf eine unmittelbare Erfahrung,
dann gerade reflektierend sich an Gott wendet, mithin gerade im Gebet sich so an
Gott wendet, dass er wie in vielleicht keiner anderen Form der Auseinandersetzung
mit Gott die Auseinandersetzung selbst mitreflektiert.
Als Beleg für dieses Gebetsverständnis sei als erstes verwiesen auf eine Form des
Betens, wie sie typisch ist für die Urgebete der jüdisch-christlichen Überlieferung,
die Psalmen. Der Psalm 4 beginnt in der Einheitsübersetzung eher recht und schlecht
mit den Worten "Wenn ich rufe, erhöre mich, Gott, du mein Retter!", was unmittelbar vor allem Gott ins Spiel zu bringen scheint, wie es auch Luther mit seiner Übersetzung gelesen hat: "Erhöre mich, wenn ich rufe, Gott meiner Gerechtigkeit." Diese
Lesart ist missverständlich, denn ohne Zweifel steht im Urtext zuerst einmal der
Beter da: "rufend ich...", dann erst kommt der Adressat des Rufens dazu "... antworte
du". Die Radikalität des Ausgangs vom Ich auf das Du hin ist wesentliche Voraussetzung, die innere Dramatik dieses Psalms (wie vieler weiterer) zum Verständnis zu
bringen (und damit in seiner Tiefe auch eigentlich erst beten zu können)15. Natürlich
soll mit dieser Lesart nicht die theologische Richtigkeit in Zweifel gezogen werden,
dass wir Menschen vor allem Hörer des Wortes sind, die selber zum Sprechen
kommen erst als Antwortende auf das zuvor ergangene Wort Gottes. Gleichwohl
läuft diese prinzipiell, aber eben nur prinzipiell richtige Sicht Gefahr, den Ausgangspunkt der Einsicht in diese Befindlichkeit zu verschleiern, denn der liegt unhinter15
Diese Deutung verdanke ich bislang noch unveröffentlichten Arbeiten von Horst Folkers,
Freiburg.
2-1 Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung
157
gehbar zuerst in meiner Befindlichkeit, die ich dann, und das ist zugleich die erste
Ebene von Reflexion, auch äußere, und in deren Äußerung ich im Folgenden erst
Stück für Stück merke, dass dies Äußern sich eigentlich dem Ruf verdankt, den ich
gehört habe, ohne es gewusst zu haben, und das insofern sich zunehmend als
Antwort auf das ergangene Wort erst erweisen wird. Der Beter nun, der diese
Dialektik des dialogischen Ich-Du-, Gott-Mensch- und Mensch-Gott-Verhältnisses
betend zur Sprache bringt, wie es der Beter des Psalm 4 nun einmal tut, der tut damit
zunächst nichts anderes, als dieses Verhältnis zu reflektieren, sonst würde er es ja
nicht zur Sprache bringen wollen. Reflexion auf die Grundbefindlichkeit des
Glaubens im Sinne des Zur-Sprache-Bringens dieser Grundbefindlichkeit ist somit
ein wesentliches Element des Betens.
Weitere prominente Belege für dieses Gebetsverständnis lassen sich eigenartigerweise gerade in einer Form des Glaubens finden, die der des Gebets am fernsten zu
stehen scheint, nämlich in der Form der theologisch-philosophischen Reflexion. Ob
es nun Augustinus ist oder Anselm von Canterbury oder Nikolaus von Kues, all diese
Denker sind in erster Linie Denker, haben aber ganz bewusst als Form ihres Denkens
immer wieder das Gebet gewählt. Das ist, wie mit Augustinus bereits angedeutet,
keineswegs ein Widerspruch: Das Gebet zu Beginn und am Ende hat nämlich, so
behaupte ich, vorrangig keineswegs den Sinn, die in es eingeschlossenen Reflexionen durch das Gebet eher zu relativieren und aufzuheben, sondern vielmehr im
Gegenteil den Sinn, auch wirklich mit allem Ernst in die Reflexion eintreten zu
können. Augustinus jedenfalls überlegt in den folgenden Sätzen weiter, zunächst
einen scheinbaren Gegensatz aufmachend, ob es nun besser sei zu wissen und zu
erkennen oder besser anzurufen und zu preisen, um diesen Gegensatz unmittelbar
wieder aufzulösen durch die Einsicht "Doch wer wollte dich anrufen, ohne dich zu
kennen?" Der eigentliche Gehalt des Anrufens ist mithin nicht weniger als Gotteserkenntnis, und die höchste Form der Erkenntnis zeigt sich als Dankpreis gegenüber
der Gnade dieser Einsicht.
Am vielleicht großartigsten in der Theologiegeschichte hat am Schnittpunkt
zwischen Mittelalter und Neuzeit Nikolaus von Kues diese Einsicht zum Thema
gemacht in seiner Schrift Vom Sehen Gottes, die ganz bewusst offen lässt, um wessen
Sehen es sich hier handelt, wenn er etwa schreibt "Und Dich sehen ist nichts anderes,
als dass Du den siehst, der Dich sieht."16 Der Kontext der kleinen Schrift ist jedoch
16
Nikolaus von Kues: De visione Dei (1985), Nr.13. – Bereits der Titel dieser Schrift bringt die hier
zur Debatte stehende Dialektik auf den Punkt: Der Genitiv des „Dei" ist sowohl objektiv wie
subjektiv gemeint. Von einer Reflexion dieses Sachverhalts ausgehend habe ich vor einigen Jahren
eine bislang noch nicht veröffentlicht Studie zum Verhältnis von Wissenschaft und Weisheit beim
Cusaner angefertigt. Auch die im Rahmen der vorliegenden Arbeit zentrale Kategorie der
Erfahrung lässt sich an genau dieser Dialektik entfalten (vgl. dazu oben in der Einleitung Abs. 2).
158
2-1 Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung
bedeutsam, um die Pointe dieser Aussage ganz zu verstehen. Keineswegs nämlich
will der Cusaner seine Leser animieren zu unreflektierter mystischer Erhebung zu
Gott, wie es die damals aktuelle Bewegung der devotio moderna forderte; vielmehr
plädiert er gegen den Missbrauch mystischer Übungen als vorgeblich höherer
Glaubensform für eine Mystik, die sich im Akt der Erhebung zu Gott dessen gerade
bewusst wird, was sie tut, und nicht der bloßen Entzückung und Entrückung anheim
fällt. Deshalb geht er ausdrücklich den Weg der "menschlichen Weise" der Gottesbetrachtung und beginnt, wie der Psalm 4, seine Reflexion bewusst mit unserem
Sehen Gottes, das sich in Reflexion auf sich selbst erst erweisen wird als das Sehen
Gottes, der uns sieht und unser Sehen damit überhaupt erst ermöglicht.
Nochmals daher meine zweite These: Reflexion auf die Grundbefindlichkeit des
Glaubens im Sinne des Zur-Sprache-Bringens dieser Grundbefindlichkeit ist
wesentliches Element des Betens und zugleich Indiz für den Zusammenhang von
Religion und Aufklärung. In diesem Sinn gehört das Gebet notwendig mit in einen
RU, der sich nicht nur nicht im Gegensatz gegen Aufklärung versteht, sondern
Aufklärung als wesentliches Element beinhaltet.
3
fides quae oder fides qua ?
Eine kleine Reflexion auf die während meiner Unterrichtstätigkeit tragenden
religionspädagogischen Konzepte, den problemorientierten, den korrelativen und den
erfahrungsdimensionierten RU, mag diese These von der Verträglichkeit, ja gegenseitigen Bedingung von Religion und Aufklärung verdeutlichen und entfalten:
• Ende der 60er-Jahre wurde durch die Anregungen des II. Vatikanischen Konzils
der bis dahin bestimmende Katechismus-Unterricht abgelöst von der Überlegung,
Religion nicht länger als Bereich unabhängig vom „weltlichen“ Kontext begreifen zu
dürfen, sondern an Lebensbezügen und darin sich artikulierenden Problemfeldern zu
orientieren. Das daraus resultierende "curriculare" Vorgehen gewann am prägnantesten Gestalt im sog. "Zielfelderplan" von 1973.17 Schon die Übersicht über die
einzelnen Zielfelder verdeutlicht, dass es hier von vorneherein nicht, wie zuweilen
böswillig unterstellt, um ein Aufgehen des Religiösen im Lebenskundlichen und
Ethischen ging oder gar um eine Ablösung der Orthodoxie durch bloße Orthopraxie,
wenngleich die curriculare Lernzielorientierung hier und da gewiss zu Missgriffen
bloßer Orientierung an Schülerbefindlichkeiten führte.
17
Zielfelderplan (1974).
2-1 Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung
159
• Dass die Problemorientierung hier vielmehr die unhintergehbare Ebene der
Vermittlung (letztlich anthropologisch dimensionierter) theologischer Inhalte liefern
sollte, stellte der sog. “Grundlagenplan“ von 198418 unmissverständlich heraus mit
seiner These vom wechselseitigen Bezug anthropologischer und theologischer
Akzente der einzelnen Lerninhalte. Die baden-württembergischen Lehrplanrevisionen von 198419 versuchten, diesem als Lehrplanfortschreibung intendierten
Gedanken gerecht zu werden. Die daraus sich ergebende sog. Korrelationsdidaktik
hat ihre Begründung letztlich auch in nichts Anderem als in der vorhin am Gebet
verdeutlichten Verschränkung der Beziehungen Gott-Mensch und Mensch-Gott;
umgekehrt verliert sie ihren Sinn, wenn sie Korrelation auf ein äußerlich bleibendes
Bezugsystem reduziert, so als hätten sog. theologische Inhalte nicht von vornherein
eine anthropologische Bedeutung oder als müssten zu sog. anthropologischen Fragen
eher dazukommend theologische Bezüge erst hergestellt werden.
• Auch die dritte von mir durchlebte Form religionsunterrichtlichen
Selbstverständnisses, die Didaktik sog. Erfahrungslernens, die dieses Missverständnis zu vermeiden sucht, darf darum nicht fehlverstanden werden als bloß noch
bedürfnisorientierter, audiovisuell und kinästhetisch angereicherter, lebenstherapeutisch ausgerichteter Erlebnisunterricht; natürlich steht eine solche ErfahrungsOrientierung von vorneherein nicht für sich selbst, sondern soll für religiöse Ebenen
sensibilisieren und öffnen, eben weil Religiosität selbst nichts anderes ist als
geronnene und verdichtete Erfahrung von Orientierung und Sinngebung, die es ihrerseits im Kontext unserer heutigen Lebenswelt zu entschlüsseln gilt.20
Hier wird mithin, wie in den beiden ersten Ansätzen letztlich auch, jenes Verhältnis
betont und weiter entfaltet, von dem meine Überlegung ausgegangen ist: das
Verhältnis, das Glauben wesentlich als ein dialogisches Geschehen begreift, und
dessen Vermittlung, ja auch nur dessen Thematisierung ihrerseits gar nicht anders als
dialogisch greifen kann.21 Darin liegt letztlich die inhaltliche Begründung für die
Vereinbarkeit von Religion und Aufklärung.
Nun ist zwar Vernunft der Begriff der Aufklärung; vermag aber ausgerechnet die
Vernunft jene Dialogizität nicht nur zu erklären, sondern auch für sie zu öffnen, die
18
Grundlagenplan (1984).
19
Lehrplan (1984).
20
Zur genaueren Erläuterung der Kategorie der Erfahrung verweise ich erneut auf die
entsprechenden Passagen in der Einleitung dieser Arbeit. An dieser Stelle wird deutlich, dass
neuerliche Kritik an einem erfahrungsdimensionierten RU (vgl. Halbfas/Ruster 2001) das eben
Beschriebene gerade verfehlt.
21
Weitere Argumente für diese Ansicht bietet insbesondere das Kapitel 3.
160
2-1 Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung
Vernunft, die doch das dialogische Geschehen einseitig in den Horizont des verstehenden Subjekts aufzulösen scheint? Ein weiterer Blick in die Geschichte, nämlich in
die Philosophie der Aufklärung, hilft diese Frage zu klären: Ein wesentlicher Hintergrund der oft zu schnell als bloßer Rationalismus inkriminierten aufklärerischen
Vernunftreligion ist, so meine ich, die Klärung jener dialogischen Beziehung im
Glauben. Der Vorwurf, der gängigerweise gegen die Vernunftreligion erhoben wird,
lautet auf Depotenzierung der Religiosität von einer den Menschen zutiefst und
zuinnerst betreffenden Dimension zu einer bloß äußeren Verstandessache, der aus
rationalen Gründen nicht nur zugestimmt, sondern von der aufgrund ihrer bloß rationalen Struktur eben auch abgesehen werden könne. Religion würde dann aufgelöst
zu einem bloßen Gedankenkonzept oder einem lediglich kontingenten Phänomen,
das für den Menschen zwar Bedeutung haben könne, ebenso aber auch nicht. Die
Auswirkungen dieser Sicht sind bis heute erheblich: Die vielzitierte jugendliche
Befindlichkeit „Ich glaub nix, mir fehlt nix“ wird ja nicht selten zurückgeführt auf
eine bloß noch rational gestaltete Bildung, deren mangelnde Tragkraft dann jenem
rationalistischen Aufklärungsappell in die Schuhe geschoben wird.
Der Verweis auf die Aufklärung und ihre Vernunftphilosophie ist aber ungeeignet,
um die These von der angeblichen philosophischen Ausdünnung des Gottesglaubens
zu einem bloßen gedanklichen Konzept zu belegen. Vielmehr entlarvt ein genauerer
Rückgriff diese These als Unterstellung und sogar Unterschlagung wichtiger
aufklärerischer Einsichten.22 Dazu drei Thesen, die die Wirkkraft der Vernunft besser
ins Licht zu rücken sich bemühen:
1. Zunächst einmal wandte sich die Vernunftreligion gegen die „gläubige“ im
Sinne einer nur unvermittelt internalisierenden Annahme bloßer Vorgaben (sog. rein
„positiver“ Gehalte) von Glauben und bot als Kriterium tragfähigen Glaubens (wie
Erkennens) die Autonomie menschlicher Vernunft auf. Darum plädierte sie für die je
subjektiv zu realisierende fides qua creditur, den je persönlichen Glaubensvollzug,
gegen die für sich zu sehr im Korsett des rein Positiven verharrende fides quae
creditur, das Bekenntnis bestimmter Glaubenswahrheiten. Entscheidend für die
Verhältnisbestimmung beider Glaubensformen ist aber nicht ihr Gegensatz, sondern
die Einsicht, dass die subjektive Seite eine unhintergehbar notwendige Grundbedingung ist für die positiv-objektive. Theologisch formuliert: Das Plädoyer für
Autonomie ist kein Einspruch gegen die theonome Bestimmung des Menschen,
sondern die Ebene, auf der letztere allein zur Einsicht gebracht werden kann und
zugleich ihre Erfüllung findet.
22
Sicher wird deutlich, dass dieser hier essayistisch entwickelte Gedankengang in enger Verbindung
zu lesen ist mit jenen religionsphilosophischen Grundlegungen, wie ich sie im Kapitel 1-3
vornehme.
2-1 Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung
161
2. Der Gedanke dieser Autonomie der Vernunft wehrt somit sowohl einen reinen
Objektivismus wie bloßen Subjektivismus ab. Antiobjektivistisch ist Vernunft durch
ihre explizite Positivismus- und Historismus-Kritik. Sie bietet eher ein Gegenbild zu
rationalistisch-technischer Weltsicht. Konkret: Zwar litt das ganze 19. Jahrhundert
im Zuge des Historismus in der Theologie unter der Aporie, den historischen
Gründen des Glaubens, insbesondere der Person Jesu in glaubensbegründender
Weise niemals näherkommen zu können; doch ist es falsch, dafür Lessings Einblick
in historisch-kritische Methode als Grund anzugeben. Vielmehr führte die von
Leibniz zuerst geäußerte Differenzierung zwischen kontingenten historischen Tatsachen-Wahrheiten und ewig geltenden Vernunft-Wahrheiten bei Lessing zu der
Erkenntnis, dass aus historischen Begebenheiten eben keine ewigen VernunftWahrheiten abgeleitet werden können und somit auch nicht aus der positiv vorgegebenen fides quae die innere Wahrheit des Glaubens, die nicht ohne ihre Verwurzelung in der fides qua Bestand haben kann.23
3. Die Vernunft ist somit kritisches Potential gegen bloß übernommenen und
somit nicht glaubwürdigen Glauben. Daraus folgt aber umgekehrt keineswegs, dass
historische Entwicklungen für Wahrheit und für Glauben deshalb unwichtig wären.
Gegen bloßen Subjektivismus legt die Vernunft zugleich die Kraft frei, sich auf die
je eigene Glaubenstradition als das jeweils uns Tragende einzulassen. In diesem
Sinne will Nathan zwar nicht stehen bleiben „wo der Zufall der Geburt ihn hingeworfen“, aber die Wahl der rechten Religion „aus Einsicht, Gründen, Wahl des
Bessern“ ist deshalb nicht der subjektiven Willkür unterworfen, sondern gründet sich
„auf Geschichte“; „und Geschichte muss doch wohl allein auf Treu und Glauben
angenommen werden“, und am ehesten doch wohl die eigene24.
Ergänzt werden muss diese Sicht freilich um eine weitere Erläuterung des dialogischen Charakters von Glauben: In biblischer Sicht ist Glauben nie ein abstraktes
depositum fidei, sondern stets die konkrete Beziehung zwischen göttlicher Sinngebung und menschlicher Existenz, welcher sich in der Realisierung dieser
Beziehung in der Religion als Antwort auf den Ruf Gottes versteht. Vernunft erweist
sich in diesem Zusammenhang als Organ, das Religion und den ihr vorgängigen
Glauben klären hilft in ihren originär dialogischen Strukturen, gegen Reduktion auf
einen sich selbst gegenüber unkritischen Subjektivismus und Fundamentalismus und
gegen ihr Erstarren zu einem bloß äußeren und letztlich abergläubischen Positivismus. Wenn die Vernunftreligion für die fides qua plädierte, dann für die je subjektive
23
24
Vgl. Lessing: Axiomata, insbes. die Nummern VII. und X. – Auf die hier angesprochene
Geschichte der Leben-Jesu-Forschung kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Vgl.
dazu das scharfsinnige Werk von Schweitzer (1906).
Vgl. Lessing: Nathan, Verse 1845ff, 1975ff
162
2-1 Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung
Realisierung des Glaubens; diese steht aber in ihrer Selbstvergewisserung notwendig
in einem Verhältnis zu dem Glauben, der als Geschenk Gottes ihr notwendig voraus
geht. Jener dem Menschen von Gott geschenkte Glaube hat aber als Möglichkeitsbedingung menschlicher Existenz ebenfalls die Struktur von fides qua creditur,
wohingegen die fides quae creditur nun deutlicher sich fassen lässt als jener in
Religion Gestalt gewordener und verdichteter Glaube, welcher nie für sich selbst
steht, weder aus anthropologischer, noch aus theologischer Perspektive.
4
Mit Vernunft Religion unterrichten
Die letzten Hinweise zur Unterscheidung von fides qua und fides quae haben erhebliche religionspädagogische und konkret RU-didaktische Konsequenzen. Das Papier
der Deutschen Bischöfe zur bildenden Kraft des RU hält fest an der traditionellen
Trias von Lehre, Lehrer und Schüler; dem ist insofern zuzustimmen, als mit „Lehre“
jenes Glaubensgeschehen als Inhalt und Gegenstand des RU bezeichnet wird, das
nicht in der schlichten Lehrer-Schüler-Beziehung aufgeht. Problematisch wird die
Behauptung der Trias, wenn einseitig Lehre und fides quae identifiziert werden, als
zudem wesentliches Element konfessionellen RU. Ich halte an meiner eigenen Kritik
fest und behaupte wiederholt: Wäre vor allem dies gemeint, geriete der RU katholischer Prägung tatsächlich in Gefahr zu einer anachronistischen Marginalie zu
verkommen, vor allem aber seinen bildungstheoretischen Aufgaben in der Schule
von heute nicht mehr gerecht zu werden.25
Aber: Diese Deutung von „Lehre“ ist nicht zwingend, wenn man die eben erläuterte Differenzierung von fides quae und fides qua erinnert. Der schulische Religionsunterricht, auch der von heute, hat m.E. seinen unverwechselbare Ort wie auch
seine innere Tragfähigkeit in Aufnahme der drei von mir entwickelten Aspekte der
Vernunft vielmehr
1.
in der Bindung an die dialogisch strukturierte fides qua, die seinen
eigentümlichen Inhalt (und insofern wesentlich das Element „Lehre“)
ausmacht,
2.
in der Reflexion auf die Grundbefindlichkeit dieses Glaubens, um diesen
Inhalt zur Sprache zu bringen und zum Thema von Bildung zu machen,
3.
in der Vernunft als dem Organ, jenen Glauben erschließen zu können und
damit konkret werden zu lassen.
25
Vgl. dazu meine kritischen Anmerkungen zum Bischofspapier in: IRP-Mitt.1/97 (Petermann
1997a) und meine Thesenreihe in: Mitt.2/96 (Petermann 1996a)
2-1 Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung
163
Die fides quae als kirchliche Glaubenstradition bildet für diese Ebenen „lediglich“
(hierin aber unverzichtbar!) den Horizont, an und in dem sie entfaltet werden.
Daraus ergibt sich für mich ein klares Votum für einen originären Religions-Unterricht (also weder bloße Religions- und Religionen-Kunde noch direkte GlaubensUnterweisung, sondern Glaubens- und Religions-Vermittlung) auch in heutiger Zeit
unter auch künftig tragfähigen Bildungsüberlegungen. Dazu abschließend thesenartig
drei Anregungen:
4.1
Zum Proprium des Religionsunterrichts im schulischen Fächerkanon
Sieht man als Zentrum der Lehre die fides qua, ergibt sich das Bild: Sein Proprium
hat der Religionsunterricht im Vergleich zu anderen Schulfächern dann insofern in
Orientierung an der kirchlichen Lehre, als diese wiederum nur ist, was sie sein soll,
in Bindung an jenes Glaubensgeschehen, das in der Glaubensform der fides qua zum
Ausdruck kommt. Als entscheidendes Proprium des RU erweist sich somit der
Glaube als fides qua, der im RU zur Sprache kommt und in dem was er ist, erschlossen werden soll. Insofern ist es missverständlich, das Spezifikum des RU im Fächerkanon, speziell aber im Verhältnis zu den Fächern Philosophie und Ethik in der
Orientierung an der Offenbarung zu sehen. Zwar hat der RU „seine unveräußerlichen
Grundlagen in den geschichtlichen Überlieferungen und gegenwärtigen Ausdrucksformen des christlichen Glaubens“ (wie die EKD-Denkschrift mit Bedacht formuliert), dies darf aber nicht als eine der Vernunft enthobene Grundlage verstanden
werden26: Erstens ist der Glaube, wie erläutert, in seiner dialogischen Struktur
26
Mit diesem Hinweis übe ich ausdrücklich Kritik an der EKD-Denkschrift „Identität und
Verständigung“ von 1994; sie plädiert zwar ausdrücklich für RU und EU „als Dialogpartner“
einerseits (78) und hebt andererseits „die unverwechselbare Eigenständigkeit jedes Fachs“
heraus(ebd.), vermag diese Spannung aber m.E. inhaltlich und argumentativ nicht einzulösen. So
klar die Grundlagen des RU beschrieben sind, wie oben zitiert (S.79), so sehr wird diese Beschreibung verunklärt, wenn sie explizit als differentia specifica gegen die Orientierung an der philosophischen Vernunft im EU gesetzt wird: Zwei Sätze später versucht man, diese Differenz genauer
zu bestimmen durch die Unterscheidung zwischen „Gotteserfahrung“ und der bloßen „ Frage nach
Gott“ ; wie aber jene Gotteserfahrung im schulischen RU zur Sprache kommen soll, darüber
schweigt sich die Denkschrift aus. Somit bleibt ihr gesamtes Konzept einer Fächergruppe eigentümlich konturlos. Noch heftiger richtet sich meine Deutung freilich gegen Stimmen aus dem Ethik-Unterricht, wenn
etwa die reine Vernunft gegen die durch die Autorität Gottes geoffenbarte Gültigkeit von
Glaubenswahrheiten ausgespielt wird. Hier herrscht m.E. dringender Klärungsbedarf darüber, was
„philosophische Vernunft“ (als ausschließlichem (?) Bezugspunkt für den EU) wirklich meint und
was „Offenbarung von Glaubenswahrheiten“ entsprechend für den RU. - Der Vorschlag von
H. A. Veraart (1998) (in: Ehmann (1998), S.117f.), den RU auf die „Positivität“ „identifizierbarer
Inhalte“ und „Annahme einer transzendenten Wirklichkeit“ festzulegen, den EU hingegen „ausschließlich auf Vernunft“ rekurrieren zu lassen, muss hier zumindest weitergedacht werden.
164
2-1 Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung
wesentlich auch ein vernünftiger; und zweitens geht es in der schulischen GlaubensVermittlung m.E. eben gerade nicht um eine unmittelbare Einübung in Glaubenstraditionen und -vollzüge, sondern darum, den Glauben in dem, was er ist (wozu
natürlich wesentlich sein Vollzug gehört!) zur Sprache zu bringen, zu erfassen und
zu reflektieren27; dass dies alles dem Glauben nicht äußerlich oder fremd ist, war
Thema meiner Ausführungen oben.
4.2
Zum Proprium des Religionsunterrichts gegenüber anderen Ebenen der
Glaubensvermittlung
Wenn ich behaupte, dass die Vernunft dem Glauben nicht äußerlich ist, sondern
wesentliches Element, heißt das natürlich nicht, dass Glaube und Vernunft ineinander aufgehen. Für den schulischen RU habe ich deshalb mit Bedacht davon
gesprochen, dass Glaube und Religion hier zur Sprache kommen, erschlossen und
reflektiert werden sollen. Zu ergänzen ist dies nun durch den Hinweis, und dies
unterscheidet den RU in der Tat vom EU, dass so zugleich Wege geöffnet werden
sollen, die dem einzelnen je subjektiven Glaubensvollzug ermöglichen und so zum
konkret gelebten Glauben in Gemeinschaft führen können. Die fides quae ist eben
deshalb nicht der Inhalt des schulischen RU, sondern allenfalls sein Gegenstand
bzw. der Horizont, an dem Glauben erschlossen werden soll, gegebenenfalls kann er
sein je persönliches (aber nicht mehr im Bereich des Unterrichts liegendes!) Ergebnis
sein. Damit bleibt theologisch gewahrt, dass eigentliche Akteure des RU letztlich
nicht Schüler und Lehrer sind, auch wenn es sich auf der diskursiv-unterrichtlichen
Ebene so darstellt. In diesem Sinne hat der RU aus kirchlicher Perspektive durchaus
diakonischen Charakter.
Das ist zu erläutern: Zunächst unterscheidet sich der RU aus Sicht der Kirche von
anderen Glaubens-Vermittlungen dadurch, dass er Glauben weder verkündet, noch
feiert, noch im unmittelbaren Sinne gegenüber dem hilfsbedürftigen Nächsten lebt.
Hilfreicher scheint mir die Formulierung aus dem Entwurf für die Fächergruppe in MecklenburgVorpommern: „Im Fach Religion geschieht Sinnentdeckung in der Auseinandersetzung und
Begegnung mit der Glaubensoffenbarung und ihren Wirkungen. Das Fach Philosophieren mit
Kindern richtet sich auf Sinnentdeckung in der Selbstvergewisserung durch Vernunft. Das schließt
für den Religionsunterricht den rationalen Diskurs und für die Philosophie die Artikulation der
Bedingungen und die Erfahrung der Grenzen dieser Rationalität ein. In beiden Fächern bedingen
Öffnung für das Unbedingte und Vernunftorientierung einander.“ (Kultusministerium (1996),
Hervorhebungen H.B.P.) . Über diesen m.E. wegweisenden, weil auch brandenburgische Irrläufer
bewusst vermeidenden Entwurf ist an anderer Stelle ausführlicher zu referieren. (Vgl. Kapitel 5-4).
27
Diese Überlegung bildet den Hintergrund für meine Abhandlung Petermann 2000 und ihren
programmatischen Titel „Religion zur Sprache bringen“, die, wie in Abschnitt 2 der Einleitung
erläutert, den Grundbestand des Teil I der vorliegenden Arbeit ausmacht. Zur Entfaltung des
Themas „Sprache“ vgl. auch das folgende Kapitel 2-2 sowie das Kapitel 4-3.
2-1 Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung
165
Sondern in erster Linie bedenkt er den Glauben, indem er ihn auf unterschiedlichen
Ebenen zur Sprache bringt, erschließt, reflektiert. Das ist gewiss nicht die primäre
Aufgabe der kirchlichen Wesensvollzüge von martyria, leitourgia, diakonia. Zugleich
aber macht der RU ja durch jenes Bedenken mit dem Glauben auch vertraut. Und
insofern stellt er sich durchaus als Dienst, diakonia, am Menschen dar: Er zeigt ihm
im Horizont seiner Glaubenstradition für Menschsein wesentliche Sinnhorizonte auf
und leistet insofern konkrete Hilfe zu Lebensorientierung und konkreter Lebensgestaltung.28
4.3
Die dem RU eigentümliche Unterrichtsgestaltung
Aus dem Proprium des RU im schulischen Fächerkanon einerseits und im kirchlichen Glaubensvollzug andererseits ergibt sich eine für das Fach Religion ganz
spezifische Unterrichtsgestaltung.29 Auch sie ist m.E. deutlich an Vernunft zu orientieren. Vernunft darf hier freilich nicht verwechselt werden mit bloß mentaler
Intellektualität oder gar kognitiver Fähigkeit. Vernunft kommt zum Tragen auch in
der Fähigkeit zum Vernehmen, nämlich des Transzendenten im Alltäglichen, der
Zwischentöne im Satzgefüge, der intellektuellen (nämlich die Tiefendimension
einsehenden) Anschauung von Lebenswelten und Existenzvollzügen. Dieses
Vernehmen findet elementar statt als Sprach-Lernen, als Erfahrungs-Lernen und als
Verantwortungs-Lernen. Somit kommen kognitive, affektive, soziale und handlungsorientierte Dimensionen in einem tragfähigen RU gleichermaßen zur Geltung. Die
Tradition des biblisch-christlichen Glaubens gilt dabei als der Horizont, unter dem
mit dem Organ menschlicher Vernunft (die differenzierende Wahrnehmung und
kritischen Verstand einschließt) die für Menschsein lebenswichtigen Fragen gestellt
werden30: Wer bin ich? Wohin reicht mein Wissen? Aus welchem Grund soll heraus
soll und muss ich Verantwortung übernehmen? Worauf darf ich als Horizont meines
Lebens hoffen und vertrauen?
28
Die Rede von der diakonischen Aufgabe des RU ist in diesem, aber auch nur in diesem umfassenden Sinne zu unterstützen. Missverständlich würde sie, wenn der RU durch Qualifizierung als
diakonisch als bloße Lebenshilfe instrumentalisiert würde. Vgl. dazu Nastainczyk (1991) oder
Fuchs (1989).
29
Vgl. dazu parallel die Ausführungen in Kap. 5-4.
30
In bewusster auf religionsunterrichtliche Zusammenhänge abgestimmter Abänderung der berühmten Kantischen Grundfragen: Was ist der Mensch? Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was
darf ich hoffen?
Kapitel
2-2
„…was werde ich euch nützen, wenn ich
nicht mit einer Erkenntnis zu euch rede…“
Religiöse Sprache verstehen 1
1
Problemaufriss
Im 14. Kapitel seines ersten Korintherbriefs geht Paulus heftig ins Gericht mit einer
Form religiöser Rede, die verzückt von der eigenen Glaubenseinsicht völlig in sich
verharrt und so für alle anderen unverständlich bleibt: „Wer mit verzückter Zunge
redet, der redet für Gott, nicht für Menschen; denn keiner hört es … Wer mit
verzückter Zunge redet, baut nur sich auf … [Doch:] Gebt ihr durch eure Rede mit
verzückter Zunge kein deutliches Wort zu verstehen, wie sollte man erkennen, was
geredet wird? Dann redet ihr bloß Luft!“ 2 Paulus hat Recht. Und was er sagt, gilt
nicht nur für die durch Glauben verzückte Rede, sondern auch für die unreflektierte,
das heißt Sinnerschließung aussparende Benutzung religiöser Gehalte und Worte
überhaupt. Denn wer versteht schon, was gemeint ist, wenn Mose Gott darum bittet,
ihn sehen zu dürfen, Gott ihm aber nur seine Rückseite zur Schau gibt (Gen 33,18ff)
oder wenn Joseph im Traum erfährt, er solle die schwangere Maria zur Frau nehmen
(Mt 1,20) oder wenn der des Lesens unkundige Prophet Mohammed nach dreima1
Dieses Kapitel nährt sich aus dem ersten Teil meines Beitrags zum Thema „Religiöse Sprache“,
der unter dem Titel „’Wer Ohren hat zu hören, der höre!’ - Religiöse Sprache verstehen“ 2002 im
bsv-Verlag erscheinen wird in dem von Ekkehard Martens und Philipp Thomas herausgegebenen
Band „Religionsphilosophie“ des vierbändigen „Praxishandbuch Philosophie“. (Der zweite Teil
dieses Beitrags mit Vorschlägen zur Unterrichtspraxis bildet den Grundstock für das Kapitel 4-2.)
Dieser Beitrag wurde unter der Zielsetzung elementarer Informationen, Orientierungen und
Praxisimpulse für Philosophie- und Ethik-Lehrerinnen und –Lehrer verfasst. Systematisch ist er
darum ausdrücklich nicht in theologischer, sondern philosophischer Perspektive geschrieben, baut
sich aber gerade darum gut in den Kontext der vorliegenden Arbeit ein, weil das in den Kapiteln
1-3 und 1-4 erläuterte Motiv einer philosophisch begründeten Didaktik des Religiösen hier
konsequent aufgenommen und weiterverfolgt wird. Den für den genannten Beitrag erforderlichen
Informationen eher komprimiert und lexikalischen bietenden Stil habe ich für das vorliegende
Kapitel beibehalten, inhaltlich gleichwohl einige erläuternde Passagen hinzugenommen, die aus
Platzgründen in dem bsv-Beitrag gestrichen oder gekürzt werden mussten. Zudem bieten die Fußnoten Querverweise auf andere Kapitel der vorliegenden Arbeit sowie einige Nachweise, die in
dem genannten Beitrag nur pauschal gegeben werden konnten.
2
Ich zitiere nach der Übersetzung von Fridolin Stier (1989), hier in Auszügen 1 Kor 14, 2.4.9.
2-2 Religiöse Sprache verstehen
167
liger Aufforderung durch den Engel schließlich doch die 97.Sure gelesen haben soll?
Und wer versteht wirklich Ausdrücke wie „Jesus lebt“ oder „Töte den Buddha“ oder
„geboren aus der Jungfrau“ oder „gestorben im Herrn“?
Sicher auch solche Fragen hat Paulus im Ohr, wenn er seiner glaubensverzückten
Gemeinde weiter schreibt:
Nun aber, Brüder, wenn ich zu euch komme und mit verzückter Zunge rede,
was werde ich euch nützen, wenn ich nicht mit einer Offenbarung oder einer
Erkenntnis, einer Prophetenrede oder einer Lehre zu euch rede? … Deshalb
bete der mit verzückter Zunge Redende, dass er auch auslegen könne. Denn:
Bete ich mit verzückter Zunge, so betet mein Geist; mein Verstand aber trägt
keine Frucht. Was gilt nun? Ich will geistergriffen beten; ich will aber auch
verständlich beten. Lobsingen will ich geistergriffen; lobsingen aber auch mit
dem Verstand. Denn: Sprichst du die Preisung geistergriffen, wie sollte der,
der den Platz des Ungeschulten ausfüllt, das ‚Wahr ists’ zu deiner Danksagung
sprechen, da er gar nicht weiß, was du sagst? … in der Gemeinde will ich – um
andere zu unterweisen – lieber fünf Worte mit meinem Verstand als tausend
Worte mit verzückter Zunge sagen.3
Mit diesem Zitat lassen sich sehr genau sachliche Problematik wie Zielsetzung einer
philosophischen Auseinandersetzung mit religiöser Sprache umreißen:
1. Ganz grundsätzlich wird religiöse Rede hier unter dem Horizont verständiger
Auslegung thematisiert. Der griechische Urtext gibt das Thema genauer an: Für die
Auslegung finden wir hier das Wort dihermeneuein. Hermeneutik aber ist der Begriff
schlechthin für eine philosophisch dimensionierte Auslegung und Deutung. Zum
zweiten finden wir das Wort nous, im Zitat wiedergegeben mit „verständig“.
Gemeint ist vom Griechischen her aber nicht eine technische Kenntnis von Bedeutungsgehalten, sondern eine den Sinn vernehmende, für den Verstehenszusammenhang sensible und darum auch mitteilungsfähige Einsicht und Deutung.4 Damit ist
philosophische Hermeneutik zugleich in ihren Grundzügen umrissen. In ihren
Horizont stellt Paulus religiöse Rede.
2. Paulus drängt den religiös sprechenden Menschen darum zu beten, dass er seinen
Glauben auch auslegen könne. Sinn macht diese Aufforderung nur, wenn wir
3
Ebd., hier 1Kor 14, 6.13-16.19.
4
Mit die Unterscheidung von „Bedeutung“ und „Sinn“ beziehe ich mich auf die seit Frege (1892)
übliche Unterscheidung von dem, auf das als Referenzobjekt sich einen Wort oder Satz bezieht,
das ist die Bedeutung, und dem, was mit einem Wort oder Satz (eigentlich und für mich) gemeint
ist, das ist der Sinn. Diese Unterscheidung wird wichtig auch im Abschnitt 4 dieses Kapitels zum
Problem der Intensionalität.
168
2-2 Religiöse Sprache verstehen
religiösem Glauben unterstellen, nicht in sich selbst zu verharren, sondern auf
verständige Auslegung angelegt zu sein. Unzweideutig polemisiert Paulus gegen ein
hermetisches oder esoterisches Verständnis von Religion, deren Inhalte und auch
Sprache nur Eingeweihten vorbehalten seien. Gegen unreflektierte Deklamation
drängt Paulus auf verständige Auslegung; genauer ist die vernehmende und
mitteilungsfähige Deutung gemeint, im Griechischen steht wie gesagt der Begriff
no/uj. Und Paulus plädiert nicht nur dafür, dass religiöser Glaubens sich philosophischer Auslegung öffne, sondern sieht diese Auslegung sogar als notwendig an,
damit der Glaube wirksam werde. Religiöser Glaube ist insofern auf philosophische
Auslegung auch angewiesen, nicht nur angelegt.
Diese Ansicht gilt sicher nicht, zumindest nicht in diesem Maße, für alle religiösen
Traditionen, doch gewiss für die Tradition des Judentums, die Paulus hier repräsentiert, wie auch für die des Christentums, dessen Theologie mit den Überlegungen des
Paulus als ersten auch christlichen Theologen eingeleitet wird. Doch auch weite
Teile der chinesischen Religionen (insbesondere der Konfuzianismus) wie auch der
indischen Religionen (die gerade in ihren stark meditativen Zügen einen ganz
eigenen Logos des Göttlichen ausgebildet haben) dürfen zu den hier interessanten
theologisch geprägten Traditionen gezählt werden. Dass umgekehrt nahezu alle
Religionen andererseits esoterisch-hermetische Tendenzen kennen, bedürfte einer
besonderen Erklärung; sie interessieren hier jedoch nicht, da ihre Sprache gar nicht
als zu Menschen gesprochene verstanden sein will.
3. Mit den Worten ich will aber auch verständlich beten und lobsingen will ich aber
auch mit dem Verstand ebnet Paulus andererseits auch der philosophischen Vernunft
der Weg zur Erschließung des religiösen Worts. Das meint: Nicht nur ist Glaube auf
vernünftige Auslegung hin angelegt, sondern kann auch authentisch geäußert werden
in Form verständig-vernünftiger Sprache. Ist dies aber möglich, so ist philosophische
Sprache eine Form, die religiöser Erfahrung nicht fremd bleibt, sondern sie sogar in
ihrem Innersten zur Sprache bringen kann. Wenn dieser Weg auch nicht universalisiert werden kann, so ist er doch sinnvoll, nicht nur um Glaube verständlich zu
machen, sondern auch weil Glaube und Reflexion als letztlich nicht widersprechende, sondern korrelierende Ebenen aufzufassen sind.5
5
Eine Bestätigung findet auch diese Überlegung bei Paulus: In der berühmten Aufzählung der
verschiedenen Charismen in 1 Kor 12, die allesamt auf ihre je besondere Weise zum Aufbau des
Einen Leibes beitragen, differenziert Paulus bekanntlich nicht nur zwischen matryriologischen,
diakonischen und leitourgischen Geistesgaben, sondern benennt gleich zu Beginn (v.7ff) mit
swfi,a, gnw/sij und pneu/ma drei unterschiedliche Formen eher intellektueller Natur. Damit wird die
im Text aufgestellte These vom Denken als authentischer Form des Glaubens nicht nur bestätigt,
sondern könnte, durch konkretere Erläuterung dieser Differenzierung auch entfaltet werden.
2-2 Religiöse Sprache verstehen
169
4. Mit den gleichen Worten deutet Paulus jedoch an, dass weder religiöses Wort und
seine Auslegung unmittelbar zu identifizieren wären, noch dass das geisterfüllte
Beten und Lobsingen auf das verständige Beten und Lobsingen eingeschliffen
werden könne. Vielmehr scheint es weiterhin einen Überschuss des Worts über seine
Auslegung geben zu müssen. Glaube kann zwar zur Sprache gebracht, doch damit
nicht vollständig eingeholt werden; seine verständige Auslegung ist zwar ein ihm
wesentliches Element, ersetzt ihn aber nicht. Somit scheint Glaube selbst, obgleich er
zur verständigen Sprache gebracht werden kann, nicht mehr eigens vernünftig
begriffen werden zu können, sondern weist die Vernunft seinerseits in ihre Grenzen.6
Mit diesem eigentümlichen Spannungsverhältnis ist unsere Themenstellung, die
Frage nach philosophischer Deutung religiöser Sprache recht genau skizziert.
Zugleich ist die Vorgehensweise angedeutet, die (im Bewusstsein möglicher
Einwände) sich ganz der hermeneutischen Tradition zurechnet: Auch das vorliegende
Kapitel macht sich die religionsphilosophischen Grundannahmen zu eigen, die im
Teil I entwickelt wurden. Wenn die Wahrheit der einzelnen Religionen, genauer
Religion in ihrem Wahrheitsanspruch ernstgenommen werden soll, gehört dazu die
Fähigkeit, sich diese vernünftig und das heißt kritisch erschließen zu können; der
entscheidende Weg dazu aber ist die Fähigkeit zur sprachlichen Reflexion bzw. der
Reflexion auf die Sprache der Religion. Damit ist zugleich die wichtigste didaktische
wie auch die grundlegende hermeneutische Anforderung für jede Auseinandersetzung mit Religion benannt: Ohne die religiöse Sprache zu verstehen, verstehen
wir von Religion nahezu nichts, jedenfalls nicht das originär Religiöse.7 Als auch
didaktisch relevante Voraussetzung dafür kann die These gelten, dass Religion keine
andere Sprache spricht in dem Sinne, dass damit eine andere Wirklichkeit bezeichnet
würde, sondern dass ihre Sprache Wirklichkeit vor allem anders erfasst als etwa die
6
Auch dieser Gedanke, der in den philosophischen Überlegungen beispielsweise von Cusanus,
Hegel, Schelling, Adorno, Heidegger als denkende Auslotung der Grenzen des Denkens eine große
Rolle gespielt hat, kann an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Ich verweise dazu im
Rahmen der vorliegenden Arbeit jedenfalls auf den Abschnitt 5 dieses Kapitels zum Thema
Sprachtranszendierung.
7
Das gilt natürlich in gleicher Weise auch für andere Gegenstände möglicher Erfahrung. Für die
Sprache der Naturwissenschaften wird diese Voraussetzung ganz selbstverständlich anerkannt:
Mitreden kann nur, wer sich auf die spezifische Terminologie versteht, die Wirklichkeit bewusst
isoliert betrachtet. Auch für das Verstehen von Kunst, der bildende Kunst, der Musik, und mit
Abstrichen der Literatur, wird das Verstehen der je eigentümlichen Formensprache als notwendige
Voraussetzung akzeptiert. Die Religion hat es da schwerer, weil das Gefühl für das besondere
Symbolsystem des Religiösen, wohl nicht zuletzt aufgrund der von den Religionen selbst
verursachten Säkularisierung, auch der Sprache, verloren gegangen ist, was dann leicht zur
Verwechslung von Glaubensaussagen mit (in naturwissenschaftlicher Sicht gesehenen) Wirklichkeitsaussagen u.ä. führt. Grundlegend zu einer entsprechend differenzierenden Verwendung der
Sprache hat sich Hans-Georg Gadamer geäußert, etwa in: Sprache und Verstehen (1970), in: GW
Bd.2, 21990, 184-198.
170
2-2 Religiöse Sprache verstehen
weitgehend üblich gewordene Wissenschaftssprache. Im Horizont solcher anderen
Form der Erfassung von Wirklichkeit mag dann, aber auch nur so, auch die Möglichkeit anderer Wirklichkeit aufscheinen. Damit wird an dieser Stelle die These vertreten: Auseinandersetzung mit religiöser Sprache führt elementar in die religionsphilosophische Grundfrage ein.8 Zugleich bildet die Auseinandersetzung mit religiöser Sprache ein notwendiges Element eines jeden philosophisch ausgewiesenen
didaktischen Umgangs mit Religion. Ein besonderer Stellenwert kommt ihr schließlich zu, und auch das rechtfertigt ein eigenes Kapitel, weil hier die Grenzen vernünftiger Erschließung zugleich gesprengt werden, wie sonst vielleicht nur auf dem
Gebiet des Ästhetischen.
Zum weiteren Vorgehen sei nur so viel angemerkt: Im Unterschied zu manch
anderen philosophischen Gegenständen kann sich die Auseinandersetzung mit
Religion im allgemeinen kaum an sog. klassischen Positionen orientieren, nicht
zuletzt weil das Gebiet der Religionsphilosophie in der Geschichte der Philosophie,
zumindest der neueren, keinen klassischen Ort hat und auch die Grenzen zur Theologie nicht immer deutlich zu bezeichnen sind. Ich wähle daher den Weg einer nicht
historischen, sondern systematischen Herangehensweise, um zentrale Kategorien der
Erschließung religiöser Sprache zu benennen; in diesem Rahmen werden natürlich
auch wichtige Positionen der Tradition zu skizzieren sein.9
2
Welche Sprache ist überhaupt gemeint, wenn es
um die Erschließung religiöser Sprache geht?
Zunächst ist in einer vordergründig eher religionsphänomenologischen Perspektive
zu fragen, wo uns religiöse Sprache begegnet. Zuerst sind da die kanonisierten Texte
der unterschiedlichen religiösen Traditionen zu nennen. Für die jeweilige Religion
haben sie heiligen Status, zunächst weil in ihnen die elementaren Glaubensaussagen
versammelt sind, die orientierende Botschaften über, nicht informierende Aussagen
zu Wirklichkeit darstellen; aufgrund ihrer grundlegenden Orientierungsleistung
gelten sie darum für göttliches Wort, das heißt obwohl von Menschen verfasst,
unantastbar in Geltung aber auch letztlich unüberbietbar gegenüber jeder Auslegung.
Doch auch für nichtreligiöse oder einer bestimmten Religion nicht angehörende
8
Dies war, wie oben angemerkt, die ursprüngliche und hier nicht veränderte Zielsetzung des vorliegenden Kapitels. – Zum Zusammenhang mit Teil I vgl. hier insbesondere die Erläuterung des
Elements „heilige Wirklichkeit“ im Abschnitt 4 des Kapitels 1-3.
9
Für diese Zielsetzung erinnere ich daran, dass dieses Kapitel ursprünglich als grundlegende
Orientierung für die Hand der Philosophie und Ethik Unterrichtenden konzipiert ist.
2-2 Religiöse Sprache verstehen
171
Menschen haben diese Texte höchsten Stellenwert. Es gibt kaum vergleichbare Textbestände aus älterer Zeit, in ihnen sind wertvollste Kulturgüter überliefert. Ihre Auslegung wirft jedoch für Gläubige wie Nichtgläubige gleichermaßen Probleme auf.
Vor allem handelt es sich um sehr alte, meist in anderen Kulturen und Sprachen
entstandene Texte, die nicht einmal in sich ohne weiteres verständlich sind und schon
gar nicht ohne Probleme auf die Gegenwart übertragbar. An diesen Texten insbesondere und ihrer sprachlichen Eigenart orientiert sich die vorliegende Einführung.
Texte späterer religiöser Tradition sind demgegenüber nur bedingt von Interesse,
obwohl für sie z.T. ähnliche Verständnis- und Auslegungsschwierigkeiten gelten.
Doch treten Schwierigkeiten hier eher dann auf, wenn ohne das Bemühen um
Deutung oder Auslegung Traditionsgüter aus heiligen Schriften schlicht zusammengefasst, kompiliert und in die gegenwärtige Situation hineingesprochen werden. In
solchen Fällen nimmt Theologie eher die Rolle einer vergegenwärtigenden Botschaft
ein, nicht die der wissenschaftlichen Auslegung. Das gilt oft für verbindliche Erklärungen der religiösen Autorität; Erklärungen etwa der Kurie der römisch-katholischen Kirche kleiden sich nicht selten in eine Sprache, die eher in Imitation kanonisierter Texte der Tradition formuliert ist. Das macht ihre Vermittlung nicht leichter,
zumal wenn damit der Anspruch verbunden wird, solche Äußerungen bedürften
deswegen hier auch keiner gesonderten Erläuterung mehr.10 Versteht sich Theologie
demgegenüber in einem eher wissenschaftlichen Sinne, muss sie sich dem Anspruch
auch exoterischer Deutung und Kritik aussetzen, kann also eine besondere religiöse
Sprache für sich nicht beanspruchen, da es gerade im Gegenteil ihr Anliegen sein
muss, religiöse Sprache in der Sprache des Alltags auszulegen, und sei es (im Unterschied zur Religionsphilosophie) nicht für die Nichtgläubigen, sondern in glaubensvermittelnder Absicht für die Gläubigen der eigenen religiösen Tradition.
Weiter sind in unserem Zusammenhang zu nennen meist mündlich geäußerte, z.T.
aber auch schriftlich fixierte Homilien, also Auslegungen religiöser Traditionen oder
Glaubensgüter zur spirituellen Erbauung oder Aufbauung, wie sie vor allem in
gottesdienstlichen Predigten stattfinden. Auch hier findet man zwar jene eigentümlich religiöse Sprache, doch wiederum gilt einerseits wie für die Theologie im Sinne
von Glaubenserklärung, dass diese Form religiöser Sprache i.d.R. ihre Vorbilder in
den heiligen Texten hat, so dass auch hier eine gesonderte Erläuterung den Platz
sprengen würde. Zudem sind solche Texte bewusst in den Innenraum des Glaubens
gesprochen und nicht zu seiner möglichen verständigen Auslegung.
Das gilt auch für eine letzte Dimension religiöser Sprache, das Gebet. Sie muss
jedoch aus anderen Gründen unser Interesse wecken: Zwar enthalten auch die
10
Zur Kritik solcher Erläuterungen vgl. z.B. meine eigene Stellungnahme (Petermann 1991) zu einer
vatikanischen Instruktion zum Thema Glaubensverkündigung.
172
2-2 Religiöse Sprache verstehen
heiligen Texte der einzelnen Religionen selbst Gebete oder zumindest gebetsartige
Passagen, so dass mit heute geäußerten Gebeten auch nichts strukturell Neues zu
berücksichtigen wäre. Gleichwohl handelt es sich um eine sprachlich ganz besondere
Gattung, da in der schriftlichen Fixierung von Gebeten die Innenseite religiöser
Äußerung und die Außenseite der Reflexion auf Religiosität in intensiver Weise
zusammenfallen, was zu erläutern sein wird.11 Im Unterschied zu nichtsprachlichen
Äußerungen, also ritualisierten Vollzügen religiöser Praktiken, von sakramentalen
Handlungen wie Waschungen oder auch Gemeindeversammlungen bis hin zur völlig
wortlosen Versenkung, gewährt das Gebet über das Phänomenologische hinausgehende Einblicke in die Struktur von Religiosität, so dass von seiner Dechiffrierung
Kriterien erwartet werden können, die übertragbar sind, um auch nichtsprachliche
religiöse Äußerungen nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu verstehen. Damit ist
in anderer Weise die Zielsetzung einer philosophischen Auseinandersetzung mit
religiöser Sprache beschrieben.
3
Die Tradition der Hermeneutik
Kein anderes Stichwort ist so eng verknüpft mit der Frage nach der Auslegung von in
Texten fixierter religiöser Sprache wie das der „Hermeneutik“. Wie sehr darüber
hinaus „Hermeneutik“ nicht nur den möglichen Horizont der Erschließung religiöser
Texte anzeigt, sondern umgekehrt einer theologischen Herkunft die Möglichkeit der
philosophischen Erschließung religiöser Texte sich verdankt, ja der philosophischen
Erschließung von Texten überhaupt, verdeutlicht Heideggers Bekenntnis: „Ohne
diese theologische Herkunft wäre ich nie auf den Weg des Denkens gelangt.“ Denn
unter dem theologisch konnotierten Titel „Hermeneutik“ sei er „besonders von der
Frage des Verhältnisses zwischen dem Wort der Heiligen Schrift und dem theologisch-spekulativen Denken umgetrieben [gewesen]. Es war, wenn Sie wollen,
dasselbe Verhältnis, nämlich zwischen Sprache und Sein, nur verhüllt“.12 – Im
folgenden ist daher zunächst über wesentliche Hintergründe von Hermeneutik als
philosophischer wie speziell religionsphilosophischer Disziplin zu orientieren.13
11
Diese Erläuterungen findet sich jetzt gesondert und ausgeführt im Kapitel 4-3 zur religiösen
Sprache.
12
Martin Heidegger: Aus einem Gespräch von der Sprache, in: Unterwegs zur Sprache. Stuttgart
(Neske): 1959, S.96.
13
Die folgende Übersicht erfolgt bewusst eher lexikalisch und nicht einzelne Positionen weiter
erläuternd. Ich beziehe mich dabei vor allem auch die Darstellungen Gadamer (1974) und Berger
(1999).
2-2 Religiöse Sprache verstehen
173
Hinsichtlich der Frage möglicher Gegenstände hat Hermeneutik ihr Herz in vier
Bereichen, der Auslegung von Rechtsnormen, von Kunst, von religiösen Texten und
Äußerungen philosophischer Natur. Diesen Bereichen eigen (wenngleich nicht
ausschließlich ihnen) ist die über bloßes Zur-Kenntnis-Nehmen hinausgehende
Struktur, „einen Sinnzusammenhang aus einer anderen ‚Welt’ in die eigene zu übertragen“ (Gadamer), d.h. in der Übersetzungsleistung kann nicht nur von einer in eine
andere Sprache übertragen werden, so dass quasi abbildlich der Sinngehalt der
gleiche bliebe. Vielmehr muss zugleich die Art des Übersetzens mitbedacht werden,
weil beide Sprachebenen hinsichtlich ihres Sinngehalts nicht ineinander übergehen.
Konkret: Es gäbe keine Kunst, könnte ich ihren Sinn völlig in (Alltags-)Sprache
überführen könnte, es gäbe keine Rechtsnormen, wäre Konfliktlösung im zwischenmenschliches Zusammenleben selbst ohne Probleme zu bewältigen, es gäbe keine
Religion, ließe sich das, was hier zum Ausdruck kommt, auch anders sagen (also
auch wäre sie eine bloße Projektion), es gäbe keine Philosophie, es wäre der
no/uj noh.sewj ein sinnloses Unterfangen, gäbe es nicht die Ebene eines Bedenken des
Denkens, eines Zur-Sprache-Bringens der grundsätzlichen Möglichkeit aller Sprachäußerung.14 Unabhängig von dem aristotelischen Verständnis von Auslegungskunst15
hat die hier zur Debatte stehende Hermeneutik ihren notwendigen Bezugspunkt
daher an der Erschließung eines sog. „Hintersinns“ (~upo,noia) in einem weiten
Verständnis dieses Wortes.
In ihrer Geschichte hat die Hermeneutik freilich z.T. auch divergierende Stationen
durchlaufen, die im folgenden nur kurz in ihren Zielbegriffen zu markieren sind.16
Lag der Schwerpunkt des antiken Verständnisses eher auf der Herausstellung jenes
Hintersinns, im Sinne einer sowohl dem unmittelbaren Verständnis wie auch der
eindeutigen Deutung je überlegenen Sinndimension, wurde durch das Problem
rechter und verbindlicher Schriftauslegung im christlichen Bereich zunehmend der
Zugang zum eigentlich maßgebenden Sinn gegen mögliche Missverständnisse das
entscheidende hermeneutische Motiv. Dadurch gewann Hermeneutik einen eher
14
15
16
Der mögliche Einwand, mit eben dieser Annahme werde bereits unzulässigerweise Metaphysik
betrieben, ist zwar ernst zu nehmen, muss sich aber seinerseits dem Problem aussetzen, wie denn
überhaupt sinnvoll eine Reflexion auf Sprache möglich sein soll ohne eine solche Annahme. Der
Verweis auf Wittgenstein hilft nicht aus diesem Dilemma, weil Sätze wie „Die Grenzen meiner
Sprache bedeuten die Grenze meiner Welt.“ Sprache gerade nicht dogmatisch auf eine Beschreibung von Welt als „Gesamtheit der (naturwissenschaftlichen) Tatsachen“ festlegen, sondern
zunächst einmal das Problem eines solchen Bezugs anzeigen.
Auf die lange Tradition von Aristoteles’ Schrift „Peri Hermeneias“ kann hier nicht näher eingegangen werden, nicht zuletzt weil sie gar nicht die Hermeneutik in einer hier für uns zur Debatte
stehenden Bedeutung im Sinn hat, sondern eine Art logischer Grammatik entwickelt (Gadamer).
Aus diesem Grunde verzichte ich dafür hier und im folgenden Absatz auch auf ausführlichere oder
gar erläuternde Nachweise. Wichtige Hinweise dazu finden sich, wie angegeben, bei Gadamer
(1974) und Berger (1999).
174
2-2 Religiöse Sprache verstehen
dogmatischen Charakter, auch wenn der lutherische Grundsatz „sacra sciptura sui
ipsius interpres“ einen jede Dogmatik transzendierenden Kern aufweist. Doch erst
Schleiermacher löste auch die protestantische Bibelauslegung aus ihrem dogmatischapologetischen Rahmen, indem er alles Verstehen auf das zwischenmenschliche
Gespräch gründete und so in der Einholung jenes Gesprächs die eigentliche Aufgabe
der Hermeneutik sah. Diltheys Versuch, Hermeneutik im Nach-Erleben zu begründen, führte bei Heidegger zu einer Ausweitung des Hermeneutik -Begriffs: Die
Einholung eines Vorverständnisses erweiterte er auf das Verstehen als Grundbefindlichkeit des Menschen. Darin ist auch Gadamers These vom Universalitätsanspruch
der Hermeneutik begründet: Alles Verstehen ist letztlich darauf ausgerichtet, im
Verstehen auch „zu begreifen, was uns ergreift“ (E.Staiger). Neuere Versuche einer
Dekonstruktion des Verstehensvorgangs, wie sie etwa Derrida oder Hörisch vornehmen17, lösen diese Unvordenklichkeit eines in der Sprache uns zugewandten
Anspruchs wieder auf in eine subjektive Rezeptionsästhetik bzw. ein spielerisches
Sich-Einfinden in die Schichten des Verstehens.
Durch die gesamte Geschichte der Hermeneutik ziehen sich jedoch auch grundlegende Kategorien bzw. Ebenen der Auslegung, auch wenn sie nicht immer für sich
reflektiert werden. - So hat die hermeneutische Tradition von J.J. Rambach die
Unterscheidung übernommen zwischen intellectio, explicatio, applicatio, also erstens
dem Verstehen, das ganz auf den Text sich einlässt, um die in ihm enthaltenen
Aussagen zu entfalten und so Missverständnisse ganz grundlegend zu vermeiden,
zweitens der Erläuterung, also das Ernstnehmen des Textes als eines Subjekts, das je
etwas zu sagen hat, wodurch ich selbst als je aktueller Ausleger zum Gegenstand der
Auslegung werde, und schließlich der Anwendung, die aus dem Text eine
Veränderung oder zumindest Bewusstwerdung eigener Lebensführung generiert. - In
eine vergleichbare Richtung zielt die noch ältere Unterscheidung zwischen
literarischem, allegorischem, moralischem und anagogischem Wortsinn. Hier wird
die schlichte Unterscheidung von wörtlichem und geistlichem (= allegorischmystischem) Sinn weiter differenziert, nicht zuletzt um dem Missverständnis
vorzubeugen, als sei der wörtliche auch der eigentliche Sinn, alle anderen dagegen
„nur“ übertragen; vielmehr hat jede Ebene die Aufgabe, eine eben nicht offen zu
Tage liegende Wahrheit aus einem Text herauszuarbeiten: Geht es der literarischen
um die Frage der sprachlichen Struktur, dass etwas gerade so und nicht anders gesagt
wird, so der allegorischen um den aus dem Text „aufzulesenden“ Sinngehalt, der
moralischen um die mich als Leser treffende (nicht nur normativ-moralische)
17
Weil sich dazu in den gängigen Lexika (noch) keine Hinweise finden, sei für diese Richtung
exemplarisch verwiesen auf Jaques Derridas programmatisches Buch: Die Schrift und die
Differenz (1972) sowie Jochen Hörisch: Die Wut des Verstehens (1998).
2-2 Religiöse Sprache verstehen
175
Botschaft, der anagogischen um das, was ich angeregt durch den Text tatsächlich für
Konsequenzen für meine Lebensauffassung und -gestaltung ziehe.
4
Intensionalität und Verdichtung als Formen religiöser Sprache
Auf der Basis der eher methodisch zu verstehenden hermeneutischen Kriterien kann
nun weiter auch inhaltlich die Eigenart religiöser Sprache in den Blick genommen
werden. Eine erste Struktur lässt sich mithilfe der Logik als eine besondere Form des
Zugriffs auf Wirklichkeit erläutern: Wie von einigen Autoren in jüngeren Veröffentlichungen angedeutet, erfasst religiöse Sprache Wirklichkeit zunächst intensional,
d.h. als Herangehensweise, und nicht extensional, also bestimmte (andere) Wirklichkeiten ausmachend und bezeichnend.18 Die Konsequenzen dieser Einschätzung sind
erheblich. Sind alle religiösen Aussagen zunächst einmal intensional zu verstehen, so
wird zugleich behauptet, dass sie, gleich welchen Inhalts sie sind und worauf sie sich
beziehen mögen, als Intention ihrer Aussage stets das menschliche Verhältnis zu
seiner Wirklichkeit im Auge haben. Auch Aussagen über Gott, über Götter, über
Paradies oder ewige Gerechtigkeit oder Wiedergeburt müssen stets gelesen werden
als Aussagen über menschliche und menschlich erfahrbare Wirklichkeit, sonst
können sie nicht verstanden werden.19
Damit ist nicht behauptet, religiöse Aussagen seien nichts anderes als intensionale
Ausdrücke. Im Gegenteil: Nordhofen betont mit Recht: „Intensionen sind immer
18
Auf diese fundamentale Unterscheidung hat im Anschluss an Hermann Schrödters religionsphilosophische Überlegungen (Analytische Religionsphilosophie. Hauptstandpunkte und Grundprobleme. Freiburg/München: Alber, 1979) aufmerksam gemacht Eckhard Nordhofen, besonders
deutlich in Nordhofen: Glaube; in: Ethik. Ein Grundkurs, hg.v. H.Hastedt/E.Martens, Reinbek:
Rowohlt, 1994, S.275ff. – Nordhofen versteht religiösen Glauben grundsätzlich intensional als
besondere „Art und Weise, mit der ein Mensch an die Dinge der Welt herangeht“ und nicht
extensional, d.h. als Aussage über einen Bereich, auf den sich die Sprache gegenständlich bezieht.
– Ihren philosophischen Bezug hat die Unterscheidung zwischen intensionaler und extensionaler
Sprache in der Philosophie Rudolf Carnaps (1947). Sie wiederum verdankt sich der Unterscheidung von Sinn und Bedeutung bei Frege (1892).
19
Aus dieser Forderung ergibt sich ein für eine philosophische Didaktik der Religion wichtiges
Kriterium zur Unterscheidung zwischen Wirklichkeit erschließendem Glauben und Wirklichkeit
verkennenden, zum Fundamentalismus mit all seinen Gefahren hin tendierendem Aberglauben. In
einer polemisch vielleicht zugespitzten Form (da mit der Kritik zugleich die Psychologie entlarvend, die zu solchem Aberglauben führt), sachlich gleichwohl völlig richtig, hat darauf wiederholt Eugen Drewermann hingewiesen, etwa in seinen Einlassungen zu Themen wie „Jungfrauengeburt“ oder „Auferstehung“. Vgl. nur Drewermann 1984 und 1989. Dass Drewermann jedenfalls
damit Glauben keineswegs zerstört, was ihm in der Kritik wiederholt vorgeworfen worden ist,
sondern vielmehr Wege zu seiner Entfaltung öffnet, dafür bieten seine Predigten eindrucksvolle
Belege (Drewermann 1990ff).
176
2-2 Religiöse Sprache verstehen
Intensionen von Extensionen.“20 Mit dieser Formulierung wird unmittelbar deutlich:
Religiöse Sprache „weiß“ sehr wohl, dass sie über eigentümlich religiöse „Gegenstände“ wie Gott oder Auferstehung nicht extensional sprechen kann. Und doch hat
sie letztlich keinen anderen Zweck, als Rede über diese Gegenstände möglich zu
machen, aber eben stets so, dass sie darüber spricht, wie diese Gegenstände hier und
jetzt für uns zur Erfahrung werden können. Das aber geht nur auf intensionalem
Weg. Als einen Weg, etwas im strengen Sinne nicht Aussagbares, apophantisch nicht
Festzumachendes21, gleichwohl sprachlich erfassen, besser „markieren“ zu können,
hat die religiöse Tradition des Monotheismus sich die Form der privativen Negation
zu eigen gemacht22: Die biblischen Offenbarungsgeschichten etwa beschreiben eine
Realität, die die Realität, wie sie sich zeigt, zugleich bestreitet: Zugleich wird das,
was sie als eigentlichen (extensionalen) Gegenstand haben, also Gott, „benannt“, und
zwar im Bestreiten seiner möglichen Benennung; gerade darin gewinnt dieser
Gegenstand die ihm eigentümliche Wirklichkeit, eine (intensional) für uns bedeutsame Wirklichkeit, die aber die Dimension unsrer alltäglichen Wirklichkeit sprengt.
Hier liegt eine besonders schwierige, aber entscheidende Ebene zum Verständnis
religiöser Sprache.
Darum sei es an dem vielleicht klarsten Beispiel für das Problem religiöser
Sprache erläutert: Die drei abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum,
Islam, kennen zur Bezeichnung des von ihnen verehrten höchsten Guts gleichermaßen die neutrale Bezeichnung „Gott“ (hebr. „El“, arab. „Allah“). Dieses Wort
eignet sich jedoch kaum zur Benennung, ja Ansprache des auch persönlichen
Dialogpartners, der nicht bloß ein Gegenstand religiöser Äußerung ist. Damit stellt
sich das Problem noch dichter, wie etwas sich bezeichnen lässt, dem gegenständliche
Qualität nicht zukommt, aber auch nicht zukommen kann, das aber gleichzeitig
Partner einer Erfahrung, ja existentiell bedeutsamen und uns darin sogar ansprechenden Erfahrung ist. Das Judentum überliefert dazu den unaussprechlichen Gottesnamen JHWH (hwhy). Zwar lässt sich aus der entsprechenden Offenbarungsgeschichte Ex 3 leicht der (intensionale) Sinngehalt dieses Gottes erschließen: Er ist
der, der herausruft (v.4), der als verlässlicher Bezug bereits bekannt ist (v.6), der mit
uns bis zur Identifikation (v.8) mitleidend ist (v.7.9), der in Befreiung konkret Hilfe
bietet23 (v.8), der zu Konsequenzen in der Lebensführung provoziert (v.10) und der
20
Nordhofen (1994), S. 280.
21
Gemeint ist im Sinne der Aussagenlogik, paradoxerweise etwas über etwas sagen zu wollen, was
sich als Gegenstand einer Aussage, nämlich als etwas, was gegenständlich sich zeigen kann, nicht
fassen lässt, worüber sich apophantisch, im Modus von Aussagen, nichts sagen lassen kann.
22
Vgl. Nordhofen (1994), S.278f., sowie Nordhofen (1999), S.828ff.
23
Der Ursprung christlichen Glaubens, Jesus Christus, ist im Grunde nichts mehr als eine personale
Ausdeutung dieser Grundbedeutung: „Jesus“ meint bekanntlich soviel wie „ER, JHWH hilft“ und
2-2 Religiöse Sprache verstehen
177
dialogischer Ansprechpartner zur Auseinandersetzung ist (v.11 ff). Auf diese Sinngehalte lässt er sich jedoch (extensional) nicht wiederum namentlich festlegen, so
dass ihm als dem Lebendigen oder Lebenskraft spendenden eine bestimmte Funktion
zukäme. Vielmehr entzieht er sich aller Möglichkeit, ihn nur als personalisierte
innere Kraft oder Lebensantrieb zu sehen, offenbart sich vielmehr durch das etymologische Spiel mit dem lebensdynamisch zu verstehenden Verb sein (hjh) als je
vorgängiger Ursprung all dieser Sinngebungen. Der aus diesem verb hyh gebildete
Name hwhy entzieht sich daher zugleich der möglichen Benennung: Das Wort bleibt
unaussprechbar. Tauchen in einem Text diese Buchstaben auf, werden sie sofort als
Chiffre identifiziert, was nur anders sich sagen lässt, was sich diesem Sagen jedoch
durch die anderen, dem nicht entsprechenden Zeichen entzieht: Im Anruf sagt und
liest der Jude hier adonai (Herr), in der Rede über ihn haschem (der Name).24
Eine weitere Möglichkeit der Sprachgestaltung, die sich religiöse Sprache zu eigen
macht, ist die der Verdichtung25. Ziel dieses sprachlichen Mittels ist es, das
Beschreiben einer religiösen Erfahrung von einer gleichsam historischen Wiedergabe
zu lösen und zu verbinden und zu reduzieren auf ihren über diese konkrete Erfahrung
hinausgehenden applikativen Gehalt. In der Relektüre eines solchen Textes kann ich
mithin nie die Information über eine ihm zugrundeliegende Erfahrung oder eine
theologische Überlegung trennen von der damit an den möglichen Leser zugleich
ergehenden Heils-Botschaft, die ihrerseits nur in Sprache zu gießen versucht, was als
Zuspruch ihr selbst je vorausgegangen ist, was daher nicht durch den Versuch
schlichter Abbildung oder Wiedergabe erfolgen kann, sondern nur auf dem Weg
„Christus“ ist die Übersetzung von „Messias“, wörtlich der Gesalbte Gottes, gemeint ist derjenige,
der Gottes Heil offenbar macht. Die soteriologische Grunddimension von JHWH wird insofern nur
entfaltet. Freilich kann dieser Name ausgesprochen werden und wird zur geradezu dreifach tautologischen Glaubensformel, wenn Markus sein Buch mit den Worten beginnt: Evangelium Jesu
Christi, also „Heilszusage des Heil bringenden JHWH, der die Offenbarung des Heils ist.“ – Mit
der Möglichkeit des Aussprechens wird theologisch zugleich realisiert, dass, so das christliche
Grunddogma, Gott wirklich sich geoffenbart hat.
24
Vielleicht nicht mehr allgemein bekannt ist es, dass das Wort „Jehova“ sich aus der fehlerhaft
wörtlichen Lesung des mit den Vokalzeichen für „adonai“ punktierten Zeichens hwhy (jhwh)
ergeben hat, ohne Kenntnis darüber, dass diese Punktierung erst im Mittelalter als Lesehilfe des
ursprünglich rein konsonantischen hebräischen Textes erfunden wurde.
25
Eigentümlicherweise findet diese Struktur in der Literatur kaum Erwähnung. In einer sich freilich
auf den tiefenpsychischen Gehalt archetypischer Symbole konzentrierenden Weise hat Eugen
Drewermann dieses Mittel als „Zeitraffelregel“ in den zumeist mythischen Texten selbst sowie als
„Zeitzerdehnungsregel“ für ihre angemessene, Interpretation beschrieben: Tiefenpsychologie und
Exegese, Bd.1, Olten: Walter 1984, S.226f.; später (S.447) fasst er dies als „Verdichtungsregel“
zusammen. Vgl. auch die Bemerkungen zu den johanneischen Auferstehungstexten: „Man kann
die nachfolgenden Texte des Johannes-Evangeliums nur wirklich verstehen, wenn man sie liest als
Verdichtung menschlicher Erfahrungen und als Antwort auf alles, was seit alters her den Glauben
und das Vertrauen der Menschen in die Macht der Liebe, den Tod zu besiegen, infrage stellen
konnte…“ (Drewermann 1989, S.154).
178
2-2 Religiöse Sprache verstehen
einer diese Erfahrung in Bilder verdichtenden Beschreibung. Im Bedenken dieser
Struktur können religiöse Texte, selbst wenn sie scheinbar historiografischen
Charakter haben, nie als bloß chronistischer Bericht gelesen werden, sondern stets als
sinnerhellende Zusammenbindung von Ereignissen oder Erfahrungen auf ihren zu
vermittelnden Sinngehalt. Im oben erläuterten Sinn kann sich insofern keine
Verständigung mit der intellectio begnügen. Umgekehrt ist der Sinngehalt ebenso
sehr von sich her ausgerichtet auf die Botschaft, die der jeweilige Leser als applicatio
für sich aus dem Text herausliest. Nach Martin Buber ist daher jeder religiöse Text
immer auch Botschaft, weil durch die Konfrontation mit Existenzerschließung, die in
den Texten selbst verdichtet zur Darstellung kommt, sich Dimensionen der je
eigenen Erschließung von Existenz ergeben.26 Am deutlichsten wird dies bei den
vielen direkt als Existenzerschließung komponierten Texten der Bibel, etwa
Berufungs- oder Heilungsgeschichten, wenn man sich auf den Versuch einlässt, die
unausgesprochenen biografischen Hintergründe, die inneren Gefühle der beteiligten
Personen und vor allem die offenkundig ausgelassenen zeitlichen Zwischenspiele,
Einwände, Wendungen, Diskussionen usw. in eine solche Geschichte „hineinzutragen“, um von daher das faktisch in Worte Gefasste eben als Zusammendrängung,
Verdichtung eines oder mehrerer Geschehnisse zu einem Ereignis zu verstehen, wie
auch anders herum die Botschaft solcher Texte applikativ aufzulösen in die je
mögliche konkrete Lebensgestaltung der Leser und Hörer.27
5
Religiöse Sprache als Sprachtranszendierung
Manchen religiösen Texten eignet noch intensiver der Charakter eines „dichten“
Worts, wie es sich sonst allenfalls in der Lyrik findet. Auch für ihre Auslegung gilt
die (nur auf den ersten Blick kryptische) Anweisung Heideggers an die Philosophie,
in ein „Entsprechen“ zu gelangen, indem man auf den Zuspruch des Seins des
Seienden hört, das in der Überlieferung zu uns spricht.28 Religiös gewendet macht
26
Vgl. Buber (1954). Zur genaueren Erschließung dieses Gedankens verweise ich auf die
entsprechenden Passagen im Kapitel 4-3.
27
Hinweise zu einer solchen, Verdichtungen entschlüsselnden und neu verlebendigenden
„Relektüre“ von biblischen Geschichten existentieller Erfahrungen entwickle ich in den Kapiteln
4-2 und 4-3 auch unterrichtsbezogen.
28
Damit dieser Gedanke nicht ein kryptischer Einschub bleibt, sei er zumindest per Anmerkung in
Kürze erläutert: In seinen späteren philosophischen Gedanken nach der sog. „Kehre“ tendiert
Heidegger in der Tat dazu, sich von der Philosophie als vernünftigem Ergründen des Seins des
Seienden abzuwenden, und sich demgegenüber ausdrücklich zu orientieren an dem „kaum
bedachten Wort des Aristoteles, dass das Dichten wahrer sei als das Erkunden von Seiendem“
(Heidegger 1949, S.53). Diese höchst eigentümliche Wendung von Philosophie zur Dichtung hat
ihren Grund einerseits in einer Kritik rationalistischer Philosophie (vgl. Heidegger 1956, S.5),
2-2 Religiöse Sprache verstehen
179
eine dermaßen „entsprechende“ Auslegung Ernst damit, dass in religiösen Texten
immer auch die Erfahrung göttlichen Zuspruchs Gestalt gewinnt. Das ist nicht esoterisch zu verstehen. Doch zerbricht hier der Versuch letztgültiger Auslegung, die
hinter dem Anspruchscharakter eines Wortes stets zurückbleibt.
Diese für philosophische Ansprüche unangenehme Konsequenz ist zu bedenken,
wenn es um den Versuch reflexiver Entschlüsselung z.B. zen-buddhistischer Koans
geht, den ein Zen-Meister von vorneherein als unangemessen zurückweisen würde.
Auch der ästhetische Charakter religiöser Schriften entzieht sich zuweilen bewusst
einer verständigen Auslegung; das ist wiederum ein wichtiger Faktor, den es in der
deutenden Lektüre des Koran zu berücksichtigen gilt.29
andererseits in einem zumindest kryptotheologisch zu deutenden veränderten Verständnis von
„Denken“ und „Sprechen“. Von ihrem Ursprung her, so meint Heidegger, sei Philosophie ohnehin
lediglich ein Sprechen im Einklang mit dem Logos des Sophon (1956, S.13), das von diesem
Sophon, dem Sein, in dem alles Seiende zusammenkommt, nahezu pathologisch in Erstaunen
gesetzt werde (1956, 24ff). Sein Sprechen hat philosophierendes Denken dann nicht als Erkunden
des Seins aufzufassen, sondern als ein auf diese Disposition antwortendes Ent-Sprechen (1956,
S.21). Und wenn es dies „zur Sprache bringt“, bleibt es, so die entscheidende Wendung im sog.
„Humanismusbrief“, von diesem Sein „in den Anspruch genommen.“ Und explizit theologisch
fährt Heidegger dann fort: „Das Denken ist auf das Sein als das Ankommende (l’avenant)
bezogen. Das Denken ist als Denken in die Ankunft des Seins, in das Sein als die Ankunft
gebunden.“ (1949, S.53).
Zweifelsfrei verdankt sich ein solcher Gedanke einer Reflexion auf das, was Theologie ist bzw.
sein muss: Eine (menschliche) Rede von und über Gott, die aber gebunden ist und bleibt an den
Zuspruch, den sie selbst durch Gottes Wort erfahren hat, welches sie in eben jener von Heidegger
als „Ent-Sprechung“ gekennzeichneten Weise zur Sprache zu bringen hat (Vgl. dazu oben in
Kapitel 1-3 meine entsprechende Erläuterung der Wissenschaft der Theologie.) Biblisch wäre
dieser Zusammenhang genauer zu erhellen an einer entsprechenden philosophischen Auslegung
des Johannesprologs, der nichts anderes als eben dies zur Sprache bringt und daran zugleich den
Sinn des Christusereignisses erläutert.
Dass Heidegger hier einen (zumindest im weiten Sinne) theologischen Gedanken denkt, verdeutlicht auch die Einbindung dieses eher epistemologischen und ontologischen Gedankens in einen
anthropologischen, den er, freilich gedehnt interpretierend, bei Heraklit findet: „Der Mensch
wohnt, insofern er Mensch ist, in der Nähe des Gottes“ (1949, S. 45). Nur von dieser theologischen Anthropologie versteht sich dann seine sog. „Destruktion“ traditioneller Philosophie, die
damit an letztlich Religiösem die Grenze ihrer eigenen Vernunft und Sprache erfährt, was für
unseren Zusammenhang daher den am besten geeigneten Kommentar liefert: „Destruktion heißt:
unser Ohr öffnen, freimachen für das, was sich uns in der Überlieferung als Sein des Seienden
zuspricht. Indem wir auf diesen Zuspruch hören, gelangen wir in die Entsprechung.“ (1956, S.22).
29
Vgl. dazu Kermani (1999) und die entsprechenden Hinweise in meinem Kapitel 4-2.
180
6
2-2 Religiöse Sprache verstehen
Differenzierung religiöser Sprachebenen
Konkretere Entfaltung wird die bislang erläuterte Struktur religiöser Sprache finden
müssen in einer Sprachlehre konkreter religiöser Symbole.30 Insbesondere die
Sprachformen der Metapher, des Symbols, des Gleichnisses, des Wunders, der
Legende, des Mythos, aber auch des Glaubensbekenntnisses, des Dogmas usf.
müssen zuerst als Sprachformen erkannt werden, um überhaupt „verstanden“ werden
zu können. So ist etwa die beliebte Umfrage „Glauben Sie an die Jungfrau Maria?“
zumindest unklar, wahrscheinlich eher unsinnig31, weil weder der Sinn von
„glauben“ noch von „Jungfrau Maria“ mit der Frage verständlich gemacht ist oder
sogar ein „falscher“ Sinn unterstellt wird.32 - Auf religionspädagogischem Gebiet hat
sich für eine die urtümliche religiöse Sprache erschließende Didaktik in den letzten
Jahrzehnten vor allem Hubertus Halbfas stark gemacht.33 Eine Religionsdidaktik aus
Sicht der Philosophie sollte auf solche Grundlagen zurückgreifen.34
30
Auch die Ausführungen zu diesem Punkt müssen sich nachfolgend auf einige wenige zentrale
Hinweise beschränken.
31
Diese Redeweise mag gewisse religiöse Kreise schockieren. Doch muss aus philosophischer Sicht
klar gesagt werden: Wer in fundamentalistischer oder ultraorthodoxer Meinung Symbolsprachliches für Tatsachenbeschreibungen (im aussagenlogischen Sinne) hält, hat den religiösen Sinn
solcher Ausdrücke nicht verstanden und macht sich, so diese Meinung anderen offeriert wird, der
Verbreitung von Aberglauben schuldig. In die Gefahr eines solchen Missverständnisses gerieten
und geraten leider auch immer wieder bestimmte kirchliche Äußerungen, leider auch zu grundlegenden Glaubensaussagen. (Vgl. dazu etwa Fuchs 1990 und Petermann 1991).
32
Auch hier liegen die didaktischen Konsequenzen auf der Hand: In Seminaren und Unterrichtsbesuchen ist immer wieder zu erleben, wie leichtfertig auch Studierende der Theologie, denen ein
verantwortbarer Unterricht in Religion ja ein Anliegen sein müsste (und im Selbstverständnis
gewiss auch ist), mit sprachlich nicht unmittelbar zu fassenden Ausdrücken „hantieren“. Natürlich
ist es außerordentlich schwer, für Erzählstoffe wie „Erschaffung der Welt“ oder „Auferstehung
Christi“ die rechte Sprache zu finden, nicht selten fehlt aber zudem grundsätzlich die Fähigkeit,
sich mit der Eigenart dieser Sprache auseinander zu setzen, so dass die Verwechslung mit historischen oder naturwissenschaftlichen Ereignissen in Kauf genommen und so Aberglaube erzeugt
wird. Hier hat bereits die Lehrerausbildung, in den Fächern Theologie wie auch Philosophie/Ethik
eine unverzichtbare Aufgabe.
33
Zu nennen sind die strikte an einer religiösen Sprachlehre orientierten und fortlaufend aufbauenden Unterrichtswerke für die Grundschule und die Sekundarstufe I („Religionsbuch“) Düsseldorf:
Patmos 1983 bis 1991 mit den entsprechenden Kommentarbänden („Religionsunterricht in der
Grundschule“, Bd.1 ff, bzw. „…in Sekundarschulen“, Bd. 5ff, Düsseldorf: Patmos 1983 bis 1997)
sowie in Halbfas: Das dritte Auge. Düsseldorf 1987. - Vgl. dazu meine jetzt als Kapitel 5-1 in den
Kontext dieser Arbeit aufgenommene Auseinandersetzung Petermann 1992.
34
Sie nähren sich im übrigen auch bei Halbfas aus eher philosophischen Überlegungen. Pate für die
religionspädagogische Symboldidaktik haben vor allem Ernst Cassirer und Paul Ricoeur
gestanden.
2-2 Religiöse Sprache verstehen
181
Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass religiöse Sprachformen ebenso ihrer
Eigenwert und ihre eigene Wahrheit enthalten wie es etwa bei künstlerischen, aber
auch fachspezifischen Sprachformen i.d.R. ohne Probleme anerkannt wird. Freilich
hat die Auseinandersetzung mit religiösen Sprachformen unter der historisch
verschuldeten Konfrontation mit der Sprache der neuzeitlichen Naturwissenschaft zu
leiden. Die berühmte Äußerung Galileis, die Sprache der Natur sei in sich klar und
habe sich nie der Meinung der Menschen angepasst, hingegen sei die Sprache der
Bibel stets interpretationsbedürftig und insofern sekundär, diese Meinung meinte er
zwar vertreten zu müssen lediglich zur Verteidigung seiner in sich stimmigen Sicht
von Welt. Freilich hat sich ihre Verallgemeinerung bis heute zu der falschen Ansicht
manifestiert, die naturwissenschaftlich-technische Wissenschaftssprache sei eineindeutig und klar, literarische, künstlerische oder gar religiöse Sprachformen hingegen
bedeuteten stets etwas anderes als sie sagten.35 Denn ein Symbol oder eine Metapher
ist nie „nur“ ein Symbol oder eine Metapher für etwas, was man auch anders sagen
könne, sondern steht eben an solchen Stellen, in denen sich das zu Sagende nicht
anders sagen lässt als in der Figur eines Symbols oder einer Metapher.
Im einzelnen: Unabhängig vom Umgang mit Metaphern in der Alltagssprache zum
Zwecke ihrer spielerisch-vergnüglichen Ausgestaltung hat die Metapher ihren ernsthaften Ort genau dort, wo es um die (vorhin im Punkt „Hermeneutik“ skizzierte)
Übertragungsleistung von einer in eine andere Ebene geht, die zugleich das Problem
und die Begrenztheit völliger Übertragung zur Sprache bringt.36 Ein gut geeignetes
Beispiel zur Erklärung sind sog. Anthropomorphismen. Absurd wäre es, sie dahingehend auflösen zu wollen, dass man das „eigentlich“ in ihnen Gemeinte versuchen
würde in Sprache zu fassen, da sie sich erst einstellen, wenn eben dies nicht möglich
ist. Andererseits ist metaphorischer Sprachgebrauch auch davon überzeugt, dass die
Sprache angesichts der Einsicht in diese ihre Grenze (also der epistemologischen
Unmöglichkeit, etwa über das Ansichsein der Dinge, vor allem aber über das die
Grenzen unserer Welt Übersteigende etwas aus-sagen zu wollen) nicht verstummen
muss, sondern zum metaphorischen Bild greifen kann, das alle Religionen vor allem
anwenden, wenn es um Beschreibungen oder sprachlich zu fassende Attribute ihres
Gottes (etwa die Rede vom Arm Gottes oder auch der Güte Gottes) geht: Stets sind
dies nichts anderes als anthropomorphe Ausdrücke, verlieren aber aufgrund ihres
metaphorischen Sinns (nicht Bedeutung!, s.o.) nichts von ihrer Wahrheit, damit
Göttliches im Bewusstsein zu bezeichnen, dass dies apophantisch nicht möglich ist.
35
Zum wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund dieser Meinung vgl. Kapitel 1-1.
36
Die Einbindung der religiösen Metapher in das Philosophische würde hier den Raum sprengen;
daher sei nur verwiesen auf die ausführlichen Studien etwa von Hans Blumenberg zu einer philosophischen Metaphorologie; bes. etwa: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt: Suhrkamp.
182
2-2 Religiöse Sprache verstehen
Das Symbol 37 hat eine andere Aufgabe: Hier wird ganz wörtlich „verdichtet“ (s.o.),
natürlich nicht nur sprachlich, was ebenfalls über eine apophantische Beschreibung
sich nicht einholen lässt, wenn nämlich über ein Wort oder eine Geste oder eine
Handlung ein existentieller Zuspruch erfolgt, der an eben diesen bloßen Augenblick
des Erlebens gekoppelt ist, sich mithin durch sprachliche Nachgestaltung nie wird
einholen lassen. Im Unterschied zum Zeichen, das bloß auf anderes verweist und
insofern auch dechiffriert werden kann, ist das Symbol ein Zeichen, das auf eine
wesentlich nicht sagbare intensionale Struktur (s.o.) nicht nur verweist, sondern diese
selbst mit zum Ausdruck bringt, im Raum des Religiösen eng verbunden mit einer im
Augenblick der Erfahrung selbst geschehenen existentiellen Verdichtung, die die/den
Betroffene(n) in diesem Augenblick in einer (metaphorisch gesprochen) eher
vertikale Zeiterfahrung sich vollzieht.
In diesem Zusammenhang muss ein in religionspädagogischen Entwürfen bis hin
zur Unterrichtspraxis zuweilen inflationärer Umgang mit dem Symbolischen
zurückgewiesen werden. Natürlich kennen alle Religionen heilige Zeichen, heilige
Dinge, heilige Vollzüge. Ihnen kommt aber aufgrund ihres Verwendungszusammenhangs nicht automatisch symbolischer Charakter zu, selbst, selbst wenn er Alltagsvollzüge sprengende Qualität aufweist. Ansonsten wäre jedes Stück Literatur und
jedes Kunstwerk von vorneherein symbolisch. Demgegenüber plädiere ich dafür, den
Begriff des Symbolischen in einem emphatischen Sinne für solche Begriffe, Dinge,
Vollzüge zu reservieren, die a) Erfahrungen verdichten (und nicht bloß abbilden),
b) in dieser Verdichtung zugleich auf eine in den Erfahrungen zur Erfahrung
gekommene Tiefenstruktur verweisen (intensionaler Charakter), vor allem aber c) in
der Form ihres Ausdrucks (also in diesem symbolischen Begriff, Ding, Vollzug)
etwas ausdrücken, was sich anders nicht ausdrücken ließe (chiffrenhaft privativer
Charakter).38
Die Struktur des Symbolischen kennzeichnet über das Sprachliche hinaus auch
viele nichtsprachliche Erscheinungsweisen des Religiösen. Die Notwendigkeit
symbolischer Deutung ist insofern für jede Begegnung mit Religiösem
Voraussetzung. Ereignisse oder Handlungen wie etwa Taufe, Wallfahrt,
37
Religionspädagogisch grundlegend für diesen Zusammenhang sind diverse Einlassungen von
Hubertus Halbfas zur Symboldidaktik, so vor allem in: Das dritte Auge (1987), S.84-129; Rel’U
i.d. Grundsch. Lehrerhdb.1 (1983), S.253-332; Rel’U i.d. Grundsch. Lehrerhdb.3 (1985), S.511ff;
Rel’U. in Sek’Sch. Lehrerhdb. 6 (1993, S.69-178.
38
Dieser emphatische Gebrauch von „Symbol“ nährt sich aus den philosophisch-theologischen
Überlegungen der pseudodionysischen Tradition einerseits (insbesondere bei Hugo und Richard
von St.Victor) sowie den Spekulationen des Nicolaus Cusanus, die beide darauf abzielen, dass im
Symbol etwas repräsentiert wird, das anders als in dieser Form unserer sinnlichen Erfahrung nicht
zugänglich wäre. (Vgl. dazu Meier-Oeser 1998; auch Ricoeur (1969, S.505ff) scheint mit einem
solch emphatischen Sinn von „Symbol“ zu arbeiten.)
2-2 Religiöse Sprache verstehen
183
gemeinsames Mahl, Hochzeit, Beerdigung (selbstverständlich nicht nur im
christlichen Kontext, sondern etwa auch die Ganges-Waschungen im Hinduismus,
die Reinigungen vor dem Gebet im Islam usw.) machen auch für den Beobachter,
nicht nur die Gläubigen, nur als sakramentale Hervorhebungen oder Verdichtungen
von Lebenswegen einen Sinn, dem bloß äußeren phänomenal-diagnostischen Blick
bleiben sie verschlossen.
Elementare religiöse Symbole in diesem Sinne sind auch religiöse Heilungen oder
Ereignisse wie Auferstehung bzw. Reinkarnation. Der innerreligiöse Einwand, mit
dieser Deutung würden zentrale religiöse Elemente nicht ernstgenommen, da ja hier
etwa „Auferstehung“ „nur“ symbolisch und eben nicht real gedeutet würde, versteht
nicht, was er sagt: Extensional-apophantisch macht eben „Auferstehung“ keinen
Sinn; die innerreligiös mit Auferstehung völlig zu Recht als fundamental behauptete
neue Wirklichkeit erschließt sich nur intensional-symbolisch, eben weil eine andere
als die von uns erfahrbare Wirklichkeit darin sich zeigt und nach religiöser
Vorstellung sich als die eigentlich lebenserschließende. Nichts anderes wird im
übrigen in den entsprechenden biblischen Texten gesagt. Aber zuweilen auch
ausdrücklich weisen religiöse Texte auf solche Symbole hin, wenn etwa besonders in
den von Markus aufgezeichneten Heilungshandlungen von einem „sofort“ die Rede
ist. Diese Komplexität wird häufig auch nicht bedacht bei einer Frage wie: „Glauben
Sie an die Auferstehung?“, was schon als Frage ohne weiteres gar nicht verstanden
werden kann.
Dass der Mythos eine nicht nur religiös, sondern auch philosophisch gebräuchliche
Sprachform ist, hat bereits Platon durch Protagoras thematisiert: Leichter zu hören
und daher verständlicher scheint es, eine Geschichte mit vielen Ausschmückungen
und Bildern zu erzählen, und nicht in diskursiv-logischer Form darzustellen und zu
erörtern, um einen Sinngehalt dem Hörer oder Leser im Hinblick auf eigene Sinngebung nahezubringen. Setzt der Logos bewusst auf reflexive Distanz zu dem durch
ihn dargestellten Gegenstand und will auch den Leser zu der reflexiven Auseinandersetzung mit diesem Gegenstand bringen, so zielt der Mythos auf eine Einbindung
seines Hörers mit dessen existentieller Sinnfrage in die je schon gestellte Sinnfrage,
in der sich wiederfindend der Hörer sich nun auf den Weg machen kann zur konkreten sinnvollen Lebensgestaltung, von der ihre logisch-diskursive Erörterung
jedoch nur eine Möglichkeit ist. Als sprachliches Mittel greift der Mythos zu Bildern
und nicht zu Begriffen, nicht zuletzt weil Bilder den Blick weiten und defokussieren
und nicht wie der Begriff konzentrieren und fokussieren. Mythisch wird daher vor
allem in Sprache gesetzt, was nach dem je vorgängigen Woher und nach dem uneinholbaren Wohin fragt. Ursprungsmythen (wie biblisch die Texte Gen 1-11) oder
Endzeit- bzw. Ewigkeitsmythen (wie biblisch etwa die apokalyptische Literatur) sind
184
2-2 Religiöse Sprache verstehen
entsprechend die häufigsten Beispiele der Verwendung des Mythos im religiösen
Raum. Eher aus Gründen einer langen Geschichte von auch pädagogisch unheilvoll
wirksamen Missverständnissen sei darauf hingewiesen, dass solche Mythen natürlich
nicht historisch oder als Tatsachenberichte gelesen werden dürfen und auch wollen.
Im christlichen Raum hat sich jedoch bis heute der angesichts dieser Feststellung
falsche Terminus „Schöpfungsberichte“ für die Texte am Anfang der Bibel gehalten.
Natürlich versteht auch hier nichts von den nicht nur theologisch, sondern auch
philosophisch bedeutsamen kosmologischen und anthropologischen Überlegungen
dieser Texte, wer meint, sie fundamentalistisch lesen zu können.
Leichter ist der Umgang mit der Legende. Neben der berühmten Sammlung von
Heiligenlegenden in den Legenda aurea39 sind das bekannteste Einzelbeispiel im
mitteleuropäischen Raum die sog. fioretti über Francesco D’Assisi40; aber bereits die
Bibel kennt Legenden, am bekanntesten ist die sog. Josefslegende Gen 37ff. Und
auch in anderen Religionen ist Legendarisches mannigfaltig überliefert, etwa zur
Jugend Siddhartas im Buddhismus, oder die breite Literatur zur Person des
Mohammad. An der Nennung dieser Beispiele wird deutlich: Im Unterschied zum
Mythos, der sich eher allgemein auf Ursprüngliches und Ewiges bezieht, versucht die
Legende, diese veränderte Sinndimension in die Gestaltung persönlich gelebter
konkreter Gegenwart einzuziehen und zur Sprache zu bringen, etwa unter der
Perspektive: Wie wäre es, wenn wir im vollen Erleben und Fühlen unseres Woher
und Wohin Gegenwart auskosten würden? Erlebnisse, die eher innerlich und durch
ein einmaliges Erleben die Erfahrung von Lebenssinn für einen einzelnen Menschen
auf eine andere, tiefere Ebene haben stellen können, werden zu einer Lebensgeschichte unter der Perspektive nicht mehr konkret zu durchlebenden, sondern
erfüllten Sinns ausgesponnen, um das tägliche Leben eben wie mit Blumen, fioretti,
auszuschmücken und zu verschönern und so für die Hörer zumindest in Ansätzen
unter dieser veränderten Perspektive lebbar zu machen. Jedem Hörer von Legenden
ist klar, dass die Frage, ob das wirklich passiert sei, unsinnig ist. Entscheidender ist
die Erfahrung von Gelingen und Schönheit von Leben, das mir als Hörer die
Möglichkeit gibt, selbst im Detail in diesem Sinne anders durchs Leben zu gehen.
Schließlich ein kurzes Wort zu Dogmen: Nicht alle Religionen kennen sie, im
christlichen Raum aber haben sie bis in den Raum des Öffentlich-Rechtlichen hinein
Wirkung gezeigt. Sollte in späterer Zeit mit ihnen Sagbares von Nichtsagbarem als
39
Die Leganda aurea des Jacobus de Voragine (1263-73). Aus d.Lat.übers.v.R.Benz, Heidelberg :
L.Schneider 10.1984.
40
Entstanden sind die fioretti im 14. Jh., etwa 100 Jahre nach dem Tod des Francesco 1226; dt.
Ausgabe etwa in: Franz von Assisi: Die Werke. Zürich: Diogenes 1979.
2-2 Religiöse Sprache verstehen
185
Rahmen für Lebensordnungen unterschieden und festgelegt werden, so ist ihr Sinn
ursprünglich als Versuch zu verstehen, eine generalisierbare Formel zu finden, die
immer und überall alle, die sie aussprechen wie ein Erkennungszeichen verbindet, als
„symbolon“, gedrängte Zusammenfassung ihres gemeinsamen Glaubens. Daraufhin
auch inkriminierte neuere Dogmen zu überprüfen, kann ihnen durchaus zuweilen
etwas Erhellendes abgewinnen.
III
Gesprächsführung
Kapitel 3
Theologisieren mit Kindern?
Bemerkungen aus philosophischer Perspektive1
„…der Mann (war) jetzt traurig. Er sollte zu Gott beten und ihn fragen,
warum er das gemacht hat. Dann würde Gott es ihm bestimmt sagen. Und er
würde Gottes Sage annehmen. Er sollte dann das tun, was er sagt.“2
Keine Frage, in diesem Votum eines 10-jährigen Mädchens vollzieht sich
theologisches Denken, - in unmittelbarer Betroffenheit geäußert und nicht bewusst
einen Gedankenprozess konstruierend, aber doch in aller Ernsthaftigkeit und in
einem zumindest für uns klar strukturierten Gang der Gedanken:
• Auf eine Erfahrung (1) folgt
• als erste Ebene der Auseinandersetzung (2), diese Erfahrung vor Gott zu
tragen, sagen wir zunächst vor eine unsere Erfahrungen übersteigende Instanz, die
für diese Erfahrung die Verantwortung zu tragen scheint, weil eine unmittelbar
greifbare Verantwortung nicht auszumachen ist.
• In dieser Auseinandersetzung scheint drittens die Begegnung mit Gott
dialogische Züge (3) anzunehmen; von Frage und Sage ist die Rede: In der Frage
1
2
Das vorliegende Kapitel ist bis auf wenige durchgesehene Anmerkungen identisch mit meinem
Beitrag: Wie können Kinder Theologen sein? Bemerkungen aus philosophischer Perspektive, in
dem Band: Gerhard Büttner & Hartmut Rupp (Hg.): Theologisieren mit Kindern. Stuttgart: Kohlhammer 2002, S. 95-127. - Das Buch wie auch mein Beitrag gehen zurück auf ein Symposion
zum Thema „Theologisieren mit Kindern“ am 1. Oktober 1998 in Heidelberg. Als Besonderheit
dieses Unternehmens darf sicher herausgestellt werden, dass nicht einfach Theorien zum Philosophieren und Theologisieren mit Kindern vorgetragen wurden. Die Diskussionen nehmen vielmehr ihren Ausgang in konkreten Unterrichtsbeispielen, die zunächst weitgehend in dem genannten Band mit abgedruckt sind. Aus ihnen werden Möglichkeiten eines Theologisierens mit
Kindern entwickelt. Und erst zuletzt werden an ihnen auch Theorien zum Theologisieren mit
Kindern überprüft. In meinem gegenüber dem ursprünglichen Symposions-Vortrag erheblich
erweiterten schriftlichen Beitrag hatte ich Gelegenheit, die mir vorliegenden Unterrichtsprotokolle
genauer zu studieren und zu kommentieren. - Damit meine Kommentare an den Protokollen selbst
nachvollzogen werden können, war es sinnvoll, sie in das vorliegende Kapitel einzubinden, woraus
sich die Überlänge erklärt. Ich danke den Herausgebern für die Zustimmung, die beiden Unterrichtsprotokolle zur Theodizee-Frage (Abschnitt 4.1) und zum Problem des freien Willens
(Abschnitt 4.3) abzudrucken; die Aussagen zum Michaels-Mythos konnten aus technischen
Gründen nur in die Anmerkungen aufgenommen werden.
Büttner/Rupp (2002), S. 27 (Protokoll „Theodizee“, Notiz Mädchen 1).
3 Theologisieren mit Kindern?
189
erfahre ich einen Widerpart, dem ich meine Frage stellen kann, und mit dieser
weiteren Erfahrung widerfährt mir ein Sagen, als Antwort auf mein Fragen, aber
auch als Horizont, unter dem Fragen überhaupt nur möglich und sinnvoll ist und
sich als Anfragen erweist.
• Damit ist mir viertens die Möglichkeit eröffnet, die „Sage“ anzunehmen (4)
und so meine ursprüngliche Erfahrung zu integrieren, also als ein Widerfahrnis in
Bezug auf mich selbst zu verstehen.
• Das heißt noch nicht, diese ursprüngliche Erfahrung auch schon akzeptieren
oder gar mit ihr fertig werden zu können; dazu folgt noch die letzte Ebene: Wenn
ich nun tue, was mir gesagt wurde, bin ich bereits unterwegs, gehe einen Weg der
Auseinandersetzung (5).
Diese Rekonstruktion ordnet die Antwort des Mädchens bewusst nicht in ein
bestimmtes Theodizee-Schema ein.3 Mich interessiert zunächst vielmehr,
a) dass sich hier ein theologisch interessanter und differenzierter Gedankengang
herauslesen lässt,
b) dass und warum dieser Gedankengang von einem Kind als unmittelbarer
Gedanke geäußert wurde, und
c) dass bzw. wie und warum Kinder zu solchen Gedanken einerseits motiviert
und andererseits mit ihnen ihr Gedanke weitergedacht werden könnte.
Mit diesem kurzen Aufriss ist eigentlich schon alles gesagt: Kinder sind Theologen.
Nun steht neben dem pädagogischen Sinn dieser Behauptung auch ihr philosophischer Gehalt zur Debatte; zu fragen ist daher auch, was genauer gemeint ist,
wenn Kinder theologisieren, also inwiefern, auf welcher Ebene sie theologische
Gedanken zu äußern in der Lage sind, bzw. wie denn Kinder Theologen sein können.
Einige Blicke in diese Richtung zu werfen, dieser Aufgabe stellt sich das folgende
Kapitel, mit dem Ziel, Grundlagen, Möglichkeiten und Schwierigkeiten der
Gesprächsführung im Religionsunterricht bzw. Ethikunterricht zu theologisch
interessanten Themen zu erörtern.
• Dazu ist es in einem ersten Abschnitt (1) wichtig, sich genauer des Titels
„Theologisieren mit Kindern“ zu vergewissern. Das wird geschehen (1.1) durch eine
Skizze der Bewegung des Philosophierens mit Kindern, die den Hintergrund für
unser Thema bietet, (1.2) durch eine kurze Klarstellung der Pointe der Rede von
einer Theologie der Kinder.
3
Vgl. dazu die entsprechenden Bemerkungen von Gerhard Büttner, in: Büttner/Rupp (2002), S. 30f.
Büttner macht in dieser Untersuchung das Theologisieren mit Kindern fest an der Einordnung
kindlicher Antworten in die von Piaget und Kohlberg entwickelten Stufen kognitiver bzw.
moralischer Entwicklung. Damit nimmt er ausdrücklich Bezug auf diverse Untersuchungen von
Anton A.Bucher (insbesondere Bucher (1992a)). Auf eine solche Einordnung beziehe ich mich mit
meinem Ausdruck „Theodizee-Schema“.
190
3 Theologisieren mit Kindern?
• In einem zweiten Abschnitt (2) geht es um eine knappe systematische
Orientierung zur Frage, warum und inwiefern Philosophie im kindlichen Denken eine
Grundlage hat; damit wird der Horizont abgesteckt, an dem sich auch ein
Theologisieren mit Kindern zu messen hat.
• Ein dritter Abschnitt (3) entwickelt dann in wenigen Andeutungen Perspektiven
zu einer Theologie der Kinder.
• Mit den in (2) und (3) zusammengestellten Kriterien werden dann im vierten
Abschnitt (4) die Unterrichtsbeispiele kommentiert, um Sinnvolles und Machbares
für Formen theologisierender Unterrichtsgespräche festzuhalten, sowie kritisch
einige Perspektiven für eine Fortbildung des Theologisierens mit Kindern zu
entwerfen,
•
was in thesenhafter Form den Abschluss (5) dieses Kapitels bildet.
3 Theologisieren mit Kindern?
1
191
Was heißt „Theologisieren mit Kindern“?
Bedenkt man die Fragestellung Wie können Kinder Theologen sein?, so ist das
Thema damit noch nicht genau genug umrissen. Der hier unterstellte Zusammenhang
von Kinderfragen und Theologie lässt mehrere Deutungen zu: Geht es um eine
Theologie für Kinder, eine Theologie der Kinder, ein Theologisieren mit Kindern?
Dahinter verbergen sich spezifischere Fragestellungen: Sind Kinder eigenständig und
kindgemäß in der Lage, theologische Gedanken zu fassen und zu formulieren?
Inwiefern hängen sog. elementare Fragen, wie in besonderem Maße Kinder sie zu
stellen scheinen, mit Grundfragen der Theologie zusammen? Warum macht es insofern Sinn, nicht von einer Theologie für Kinder, sondern von einer Theologie der
Kinder zu sprechen? Sind dann Kinder als Theologen anzusehen, bzw. inwiefern sind
sie als Theologen anzusehen? Und wie, auf welchen Ebenen, mit welchen Mitteln
kann es gelingen, mit Kindern in einen Gedankenaustausch über theologische Fragen
zu kommen, die auch ihre eigenen theologischen Fragen sind? Und hat das schließlich Konsequenzen für das Selbstverständnis von Theologie?
1.1
Philosophieren mit Kindern als Hintergrund der Fragestellung
Die Formulierung der eben aufgeworfenen Fragen lässt erkennen, dass sie im
Horizont der Bewegung des Philosophierens mit Kindern entwickelt worden sind.
Ich will daher kurz über wichtige Richtungen orientieren, um so die Akzentsetzung
des Titels „Theologisieren mit Kinder“ zu verdeutlichen.
Als neuere Erscheinung geht das Philosophieren mit Kindern zurück auf Initiativen von Matthew Lipman und sein 1970 in den USA gegründetes „Institute for the
Advancement of Philosophy for Children“ (IAPC). Lipman konnte dabei auf reformpädagogische Erfahrungen in Deutschland zu Beginn des 20. Jh. zurückgreifen,
namentlich auf Hermann Nohl4 und Leonard Nelson5, aber auch auf Überlegungen
im Pragmatismus von John Dewey6. Von ihnen übernahm er vor allem die Zielsetzung, das logische Denken, die Verstandestätigkeit der Kinder zu stärken, sowohl
was Gegenstände der Erkenntnis angeht als auch Gegenstände des (moralischen)
4
5
6
Nohl, Herman: Die Philosophie in der Schule (1922); in: Nohl: Pädagogik aus dreißig Jahren.
Frankfurt/M. 1949.
Nelson, Leonard: Die sokratische Methode (1922). Hg. v. G. Raupach-Strey. Kassel 1996.
Vgl. etwa Dewey, John: Wie wir denken. Eine Untersuchung über die Beziehung des reflexiven
Denkens zum Prozeß der Erziehung. Zürich (Morgarten) 1951 (amerik.: How we Think. Boston
1910); und: Demokratie und Erziehung (amerik.: 1915). Weinheim 1993.
192
3 Theologisieren mit Kindern?
Handelns. In seiner Didaktik bleibt Lipman jedoch eher dem traditionellen Muster
des Beibringens und Unterweisens verhaftet, so dass sein Ansatz nicht unberechtigt
als eine „Philosophie für Kinder“7 eingeordnet wird. Inzwischen hat diese Bewegung
Schüler in aller Welt hervorgebracht. International bekannt geworden ist vor allem
das österreichische Institut in Graz mit Daniela Camhy8 und die Bewegung in
Australien mit Phil Cam9. In der Fortentwicklung des Lipmanschen Ansatzes wurde
das Missverständnis einer verkindlichten Form von Philosophie für die Unterweisung
lediglich in der Schule relativiert bzw. aufgehoben, zumal Lipmans wegweisende
Materialien10 selbst keineswegs einen bloß unterweisenden Charakter haben, sondern
sowohl in der Anlage der Texte als auch hinsichtlich der Möglichkeiten ihrer Aufarbeitung deutlich dialogisch-interaktiv ausgerichtet sind.
In Deutschland hat seit Beginn der 80er-Jahre vor allem Ekkehard Martens in
Hamburg das Philosophieren mit Kindern gefördert. Von vorneherein verstand er
dabei Kinder als Subjekte des Philosophierens und legte entsprechend Wert darauf,
bei ihnen auch die „Haltung der Neugier und Offenheit“, aber auch die Dialogfähigkeit zu fördern.11 Unter dieser Zielsetzung hat dann Barbara Brüning seit 1984 in
Hamburg Philosophie-Gruppen mit Kindern geleitet.12 Mit der Einführung der
„Verlässlichen Halbtagsgrundschule“ wurde Philosophieren mit Kindern 1997 sogar
(Wahl-)Schulfach in Hamburg.13 Schon zuvor hatte, ausgehend von den Hamburger
Überlegungen, das Land Mecklenburg-Vorpommern „Philosophieren mit Kindern“
7
8
9
10
11
12
13
Bezeichnend dafür ist auch der gleichnamige programmatische Aufsatz Lipmans aus dem Jahr
1970 sowie die unter dem Titel „Thinking. The Journal of Philosophy for Children.“ seit 1979 von
Lipman herausgegebene Zeitschrift (Montclair / New Jerses / USA).
Camhy, Daniela (Hg): Wenn Kinder philosophieren. Graz 1990; und Camhy (Hg.): Das philosophische Denken von Kindern. St.Augustin 1994.
Auf deutsch ist eine Reihe von Titeln erschienen im Verlag an der Ruhr, z.B. Phil Cam: Können
Augen sehen? Mülheim (Vlg.a.d.Ruhr) 1997.
Lipman, Matthew: Pixie. dt.: Wien 1986 [für die Primarstufe] und: Harry Stottlemeiers Entdeckung [für die S I]. dt.: Wien (Hölder) 1990.
Martens, Ekkehard: Sich im Denken orientieren. Philosophische Anfangsschritte mit Kindern.
Hannover (Schroedel) 1990, S.6. Das Buch ist in einer revidierten Fassung neu aufgelegt unter
dem Titel: Philosophieren mit Kindern. Eine Einführung in die Philosophie. Stuttgart (reclam)
1999.
Brüning, Barbara: Mit dem Kompass durch das Labyrinth der Welt. Wie Kinder wichtigen
Lebensfragen auf die Spur kommen. Bad Münder (Bücherwarte) 1990. – Jetzt auch: Brüning 2001.
Philosophieren in der Verläßlichen Halbtagsgrundschule. Eine Dokumentation von Praxiserfahrungen. Erarbeitet vom Arbeitskreis Kristina Calvert, Evelina Ivanova, Cristine Kipping,
Angelika Maier, Ekkehard Martens, Eberhard Ritz (Leitung), Markus Tiedemann. Hamburg 1997.
Vgl. dazu auch das Lese-Buch von Markus Tiedemann: Prinzessin Metaphysika. Eine fantastische
Reise durch die Philosophie. Hildesheim (Olms) 1999.
3 Theologisieren mit Kindern?
193
als ordentliches Unterrichtsfach ab der Klasse 1 projektiert und inzwischen auch
eingeführt.14
Über die Insider hinaus bekannt gemacht hat das Philosophieren mit Kindern dann
der Berliner Pädagogikprofessor Hans-Ludwig Freese, vor allem mit seinem
programmatischen Buch „Kinder sind Philosophen“15, das den bislang vielleicht
besten Überblick und auch eine sehr gute Einführung in die Thematik bietet; weitere
Bänden mit Material für die Praxis folgten.16 Freese geht in seinem Verständnis aus
vom ganz naiven kindlichen Staunen, hinter dem er jene Fragen vermutet, die auch
die metaphysische Tradition der Philosophie bewegt haben. Dieses Staunen nicht
entwicklungspsychologisch als Vorstufe zum Denken anzusehen, es vielmehr als
eigenständige Denkform ernst zu nehmen und durch Gespräche zu fördern und zu
entwickeln, ist ebenso das Anliegen des Amerikaners Gareth B. Matthews, dessen
erste Bücher Freese in Deutschland bekannt gemacht hat.17 Matthews beginnt seine
Gespräche mit Kindern durch kleine dialogisch und interaktiv angelegte Impulsgeschichten, die überzeugend die Eigentätigkeit kindlichen Denkens und das
Gespräch auch unter den Kindern selbst freisetzen.
Natürlich kann, auch darauf hat Freese hingewiesen, das Philosophieren mit
Kindern auf eine lange Tradition zurückblicken: Nicht erst in der Reformpädagogik
zu Beginn des 20. Jh., bereits in der Aufklärungszeit hat es entsprechende
Erziehungsprogramme gegeben. Zu nennen sind vor allem die Namen John Locke,
Jean-Jacques Rousseau und Karl-Philipp Moritz18. Aber auch schon in der Antike
scheint beispielsweise Epikur das Philosophieren mit Kindern ausdrücklich unterstützt zu haben.
Unter den besonderen Perspektiven des staunenden, beobachtenden und entdeckenden Lernens im Sachunterrichts hat Helmut Schreier wichtige Materialien für
14
15
16
17
18
Namentlich zu nennen sind in diesem Zusammenhang Barbara Brüning, Michael Fröhlich, Heiner
Hastedt und Silke Pfeiffer. Vgl. dazu: Philosophieren in der Grundschule. Rostocker Philos.
Manuskripte. NF,Heft 7, Hg. v. H.Hastedt u.a.. Rostock 1999; sowie in der gleichen Reihe das
Heft 3: Philosophieren mit Kindern. Rostock 1996.
Freese, Hans-Ludwig: Kinder sind Philosophen. Weinheim (Quadriga) 1989 [inzwischen mehrere
Nachdrucke].
Freese, Hans-Ludwig (Hg.): Gedankenreisen. Philosophische Texte für Jugendliche und Neugierige. Reinbek (rowohlt) 1990, und Freese: Abenteuer im Kopf. Philosophische Gedankenexperimente. Weinheim (Beltz) 1995.
Matthews, Gareth B.: Philosophische Gespräche mit Kindern. Berlin (Freese) 1989 (amerik:
1984), und Matthews: Denkproben. Berlin (Freese) 1991 (amerik: Philosophy and the Young
Child 1980).
Vgl. dazu jetzt neu als Bilderbuch von Wolf Erlbruch bearbeitet: Moritz, Karl Philipp: Neues
ABC-Buch. München (Kunstmann) 2000 (original 1790).
194
3 Theologisieren mit Kindern?
das Philosophieren mit Kindern zusammengestellt.19 - Das Staunen über die Dinge
der unmittelbaren Erfahrung, nicht zuletzt über die Schulung der sinnlichen Wahrnehmung ist ein wichtiges Element auch für die Eva Zoller, die seit 1987 in der
Schweiz eine Dokumentationsstelle für das Philosophieren vor allem mit Vorschulkindern aufgebaut hat.20 - Gleichwohl kann nicht jede Auseinandersetzung mit kindlichem Fragen schon Philosophie genannt werden; viele Publikationen sind eher
(durchaus wertvolle) pädagogische Ratgeber oder Problembücher.21- Dass neben
philosophischen Texten und Geschichten auch literarische Texte und sogar Bilder
Impulse für das Philosophieren bieten, das haben vor allem Jutta Kähler und Susanne
Nordhofen wiederholt herausgestellt.22 Zu Möglichkeiten des Philosophierens in und
mit Bilderbüchern habe ich selbst diverse Seminare durchgeführt.23 Im Bereich der
Kinderliteratur sind in den letzten Jahren in der Tat relativ viele philosophisch interessante, zuweilen auch direkt philosophisch gestaltete Titel auf den Markt gekommen. Für ein Philosophieren mit Kindern sind dabei weniger interessant Bücher, die
eher auf Sachbuchebene Philosophie zum Thema machen, so insbesondere der weithin überschätzte Bestseller „Sofies Welt“24; bedeutender sind Versuche, die Philosophie, besser Philosophieren in der Textgestalt selbst anlegen und so den Leser zum
19
20
21
22
23
24
Schreier, Helmut: Himmel, Erde und ich. Geschichten zum Nachdenken über den Sinn des Lebens,
den Wert der Dinge und die Erkenntnis der Welt. Heinsberg (Dieck) 1993, sowie der
entsprechende Kommentarband. - Zu nennen sind in diesem Zusammenhang auch die didaktischen
Überlegungen des Reformpädagogen Martin Wagenschein für den Bereich der Physik, gut
zugänglich etwa in dem Bändchen: Verstehen lernen. Genetisch - Sokratisch - Exemplarisch. Beltz
(Weinheim) 1968 (als TB 1999).
Am bekanntesten ist ihr anregendes Buch: Zoller, Eva: Die kleinen Philosophen. Vom Umgang
mit „schwierigen“ Fragen. Zürich (Orell F.) 1991 (als Herder-TB 1995).
Zu nennen wären hier Bücher wie: Glage, Benita: „Warum bleibt der Gott im Himmel?“ Mit
Kindern über das Leben nachdenken. München (Kösel) 1992; oder: Schuster-Brink, Carola:
Kinderfragen kennen kein Tabu. Ravensburg (O.Maier) 1991; oder auch Pousset, Raimund: Sicher
antworten auf Kinderfragen. Wuppertal (Hammer) 1993. - Nicht gilt das für das verdienstvolle
Buch von Rainer Oberthür: Kinder und die großen Fragen. Ein Praxisbuch für den Religionsunterricht. München (Kösel) 1995; Oberthür hat sich nicht nur mit philosophischen Hintergründen
auseinandergesetzt, sondern arbeitet in seinen Praxismodellen durchaus mit philosophischen
Rastern.
Kähler, Jutta / Nordhofen, Susanne: Geschichten zum Philosophieren. Stuttgart (reclam) 1994.
Vgl. auch diverse einschlägige Aufsätze der Autorinnen in der „Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik“.
In Vorbereitung ist das Buch: Petermann: „Kann ein Hering ertrinken?“ Philosophieren mit Bilderbüchern. Weinheim: Beltz 2002. – In die vorliegende Buch ist daraus das 11.Kapitel zur Frage
nach Gott in leicht veränderter Form als Kapitel 4-1 aufgenommen worden.
Gaarder, Jostein: Sofies Welt. München (Hanser) 1993 (norw. 1991). Das Buch bleibt entgegen
seinem Anspruch eher auf der informierenden Sachebene, dringt kaum vor zu einem dialogischen
Philosophieren. Geeigneter für das eigenständige Philosophieren, wenngleich erst für Fortgeschrittene, ist demgegenüber ein Buch wie das von Nora K. und Vittorio Hösle: Das Café der toten
Philosophen. Ein philosophischer Briefwechsel für Kinder und Erwachsene. München: Beck 1996.
3 Theologisieren mit Kindern?
195
philosophischen Mitdenken animieren. Zu nennen ist hier an vorderster Stelle ein
Autor wie Jürg Schubiger.25
Fest institutionalisiert ist das Philosophieren mit Kindern in Deutschland bislang in
Mecklenburg-Vorpommern als ordentliches Schulfach, als Philosophie für die
Sekundarstufe I auch in Schleswig-Holstein, für die Grundschule im Ergänzungsbereich in Hamburg. Andere Bundesländer, auch Baden-Württemberg, das bislang
einen Ethik-Unterricht erst ab Klasse 8 vorsieht, überlegen jedoch, Ansätze des
Philosophierens mit Kindern in die Curricula der Philosophie- bzw. Ethik-Lehrpläne
einzubauen. An Hochschulen werden Lehramtsstudierende freilich nur sehr sporadisch auf solche Aufgaben vorbereitet. Regelmäßig und auf der Grundlage curricularer Konzepte bieten Veranstaltungen zum Philosophieren mit Kindern zur Zeit wohl
nur die Universität Rostock im Rahmen der Lehrerfortbildung (Barbara
Brüning/Silke Pfeiffer/Michael Fröhlich) und bereits seit 1991 die Pädagogische
Hochschule Heidelberg (Hans-Bernhard Petermann) an. Außerschulisch gibt es demgegenüber eine Vielzahl von Initiativen von Eltern und Erzieherinnen.26 - 1997 hat
sich in Bremen im „Fachverband Philosophie“ eine „Kommission Philosophieren mit
Kindern“ konstituiert27, die 1998 in Heidelberg eine erste Fachtagung durchführte, an
der die meisten genannten Personen direkt oder mittelbar teilnahmen.28
Das Ergebnis: Zumindest in Deutschland hat sich inzwischen die Nomenklatur
„Philosophieren mit Kindern“ durchgesetzt, einerseits um gegen das Missverständnis
einer bloß unterweisenden Philosophie für Kinder die philosophische Eigentätigkeit
der Kinder hervorzuheben, andererseits um gegen ein bloßes Zur-Kenntnis-Nehmen
philosophischer Gedanken den dialogischen, interaktiven und prozessualen Charakter des Philosophierens hervorzuheben, der gerade im Umgang mit Kindern die notwendige Bedingung bietet, dass sie philosophisches Denken zur Entfaltung bringen
können.
25
26
27
28
Schubiger, Jürg: Als die Welt noch jung war. Weinheim: Beltz 1996; und Schubiger: Mutter,
Vater, ich und sie. Weinheim: Beltz 1997. Zum Unterschied zwischen Philosophie als Thema in
der Kinderliteratur und Philosophie(ren) in der Kinderliteratur vgl. auch Bernhard Rank: Philosophie als Thema von Kinder- und Jugendliteratur; in: Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Hg.v. Günter Lange. Bd. 2, Hohengehren: Schneider 2000, S.799ff.
Seit vielen Jahren bereits hält etwa Mechthild Ralla in Achern regelmäßig Kurse zum Thema; vgl.
dazu H.J.Werner/E.Marsal/M.Ralla: Philosophieren mit Kindern? Begriff, Konzepte, Erfahrungen;
in: Lehren und Lernen 6/1997, S.16ff.
Sprecherin ist Jutta Kähler, Lübeck.
Vgl. den Bericht von Jutta Kähler: Philosophieren mit Kindern; in ZDPE 2/1998, S.143ff.
196
1.2
3 Theologisieren mit Kindern?
Warum eine Theologie der Kinder ?
Das „Theologisieren mit Kindern“ ist dem beschriebenen Anspruch eines
„Philosophierens mit Kindern“ entlehnt: Kinder selbst sind Subjekte und Akteure des
Nachdenkens, erhalten von uns dazu lediglich Anregungen und Impulse. Aber auch
die philosophische Abwehr gegen das Missverständnis einer (auf kindliches Niveau
vereinfachten) Philosophie für Kinder oder gar einer (mit despektierlichem Unterton
affizierte) Kinderphilosophie (vgl. dazu unten Abschnitt 2) hat Parallelen in der
Theologie, freilich mit innertheologischer Pointe: Wenn von einer Theologie der
Kinder und nicht von einer Theologie für Kinder die Rede sein soll, wird damit letztlich gegen eine Theologie der Kleriker eine Theologie der Laien eingeklagt, gegen
ein lediglich katechetisch-unterweisendes Verständnis ein dialogisch-interaktives
Verständnis von Theologie. Unter Bezug auf Bilder wie die des allgemeinen
Priestertums oder von Kirche als Volk Gottes dürfte ein solcher Ansatz eigentlich
nahe liegen. Gleichwohl tut sich die Religionspädagogik und Katechetik bis heute
nicht so leicht damit, Kinder nicht als Adressaten von Glaubens-Unterweisung anzusehen, sondern ernst zu nehmen als Subjekte des Glaubens.29 Eben dies aber wird
vorausgesetzt, wenn zur Debatte steht, wie Kinder Theologen sein können. Denn
nicht bzw. weniger um die Frage geht es, inwieweit Kindern theologische Gedanken
zuzumuten sind, sondern darum, inwieweit in originär kindlichem Denken und
Fragen sich grundlegende theologische Fragestellungen verbergen. Unter dieser
Fragestellung vor allem sind auch die in diesem Band wiedergegebenen Gespräche
mit Kindern von Interesse bzw. sollten kritisch geprüft werden.
29
Zum pädagogischen Paradigmenwechsel, die Kinder als Subjekte vgl. z.B. Schäfer, Gerd E.: Aus
der Perspektive des Kindes; in: Neue Sammlung 3/1997, S.377ff., oder: Honig, M.S. (Hg.): Kindheiten. Bd.7. Juventa 1996.
3 Theologisieren mit Kindern?
2
197
Kinder als Philosophen?
Der Zusammenhang von Kindertheologie und Kinderphilosophie liegt in der
Annahme eigentümlicher Denkleistungen bzw. Leistungen des Erfassens und der
elementaren Erfahrung von Wirklichkeit, die Kinder und Theoretiker miteinander
verbinde. Aus philosophischer Sicht ist daher im folgenden Abschnitt zunächst (2.1)
Aufklärung darüber geboten, warum überhaupt elementares, grundsätzliches Fragen
einerseits und Philosophieren als wissenschaftliches Nachdenken andererseits
zusammenhängen, um dann (2.2) einige Ebenen zu beschreiben, auf denen es sinnvoll ist, Kinderäußerungen als solche elementare, grundsätzliche Äußerungen zu
verstehen.
2.1
Was haben elementares Fragen und Philosophie miteinander zu tun ?
Der Mensch ist ein Fragewesen. Ganz grundlegend ist sein Leben davon gekennzeichnet, nicht nur einfach zu leben, sondern das Gelebte auch zu erleben, in ständiger Auseinandersetzung mit dem Leben zu stehen. Ja, wir würden als Menschen
gar nicht leben können ohne diese Auseinandersetzung; unser Leben ist abhängig
davon, es auch mehr oder weniger bewusst zu gestalten. Der alte Mythos von
Prometheus, den uns Platon überliefert, sieht den Menschen entsprechend nackt und
ohne natürliche Mittel zur Lebenserhaltung geboren, so dass nicht die Natur selbst,
sondern einzig die Kunst, die Kunst, das Leben zu führen, ihn am Leben zu erhalten
vermag.30 Stets stehen wir darum uns selbst, steht uns unsere Mitwelt, die Umwelt
und auch ein möglicher Horizont und Grund von Welt zur Frage, zur Disposition. In
der Begegnung mit irgendetwas nehmen wir dies nie einfach nur hin, sondern
nehmen es immer schon wahr, deuten, ordnen ein, gehen um damit. So drängen sich
in alltäglichen Erfahrungen wie von selbst Fragen auf wie: Warum scheint die Sonne,
warum verliert der Baum seine Blätter, warum esse ich, warum stirbt der Vogel?
Solche Fragen haben elementaren Charakter; elementar sind sie, weil das, was mich
fragen lässt, grundlegend ist für mein Leben wie auch solches Fragen selbst; was
erfragt wird und das Fragen selbst soll Orientierung bieten. Größere Fragen schließen
sich hier erst an: Warum heißt dieses Tisch, jenes Stuhl; gibt es einen oder viele
Himmel; wie kommt das Haus da in mein Auge usf.; und auch schwierigere: Wo bin
ich, wenn ich schlafe; wo war ich, als die Mama Kind war; kann meine Katze mich
verstehen; warum darf ich nicht immer tun, was ich will usf.? Erst ganz spät dagegen
30
Vgl. Platon: Protagoras. 320 b ff.
198
3 Theologisieren mit Kindern?
kommen die sog. großen Fragen: Wer bin ich, woher komme ich, wohin gehe ich,
was ist Welt …?31
Ist so zu fragen Philosophie? Gewiss (noch) nicht: Obwohl man unmittelbar
unterstellen mag, eben dies, elementare Fragen zu stellen, das sei Philosophie,
leuchtet bei näherem Betrachten ein, dass ja, wie eben erläutert, eigentlich jeder
Mensch so fragt; doch nicht jeder Mensch ist auch Philosoph. Philosophie ist vielmehr von alters her immer (auch) Wissenschaft. Und doch ist es nahezu eine Definition von Philosophie, dass sie die Wissenschaft vom elementaren Fragestellen sei.
Wie das? Wissenschaft ist Philosophie in einem ganz eigentümlichen Sinne: Im
Unterschied auch zur Theologie ist sie von einem besonderen, allen anderen Wissenschaften zunächst nicht eigenen Wissenschaftsbegriff geprägt. Der Name „Philosophie“ bereits gibt darüber Auskunft: Keineswegs mit einem logos tês sophias, also
einer Weisheits-Lehre bzw. einer Lehre von dem, was das letzte Prinzip von allem
ist, haben wir es zu tun, sondern mit einer philia, einer Liebe oder einer ständigen
Zugewandtheit und Auseinandersetzung mit dem, was denn das sophon sei. In ihrem
tiefsten Selbstverständnis also ist Philosophie weder Weisheitslehre im Sinne einer
Versammlung bestimmter Weisheiten, noch Weisheitslehre im Sinne einer Systematik oder Enzyklopädie oder begrifflichen Bestimmung dessen, was Weisheit ist, unter
Voraussetzung eines als Weisheit klar benennbaren Gegenstandes, sondern die
ständige Auseinandersetzung, das elementare Suchen, der Versuch möglicher
Antwort, auch das Infragestellen und die Kritik dessen, was überhaupt jenes sophon
sei und warum wir uns so gebannt damit auseinandersetzen.
Drei Ebenen charakterisieren jenes Fragen genauer: Zuvorderst artikuliert sich
Philosophie auf der Ebene des Staunens und des Sich-Wunderns, dass alles so ist,
wie es ist. In diesen Kontext gehören auch die Traditionen der Weisheit, die erste
eher mythische, symbolisch-bildhaft auf das Geheimnis dieses Fragens bezogene,
aber noch nicht bewusst als Erkenntnis, gar begrifflich als Reflexion sich formulierende, sondern unmittelbar der Orientierung dienende Antworten versuchen. Doch
auch die Philosophie hat, wie Platon und Aristoteles meinten, in nichts anderem als
diesem fragenden, noch ganz in der Geheimnishaftigkeit ihres Gegenstands befangenen Staunen ihren Ursprung.32 Aber an solchen Fragen entzündet sich Philosophie
lediglich. Die Fähigkeit sich zu wundern, ist eben noch nicht philosophieren oder gar
31
32
Aus eben diesem Grunde habe ich vorgeschlagen, bei den philosophisch interessanten Fragen nicht
von großen (so Oberthür 1995) oder gar schwierigen (so Zoller 1991) und auch nicht von letzten
(so Oelmüller, Willi: Philosophische Aufklärung. München: Fink 1994, S.32f.) zu sprechen,
sondern von elementaren. Vgl. dazu Petermann: Religion zur Sprache bringen. In: Bubenheimer /
Fauth (Hg.): Hochschullehre und Religion. Würzburg 2000, Abschnitt 1.4. [in der vorliegenden
Arbeit vgl. Kap. 1-2].
Vgl. Platon: Theaitetos 155d, und Aristoteles: Metaphysik 982b.
3 Theologisieren mit Kindern?
199
das einzige, was wir brauchen, um gute Philosophen zu sein.33 Philosophie im eigentlichen Sinne der philo-sophia, des ausdrücklichen und reflektierten Bezugs auf die
Weisheit, ist erst der kritische und der Form des eigenen Fragens bewusste Bezug auf
diese Fragen. Dies ist die zweite Ebene philosophischen Fragens. Als Denken des
Denkens und nicht nur einfach Nachdenken von etwas Vorgestelltem, ist Philosophie
daher wesentlich immer auch Wissenschaft. Der ihr eigentümliche Wissenschaftsbegriff lässt sich zusammenfassen in die vier Ebenen der Kritik: (1) das selbst
denkende, (2) das Unterscheidungen, Differenzierungen und Alternativen aufwerfende, (3) das zur Entscheidung fähige, ins Leben eingreifende, sowie (4) das Leben
auch konkretisierende und an der Wirklichkeit des Lebens sich je neu brechende
Denken. Als Wissenschaft unterscheidet sich Philosophie grundsätzlich von bloßer
Weltanschauung, von bereits antwortender Weisheit und Mythologie, aber, und
damit kommen wir zur dritten Ebene philosophischen Fragens, auch von jeglicher
Form von Ideologie. Denn ihres eigenen Denkens bewusst weiß sie auch um ihre
prinzipielle Grenze, die sie hat in einem vom Denken nie einzuholenden dem Denken
vorausgesetzten Grund allen Denkens. Darum ist sie immer auch Wissen des Nichtwissens und daher wesentlich skeptisch und kritisch gegen sog. Letztantworten. Dies
aber ist sie als wissende und darum Wissen des Nichtwissens.
Unüberholt klar hat dieses Verständnis Aristoteles in wenige Worte gebracht34:
Weil sie nämlich in Erstaunen gerieten, philosophierten die Menschen
zuerst wie jetzt noch von Grund auf; das zufällig zur Hand liegende ist es,
was grundsätzlich sie staunen machte, und zwar weil es ihnen unerklärlich
ist. - Allmählich machten sie auf diese Weise Fortschritte und stellten sich
über größere Zusammenhänge Fragen, etwa über die Affektionen des
Mondes und die von Sonne und Sternen und über die Entstehung von Allem.
- Der jedoch, der voller Fragen ist und sich wundert, vermeint in Unkenntnis zu sein. (So ist auch ein Liebhaber von Mythen in gewisser Hinsicht ein
Liebhaber des Sophon, ein Philosoph, setzt sich doch ein Mythos aus
Wunderbarem zusammen.) Philosophierte man also, um der Unwissenheit
zu entkommen, so suchte man offenbar das Verstehen, um zur Einsicht zu
kommen, keineswegs aber um eines Nutzens willen … Alle nämlich beginnen
mit der Verwunderung, dass die Dinge so sind, wie sie sind …
Beachtenswert ist dieses Zitat einerseits, weil es als Philosophie den gesamten
Prozess der Ebenen vom unmittelbaren erstaunten Fragen über das Verstehen
33
34
Zumindest missverständlich formuliert so Jostein Gaarder an zentraler Stelle sein Verständnis von
Philosophie: Gaarder: Sofies Welt. München: Hanser 1993, S.23.
Aristoteles: Metaphysik 982b in einer eigenen, die Nuancen des Textes verdeutlichenden Übertragung.
200
3 Theologisieren mit Kindern?
von Zusammenhängen zur reflektierten, auch des Nichtwissens bewussten
Einsicht beschreibt35 und nicht nur bei der schlichten Behauptung eines Zusammenhangs von Staunen und Philosophieren stehen bleibt. Andererseits fundiert
Aristoteles Philosophie in einem Staunen, das dem, was das Staunen erregt,
gänzlich ausgeliefert bleibt. Damit gründet Aristoteles Philosophie elementar im
Staunen, das jeglichen Akt des Philosophierens wesentlich bestimmt, ohne das
Philosophie nicht ist, was sie ist. Und weiterhin bindet er jede Gestalt bzw. jedes
System von Philosophie somit an den Akt des Weiterfragens, also an das Philosophieren als Tätigkeit des Denkens, so dass keiner Philosoph genannt werden
kann, wer nicht in dieser grundlegenden Weise philosophierend tätig ist.
Auf dem Hintergrund dieses Zusammenhangs hat Kant, der wie kaum ein zweiter
das Geschäft des Philosophierens auf den Begriff gebracht hat, zwischen einem
Schulbegriff und einem Weltbegriff von Philosophie unterschieden.36 Der Schulbegriff zielt, ausgehend von jenem Wissen des Nichtwissens, auf den der kritischen
Vernunft zugänglichen Vorrat von Vernunfterkenntnissen sowie auf Möglichkeiten
des systematischen Zusammenhangs dieser Vernunfterkenntnisse. Der Weltbegriff
der Philosophie hingegen bezieht sich auf jenes grundlegende staunende Fragen, dem
alles, auch das Nichtsagbare und Nichterkennbare und auch der Grund allen
Denkens, als Gegenstand des Denkens offen steht; in diesem ihrem Weltbegriff fragt
die Philosophie, so Kant, immer nach den letzten Zwecken der menschlichen
Vernunft, aus denen sich überhaupt erst alles Philosophieren ergibt. Diese Zwecke
aber lassen sich in die vier berühmten Grundfragen fassen, 1. nach den Quellen des
menschlichen Wissens: Was kann ich wissen?, 2. nach dem möglichen und nützlichen Gebrauch allen Wissens: Was soll ich tun?, 3. nach den Grenzen der Vernunft:
Was darf ich hoffen?, welche drei Grundfragen in der vierten zusammenlaufen: Was
ist der Mensch? - Auch diese Fragen aber sind, obgleich in der elementaren
Erfahrung aller Menschen fundiert, komplizierter als sie auf den ersten Blick
scheinen: So fragt die erste nicht nach dem Umfang und konkreten Gegenständen
menschlichen Wissens, sondern nach der Möglichkeit und der eigentümlichen
Struktur von Wissen überhaupt und insofern nach der Bedeutung von sog. Gegenständen des Wissens. Die Frage lautet also eher: Was ist es, dass wir als wissende
uns zu uns selbst und zu Welt verhalten? - Ebenso strebt die zweite Frage keine
35
36
In meinen Seminaren habe ich diese Auslegung in Ebenen vom Staunen zum Denken einer weiteren Differenzierung unterzogen. Zwei Arbeiten zum Begriff der Naivität sowie zur Grundlegung
einer Philosophie der Kinder, die auf diese Differenzierung eingehen, sind in Vorbereitung.
Vgl. Kant, Immanuel: Logik (1800) A 23ff. Neben der Philosophie als Wissenschaft und dem
Philosophieren als Weltweisheit hat Kant als dritte Form von Philosophie Philosophie auch als
Lebensform verstanden, worauf wiederholt Gernot Böhme hingewiesen hat. Vgl. G. Böhme:
Einführung in die Philosophie. Weltweisheit, Lebensform, Wissenschaft. Frankfurt:Suhrkamp
1998 (11993).
3 Theologisieren mit Kindern?
201
normativen Antworten an, was wir denn nun zu tun oder zu lassen hätten. Vielmehr
geht es um die grundlegendere Auseinandersetzung mit der Erfahrung, dass wir
handelnd uns auf uns selbst und auf Welt beziehen, so dass es gilt, die Bedeutung
und die Grundlagen dieses Handelns auszuloten. - Auch die dritte Frage fällt zwar, so
Kant, in den Bereich der Religion, will aber nicht bestimmte Hoffnungsbilder
aufstellen, an denen wir dann Orientierung fänden, sondern fragt grundlegend, was
es denn ist, dass wir über uns und die Möglichkeiten unserer Vernunft hinausgreifend
uns auf Zukunft, auf Geschichte, auf Transzendenz, auf Hoffnungsbilder beziehen. Und so intendiert auch die Frage nach dem Menschen kein bestimmtes Menschenbild, so dass dann in einer Konkurrenz von Menschenbildern gar von verschiedenen
Philosophien geredet werden könnte; Philosophie fragt vielmehr grundsätzlich, was
es ist, dass der Mensch sich selbst zum Gegenstand seines Fragens und seines
Lebensentwurfs macht und machen kann.
Schelling hat diese Einsicht wenige Jahre nach Kant ausformuliert, indem er die
Aufgabe der Philosophie als Anamnese einer uns Menschen wesentlich verloren
gegangen Einheit zwischen Welt und Ich, wir dürfen in unserem Zusammenhang
ergänzen, auch zwischen Gott und Ich, bestimmt hat.37 Philosophie beruht, so
Schelling, wesentlich auf der Grundlage der Trennung dieser ursprünglichen Einheit.
Poetisch hat Ernst Bloch das in den Satz gefasst: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht.
Darum werden wir erst.“38 Den Menschen als ein sich selbst wesentlich verborgenes
und darum sich selbst aufgegebenes Wesen zu erfassen und darin möglicherweise
auch seinen ihm selbst entzogenen Ursprung zu ahnen, dieses Faktum zu erfassen
und es in nachvollziehbare Sprache zu bringen, darin besteht das Geschäft des
Philosophen.
Voraussetzung für ein solches Geschäft aber ist Reflexion, Reflexion nicht nur auf
die Gegenstände unseres Denkens, (und das meint das Bewusstsein darüber, dass wir
und die Gegenstände unseres Denkens eben nicht eins sind), sondern auch auf das
Denken selbst, mithin Selbstbewusstsein. In diesen kurzen Erläuterungen wird
deutlich: Aufgabe und Tätigkeit der Philosophie besteht nicht darin, Fragen allein zu
stellen, erst recht nicht, auf sie eine endgültige Antwort zu finden, sondern diese
Fragen in dem, was sie meinen und woraus sie sich nähren, als letzten Bezugspunkt
allen Menschseins auszuloten. Auch die Unterstellung eines kindlichen Philosophierens muss sich an dieser Ebene messen lassen, um wirklich Philosophie genannt
werden zu können.
37
38
Schelling, F.W.J.: Zur Geschichte der neueren Philosophie (Münchner Vorlesungen 1827). Hg.v.
M.Buhr. Leipzig:Reclam 1975, 111ff.
Bloch, Ernst: Tübinger Einleitung in die Philosophie. Frankfurt: Suhrkamp 1963, S.11.
202
3 Theologisieren mit Kindern?
Philosophie Kindern zuzumuten, scheint mit dieser Bestimmung irrelevant
geworden zu sein, wenn wir die entwicklungspsychologische Einsicht teilen wollen,
dass reflektiertes, also selbstbezügliches und seines Vollzugs bewusstes Denken
Kindern noch nicht möglich ist, weil sie noch in der Unbefangenheit der Unmittelbarkeit bloßen Nachdenkens verhaftet sind. Doch Philosophie wagt die Behauptung,
dass jeder Mensch auf die Möglichkeit solcher Reflexion angelegt ist, auch wenn er
sie aktuell noch nicht ausgebildet hat, wie etwa Kinder, oder nicht mehr besitzt. Und
sie weiß auch, dass die Bezugspunkte einer solchen Reflexion nicht allein durchs
Denken zu fassen sind, vielleicht durchs Denken gar nicht wesentlich zu fassen sind,
sondern dass es neben der begrifflichen andere Ebenen eines solchen Bezugs geben
mag; wir finden sie in der Kunst und in der Religion, also in symbolisch bzw.
mythisch sich formulierenden Geisteshaltungen. Unter dieser Perspektive werden
dann auch theologisch elementare Äußerungen philosophisch interessant, auch wenn
sie per se noch keinen philosophische Charakter haben; den gewinnen sie erst im
Vollzug ihrer reflexiven Erschließung.
Damit wird auch klarer, wie eingangs angedeutet, dass die philosophisch interessanten Fragen nicht die schon komplizierten und voraussetzungsreichen oder
großen Fragen sind wie „Wer bin ich?“ oder „Woher kommt die Welt?“, sondern
ganz unscheinbar scheinende, leicht übersehbare wie „Was ist Regen?“ oder „Wohin
fließt das Wasser?“ oder „Warum verbrennt da etwas?“. In solchen im Alltäglichen
und im Vorbeigehen sich aufdrängenden und daher elementaren Fragen verbergen
sich philosophische Probleme. Wer solche Fragen stellt, fragt in einer philosophisch
interessanten Weise, artikuliert vielleicht eine Ahnung philosophischen Fragens, aber
philosophiert noch nicht eigentlich. Das bedeutet, alltägliches Sich-Wundern, auch
existentielle Infragestellungen, aber eben auch theologische Fragen haben als solche
noch keine philosophische Qualität, doch bieten sie die unverzichtbare Grundlage zu
jeder philosophischen Tätigkeit. Daher entzündet sich Philosophie eben nur und erst
an solchen Fragen. Andererseits hat alle Philosophie, meine ich, ihren unaufgebbaren
Ursprung im unmittelbaren Staunen; beziehen aber kann sie sich auf diesen Ursprung
stets nur durch die Reflexion vermittelt. Kinder sind darum philosophisch Fragende
und Ahnende, aber nicht Philosophen.39
Der letzte Satz ist weiter zu begründen. Und so komme ich zum nächsten Punkt:
39
Diese These ist nicht notwendig als Kritik zu verstehen an dem schönen Buch von H.L.Freese:
Kinder sind Philosophen. Berlin 1989. Die Intention Freeses würde ich vielmehr eben darin sehen,
diesen Satz als Provokation zu verstehen, das Philosophische in und mit Kindern zu entdecken.
3 Theologisieren mit Kindern?
203
2. 2 Welchen Sinn macht es genauer, Kinderäußerungen als philosophisch
anzusehen?
In Aufnahme der Unterscheidung und des Zusammenhangs von elementarem Fragen
und philosophischer Wissenschaft hat sich die Rede von der Philosophie als Zweiter
oder gelehrter, reflektierter Naivität herausgebildet. Sie meint zunächst einmal den
Bezug und die Bindung der Philosophie an jenen Ursprung unmittelbaren Fragens
und Staunens, darum ist sie naiv; dessen aber kann und muss sich die Philosophie
erinnern und darauf reflektieren, darum ist sie gelehrt.40 Die weitere Überlegung
betrifft nun die Möglichkeiten, sich auf eine mit der Rede von Zweiter Naivität
unterstellte Erste Naivität zurückzubeziehen bzw. Formen Erster Naivität auf eine
Zweite, philosophische zu beziehen. Damit wären wir beim Thema Philosophieren
der Kinder bzw. Philosophieren mit Kindern angelangt. Denn naiv sind Kinder, aber
in einer ersten, noch ganz unmittelbar in den Ursprung allen Fragens verflochtenen,
noch nicht reflektierten Weise.
Zunächst zum Rückbezug der Philosophie auf das ihr zugrundeliegende Staunen
bzw. die erste Naivität. Aus Sicht der Philosophie steht hier zur Debatte, ob und
warum kindliches Fragen mehr ist als bloße Ahnungslosigkeit, sondern vielmehr eine
Ahnung der philosophisch elementaren Fragen, so dass das Philosophieren der
Kinder mehr wäre als eine Projektion der Philosophie auf der Suche nach Festhalten
der eigenen Ursprünge, nämlich jenes ursprüngliche Fragen, was der Philosophie als
Impuls zu je neuem eigenen Fragen die Provokation ihres eigenen Lebensimpulses
ist.
Empirisch lässt sich darauf nicht antworten, sondern nur deutend: Warum Kinderfragen eine Tiefendimension enthalten, ist ihrem Wortlaut nicht abzulesen, sondern
40
Vgl. Spaemann, Robert: Philosophie als institutionalisierte Naivität; in: Phil. JB 81.(1974),
S.139ff. Eigene Überlegungen dazu habe ich unter dem Titel: „Kultivierung kindlicher Naivität.
Philosophie-Unterricht als Weg von der „Ersten“ Kindlichen Naivität zur „Zweiten“ philosophisch-reflektierten Naivität“ auf der zweiten Tagung der Kommission „Philosophieren mit
Kindern“ in Lübeck 1999 vorgetragen (vgl. den Tagungsbericht von Christian Gefert: Wieviele
Bilder braucht das Kind? In: ZDPE 1/1999, S.78ff). Eine ausführliche Veröffentlichung dazu ist in
Vorbereitung. - Der Begriff von Philosophie als Zweiter Naivität geht letztlich zurück auf Sokrates
und sein Verständnis von Philosophie als Wissens des Nichtwissens; im Laufe der Philosophiegeschichte ist er dann am vielleicht entschiedensten aufgenommen worden durch Nikolaus von
Kues in seiner Rede von der belehrten Unwissenheit, der Docta Ignorantia, dann, ausgehend von
der Dichtung Hölderlins in Heideggers Philosophieverständnis als Entsprechen auf den An- und
Zuspruch des Seins. Das hat sicher den Horizont auch abgegeben für die ausdrückliche Rede von
Zweiter Naivität bei Paul Ricoeur: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud. Frankfurt: Suhrkamp 1969, S.506f. In der Religionspädagogik hat diesen Gedanken dann Hubertus Halbfas aufgegriffen, ausdrücklich etwa in: Religionsunterricht in Sekundarschulen. Lehrerhandbuch 1,
Düsseldorf: Patmos 1985, S.516ff, und 6. 1993, S.91ff.; vgl. dazu auch Petermann: Einwurzelung.
Religiöse Sensibilisierung und erfahrungsorientierter Wissenserwerb als Grundlagen heutigen
Religionsunterrichts; in: KatBl 7/92, 552-567.
204
3 Theologisieren mit Kindern?
das lässt sich nur erschließen durch Interpretation, Hineinlesen einer in ihnen verborgenen Tiefenschicht. Hinweise geliefert hat dazu Paul Ricoeur.41 Ausgehend von der
Deutung psychoanalytischer Arbeit als Paradigma für jeden Prozess der Selbstvergewisserung kommt Ricoeur zu dem Ergebnis, dass das Ich stets, indem es sich
erfasst, sich zugleich wieder dem Erfassen entzieht. Ricoeur spricht in diesem
Zusammenhang davon, dass der Mensch das einzige Wesen ist, das seiner Kindheit
verfallen ist und nennt dies die „symbolische Vorgängigkeit“ des Ich. Dieses Wort ist
bedeutsam; Ricoeur meint damit, dass alle Interpretation stets eine symbolisch
vermittelte ist wie auch das jeweils in ihr Gemeinte. Warum? Nicht nur jede Deutung
vollzieht sich grundsätzlich in sprachlichen Symbolen, auch das zu Deutende erweist
sich darin als je schon symbolisch Vermitteltes. Indiz dafür mag das urtümliche
Staunen selber sein: Staunen können wir nur, wenn uns in der Erfahrung des
Staunens etwas widerfährt, das sich dem Staunen zugleich wieder entzieht, also nie
das ist, was es im ersten oder unmittelbaren Zugriff zu sein scheint. Das Staunen
erweist sich dann bereits als eine Antwort, wenngleich nur eine unmittelbar
evozierte, noch nicht bewusste Antwort auf etwas, was in diesem Staunen unzugänglich bleibt. Und darum ist auch das Staunen seinerseits etwas, das wie das Staunenswerte selbst vermittelt, und zwar verschlüsselt, symbolisch vermittelt sich vollzieht.
Unmittelbare Äußerungen gegenüber einem nur symbolisch und insofern auch nur
annäherungsweise zu entschlüsselnden Gegenstand lassen sich von daher verstehen
als ihrerseits faktisch, wenngleich nicht bewusst symbolisch verschlüsselte
Antworten auf ein je vorgängiges Infragestehen und keineswegs als ahnungslose
Unmittelbarkeit. Von einer Ersten Naivität im strengen Sinne zu sprechen, verbietet
sich mit solcher Einsicht. Vielmehr ist jede Naivität, auch die scheinbar ahnungslose
als Antwort auf eine ihr vorgängige nicht unmittelbar zugängliche Erfahrung eine
stets schon vermittelte.
Was bedeutet diese auf den ersten Blick nicht leicht fassbaren Überlegungen? Zum
einen: Besonders ergiebig gegenüber elementarem philosophischen Fragen sind bildhafte Erfahrungen, seien es reale Eindrücke von Wirklichkeit, seien es Sprachbilder,
seien es bildhaft fassbare Handlungszusammenhänge, weil sie am ehesten eine
symbolische Tiefenstruktur enthalten wie auch am entschiedensten nach einer
Entschlüsselung verlangen, die ihrerseits je neues Nachfragen ermöglicht. Und auf
diesem Hintergrund müssen auch kindliche Äußerungen, und das ist das andere
Ergebnis dieses Gedankens, als (wenn auch zumeist unbewusste) Versuche einer
Antwort verstanden werden, nicht nur als Frage. In ihnen leuchtet auf, dass, wie
Bloch es ausdrückt, etwas zu Fragendes gesagt wird und somit das zu Sagende in
41
Ich beziehe mich im folgenden auf Ausführungen in Ricoeur (1969) (wie Anm. 40).
3 Theologisieren mit Kindern?
205
Frage steht.42 Als Frage und Sage zugleich aber drängt eine solche Äußerung stets zu
einer Nachfrage. Die Annahme kindlichen Staunens führt daher notwendig zur Frage
des Umgangs mit kindlichem Philosophieren.
Der Kinderphilosoph G. B. Matthews hat Momente solchen Staunens „Augenblicke reiner Reflexion“ genannt.43 Der Ausdruck suggeriert, als handle es sich um
Akte einer von sinnlichen Qualitäten freien, nur als Reflexion sich äußernde
Reflexion. Ich denke nicht, dass das gemeint ist. Vielmehr geht es um gleichsam
unverstellte oder unmittelbare Reflexionen bzw. Momente heller Einsicht. Matthews
kritisiert, dass uns Erwachsenen solche Augenblicke reiner Reflexion im kindlichen
Denken „so oft entgehen“, weil wir sie nicht als das, was sie sind“ erkennen. Was
aber sind sie? Matthews meint, keinesfalls ein primitives Denken, das „auf die
Erwachsenennorm hin entwickelt werden“ oder „durch unsere Annahmen über die
Entwicklung des kindlichen Denkens“ gefiltert werden müsse. Dann bräuchten wir
„den philosophischen Gehalt solcher Äußerungen nicht ernstzunehmen.“ Kindlichen
Sichtweisen stattdessen den von Matthews unterstellten Ernst zuzuerkennen, setzt
voraus, in ihnen mehr zu sehen, als ihnen auf den ersten Blick hin anzumerken ist,
mehr also auch als bloß ahnungsloses Staunen, sondern bereits ahnendes SichWundern.44
Aus dieser Lesart kindlicher Äußerungen folgt, dass sie dann auch entschlüsselt
werden wollen, und zwar entschlüsselt hin auf das Konkrete, das in ihnen sich Form
gesucht hat. Das bedeutet: Solche kindliche Äußerungen sind zunächst einmal immer
auf einen möglichen Bezug auf jene vorhin benannten Grundfragen menschlicher
Vernunft hin zu untersuchen: Ist in ihnen ahnend eine solche Frage ausgesprochen?
Gibt es dafür aber Indizien oder will ich den Versuch machen sie als eine solche
Äußerung ernst zu nehmen, drängen sie zur Dechiffrierung. Wie aber soll das anders
gehen als das Nachfragen, was damit gemeint sein könnte; anders: durch die Nachfrage: Was willst du sagen, wenn du solches sagst?
Damit wird eine weitere Differenzierung deutlich: Kinder, so behaupte ich, können
sich zu elementaren Fragen nach Menschsein, Welt und Gott äußern. Sie tun dies,
wenn ihnen im Alltag unvermittelt etwas widerfährt, was sie staunen und dann
verwundert nachfragen lässt. Für den Philosophen verbirgt sich hinter solchem
staunenden Fragen die strukturelle Frage: Was ist dies, dass es ist; oder auch: Was ist
dies, dass es ist, was es ist. Auf solche Augenblicke als Erwachsener sensibel und
42
43
44
Einen grundlegenden Text zum Thema Kinderphilosophie hat Ernst Bloch vorgelegt in den ersten
Abschnitten seiner: Tübinger Einleitung in die Philosophie. Frankfurt: Suhrkamp 1963.
Matthews, Gareth B.: Philosophische Gespräche mit Kindern. Berlin: Freese 1989, S.80.
Eine Differenzierung der Ebenen des Staunens habe ich selbst vorgenommen durch genauere
Interpretation der zitierten Stelle von Aristoteles; vgl. demnächst in meinem Buch zum Philosophieren mit Bilderbüchern: Petermann (wie Anm. 23).
206
3 Theologisieren mit Kindern?
nachfragend zu reagieren, kann Kindern Wege zum Philosophieren ebnen. Das
philosophische Gespräch mit Kindern würde dann auf dem Zur-Sprache-Bringen
solcher Erfahrungen aufbauen. Ich denke, ein solches Gespräch lässt sich nicht
erzwingen, und es sollte auch nicht erzwungen werden. Gewiss gibt es viele kindliche Äußerungen, die als solche unhinterfragt stehen bleiben wollen und müssen.
Kindliches Philosophieren und auch Theologisieren aber findet nur statt, wenn sie
auch tatsächlich erschlossen werden. Im übrigen gäbe es gar keine Theologie oder
Philosophie, wenn nicht das darin Gemeinte als Erfahrung wesentlich darauf drängen
würde, sich mitzuteilen.
Dieses Erschließen meint freilich wiederum nicht ein Erklären und vollständiges
Dechiffrieren ihres Symbolgehalts, sondern nicht mehr, aber auch nicht weniger als
die Eröffnung der Möglichkeit, Grunderfahrungen auch zur Sprache zu bringen. Zur
Sprache bringen ist hier in einem weiten, sprachliche Artikulation, bildhafte Gestaltung oder Interaktion einschließenden Weise verstanden. Damit ist ein Weg angedeutet, mit Kindern zu philosophieren (und auch zu theologisieren), auch ohne von
einem nicht planbaren kindlichen Widerfahrnis elementarer Qualität auszugehen,
nämlich wenn es gelänge, durch Bilder, Geschichten, Problemfragen, Handlungssituationen Kinder in die Ebene einer solchen elementaren Erfahrung zu versetzen,
um dann daraus gleichsam wie auf einer Folie Wege der Erschließung elementarer
Erfahrung zu eröffnen. Das muss Kriterium sein auch für unterrichtliche Versuche,
mit Kindern in ein Gespräch bzw. in einen Erfahrungszusammenhang zu kommen.45
45
Hierin hat auch jede Symboldidaktik ihre kritische Bedingung. Unter dieser Perspektive wäre es
interessant, die von A.A.Bucher angezettelte Auseinandersetzung um das Bewahren der sog.
Ersten Naivität neu zu überdenken. Vgl. Bucher, Anton A.: „Wenn wir immer tiefer graben …
kommt vielleicht die Hölle“; in: KatBl 9/1989, sowie der daran sich anschließenden Diskussion,
kritisch kommentiert z.B. durch Allmen, Jacques-Antoine von: Symboltheorie und Symboldidaktik am Beispiel von P.Biehl und H.Halbfas. Zürich 1992.
3 Theologisieren mit Kindern?
3
207
Kinder als Theologen?
Elementare und existentielle Erfahrungen, die zu philosophisch relevanten Fragen
führen, haben nicht notwendig auch theologischen Charakter. Wenn es in dem uns
hier interessierenden Zusammenhang aber nicht um eine Philosophie der Kinder,
sondern eine Theologie der Kinder geht, ist weiter zu fragen, worin einerseits der
Zusammenhang philosophischen Fragens zur Theologie besteht, und worin andererseits das Eigentümliche theologischer Auseinandersetzung auch im Unterschied zur
philosophischen besteht.
Der Zusammenhang wie auch der Unterschied von Theologie und Philosophie
erschließt sich vielleicht am besten durch das Verhältnis von Theologie und
Glaube.46 Im Unterschied zur Philosophie, die stets auf der Ebene kritischen Nachfragens bleibt, ist Theologie nämlich immer schon Auslegung von Glaubenserfahrung und darum so notwendig an den ausgelegten Glauben gebunden, dass sie
als Auslegung selbst eine bestimmte Gestalt von Glauben darstellt. Das Eigentümliche ihrer Wissenschaftlichkeit im Unterschied zu anderen Wissenschaften, die sich
als Logos von etwas verstehen, ist darin zu sehen, dass Theologie nie nur der
Vernunft zugängliche Lehren zum Verständnis oder zur Einordnung von Glauben
äußert, im Sinne einer exoterischen Systematisierung und Verständigung über
Glaubensdinge, sondern stets auch den Gegenstand ihrer Tätigkeit weitergibt, den
Glauben. Ihr Wissenschaftsverständnis ist also gekoppelt an den prozessualen
Glaubensvollzug, insofern ihre Wissenschaftlichkeit als letzte Konsequenz des
Glaubens selbst zu verstehen ist, der auf Vermittlung aus ist. Eine davon losgelöste,
nur Phänomene oder historische Zusammenhänge oder sprachliche Eigenheiten
reflektierende Wissenschaft kann sich nicht mehr als Theologie betrachten, sondern
muss sich Religionswissenschaft, vielleicht Theologiewissenschaft nennen. In der
Bindung der (wissenschaftlichen) Theologie an den Glauben wird zugleich umgekehrt die Ausrichtung des Glaubens auf Theologie deutlich, die jeder Glaubensäußerung eigen ist, will sie denn sagen, zur Sprache bringen, was sie erfahren hat.
Von daher ist Theologie wesentlich immer auch Botschaft.
Auf der anderen Seite ist Theologie mit Glauben selbst wiederum nicht zu
verwechseln, weil der in Gebet oder Feier oder im Handeln oder in der Verkündigung Gestalt gewinnende Glaube zwar Wort von Gott und Wort Gottes, nicht aber
Logos als vernünftige, reflexive Erschließung des Glaubens sein muss. Allemal muss
nicht jeder Glaubende auch Theologe sein. Gleichwohl ist Glaube genauer betrachtet
nicht allein das Gefühl der unmittelbaren religiösen Erfahrung, sondern auch seine
46
Genauer zu dieser Frage vgl. meine Ausführungen in Kapitel 1-3.
208
3 Theologisieren mit Kindern?
Artikulation und Gestaltwerdung im Lebensvollzug. Als somit immer auch sich im
Leben konkretisierender Glaube ist Glaube im weiteren Sinne daher stets auf den
logos tou Theou, auf die Auskunft, Vermittlung und Weitergabe des Erfahrenen
angelegt. Theologie im engeren Sinne wird dieser Glaube erst, wenn er die ihr
zugrundeliegenden Erfahrungen nicht nur weitergeben, sondern auch der Selbstreflexion, dem menschlichen Denken zu erschließen versucht, Glauben also der
Vernunft zugänglich macht, um ihn sich oder auch anderen verständlicher zu
machen. Und genau an dieser Stelle wird die philosophische Reflexion interessant
für die Theologie.
Wenn nun dergestalt Gott, Glaube, Theologie zum Gegenstand des Denkens
gemacht werden, lautet die Frage wie bei allen Gegenständen philosophischen
Denkens: Was ist dies? und: Was ist dies, dass es zum Bezugspunkt menschlicher
Auseinandersetzung wird? Als theologische Reflexion aber beinhaltet solches Fragen
zugleich eine Erschließung des Glaubens, das unterscheidet Theologie von
Religionsphilosophie. In biblischer, also jüdischer wie christlicher Sicht ist es
Tradition, dass Theologie als ein Element von Glauben verstanden wird, Glaube also
wesentlich auf Erschließung angelegt ist. Jüdische und auch christliche Glaubensüberlieferung haben insofern stets auch Formen angemessener Erschließung von
Glauben thematisiert.
Und in eben diesem Kontext wird die Frage nach einer Theologie der Kinder interessant: Enthalten, so kann nun theologisch genauer gefragt werden, theologische
Äußerungen von Kindern nicht nur philosophisch elementare Fragen, sondern auch
eine eigentümliche Ebene der Glaubenserschließung?
Eine Antwort kann hier nur skizziert werden, doch geschieht dies in exemplarischer Weise. Der wichtigste Zeuge nämlich für die Frage nach der theologischen
Qualität kindlichen Denkens ist der biblisch bezeugte Jesus.47
Einerseits kann Jesus selbst in die Reihe von Menschen eingereiht werden, die in
frühen Jahren nicht nur besondere Gotteserfahrungen gemacht haben, sondern auch
zu einer reflektierten und vermittlungsoffenen Auslegung dieser Erfahrung gefunden
haben. Der nach jüdischer Tradition noch übliche Auftritt des Zwölfjährigen im
Tempel erfährt eine Steigerung dadurch, dass Jesus die Schrift nicht nur liest,
sondern auch mit Verständnis auslegt (Lk 2, 46f). Lukas selbst stellt diese Begebenheit explizit in die Reihe alttestamentlicher Vorbilder, wenn er in v.52 auf den jungen
Samuel verweist.
47
Die Frage der Historizität biblischer Aussagen ist für unsere systematische Fragestellung nicht
unmittelbar von Belang und wird daher aus meinen Überlegungen ausgeklammert. Daher die
etwas umständliche Rede vom „biblisch bezeugten“ Jesus.
3 Theologisieren mit Kindern?
209
Wie Jesus selbst schon in frühen Jahren als Theologe galt, so sah er umgekehrt
gerade in Kindern eine besondere theologische Qualität, auf die ihm alles ankam.
Eine kurze Übersicht über die bezeugten Begegnungen mit Kindern verdeutlicht,
dass er Kindern nicht nur besonders zugeneigt war oder sie lediglich als Beispiele für
seine (erwachsenen) Hörer hingestellt hat, sondern dass in diesen Begegnungen auch
Ansätze einer Art Kindertheologie Gestalt gewinnen. Die Begegnungen Jesu mit
Kindern lassen sich auf drei Situationen konzentrieren, in denen jeweils ein ganz
besonderer Aspekt kindlicher Theologie deutlich wird: In den synoptischen
Perikopen zum Jüngerstreit (Mk 9,33) werden die Kinder als Beispiele wahrer
Jüngerschaft hingestellt, was Matthäus in den Satz gießt: „…wenn ihr nicht werdet
wie die Kinder…“. In den Perikopen zur sog. Kindersegnung (Mk 10,13ff) stellt
Jesus darüber hinaus Kindlichkeit als eine besondere Qualität heraus, die fähig
macht, das Reich Gottes anzunehmen. Und schließlich hebt Jesus unter Zitierung von
Ps 8,3 die Kinder, die ihn beim Einzug nach Jerusalem begrüßen (Mt 21,15f.), hervor
als diejenigen, die Gott in rechter Weise loben können.
Warum nun ist die Behauptung berechtigt, Kinder würden hier nicht allein als Beispiele gläubigen Verhaltens hingestellt, sondern hier veranschauliche Jesus zugleich
eine Art Theologie der Kinder? Diese Frage beantwortet sich durch einen genaueren
Blick auf die genannten Situationen: Es handelt sich keineswegs um drei zufällig von
den Evangelisten in ihr Buch aufgenommene Begegnungen Jesu mit Kindern,
sondern gezielt an entscheidenden Wegpunkten eingebaut in Jesu Gang nach
Jerusalem, sprich in den Prozess, in dem sich seine Gottessohnschaft und seine
Heilssendung herauskristallisiert. Das kann an dieser Stelle nicht weiter entfaltet
werden, mag aber als Hinweis reichen für die Annahme, dass Jesus in diesen Begegnungen mit Kindern nicht einfach dargestellt wird als Freund der Kinder, sondern als
jemand, der darin zugleich verschiedene Ebenen einer Theologie entfaltet:
1. Jesus verdeutlicht in den Kindern erstens die Struktur der Öffnung und Aufnahmefähigkeit für den Glauben als erstem Element von Theologie, als Voraussetzung für das Hören des Reiches Gottes. Matthäus macht es am deutlichsten, indem
er Jesus sagen lässt: „…wenn ihr nicht werdet wie die Kinder…“ Im Zusammenhang
ist hier offensichtlich eine Haltung gemeint, die in völliger Offenheit, unverstellt von
Vorurteilen, Reflexionen, Einordnungen nach Stand, Vermögen u.ä. die Botschaft
aufzunehmen in der Lage ist. Als Theologie ist diese Haltung insofern zu verstehen,
als sich jeder Logos von Gott einzuordnen hat als Antwort auf eine vorhergehende
Beanspruchung, die im Logos zur Geltung kommt. Den Logos und auch die
Reflexion daher nicht als subjektiv initiierte Frage, sondern als Reflex auf eine Beanspruchung zu verstehen, das macht diesen Glaubensakt, der hier von Jesus als kindlicher herausgestellt wird, zu einem zugleich auch theologischen Akt.
210
3 Theologisieren mit Kindern?
2. Zweitens stellt Jesus die Kinder heraus als diejenigen, die in besonderer Weise
auch zur Annahme, nicht nur Aufnahme, also zur Apperzeption, nicht allein Perzeption des Gehörten in der Lage sind: Menschen wie ihnen gehöre das Reich Gottes
(Mk 10,14ψ), so die Argumentation, denn wie sie solle das Reich Gottes auch angenommen werden. Was meint dies? Die Kinder werden hier von Jesus angerührt,
umarmt, durch Handauflegen gesegnet. Die Annahme scheint hier eine ganz unmittelbar sinnlich fassbare Struktur zu gewinnen (wie im übrigen bei vielen weiteren
in Heilungsgeschichten verpackten Glaubensgeschichten in der Begegnung mit Jesus
ebenso!). Zur Annahme, also der je persönlichen Realisierung eines Anspruchs,
gehört mithin wesentlicher als die Reflexion die unmittelbar sinnliche Erfahrung, die
Ausdruck dafür zu sein scheint, dass es um eine Annahme ganz und gar geht, mit
Haut und Haar, Herz und Nieren, nicht nur in je durch das annehmende Subjekt
wieder zu relativierender Weise. Insbesondere in den Kindern wird als Glaubensstruktur deutlich: Glaube betrifft nicht nur das Leben, sondern greift ganz und gar ins
Leben ein, bestimmt es als eine neu dieses tragende Struktur. Theologie ist dieser
Glaube, insofern auch die wissenschaftliche Reflexion stets verwiesen bleibt darauf,
dass sie eine mögliche Antwort ist, die Leben ganz in Besitz nimmt, sich nicht nur
als je wieder zurückziehende Reflexion auf ihren Gegenstand bezieht.
3. Aus der auf die Aufnahme folgenden Annahme ergibt sich als dritte Struktur
die Antwort. Auch sie verdeutlicht Jesus nicht nur als Glaubenselement, sondern
zugleich als Struktur von Theologie wiederum an den Kindern: Sie sind es, die ohne
Angst vor möglichem Ärger, ohne Scheu und Skrupel vor einem Missverständnis
Jesus zurufen: „Hosanna, dem Sohn Davids.“ (Mt 21,15). Jesus lässt diese Äußerung
zu und beglaubigt sie ausdrücklich unter Verweis auf den Ps 8,3: „Aus dem Mund
der Kinder und Säuglinge schaffst du dir Lob!“ - Die Kinder machen damit unmittelbar deutlich: Der Mensch steht immer schon, gleichsam nativ und insofern auch naiv
im Anspruch Gottes. Existenzerhellende Glaubenserfahrungen von Erwachsenen
erweisen sich damit als Erinnerungen, Anamnesen einer stets schon vorhandenen
Befindlichkeit. Und zum andern wird Theologie hier über die reine Ebene der
Reflexion hinausgetrieben: Säuglinge sprechen reine klaren Worte, doch auch
unmittelbare Äußerungen vorsprachlicher Art können sich als Antworten erweisen,
womit alle theologische Reflexion in die Dimension einer Antwort auf einen zuvor
ergangenen Anspruch eingebunden wird. Theologie ist nur, was sie ist, wenn sie sich
als eine solche Antwort versteht.
Eine solche Rekonstruktion jesuanischer Theologie der Kinder ist keineswegs
willkürlich. Hält man sich vor Augen, dass die paradigmatischen, da prägenden
Glaubensgeschichten der Bibel stets diese drei Strukturelemente Hören bzw.
Öffnung, Annahme und Antwort bzw. Tun enthalten, reiht sich Jesu Erläuterung
3 Theologisieren mit Kindern?
211
kindlichen Glaubens völlig in diese Tradition ein.48 Am stärksten ausdifferenziert ist
dies wohl überliefert in der Berufung des Mose Ex 3f.. Jesus aber appliziert diese
Struktur keineswegs bloß auf Kinder, sondern stellt in der Begegnung mit ihnen, an
ihrem Verhalten und ihren Äußerungen die Pointen eines auf Erschließung angelegten Glaubens heraus. Eben darum sind Kinder nicht nur Glaubende, sondern auch
Theologen. Gespräche mit Kindern, die beanspruchen, mit Kindern zu theologisieren, müssen sich offen halten für diese an und mit Kindern zu entdeckende
Dimension.
48
Der Klarheit halber sollte festgehalten sein: Ganz bewusst erfolgt diese Deutung nicht in den
Deutemodellen historisch-kritischer Bibelexegese, sondern in der Voraussetzung, dass es sich
zumindest bei den hier zur Debatte stehenden biblischen Texten immer auch um theologische, das
heißt bewusst so und nicht anders gefügte handelt. Allein eine solche Perspektive macht es im
übrigen sinnvoll, sich philosophisch auf biblische Texte einzulassen. Dass es sinnvoll erscheint,
dafür auch historisch-kritische Gesichtspunkte zu Hilfe zu nehmen, ergibt sich selbstverständlich.
212
4
3 Theologisieren mit Kindern?
Deutung konkreter Unterrichts-Gespräche
Wie sind nun auf dieser Grundlage konkrete Unterrichtsgespräche einzuschätzen,
wie sie zum Beispiel dem Buch „Theologisieren mit Kindern“49 zugrunde liegen und
als Anlage protokolliert sind? Inwiefern liefern sie Argumente für unsere Annahme,
dass Kinder in der Lage sind, theologische Gedanken zu fassen? Und inwiefern
bieten sie Modelle für das Theologisieren mit Kindern? Das sind zwei Fragen
zunächst nach den Inhalten, dann nach den Formen des kindlichen Theologisierens.
Auf beiden Ebenen bieten uns die Unterrichtsprotokolle Beispiele: Auf der
inhaltlichen Ebene geht es um die Fragen (1) der Theodizee, (2) der
Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse und (3) der Frage des freien Willens.
Das Theodizee-Beispiel arbeitet (A) mit einer Dilemmageschichte, die den Einstieg
für eine Schreibübung und ein kurzes Unterrichtsgespräch liefert; und das Gut-BöseBeispiel arbeitet (B) mit einer mythischen Impulsgeschichte, die Anlass bietet für das
Gespräch; und das Freiheits-Beispiel arbeitet (C) mit der Auslotung eines kleinen
Alltagsbeispiels durch ein ausführliches Unterrichtsgespräch, in das zwei handlungsorientierte Veranschaulichungen paradigmatischer theologischer Positionen
eingebaut werden.50
Ich kommentiere die Beispiele in dieser Reihenfolge, weil sie von der Länge wie
auch inhaltlich unterschiedlich komplex sind, so dass ich mit dem einfachsten
beginne. Eigentümlicherweise ergibt sich bei genauerem Hinsehen aber auch eine
inhaltlich aufbauende Reihenfolge: Nicht ohne Zufall gehen, meine ich, allen Unterrichtsstunden auf die Frage nach Gott, genauer auf das Verhältnis Gott-Mensch ein
und fragen, in welches Bild dieses Verhältnis am besten zu fassen sei, um damit
helfen zu können, konkrete Erfahrungssituationen zu deuten und zu bewältigen.
Dabei geht das Theodizee-Beispiel von der Fundamentalerfahrung nicht fassbarer
Ungerechtigkeit aus und fragt von daher nach Gott. Das Gut-Böse-Beispiel trägt
diese Frage wie von selbst hinüber in das Problem von menschlicher Autonomie
(angesichts der nicht ganz gelösten Gottesfrage). Und das Freiheitsbeispiel entfaltet
und differenziert die Problematik von Autonomie und Heteronomie, um am Ende
sich zu öffnen zur Frage nach der Moral.
49
Gemeint ist das Buch Büttner&Rupp (2002), dessen Konzept, wie oben Anm.1 erläutert, seine
Pointe in der Auseinandersetzung mit drei konkreten Unterrichtsprotokollen hat.
50
Wie in Anm.1 erwähnt, werden die Protokolle zum freien Willen und zur Theodizee-Frage im
Anhang dokumentiert, die Zitate aus dem Protokoll zum Mythos werden aus technischen Gründen
per Anmerkung nachgewiesen.
3 Theologisieren mit Kindern?
213
Gut vergleichbar sind die Unterrichtsbeispiele, weil es sich um Kinder ähnlichen
Alters handelt, im ersten Beispiel um eine vierte, in den anderen jeweils um eine
fünfte Klasse.
Ich will, um den Rahmen nicht zu sprengen, im folgenden zu den einzelnen Protokollen nur verstreute Bemerkungen machen und mich aus philosophischer Perspektive kritische auf einige die Frage nach Möglichkeiten des Theologisierens mit
Kindern weiterführende Punkte konzentrieren.
4.1
„…warum hat Gott es zugelassen…“ 51: Die Theodizee-Frage
(1) Es handelt sich hier um ein dreiteilig angelegtes Unterrichts-Geschehen: In
einem ersten Teil wird den Kindern das sog. Richter-Dilemma von Fritz Oser vorgelegt. Die zweite Phase des Unterrichts stellt den Kindern die Aufgabe, schriftlich
einige Sätze zu formulieren, was „dem Mann durch den Kopf“ gehen könnte, der
solches erlebt habe; die Kinder sind geraume Zeit mit ihren Formulierungen
beschäftigt und dürfen am Ende daraus vorlesen (acht schriftliche Äußerungen sind
protokolliert). Drittens folgt ein kurzes, keine 10 Minuten laufendes Gespräch zu
einigen hier aufgeworfenen Fragen: a) „Was soll man da sagen“ (zu solchen Widerfahrnissen von Unglück) ? (TH 1), b) „Warum lässt Gott so etwas zu?“ (TH 6) und
c) „Gibt es überhaupt Gott?“ (TH 20). Im nicht mehr protokollierten vierten Teil des
Unterrichts entwirft der Lehrer noch kurz einen positiven Schluss der Geschichte und
schließt mit der offenen Frage, was der Mann jetzt wohl über Gott gedacht habe.
(2) Zunächst ist festzuhalten, dass die drei Themenstellungen des Gesprächs nicht
von Kinderseite kommen, sondern durch den Lehrer; doch bezieht er sich dabei auf
zuvor schriftlich geäußerte Antworten: a) zu 1,2,3; b) zu 5, aber auch 3,6,8; c) zu 7.
Insofern haben in der Tat die Kinder die theologischen Impulse für das Gespräch
geliefert. Sie formulieren sogar unterschiedliche Antworten auf die Theodizeefrage:
Gott als Ansprechpartner in der Not (1,8) - Enttäuschung über ausgebliebene Hilfe
(3,6,7) - Gott als Ursache meiner Not (1,5) - Leiden als Strafe Gottes (4) - (die klassische Formulierung:) Gottes Gerechtigkeit angesichts konkreter Ungerechtigkeit
(5,7) - Zweifel an der Existenz Gottes (7) - Impuls zur Eigenverantwortung (2,8).
Bewusst habe ich auf eine Wertung der Beiträge verzichtet, um zunächst nur zu verdeutlichen, dass von den Kindern die wesentlichen Fragen der Theodizee genannt
werden. Dass sich in einigen dieser Antworten für uns zudem eine ganze Theologie,
51
Unterrichtsprotokoll „Das Richter-Dilemma in einer 4.Klasse“ (im Anhang dieses Abschnitts),
Mädchen 5. Ich zitiere im folgenden mit der Abkürzung „TH“ für „Theodizee“ und der Nummer
der Gesprächsbeiträge.
214
3 Theologisieren mit Kindern?
sprich die reflektierte Entwicklung eines theologischen Gedankengangs zeigt, habe
ich in der Eingangspassage dieses Aufsatzes exemplarisch zu zeigen versucht.
(3) Kinder sind also zweifelsohne in der Lage, theologische Fragen und Positionen
zu fassen. Offen bleibt, inwiefern hier auch eigenständiges theologisches Denken
vorliegt. Über die entwicklungspsychologischen Möglichkeiten dazu und die entsprechende Einordnung der Antworten orientiert Gerhard Büttner in seinem Beitrag.
Meinerseits würde ich gegen eine vorschnelle Einordnung der vorliegenden Kinderantworten als Theologie einwenden, dass viele entweder der Diktion der Geschichte
entlehnt sind oder mit Versatzstücken arbeiten, die nicht aus der unmittelbaren
Reaktion der Kinder zu stammen scheinen, sondern bereits irgendwie gehörten
Schemata; besonders auffällig ist das im dritten Teil des Gesprächs, aber auch in der
Selbstverständlichkeit der Übernahme eines bereits vorgeprägten Gottesbezugs in
den schriftlichen Antworten. Das mag an der Richter-Geschichte liegen (s.u.),
vielleicht auch an der Einstiegsfrage, die keine Auskunft darüber gibt, ob der Gottesbezug bereits durch den Lehrer hergestellt wurde (s.u.). Als unmittelbare, unverstellte Auseinandersetzungen mit der Theodizee- und der Gottesfrage sind die
Antworten insofern nur bedingt anzusehen. Ich meine gleichwohl, eigenständiges
theologisches Denken findet statt, doch, und das ist entscheidend, eher hinter der
Folie vorgegebener Diktionen, in denen sich die meisten Kinder äußern. Und diese
Dimension müsste erst einmal herausgearbeitet werden, um wirklich zu einem
Theologisieren mit Kindern zu kommen.
(4) Dieser „Mangel“ liegt zunächst einmal an der Form des Impulses: Um eine
Dilemmageschichte im engeren Sinne nämlich handelt es sich bei der von Oser vorgelegten m.E. nicht. Zum einen ist die erzählte Welt dieser Geschichte in ihren
Details relativ abstrakt gegenüber der konkreten Erfahrungswelt unserer Kinder.
Konkretheit aber ist für ein philosophisch wie auch theologisch fruchtbares Gespräch
eine unverzichtbare Grundbedingung, da sonst ich selbst in dem Verhandelten nicht
vorkomme. Zum andern entwickelt Oser mit der Geschichte kein eigentliches
Dilemma, also einen Handlungs- oder zumindest Einschätzungskonflikt, sondern viel
abstrakter werden wir konfrontiert mit der Seelenlage eines geschlagenen Menschen.
Warum dies für uns eine Herausforderung sein kann, wird nur verdeckt zur Sprache
gebracht. Schon deshalb bedarf es auch im protokollierten Unterricht einer Zusatzfrage durch den Lehrer, um kindliche Äußerungen zu evozieren.52
52
In Weiterführung der Idee, Dilemmageschichten als Impulse für ein philosophisches Gespräch zu
nutzen, habe ich selbst einen Versuch vorgelegt zur Konkretisierung einiger Elemente, die mir
notwendig erscheinen für eine Dilemmageschichte, die sich wirklich als Impuls für ein philosophisches Gespräch eignet: Neben dem konkreten Erfahrungsbezug sind das insbesondere die
Elemente Pointiertheit der Geschichte - innere Dichte - offenes Ende - Themenzentrierung -
3 Theologisieren mit Kindern?
215
(5) Eine weitere Schwierigkeit entdecke ich in der Impulsfrage zur Aufarbeitung
der Geschichte: Mit der Frage „Was geht dem Mann durch den Kopf“ scheint die
andere bereits verbunden gewesen zu sein: „Was denkt er jetzt über Gott?“53.
Dadurch werden die Kinder von vornherein darauf gelenkt, die Geschichte als
Auseinandersetzung mit Gott zu deuten. Interessanter und für die Eigentätigkeit
kindlichen Theologisierens bedeutsamer wäre die Frage, ob aus der geschilderten
Erfahrung heraus die Kinder die Auseinandersetzung des Mannes mit seinem
Lebensschicksal von selbst als Gottesfrage gedeutet hätten.54 Das wäre eine
Bestätigung auch für die These (die ich vertreten würde, auch weil sie spannender
ist): Die Auseinandersetzung mit Gott ergibt sich durch die Erfahrung einer
Tiefendimension in einer konkreten Lebenssituation. - Dafür wird im Gespräch durch
die Eingangsfrage „Was soll man da sagen?“ (TH 1) eigentlich eine gute Voraussetzung geschaffen: Die Kinder versuchen in ihren Antworten diese Situation durch
Konkretisierungen (TH 2: Autounfall, TH 4: Erreger) auszuloten. Eine Vertiefung
erfährt dieser Versuch jedoch nicht, so dass wiederum von Lehrerseite (TH 6) Gott
ins Spiel gebracht wird. Auch der dritte Teil des Gesprächs wird mit der Frage „Gibt
es Gott überhaupt?“ (TH 20) nicht aus dem Gespräch heraus gestellt, sondern vom
Lehrer als neuer Impuls eingebracht.
(6) Damit wirklich ein ein Philosophieren bzw. Theologisieren mit den Kindern
und auch der Kinder selbst gelänge, käme es m.E. stärker darauf an, eine die
Äußerungen der Kinder weiter in ihren Schichten auszuloten und zu
problematisieren. Das müsste zunächst durch Nachfragen geschehen, etwa zu der
ersten Kinderantwort: Was heißt denn das, dass ein Mensch Gott fragt; geht das, und
wie geht so etwas? Oder: Wie stellst du dir vor, dass „Gott es ihm bestimmt sagen
würde“? Redet Gott, hören wir ihn, wie hören wir ihn? - Erst durch Aufwerfen
solcher Nachfragen würde ein Gespräch entstehen, das auch die hinter solchen
Äußerungen versteckten elementaren Fragen etwa nach dem Menschen als
Polarisierung des Konflikts - Aporie der jeweiligen Einzelpositionen - dialogische Anlage - zur
Entscheidung drängend - weitere Meinungen evozierend - Offenheit der Entscheidung. Vgl.
Petermann: Philosophieren lernen als Konzept gegen Lebensresignation? Leben und Philosophieren lernen mit Montaigne, in: ZDPE 2/1999, S.101ff.
53
Das Protokoll gibt hierüber keine klare Auskunft, zumindest die Antwort 7 scheint aber darauf
hinzudeuten, dass die Kinder die Geschichte von vorneherein unter dieser Perspektive des Gottesbezugs gehört haben und auch deuten sollten.
54
Möglichkeiten eines differenzierteren, zunächst die konkrete Erfahrung auslotenden Arbeitsauftrags sind leicht zu überlegen. So könnten die Kinder aufgefordert werden, Briefe unterschiedlicher Personen zu schreiben, etwa der Menschen, die den Richter als zu hart empfinden, oder des
Richters, der begründet, warum er gerecht aber hart urteilen muss, oder des Richters an einen
Freund, dem er seine Geschichte erzählt, oder des Freundes an den Richter, der ihn in seiner Lage
zu stützen versucht usf. Einige Möglichkeiten habe ich in dem genannten Aufsatz entwickelt:
Petermann (1999) (wie Anm. 52).
216
3 Theologisieren mit Kindern?
scheiterndem, fragendem, verzweifelnden, der Orientierung und des Schutzes
bedürftigen Wesens zur Erfahrungen bringen könnte. Auch die erste Lehrernachfrage
im Gespräch „Was soll man da sagen, warum so etwas in der Welt passiert?“ wird in
ihrem Gewicht eigentlich nicht weiter aufgenommen. Warum denn „kann eigentlich
niemand etwas dafür“ - wer kann denn dann etwas dafür - gibt es so etwas wie ein
hinter allem stehendes Prinzip? Oder gibt es vielmehr Erfahrungen, an denen
grundsätzlich Erklärungen versagen? Was aber bedeutet das dann, wenn man vor
solchen Erfahrungen nicht schlicht verstummen will - epistemologisch wie ethisch?
Auch hier belässt es dieser Unterrichtsversuch dabei, dass Kinder theologisch für uns
und für sie selbst nur möglicherweise interessante Gedanken äußern. Damit es
wirklich zu einem Theologisieren der Kinder käme, müsste ihnen ein Raum eröffnet
werden, der sie diese Gedanken auch a) als ihre eigenen, b) als von ihnen selbst mit
anderen weiterzuführende und c) als möglicherweise auch in ihr konkretes Leben
eingreifende erfahren ließe.
(7) Der für mich inhaltlich interessanteste Teil des kurzen Gesprächs ist der zweite,
beginnend mit der Frage, warum Gott so etwas zulasse: Die Kinder liefern mit ihren
Antworten tiefsinnige Versuche, die Frage in einer uns verständlichen und unser
Leben betreffenden Weise zu beantworten. Auch hier würde ich mir erhebliche
Vertiefungen erwarten, wenn nachgefragt würde: Wie stellst du dir das vor, sonst
könnte etwas Schlimmeres passieren? (TH 7) Solches Nachfragen erst würde die
komplizierte Thematik von Freiheit und Notwendigkeit, von Verantwortung und
Determination in kindlicher Sprache entfalten können. - Insbesondere gilt das für die
Schlussbemerkung dieser Gesprächsphase: Gott, der auch nicht immer in die Zukunft
sehen kann (TH 19). Diese Bemerkung könnte bei Nachfrage zu einer Entwicklung
der gesamten Problematik von Teleologie führen: Hat unser Leben, hat Geschichte,
hat die Zeit ein Ziel? Was ist Vergänglichkeit? Warum gibt es so etwas wie Zukunft?
usw.
(8) Der letzte Gesprächsteil („Gibt es überhaupt Gott“) ist philosophisch weniger
bedeutsam. Theologisch finde ich aber von außen betrachtet daran auffällig eine fast
selbstverständliche Tendenz, diese Frage nicht abstrakt per Definition, sondern
anthropozentrisch und erfahrungsorientiert zu beantworten. Wenn wir bedenken,
dass die biblischen Glaubens-Summen stets als verdichtete Glaubens-Geschichten,
also -erfahrungen sich darstellen, ist es m.E. aufregend, dass die Kinder ganz unmittelbar antworten, dass also Gott zunächst und vor allem in und durch Geschichten
und in menschlichen Erfahrungen bzw. Erfahrungen mit Menschen wie Jesus für uns
zur Frage wird. Darin liegt für mich eine Bestätigung einer anthropozentrisch und
erfahrungsorientiert fundierten Theologie bzw. eines Wortes wie Heilsgeschichte.
3 Theologisieren mit Kindern?
Anhang zu 4.1: Das Richter-Dilemma in einer 4. Klasse
217
55
Um herauszufinden, wie Grundschulkinder selber Theologie treiben, haben Gerhard Büttner und Hartmut Rupp
einen Ansatz von Anton A. Bucher56 aufgenommen und versucht, Kinder einer vierten Klasse in Karlsruhe
mithilfe einer Dilemmageschichte in ein theologisches Nachdenken über die Theodizeefrage zu verwickeln.
Die Unterrichtsstunde war folgendermaßen aufgebaut:
1. Sorgfältige Vorstellung der Dilemma-Geschichte
2. Gespräch zum Verständnis
3. Schriftliche Einzelarbeit am Gruppentisch
4. Rundgespräch
Die Dilemma-Geschichte hat folgenden Wortlaut:57
In einer kleinen Stadt lebte einst ein wohlhabender Mann. Er war glücklich verheiratet, hatte vier Kinder und
besaß ein großes Haus. In seinem Beruf als Oberrichter war er sehr erfolgreich. Der Mann betete regelmäßig
und vergaß dabei nicht, Gott für sein glückliches Leben zu danken. Er spendete auch viel Geld für soziale
Projekte. Für die armen Leute setzte er sich persönlich ein.
Doch viele Leute in der Stadt fürchteten den Richter, weil er zwar gerecht, aber doch sehr streng war.
Deshalb sprachen gewisse Kreise in der Stadt schlecht über ihn und verleumdeten ihn. So verlor er
unverschuldet seinen guten Ruf. Nach einer gewissen Zeit musste er deshalb auch sein Amt als Oberrichter
aufgeben. Das war aber nicht alles:
Eines Tages wurde sein Tochter sehr krank. Sie bekam eine eigenartige Lähmung, die jeden Tag schlimmer
wurde. Der Ex-Richter konnte die Kosten für eine Heilung nicht mehr aufbringen. So musste er sein schönes
Haus verkaufen und all sein Geld für Arztrechnungen aufbrauchen. Seine Tochter aber wurde dennoch nicht
gesund.
Das folgende Unterrichtsprotokoll gibt zunächst die schriftlichen Aufzeichnungen (3. Teil der Stunde) wieder,
die die Kinder vorgelesen haben:58
L: Was geht dem Mann durch den Kopf?
Mädchen 1: Dass Gott ihm nicht mehr geholfen hat und dass der Mann jetzt traurig war. Er sollte zu Gott beten
und ihn fragen, warum er das gemacht hat. Dann würde Gott es ihm bestimmt sagen. Und er würde Gottes Sage
annehmen. Er sollte dann das tun, was er sagt.
Mädchen 2: Er sollte weiterbeten. Er sollte fest daran denken, dass seine Tochter gesund und vielleicht wird sie
ja wieder gesund. Er sollte auch sparen, um mit seiner Tochter zum Arzt [zu] gehen.
Junge: Ist die Geschichte echt?
Mädchen 3: Er ist enttäuscht über Gott, denn er hat jeden Tag gebetet, dass er von Gott beschützt wird und alle
anderen, die er kennt. Er ist sehr enttäuscht von Gott, denn er hat ihm nicht aus einer Not geholfen und seine
Tochter und ihn beschützt. Seine Tochter musste ohne seine Hilfe in Not und mit schwerem Leiden von ihm,
seinen anderen drei Kindern und seiner Ehefrau mit Kummer und Leid gehen.
Mädchen 4: Warum hat Gott mich bestraft, ich habe doch regelmäßig gebetet. Soll ich überhaupt noch beten?
Außerdem, ich habe doch soviel für soziale Projekte gemacht. Warum haben die Leute mich verleumdet?
Mädchen 5: Warum hat Gott es zugelassen, dass alles so gelaufen ist? Warum hat Gott meine Tochter nicht
gesund gemacht? So sollte es wenigstens sein, dass sie gesund ist. Warum habe ich mein Haus verkauft, wenn die
Ärzte doch nichts ausrichten konnten? Findet Gott mich nicht gut, zu streng oder ungerecht?
Mädchen 6: Warum hilft Gott mir nicht? Ich habe immer gebetet. Und war fromm. Er hilft doch so vielen, warum
mir nicht.
Junge 7: Was soll der Oberrichter über Gott denken? Er war sonst immer so gerecht, warum hat er mir das
angetan? Ich habe so gut gelebt, und jetzt das! Gibt es dich überhaupt. Warum kann man meine Tochter nicht
heilen. Warum hat Gott mir nicht geholfen? Wieso habe ich alles verloren, was ich früher gehabt habe?
55
Der Text des Richter-Dilemmas und des Unterrichtsprotokoll sind dem Beitrag entnommen von Büttner,
Gerd / Rupp, Hartmut: Theodizee als Dilemma. Möglichkeiten und Grenzen der Dilemmadiskussion als
Medium kindlichen Theologisierens. In: Büttner&Rupp (2002), S.22-34.
56
Büttner und Rupp beziehen sich hier auf Bucher, Anton A.: Kinder und die Rechtfertigung Gottes? – Ein
Stück Kindertheologie. In: Schweizer Schule 10 (1992), S. 7-12.
57
Oser, Fritz / Gmünder, Paul: Der Mensch, Stufen seiner religiösen Entwicklung. Gütersloh 31992.
58
In den von den Kindern verfassten Texten, die sie hier vorlesen, wurde die Rechtschreibung verändert.
218
3 Theologisieren mit Kindern?
Mädchen 8: Warum hilfst du uns nicht, meine Tochter zu heilen? Ich habe mein ganzes Haus verkauft und besitze
nur noch drei gesunde Kinder und ein gelähmtes, wie lange halten wir denn noch durch? Wir leben ja nur in
einem alten Schuppen. Hoffentlich geht alles gut!
Es folgt das Protokoll des anschließenden knapp 10-minütigen Rundgesprächs (4. Teil der Stunde)59:
(1)
L: Ihr habt jetzt aufgeschrieben, was dem Mann durch den Kopf geht, worüber er nachdenkt ... Das ist ja
etwas, was man immer wieder hören muss, das kann man sogar in der Zeitung lesen: Ein Mensch, der gar
nichts dafür kann, wird eines Tages schwer krank, gelähmt vielleicht, ein Unfall... Habt ihr eine
Erklärung, (warum so etwas passiert in der Welt)? Was soll man da sagen? - Da steht man manchmal da
und weiß gar nichts zu sagen.
(2)
Sch: Oft sind auch andere schuld, wie bei unserem Autounfall, die einfach woanders hingucken, einem
mit 50 hinten rein fahren.
(3)
L: Warum passiert so ein Autounfall [...], aber wie ist es bei einer schweren Krankheit?
(4)
Sch: Da kann eigentlich niemand was dafür. Manche haben diese Erreger einfach in sich und wenn die
dann irgendwann anfangen zu wirken. Menschen können auch nichts dafür, wenn ein Kind behindert
geboren wird. Die Leute können auch nichts dafür.
(5)
[Lachen]
(6)
L: Aber warum lässt Gott so etwas zu? Findet ihr da einen Weg beim Nachdenken?
(7)
Sch: Irgendwann würde vielleicht noch etwas Schlimmeres passieren.
(8)
Sch: Vielleicht hat der Mann auch einmal etwas gemacht, was er nicht machen sollte und da hat Gott
gedacht, dass er ihn jetzt bestraft dafür.
(9)
L: [...] Wie denken darüber andere? Könnt ihr euch das vorstellen?
(10)
Sch: Hat soviel Gutes getan...
(11)
Sch: So schlimm hätte es auch nicht kommen können. Wenn, dann wär´s auch etwas übertrieben.
(12)
L: Auf jeden Fall zu viel? [...]
(13)
Sch: Vielleicht wäre hinterher etwas viel Schlimmeres passiert, das wollte er ja vermeiden.
(14)
L: Das war wie ein Stoppschild.
(15)
Sch: Oder seiner Tochter wäre etwas viel Schlimmeres passiert, (dass sie noch mehr leiden müsste), wie
die Lähmung.
(16)
Sch: Aber er hat doch nicht ihn, sondern die Tochter bestraft.
(17)
L: Kann das sein, dass der Vater etwas macht und das Kind krank wird? Kann man sich so etwas
vorstellen? [...]
(18)
Sch: Vielleicht hat das Kind ja was gemacht, falsch gemacht oder ihn beleidigt.
(19)
Sch: Man kann ja nicht immer in die Zukunft sehen, das kann Gott auch nicht immer, (oder warten, was
kommt).
(20)
L: [...] Gibt es überhaupt Gott? Könnte der Mann zu dem Ergebnis kommen, es gibt Gott nicht?
(21)
Sch: Es gibt Gott. In den Erzählungen... aber keiner hat Gott je wirklich echt gesehen. Keiner hat ihn je
echt gesehen, weil sich keiner ein Bild von ihm machen sollte. [...]
(22)
Sch: [...] Ich hab ein Lexikon, Kinderlexikon, unter „G“ da hab ich einfach mal geguckt und da steht Gott
drin. Da steht Gott drin, das ist ein alter Mann mit so einem ganz langen, wie bei Asterix, mit einem
langen Bart, graue Haare und was ganz Komisches an, ein Gewand.
(23)
L: Was hast du gedacht, wie du das Bild zum ersten Mal gesehen hast?
(24)
Sch: Ich habe erstmal gelacht.
(25)
L: Hat jemand eine Vorstellung?
(26)
Sch: Normaler Mensch.
(27)
Sch: Ein bisschen älter als wir, 100 Jahre, dass er nicht so viel an hat wie wir auch.
(28)
L: [...]
(29)
Sch: Gott als eine große Kraft im Weltall...
(30)
Sch: Mit Bart.
(31)
Sch: ... so ist wie ein junger Mann, der aber nicht älter wird, immer gleich ist.
(32)
Matthias: Er hat früher gelebt, deshalb hat er nicht so neue Kleider.
(33)
Claudia: So ähnlich wie Jesus.
(34)
L: Wie sieht Jesus aus?
(35)
Sch: Wie ein normaler Mensch.
59
Die Äußerungen in ( ) – Klammern sind Ergänzungen meinerseits, die ich aus der per Video zugänglichen
Unterrichtsaufzeichnung entnommen habe.
3 Theologisieren mit Kindern?
4.2
219
„…der Satan kann doch nicht in die Seele hineingehen…“ 60:
Der Kampf zwischen Gut und Böse
(1) Auch in diesem Unterrichtsbeispiel sind drei Phasen zu unterscheiden: Mit der
expliziten Zielsetzung, die Auseinandersetzung um das Richter-Dilemma61 und die
Theodizeefrage fortzusetzen, wird zu Beginn eine die mythischen Elementen der
Originale aufnehmende und entfaltende Geschichte von der Erschaffung der Welt
und dem Engelskampf erzählt.62 Zur Verarbeitung dieses Impulses kolorieren die
60
61
62
Unterrichtsprotokoll „Das Richter-Dilemma und der Kampf Michaels gegen Satan“, Nr. 2. Das
Protokoll lag mir in ausführlicher Form schriftlich vor. Dabei waren die Äußerungen durchnummeriert. Ich zitiere im folgenden unter dem Kürzel „GB“ für „Gut-Böse“ und der Nummer des
Gesprächsbeitrags, wobei ich aus Gründen der Lesbarkeit vorgenommene geringfügige Ergänzungen in [ ]-Klammern gesetzt habe. In den Band Büttner&Rupp (2002) ist dieses Protokoll nicht
vollständig aufgenommen worden, vielmehr sind große Teile eingebaut in den Beitrag von
Hartmut Rupp: Kinder brauchen Mythen. In: Büttner&Rupp (2002), S.79-93. Der Transparenz
halber gebe ich daher die von mir jeweils gemeinten Äußerungen in einer Anmerkung wieder.
Gemeint ist das oben im Anhang zum Abschnitt 4.1 wiedergegebene Dilemma von Oser.
Die Geschichte stammt von Hartmut Rupp, unter „Bearbeitung des Mythos vom Engelsturz und
vom Chaosdrachenkampf in Aufnahme von Gen 1,16ff und Offb 12,4-9 sowie jüdischen Elementen (A.Rosenberg: Engel und Dämonen. München 1986, S.49, 92-101, 153-168)“ (Rupp in:
Büttner&Rupp 2002, S.88). Rupp hat die Kinder „darauf hingewiesen, dass es sich hier um eine
zwar frei nacherzählte, aber uralte Geschichte handelt, die zwar nicht vom Richter handelt, aber
‚irgendwie’ doch etwas mit der Richter-Geschichte zu tun habe“ (ebd. S.86). Ich zitiere die
Geschicht hier wegen meiner nachfolgenden Analyse vollständig aus seinem Aufsatz „Kinder
brauchen Mythen“ (in: Büttner&Rupp 2002, S.86ff):
Es ist ganz am Anfang. Da sagt sich Gott: Ich möchte die Welt erschaffen. Ich möchte nicht alleine sein. Und
Gott beginnt Himmel und Erde zu machen. Als erstes macht er das Licht. Dabei sagt er sich: Ich brauche
Helfer bei der Erschaffung der Welt. Ich brauche Wesen, die ganz nahe bei mir sind, die mich umgeben, die
meinen Willen ausführen, die einen Teil von mir in sich haben. Ich brauche Engel, ganz verschiedene. Und
deshalb machte Gott mit dem Licht die Engel. Engel sind deshalb fast ganz aus Licht. Wenn man sie sieht,
tragen sie meistens ein weißes Kleid.
Die Engel helfen Gott bei der Erschaffung der Sterne, der Tiere und der Bäume.
Am sechsten Tag ruft Gott alle Engel zu sich und er sagt:
Ich danke euch für eure Hilfe bei der Erschaffung der Welt.
Nun habe ich etwas ganz Besonderes vor.
Ich möchte ein Ebenbild von mir selbst erschaffen.
Ich möchte die Menschen erschaffen.
Sie sollen nur etwas geringer als ihr sein, als meine Engel.
Sie sollen in der Welt, in der Schöpfung zeigen, wie ich bin. Sie sollen herrschen, wie ich, mir ähnlich,
freundlich und immer an die Pflanzen und Tiere denkend, an Luft Erde und Wasser. Sie sollen die Welt
gestalten und erhalten. Sie sollen sie bebauen und bewahren. Ich will, dass sie wie Könige und Königinnen
durch das Leben gehen.
Sie sollen stolz sein, weil ich sie gern habe. Und sie sollen alle Lebewesen spüren lassen, dass ich Gott es gut
mit der Welt meine.
Die meisten Engel nicken beifällig.
Nur Satanael, der Anführer der himmlischen Heerscharen und himmlischer Oberstaatsanwalt ist damit nicht
einverstanden.
„Was soll das? Die werden sich von dir lossagen und machen, was sie wollen.
Sie werden sich einander umbringen und Pflanzen und Tiere und Luft und Wasser zerstören. Sie werden
Menschen verleumden und fertig machen. Sie werden schlecht übereinander reden und lügen.
Und wir, sollen wir da auch noch mitmachen? Das darf doch nicht wahr sein.“
Satanael ist sauer und gekränkt.
220
3 Theologisieren mit Kindern?
Kinder dann zweitens einen Ausschnitt des Dürerbildes zum Engelskampf.
Wiederum folgt als dritte Phase ein Unterrichtsgespräch, diesmal länger
(18 Minuten) und mit wesentlich mehr Wendungen:
(2) Folgende Themen werden im Gespräch nacheinander verhandelt: (a) Wie kann
der Satan in die Seele hineinschlüpfen?, (b) Welche verunsichernde Wirkung übt der
Teufel in der Seele aus?, (c) Was mag sich Gott gedacht haben bei der Opposition
des Satan?, (d) Welche Hilfen bietet das Hören und Lesen der Geschichte:
Hoffnungsbilder - Nachdenklichkeit - Gott als Vorbild, (e) Bietet die Geschichte
einen Aufruf zu selbständig und eigenverantwortlicher Lebensgestaltung?, (f) Birgt
ein Mythos auch Gefahren? - Einige Fragen werden durch die Lehrperson aufgeworfen, einige, auffälligerweise auch die komplexeren und interessanteren (a,c,e,f)
Bis jetzt waren sie, die Engel, die besonderen Geschöpfe Gottes. Gott lächelt und sagt dann ganz ernst:
„Ja, all das kann so sein. Aber ich möchte keine Automaten, die nur das tun, was ihnen einprogrammiert
wird. Ich möchte Menschen, die freiwillig das Gute tun.“
Satanael wird zornig. „Nein, das darf nicht sein. Sie werden nur Böses tun und nichts von dir erzählen.“
Gott sagt: „Dann ich werde selbst zu ihnen gehen als Mensch, wie sie. Und werde ihnen zeigen, wie Gott ist
und wie es ist, ein guter Mensch zu sein.“
Satanael hält Gott für verrückt. "Sie werden dich umbringen!“
„Das kann sein, doch ich werde die Menschen nicht sich selbst überlassen.“
Satanael gibt Gott auf.
Ein Drittel der Engel steht zu ihm.
Er will diesen Plan verhindern.
Er beginnt einen Kampf gegen Gott.
Gott kommt in Schwierigkeiten. So leicht wird man gegen seine eigenen Engel nicht fertig. Er sucht einen
neuen Anführer. Er findet Micha und wählt ihn aus zum Chef der himmlischen Heerscharen. Er nimmt
Satanael das „El“ aus dem Namen und gibt es Micha. So wird aus Micha Michael.
Im Himmel beginnt ein wilder Kampf. Er wogt hin und her. Manchmal sieht es so aus, als müsse Gott
verlieren und den Himmel dem Satan überlassen.
Doch schließlich gelingt es Michael, den bösen Engel, den Drachen, den Teufel aus dem Himmel hinaus und
auf die Erde hinunterzuwerfen - mitten in das Leben der Menschen hinein.
Durch die Niederlage wird der Satan nur noch wütender. Er rennt jetzt auf der Erde hin und her und versucht
alles, die Menschen von Gott abzubringen und die Herrschaft gewinnen. Ganz besonders hat er es auf die
abgesehen, die an Jesus glauben, die zu Gott beten und auf Gott vertrauen. Er will alles durcheinander
bringen, die ganze Welt, das persönliche Leben und die Seele innen drin. Immer wenn der Satan, der
Diabolos, der Teufel auftritt, geht alles drunter und drüber, es gibt Unglück, es gibt Enttäuschung und
Tränen und Menschen fangen an Gott zu zweifeln. Sie fragen sich, ob sie noch an Gott glauben sollen.
Der Teufel, der Satan kann ganz verschiedene Gestalten annehmen. Er kann sich ganz klein und auch ganz
unsichtbar machen. Er kann in die Seele eines Menschen hineinschlüpfen und ihn ganz durcheinander
bringen, so dass er nicht mehr weiß, was er glauben soll. Er kann sogar machen, dass Menschen nichts mehr
von Gott halten. Der Satan kann sich auch ganz groß machen. Dann begegnet er als Krieg, der die Menschen
glauben lässt, die Welt sei total schlecht.
Der Teufel kann sich auch hinter einer schlimmen Krankheit verstecken und Menschen ganz mutlos machen.
So leicht wird man mit ihm nicht fertig. Gott muss gegen diesen Satan kämpfen. Deshalb schickt er immer
wieder den Erzengel Michael und andere Engel auf die Erde, um Menschen zu schützen und ihnen zu helfen,
mit dem Teufel fertig zu werden. Allein schaffen sie es nicht, aber auch ihre Kräfte werden gebraucht. Es gibt
jedes Mal einen Kampf und es sieht immer wieder so aus, als müsste Gott und seine Engel verlieren. Es geht
immer wieder hin und her in den Menschen innen drin, im Leben eines Menschen und in der großen Welt.
Aber so wie Gott es mithilfe der guten Engel und vor allem Michael geschafft hat, im Himmel den Satan
hinauszuwerfen, so wird er es immer wieder auch auf der Erde schaffen, den Durcheinanderbringer zu
besiegen und alles tun, dass irgendwann Himmel und Erde so werden, wie Gott sie ursprünglich gewollt hat.
3 Theologisieren mit Kindern?
221
werden durch die Kinder selbst zur Sprache gebracht. Insofern wird durch diesen
Unterricht unsere Annahme bestätigt und verstärkt: Kinder sind in der Lage, theologische Gedanken zu formulieren und auch unterschiedliche Positionen miteinander
zu diskutieren.
(3) Seine Prägung erhält dieser Unterricht durch den Versuch, mit einer Eingangserzählung mit mythischen Elementen zu arbeiten. Nun fallen zunächst hinsichtlich
der Geschichte selbst einige Elemente auf, die daran zweifeln lassen, dass es sich
hier um einen wirklichen Mythos handelt: Zum ersten werden zwar Elemente eines
überindividuellen, sinnstiftenden Geschehens63 in die Geschichte eingebunden, aber
immer wieder mit recht alltäglichen Dialogen, Gefühlsschilderungen, Auseinandersetzungen verwoben. Dadurch wird die Geschichte zwar vordergründig konkreter, da
erfahrungsnäher, verliert aber tendenziell ihren gegenüber alltäglichen Erfahrungen
sinnstiftenden Charakter. Diese Konstruktion wirkt sich zweitens auch auf die Form
aus: Wenn Mythen sich auf der Handlungsebene auszeichnen durch ein pointiert
verdichtetes Geschehen oder durch beeindruckende und tiefgründig-geheimnishafte
Schilderungen, wird dieses der unmittelbaren Deutung sich entziehende Faszinosum
relativiert durch eingeflochtene Begründungen und Erklärungen. Auch die sprachliche Form des Mythos, das Arbeiten mit Bildern, Ausschmückungen, Symbolen,
wird durch solche eher logisch-diskursiven Elemente immer wieder durchbrochen.
Das fällt insbesondere beim Schluss auf, der durch seinen erklärenden und auch
parainetischen Charakter am Ende ganz aus der mythischen Struktur ausbricht. Auch
wenn das bewusst geschieht64, wird dem Mythos dadurch von seiner Wirkung, und
damit sind wir beim dritten Element, meine ich eher etwas genommen als dass er
gewönne: Mit diesen Erklärungen erhält die Geschichte eher den Charakter einer
Beispielerzählung, vielleicht eines Gleichnisses, der über das Beispiel hinausgehende
prägende Charakter des Paradigmatischen geht darüber, meine ich, eher verloren.
Und viertens: Zwar haben Mythos und Mythe eine orientierende Funktionen. Doch
liegt diese Orientierungsleistung eher auf einer fundamentalen Ebene, also für unser
Beispiel etwa auf der Ebene, dass die Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse
ein Grundproblem menschlicher Existenz ist und was das für unser Leben überhaupt
bedeutet, nicht aber auf der Ebene einer konkreten Handlungsanweisung oder einer
konkreten Lebenshilfe. Wird damit gearbeitet, und das scheint mir die vorliegende
Geschichte zumindest am Schluss zu tun, birgt das aus mythischer Sicht die Gefahr
einer vorschnellen Besetzung und Deutung, der gegenüber der Mythos gerade durch
Offenheit gegenüber Deutungen geprägt ist.
63
Ich halte mich dabei an die sehr einleuchtend von Hartmut Rupp in seinem Beitrag „Kinder
brauchen Mythen“ (in: Büttner&Rupp 2002) entwickelten Elemente (S.88f.).
64
So Hartmut Rupp in der Erklärung in seinem Beitrag in Büttner&Rupp (2002), S.88.
222
3 Theologisieren mit Kindern?
(4) Allgemein ist gegen eine solche mit logischen und parainetischen Elementen
durchsetzte Konstruktion eines Mythos zunächst nichts einzuwenden, zumal sie ja
bewusst so geschieht. Doch sind, meine ich, die eigentümliche Wirkung und
Funktion eines Mythos eng an die grundsätzlich deutungsoffene Form gebunden.
Jeder Mythos steht zwar ohne Dechiffrierung wie ein erratischer Block da, drängt
also nach Deutung. Doch die Dechiffrierung findet auf einer anderen Ebene statt als
der Mythos, und das muss so sein. Wird die Dechiffrierung in den Mythos selbst
eingebunden, entsteht die Gefahr, die Deutung selbst zu mythisieren. Am eindrücklichsten wird diese Gefahr im Bereich der Politisierung des Mythos.65 Davon ist der
vorliegende Versuch natürlich völlig frei. Doch der aus pädagogischen Gründen
vielleicht einsichtige Versuche, eine Parainese in mythische Strukturen einzubinden,
läuft, meine ich, Gefahr, die Chance zu übersehen, den Mythos als je neu brauchbare
Folie zu verstehen, auf der Alltagserfahrungen thematisiert werden können, so dass
diese nicht gezwungen sind, ihren Sinn ganz aus sich selbst zu entwickeln. Die
Dechiffrierung des Mythos betrifft dann andererseits nur die Folie und bietet somit
wiederum nur ein Bild, das für eigene Erfahrungen sich nutzen lässt, überlässt die
Konkretisierung der Erfahrung aber der je eigenen Lebensgestaltung.
(5) Im Gespräch selbst sind es vor allem wieder die Kinder, die ihre Gedanken
weiter auf einer mythischen Ebene äußern: So tauchen etwa Stefan (GB 2) und Maxi
(GB 10), aber auch Thekla am Ende mit dem Bild des Hauses für die Hölle (GB 48)
ganz in die mythische Bildwelt ein.66 Ähnlich wie beim Theodizee-Beispiel würde
65
66
Am massivsten hat damit bekanntlich der Faschismus gearbeitet. Das sei in seinen Strukturprinzipien jedenfalls kurz per Anmerkung skizziert, um so die Gefahr der Mythisierung deutlich zu
machen: Die Einbindung von mythisierenden Licht- und Wellen-Inszenierungen in die politisierende Massenbewegung hat einerseits die ansonsten krude, da vereinfachende und insofern
menschenverachtende Politik in den Glanz eines überirdischen Faszinosums gepackt und ihr insofern künstlich den Schein von Allgemeinheit, Orientierung und Verbindlichkeit gegeben; andererseits wurde das Wunder elementarer Naturmächte so mit einer sehr bestimmten Deutung, nämlich
der des Politischen belegt, so dass die Natur ihrerseits das Offene des Mythischen verloren hat und
an die Politik als neuem Mythos abgegeben hat. Kritisch hat diese Gefahr eindrücklich Charlie
Chaplin auf den Punkt gebracht, wenn er zur lichthaft mythischen Musik aus dem Vorspiel zu
Wagners „Lohengrin“ Hinkel alias Hitler mit der Weltkugel als Luftballon tanzen lässt: Unmittelbar deutlich wird darin das zugleich Anrührende, als habe auch Hinkel jene von ihm verachtete
menschliche Ader in sich, und das Abstoßende der Ästhetisierung einer Vernichtungspolitik. Der
Mythos selbst kann sich gegen solche Adaptionen nicht wehren, denn er enthält keine Deutungsanweisungen; gerade dies schützt ihn aber umgekehrt vor einer unmittelbaren Adaptation, insofern
seine Deutung stets außerhalb seiner selbst liegt, er also immer zu einer kritischen Dechiffrierung
drängt. Das war an diesem Beispiel strukturell zu verdeutlichen.
(GB 2): [Satan] kann doch nicht in die Seele hineingehen …
(GB 10): Dass also, sagen wir einmal, der Satan bei dem Richter auf der Erde war und in die Tochter
geschlüpft ist und in die Leute, die das Gerücht verbreitet haben ja …
(GB 48): Und bei dieser Geschichte kann man ja auch merken, das er [Gott] manchmal gegen die Menschen
ungerecht war und dass das der Satan gleich ausgenutzt hat und ist dann in die Seele rein gegangen und hat
die dann noch unsicherer gemacht die Menschen und hat dann irgendwie immer heimlich gesagt, der bestraft
euch, der will euch ins Gefängnis stecken und haben die dann irgendwie Gerüchte gemacht und dass er [der
3 Theologisieren mit Kindern?
223
ich mir an diesen Stellen zunächst einmal ein verstärktes Auskosten des gerade
geöffneten Bildes erwarten. Das würde den paradigmatischen und insofern auch (im
o.a. Sinne) orientierenden Charakter solcher Bilder für das tägliche Leben
verdeutlichen und dann auch tragfähiger machen. Was gäbe denn das für eine Kraft,
wenn wir dem Teufel tatsächlich ein Haus bauen könnten, in den wir ihn
hineinstecken? Er bliebe dann da - wir gehen ja an diesem Haus vorbei, aber er wäre
gebannt, denn erst einmal ist er drin, und wenn er herauswill, hätten wir vielleicht
einen gewissen Einfluss darauf.67 In solcher oder ähnlicher Weise würde es, meine
ich Sinn machen, auf genannte Bilder genauer einzugehen, um über ihre
Ausformulierung ihre orientierende Wirkung zu erfahren.
(6) Ebenso auffällig ist die Tendenz zur narrativen Ausgestaltung der Geschichte
und auch von Gedanken, die den Kindern durch die Geschichte kommen, so etwa
ganz deutlich Linda (GB 22) in Bezug auf die Gedanken des Richters68, aber auch
Thekla (GB 24) und (GB 26) in den sehr interessanten Versuchen, die Gedanken
Gottes nachzuempfinden69, oder (GB 44) und Max (GB 71) mit der Idee, narrativ
Konsequenzen zu ziehen.70 Das bedeutet: Das Arbeiten mit mythischen Elementen
Mann] dann glauben konnte, dass Gott/ es war so schlimm, er denkt, so schlimm kann er gar nicht sein, er
hätte ihn ja nicht geschaffen, wenn er so was Schlimmes machen würde und wenn er dann die Geschichte, der
Satan doch besiegbar ist, könnte er [der Mann] denken, wenn ich jetzt ganz toll an Gott glaube, vielleicht
könnten wird dem so was wie ein kleines Haus bauen, so eine Art Hölle, wo er nur rein soll.
67
Vgl. dazu die eindrucksvolle Bannungsgeschichte Mk 5, in der Jesus den Besessenen dazu bringt,
endlich einmal „die Sau rauszulassen“, um wieder er selbst sein zu können.
68
(GB 22): Der Richter hatte ja vorher so ein großes Haus, [daher] geglaubt, jetzt hab ich dem Richter, äh Gott,
recht gemacht, der findet es bestimmt jetzt gut, jetzt könnt ich eigentlich so weiterleben; jetzt hat es der Satan
wahrscheinlich gesehen und will, dass er nicht mehr an den Gott glaubt, jetzt hat er die Tochter krank
gemacht, jetzt geht es dem Richter so wie den armen Leuten ... wie die leben, so geht es ihm jetzt. Jetzt verunsichert er den Richter so, dass er denkt, vielleicht bete ich doch nicht mehr weiter, jetzt hat sich der Gott
das anders überlegt, und hat gedacht, jetzt denkt er vielleicht, das bringt einfach nichts mehr, weil er ihn nicht
mehr mag.
69
(GB 24): [Richter] könnte ja auch denken, dass auch so ein Krieg im Himmel war und dass der Gott aus Versehen den Engel, also die hatten ja den Krieg, und dass Gott den Ding runter geschmissen hat aus dem
Himmel und dass Gott aus Versehen einen Teufel erschaffen hat und dass er jetzt auch denken könnte, der
Teufel verunsichert ihn jetzt im Leben. Und dann muss er sich denken, ich glaub an Gott, er kann so etwas
Böses nicht tun und er muss weiter beten und wenn er stark ist, kann er den Teufel wieder auch aus seinem
Leben verschwinden.
(GB 26): Der J. hat vorhin gesagt, dass der Teufel sich ins Leben einmischt und sich den Glauben verwirrt,
und das kann ja auch stimmen, dass er sich klein und unsichtbar gemacht hat und unsichtbar in die Seele
´reingegangen ist und so dass alle Menschen nicht mehr an Gott glauben und dass dann Gott denkt, er sei
überflüssig, dass er was ganz Falsches gemacht hat und wieder in den Himmel holt und wieder von vorne
anfängt.
(GB 44): Er [der Richter] wird auch erfahren, dass nicht nur er, also dass nicht nur er - er hat ja gemeint, dass
er Oberrichter [ist] - das ist ja schon ein hoher Beruf -, dass es Gott auch mal so erging wie ihm, dass es ihm
eine Hilfe gibt, dass es Gott auch mal so ging wie dem Richter; jetzt weiß er auch halt, dass es gar nicht Gott
war, jetzt lernt er auch halt, ich kann auch mal mit anderen gegen Satan kämpfen, ihn aus seinem Leben
hinwegzubringen.
(GB 71): Vielleicht müsste der Richter, wenn der Gott wieder weg wäre, einfach auf die Idee kommen, er
könnte das vielleicht auch, und [wenn] der Satan immer noch da wäre, einfach den Leuten, die gegen ihn da
waren, die Geschichte auch erzählen, ihnen dann auch erzählen, dass es richtig wahr war, weil die Tochter
70
224
3 Theologisieren mit Kindern?
provoziert offensichtlich dazu, auf bildhafter Ebene einerseits und in narrativ
ausgestaltender Form andererseits Gedanken eigenständig weiterzuführen. Wie das
Element des Mythischen kann auch die Form des Narrativen eine geeignete Folie
bieten, tief existenzielle, verunsichernde, beängstigende, ureigene, vielleicht sogar
intime oder auch abgründige Gefühle zu artikulieren, gleichsam verpackt zur Sprache
zu bringen und so einen Weg zu finden mit ihnen zurechtzukommen. Narrative
Sprache ist demnach nicht etwas nur oder bloß Kindliches, was auf eine Erwachsenensprache hin gebildet werden müsste, sondern eine ganz eigene Form der Verarbeitung, Auseinandersetzung, Orientierung. Wenn gerade Kinder sie wählen, setzen
sie sich auseinander, denken, gestalten. Das ernst zu nehmen, gebietet schon der
Blick auf Literatur, bildende Kunst und Musik, wenn denn auch sie Orientierung und
nicht nur Unterhaltung bieten.
(7) Im Umgang mit mythischen und narrativen Elementen dokumentiert das Unterrichtsprotokoll freilich auch die Schwierigkeiten: Die Lehrperson greift nicht nur
relativ häufig lenkend in den Unterricht ein, sondern macht nicht selten den Versuch,
eher bildhafte Äußerungen relativ unvermittelt in eine logische Erklärungsstruktur
einzubinden, so schon in (GB 3)71, obwohl mit der ersten Aufforderung „Fühl mal...“
sich ein sehr schöner Ansatz geboten hätte, auf der eher bildlich-affektiven Ebene zu
bleiben. Das hätte zugleich die Möglichkeit gesteigert, mit dem Kind (GB 2) und von
daher auch mit anderen in einen wirklichen Dialog zu treten, der so eher unterbrochen wird. Auffällig ist auch das mehrmalige Arbeiten mit der Kausalitätskategorie (z.B. GB 29, 43, 64)72, was den Gedankengang der Kinder jeweils eher
abbricht oder in logisches Denken einbindet, statt für weitere Ideen zu öffnen.
krank war, und das war ja vorher nie, und der Haushalt nicht mehr hat, und dann einfach mit den Leuten
zusammen gegen den Satan einfach zu kämpfen und den dann auch einfach ja, wie T. gesagt hat, in so ein
Haus bringen, da wo dann nur die bösen Menschen hinkommen.
71
Es handelt sich um die erste, recht ausführliche Einlassung seitens der Lehrperson, mit der das
Unterrichtsgespräch nach einem ersten Einwurf von einem Kind (s.o. Anm 66) eingeleitet wird:
(GB 2): [Satan] kann doch nicht in die Seele hineingehen. Und Gott hat doch den Menschen geschaffen …
(GB 3): Ach so, du hast doch gesagt, dass der Satan erst mal besiegt wurde. Gott hat ihn aus dem Himmel
hinausgeworfen. Gott hat den Menschen geschaffen: Fühl mal, du bist doch da. - Aber den Satan, den gibt’s
noch. Und die Geschichte sagt, der kann sich total verändern. Er sieht nicht mehr aus wie da so ein rotes
Wesen. Er kann sich ganz anders machen, sagt die Geschichte. Er kann sich dann so klein machen, das er ins
Herz schlüpfen kann, in die Seele, ja. - Noch eine Frage zu der Geschichte? - Eine alte Geschichte. Können
wir anfangen darüber nachzudenken, indem ihr sagt, was ihr euch gedacht habt?
72
Jeweils handelt es dabei sich um Lehrerantworten bzw. –nachfragen, die freilich alle dokumentieren, dass die Lehrkraft sich ganz auch selbst in das Gespräch einbinden lässt:
(GB 29): Und weil die zusammenhängen [beide Geschichten], tröstet es. Könntest du noch genauer erklären,
was würde den Richter denn trösten in der Geschichte?
(GB 43): Weil, er würde merken, es ist nicht Gott, der dahinter steckt, hinter dem Bösen, sondern Satan.
(GB 64): Das heißt der Richter darf ein bisschen sagen, ja ich habe vielleicht ein falsches Urteil gemacht,
aber Gott wollte, dass ich eine eigene Entscheidung treffe …; dass er merkt, dass er nicht als Automat
geschaffen wurde …
3 Theologisieren mit Kindern?
225
(8) Doch auch die Kinder brechen selbst aus aus dem Raster des Mythos. Aber sie
tun dies, um den Mythos mehr oder weniger offen und auch eigenständig zu
dechiffrieren als bloße Folie zur Anregung eigenen Denkens (so in überzeugender
Weise Maxi (GB 59) und vor allem Linda (GB 71)73) oder auch in skeptischaufklärerischer Kritik an seiner Sprachform, welche Eigenverantwortung
mythisierend beschränke (so GB 83 und 8574). Das könnte unsere Idee bestätigen,
dass über die Dechiffrierung mythischer Sprache vielleicht besser als über den direkt
logisch-reflexiven Diskurs es gelingen kann, gerade existenzielle Fragen von Angst,
Freiheit, Verantwortung und Schuld zur Sprache und zur Auseinandersetzung zu
bringen. Die in die Form des Mythos gehüllte Grundfrage nach gut und böse würde
somit eine Folie und einen Einstieg liefern zur intellektuellen, eigenständigen und
dialogischen Auseinandersetzung mit komplexeren Themen konkreter Lebensgestaltung. Insofern würde ich die These von Hartmut Rupp gern variieren: Kinder
brauchen Mythen75, ja, aber um sie dechiffrieren zu können. Der Wert von Mythos
und Mythen und das Programm der Entmythologisierung hängen insofern
unmittelbar zusammen.
73
(GB 59): Die T. hat ja gesagt, dass uns Gott nicht einfach so erschaffen hat. Er hat uns ja auch nicht einfach
so erschaffen. Er wollte uns ja nicht als Spielzeug, als Zerstörungsmaschine haben, er wollte ja Leben auf der
Erde schaffen und nicht, dass das alles unter seinem Kommando läuft, sondern selbständig auch macht.
(GB 71): Vielleicht müsste der Richter, wenn der Gott wieder weg wäre, einfach auf die Idee kommen, er
könnte das vielleicht auch, und der Satan immer noch da wäre, einfach den Leuten, die gegen ihn da waren,
die Geschichte auch erzählen, ihnen dann auch erzählen, dass es richtig wahr war, weil die Tochter krank war
und das war ja vorher nie und der Haushalt nicht mehr hat und dann einfach mit den Leuten zusammen
gegen den Satan einfach zu kämpfen und den dann auch einfach ja wie T. gesagt hat in so ein Haus bringen,
da wo dann nur die bösen Menschen hinkommen.
74
(GB 83): Vielleicht glauben die ihm dann halt nicht mehr [wenn der Richter den Satans-Mythos anderen
Leuten erzählen würde], gerade weil sie … Irgendwann glauben sie immer mehr, was sie selbst erfunden
haben …
(GB 85): [Der Richter] könnte ja auch Angst haben, dass die Leute sagen, der lügt, der erzählt bloß schlechte
Sachen, der möchte bloß, dass er dann seinen guten Ruf wieder her kriegt und so…
75
Rupp in Büttner&Rupp (2002), S.79ff, insbesondere S.92.
226
4.3
3 Theologisieren mit Kindern?
„…weil man da sich selbst steuert…“ 76: Das Problem des freien Willens
(1) Grundsätzlich: Dieses letzte Protokoll ist unter philosophischer, aber auch
theologischer Perspektive und auch unter der Frage eines Modells für ein
Theologisieren mit Kindern für mich das mit Abstand interessanteste. Das liegt
weniger an der elaborierten Thematik, vielmehr an den ungewöhnlichen Fähigkeiten
dieser Kinder, sich auf diese Thematik einzulassen, gewiss aber auch an einer ausgezeichnet geglückten Mischung von Gesprächsimpulsen, Angeboten zum SelberDenken, Strategie der Nachfragen, Dialogbereitschaft und natürlich auch Sachkompetenz von Seiten der Lehrerin.
(2) Eine gliedernde Übersicht über den Unterrichtsverlauf ist hier von besonderem
Interesse, weil sowohl im Fortschritt der Gedanken als auch in den eingebauten
Elementen zur Gesprächssteuerung sich klare Strukturen erkennen lassen, die für ein
philosophisches und theologisches Gespräch mit Kindern als modellhaft angesehen
werden können: Das Protokoll beginnt bereits in Minute 25. Für unseren Zusammenhang, die Diskussion des freien Willens, ist es wichtig, zwei Voraussetzungen zu
benennen: Zum einen hatten die Kinder sich offenkundig in einer der vorausliegenden Stunden mit Gottesbildern auseinandergesetzt, und zwar nicht mit der viel zu
allgemeinen Frage, welches Bild die Kinder denn von Gott haben, sondern mit der
sehr viel konkreteren, wie das Verhältnis Gottes zu den Menschen in ein Bild zu
fassen wäre. Darauf nimmt die Lehrerin mit ihren Kindern ab Minute 44 (FW 77)
Bezug. Insofern ist die Stunde eingebunden in einen größeren Zusammenhang; auch
von daher erhält sie die ihr eigentümliche Spannung.77 - Den Impuls zur
Auseinandersetzung um den freien Willen im engeren Sinn liefert das (noch nicht
protokollierte) Beispiel von Gabi, die aus Verärgerung den Walkman ihres Bruders
heruntergeworfen hat (vgl. FW 65,68). Mit der konkret erfahrungsbezogenen Frage,
wodurch unser Tun im unmittelbaren Affekt gesteuert werde, beginnt der protokollierte Teil der Stunde: Was mag Gabi „geritten“ habe, dies zu tun (FW 4)? Die
Stunde ist damit eingebunden in eine ethische Fragestellung, mit der sie auch wieder
schließt. Sie liefert den notwendigen Rahmen, die schwierige Frage nach Freiheit
erfahrungsorientiert verhandeln zu können.
76
Unterrichtsprotokoll „Freier oder unfreier Wille?“ (im Anhang), Nr.33. Ich zitiere im folgenden
unter dem Kürzel „FW“ für „Freier Wille“ und der Nummer des Gesprächsbeitrags.
77
Vielleicht gehört es zu den Eigentümlichkeiten des Religionsunterrichts wie auch des Philosophieund Ethik-Unterrichts, dass, jedenfalls nach meinen Erfahrungen, das Arbeiten in größeren Sinnzusammenhängen nicht nur zur Klimaverbesserung beiträgt, sondern auch die je persönliche
Wirkung verstärken hilft. Als sehr förderlich auch für die tieferen Ziele des Religionsunterrichts,
zu einer bewussten Auseinandersetzung und Entscheidungsfähigkeit mit „Glaubensdingen“ zu
befähigen, ist in meinen Augen der Versuch, im Katholischen Religionsunterricht in BadenWürttemberg für die einzelnen Klassen jeweils ein Jahrgangsthema vorzugeben, an das alle
Einzelthemen angebunden werden können, so dass etwas wie ein roter Faden entsteht.
3 Theologisieren mit Kindern?
227
(3) Die Stunde verläuft dann weiter in gut abgrenzbaren 6 Teilen: Im 1.Teil (Minuten 25-41) erläutern die Kinder, ausgehend von der Skizze der Position Luthers (FW
4,6,10) mit ihrer Lehrerin dieses Bild, zunächst (a) in einer kurzen Verständigung
(FW 10-23), dann (b) in einer die Frage Gott oder Teufel entfaltenden Erörterung
(FW 24-64). In einem unmittelbar anschließenden kürzeren 2.Teil (Minuten 41-43)
wird dann die Stimmigkeit des Lutherschen Bildes überprüft (FW 65-76). Einen
Übergang bildet der 3.Teil (Minuten 44-48), der diese Auseinandersetzung nun einbindet in die bereits früher von den Kindern herstellten Bilder zum Verhältnis „GottMensch“ (FW 77-102). Die kritische Überprüfung der Bilder mit den jetzt erreichten
Ergebnissen eröffnet zugleich den 4.Teil (Minuten 49-54), nämlich die Konfrontation
mit dem Gegenmodell zu Luther, nämlich Erasmus. Zunächst geschieht ganz
entsprechend zum ersten Teil eine Verständigung über dieses neue Bild (FW 103116), während der 5.Teil entsprechend dem zweiten (Minuten 55-64) im unmittelbaren Anschluss das Bild auf seine Stimmigkeit überprüft. Mit einem kurzen 6.Teil
(Minuten 64-66) schließt die Stunde, indem das kritische Ergebnis der ErasmusDiskussion in die eher nur noch als Frage formulierte Problematisierung einer Ethik
über Erasmus und Luther hinaus überführt wird (FW 157-168).
(4) Die (Über-)Länge des Gesprächs ist nur insofern ein Einwand gegen die Durchführung, als sie in dieser Form nicht planbar ist. Aufgewogen wird dieser Einwand,
da die Stunde getragen ist von der außergewöhnlichen Bereitschaft jüngerer Kinder,
sich über 60 Minuten auf einen dichten Diskurs78 einzulassen. Zudem leistet die
Lehrerin eine sehr geschickte Gesprächsführung: Die Rekonstruktion hat verdeutlicht, dass planerisch die Stunde getragen ist a) von einer klaren Anbindung an einen
größeren Horizont, nämlich unser Bild zum Verhältnis Gottes zu den Menschen, b)
einer zu Beginn und am Ende sehr klar im Zentrum stehenden Thematik, nämlich der
Frage nach der Autonomie moralischen Verhaltens (angesichts dieses Gottesbildes,
hier aber ausgehend von einer ganz konkreten Alltagssituation), welche c) entfaltet
wird durch das die Stunde ebenso klar strukturierende Material, nämlich die Konfrontation der Positionen von Luther und von Erasmus als Folie zur Erörterung der
Frage der Freiheit der Moral. Auch diese Entfaltung folgt einem deutlich rekonstruierbaren logischen Muster, nämlich zunächst jeweils die quaestio facti zur
Erschließung der jeweiligen Position zu stellen (Teile 1 und 4), dann die quaestio
iuris zur Erörterung ihrer Stimmigkeit (Teile 2 und 5).
(5) Zudem arbeitet die Lehrerin für die einzelnen Teile nie auf der gleichen Ebene,
sondern mit stets wechselnden Methoden, wodurch es gelingt, je neu einen
78
Von Diskurs rede ich bewusst, weil es sich um mehr als ein schlichtes Unterrichtsgespräch
handelt. Vgl. unten zur Analyse der Gesprächsform.
228
3 Theologisieren mit Kindern?
Spannungspunkt zu setzen, so dass die Stunde zwar lang, aber nie langweilig wird.
Wie gelingt das? Die Einführung der Lutherschen These zum gebundenen Willen
(Teil 1) geschieht bewusst nicht über den Text oder auch den umgeschriebenen Text
von Luther79, sondern a) durch eine Mischung aus Visualisierung des Lutherschen
Bildes vom Reittier Mensch und aus narrativem Nachempfinden der Nuancen dieses
Bildes, sowie b) der Erschließung des Bildes über die Frage nach entsprechenden
konkreten Erfahrungssituationen (FW 10). Konkreter Erfahrungsbezug und das
Arbeiten mit Bildern (die Box, FW 27, später der Traum, FW 43) ist Merkmal auch
der konzentrierten sich daran anschließenden Diskussion (s.u.). Die Übergangsphase
(3) bleibt zwar wie der gesamte Unterricht gesprächsorientiert, bezieht sich als
Quellen des Gesprächs nun jedoch auf von den Kindern zuvor gemalte Bilder. Die
Erasmus-Teile (4) und (5) greifen dann zu einem ganz neuem Mittel: Der Textvorlage entsprechend, die wiederum als solche nicht Gegenstand wird, greift die
Lehrerin zum Spiel mit Puppe und Apfel (FW 103 sowie 107) und lässt dann die
Kinder die These durch kommentierendes und erläuterndes Nachspielen erfassen.
(6) Basis für diese Fähigkeit der Unterrichtsgestaltung ist zunächst einmal ein
solide theologische Sachkenntnis. Gerade die visuelle, narrative und spielerische
Umsetzung der Texte von Luther und Erasmus kann nur gelingen und als
Gesprächsimpuls wirksam werden, wenn diese in der Vorbereitung detailliert überlegt und nach Möglichkeiten ihrer Deutung hin entfaltet worden sind. Das aber setzt
wiederum die Fähigkeit voraus, Ergebnisse auch in theologische Kategorien wie
Gottesbild, menschliche Freiheit und Bindung, Soteriologie, moralische Verantwortung usw. einordnen zu können. Dass dies auch im vorliegenden Fall geschehen
ist, dokumentiert die Sensibilität, mit der die Lehrerin auf Äußerungen ihrer Kinder
einzugehen und sie (implizit) einzuordnen in der Lage ist. Oder: Diese Lehrerin ist in
der Lage, mit den Kindern zu sprechen, weil sie zugleich ihre Theologie im Hinterkopf hat.80
(7) Die andere Basis für diese unterrichtliche Fähigkeit ist das Vermögen zu einer
interaktiven Gesprächsführung: Die Steuerungen durch die Lehrerin erweisen sich
immer als Impulse, die nicht für sich selbst stehen, sondern sowohl in völliger
79
80
Die Philosophiedidaktik arbeitet heute mit recht differenzierten Möglichkeiten eines kreativen
Umgangs mit Vorlagen, so dass die Lesung und Interpretation eines Textes keineswegs mehr das
vorrangige Unterrichtsmittel ist. Vgl dazu neuerdings das Heft 2/2000 der ZDPE unter dem Titel
„Transformationen: Denkrichtungen der Philosophie und Methoden des Unterrichts. Diese Methodendiskussion soll im Zweiten Jahrbuch für Didaktik der Philosophie (Dresden 2001) entfaltet
werden. Vom Autor vgl. dazu auch: Petermann: Philosophieren als Konzept gegen Lebensresignation? Leben und Philosophieren lernen mit Montaigne; in: ZDPE 2/99, 101-109; sowie
Petermann: „Sei ein Philosoph, doch bleibe, bei all deiner Philosophie stets Mensch.“(zu
D.Hume); in: ZDPE 3/2000.
So Gerhard Büttner in einem Gespräch mit mir über dieses Unterrichtsbeispiel.
3 Theologisieren mit Kindern?
229
Angemessenheit gegenüber der zur Debatte stehenden Sache, als auch so, dass sie
die Eigentätigkeit der Kinder anregen. Dazu zählen immer wieder eingestreute Nachfragen, wie denn etwas gemeint sei (z.B. FW 20, 41, 85) oder eine Äußerung genauer
zu erklären (z.B. FW 16, 30!!, wo L den Impuls der Schülerin aufgreift, 44, 63, 93)
oder auch mit Gegenfragen zu konterkarieren (z.B. FW 24, 78, 129ff) oder auch in
Bestätigung einer Aussage (z.B. FW 20, 56, 101, 150). Diese Steuerungstechniken
lassen sich ohne Umstände als Elemente des sokratischen Gesprächs deuten, auch
wenn die Lehrerin nicht bewusst damit gearbeitet hat. Verblüffende Parallelen zeigen
sich zu den folgenden Elementen: Das Gebot der Zurückhaltung der eigenen
Einsicht, um sie den Teilnehmern selbst zu ermöglichen; das Gebot, im Konkreten
Fuß zu fassen, seien es Beispiele, konkrete Erfahrungen oder Handlungsbezüge; das
Gebot, das Gespräch als Hilfsmittel des Denkens voll auszuschöpfen, d.h. durch
Nachfragen einen Gedanken auch möglichst vollständig aussprechen zu lassen; das
Gebot, an einer erörterten Frage festzuhalten, etwa durch Nachfragen zu dem gerade
zur Verhandlung stehenden Thema; das Gebot, Konsens anzustreben, - hier etwa
durch das Nachfragen, ob etwas von einem anderen auch wirklich so gemeint ist
(z.B. FW 150 u.ö.); und das Gebot der expliziten Lenkung, das heißt stets als Lehrer
selber zu wissen, wo man im Gespräch steht.81 - Ein anderes Merkmal ist das der
wahrhaften Dialogbereitschaft. Nie geht es hier um ein schlichtes Frage-AntwortSpiel, sondern stets um die gemeinsame Entfaltung von Gedanken und Ideen. Dazu
gehört auch die Fähigkeit, sich in die Ideen der Kinder einzufinden und zu versuchen, sie mit ihnen gemeinsam weiter zu entfalten. Eindrückliches Beispiel dafür
ist das Bild von der Box, das Elisabeth eingebracht hat (FW 27) und das nun von der
Lehrerin aufgegriffen wird, um die Stunde mit einer neuen Thematik zu beleben:
Man wird nicht nur geritten vom Teufel oder von Gott, sondern steht auch in der
Box, reitet sich also selbst (FW 30ff).
(8) Nun ließe sich einwenden: Das alles sind Inszenierungen durch die Lehrerin; wo
aber agieren die Kinder selbst? Also doch eher ein Beispiel für eine Theologie (bloß)
für, nicht aber der Kinder? Das Gegenteil ist der Fall: Das behauptete Lehrerverhalten bietet eine notwenige Basis, so meine These, mit deren Impulsen die
Eigentätigkeit der Kinder angeregt und zur Entfaltung gebracht wird. Das geschieht
vieldimensional: Es geht (a) um das eigene Denken, (b) um das Denken im Dialog,
auch (c) das Denken im und durch den Erfahrungs- und Handlungsbezug und
81
Die genannten Kriterien sind der Zusammenfassung bei Gustav Heckmann: Das sokratische
Gespräch. Frankfurt (dipa) 1993, S.84ff, entnommen und von mir auf die hier zur Debatte
stehende Situation entfaltet worden. In einer genaueren Analyse wäre es sicher ohne Probleme
möglich, diese These zu erhärten und auch durch vergleichenden Bezug auf die von Platon überlieferten historischen sokratischen Dialoge zu ergänzen.
230
3 Theologisieren mit Kindern?
schließlich (d) auch um das Denken in logischer Konsistenz.82 - Exemplarisch
beschränke ich mich dabei auf den ersten Teil und nenne zu den einzelnen
Dimension jeweils Beispiele mit kurzer Erläuterung:
(a) Mehrfach bringen die Kinder eigene Ideen in das Gespräch ein und antworten
nicht schlicht auf die Lehrerfragen. Am klarsten wird das vielleicht durch die Idee
von Elisabeth (FW 27), mit dem Bild der Box nicht nur eine Antwort auf die Frage
FW 24 zu geben, sondern die darin angesprochene Problematik, wer uns denn nun
reite, der Teufel oder Gott, eigenständig weiterzuentwickeln durch die Antwort
„meistens keiner“; darüber hinaus gelingt es Elisabeth sogar, damit den Impuls geliefert zu haben, der das Gespräch weiter bestimmt und sogar später wieder aufgegriffen wird (FW 75 und 120ff). - Einen ganz neuen und tiefsinnigen Gedanken
liefert auch Martin mit dem Hinweis der Selbststeuerung (FW33). Und auch Hendrik
etwa bringt mit dem Thema Traum-Schlaf nicht nur ein neues Beispiel, sondern ein
ganz neues Denkelement ins Gespräch (FW 43).
(b) Die Kinder nehmen nicht nur Ideen anderer Kinder auf, sondern entwickeln sie
auch dialogisch weiter, so etwa Larissa FW 19 unter Bezug auf die schon länger
zurückliegende Äußerung von Kevin (FW 13), die in ihrem Beitrag zugleich weitergedacht und mit den zwischenzeitlich geäußerten Meinungen verknüpft wird. Ebenso
bezieht sich Tillmann(FW 23) auf Niko (FW 17) oder Elisabeth (FW 74) auf Julia
(FW 72).
(c) Durch Erfahrungsbezug ist das ganze Gespräch gekennzeichnet. Gleich zu
Beginn greifen die Kinder den Impuls der Lehrerin (FW 10) bereitwillig auf. Am
interessantesten sind wiederum die Beispiele von Elisabeth (FW 27) und Hendrik
(FW 43), die die Sachthematik auf der Ebene eines anschaulichen Beispiels aus der
alltäglichen Erfahrung diskutieren. Elisabeth ist durch ihre erfahrungsorientierte
Antwort sogar genauer als die eher abstrakte Frage der Lehrerin, ob uns Gott oder
Teufel reite (FW 26): Lebendig wird diese Frage dadurch, dass sie erfahrungsbezogen durch die Kinder selbst zur Frage umformuliert wird, an Situationen zu
diskutieren, inwiefern man wie geritten wird. - Der Handlungsbezug im Sinne der
Applikation des eher theoretisch Erörterten auf das eigene Leben durchzieht das
Gespräch in gleicher Weise und wird keinesfalls nur durch die Lehrerin (mit dem
Beispiel der Entscheidung FW 52) eingebracht: So argumentiert Larissa (FW 68)
82
Damit sind Grundelemente einer Didaktik des Philosophieren mit Kindern benannt, die deren
Entfaltung ich z.Zt. arbeite; vgl. die Hinweise in Petermann (2000c), Anm. 127. Diese Elemente
orientieren sich an den Kantischen „Vorschriften“ zum selbsttätigen Philosophieren: „1) Selbstdenken, 2) sich (in der Mitteilung mit Menschen) an die Stelle des anderen zu denken, 3) jederzeit
mit sich selbst einstimmig zu denken.“ [Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798).
I. Didaktik, A 123]. Als didaktische und sogar curriculare Struktur wurden diese Elemente auch in
die Lehrpläne der Fächer „Philosophie“ bzw. „Philosophieren mit Kindern“ in Schleswig-Holstein
bzw. Mecklenburg-Vorpommern übernommen.
3 Theologisieren mit Kindern?
231
ganz auf das eigene Leben bezogen. Die Folie des Erasmus-Beispiels im 4. und 5.
Gesprächsteil wird dann von den Kindern sehr lebendig genutzt, handlungsorientiert
sich dem Problem des freien Willens zu nähern.
(d) Am auffälligsten aus philosophischer Sicht ist dann die innere Konsistenz und
Logik gerade des ersten Gesprächsteils: Keineswegs nur durch Assoziationen oder
gar zufällige Einfälle bleibt das Gespräch in Gang. Schon die Situationen, die
anfangs genannt werden zur Überprüfung, dass wir zuweilen geritten werden (FW
11ff) liefern Beispiele auf ganz unterschiedlichem Niveau, das durch die Antworten
hindurch gesteigert wird: Man tut, was halt so passiert (FW 15), man tut, was man
eigentlich nicht will (FW 11,13), man tut, was einem gleich wieder leid tut (FW 19),
man tut etwas, um die eigene Haut zu retten (FW 23). Ein Fortschritt des Gedankens
ist noch deutlicher im Folgenden zu erkennen: Die Idee der Box als Erläuterung
dafür, dass man normalerweise nicht geritten werde, wird entfaltet durch die
Reihung: quantitativ (nicht jeden Tag: FW 27) - qualitativ (nur bei Wut, nicht
normalerweise: FW 29) - strukturell (in der Regel selbstgesteuert: FW 33); damit ist
(von Kinderseite aus!) die Idee der Autonomie ins Spiel gebracht, die nun weiter
differenziert wird: normalerweise (FW 35) - in Bewegung befindlich (FW 37) - im
Ruhezustand, im Schlaf (FW 39); dieser letzte Gedanke erregt sofort Widerspruch
bei Hendrik: Im Traum werde man ja doch gesteuert (FW 43) - wiederum ein neuer,
aber logisch an das Bisherige sich anschließender Gedanke.83
(9)
Schließlich ist die Eigenständigkeit theologischen Denkens hervorzuheben.
Auch hier unterscheide ich gemäß der oben entwickelten Kriterien zwischen der
theologischen Sach-Ebene und der persönlichen Glaubens-Ebene. Sachlich zunächst
denken die Kinder dieser Stunde nicht nur alle Themen mit, sondern entwickeln selbständig theologische Sachprobleme. So wird die Frage menschlicher Autonomie
angesichts grundlegender Steuerung durch Gott durch die Kinder selbst angesprochen (FW 33ff!!). In der Differenzierung dieser Frage merken die Kinder dann
schnell, dass eine alltägliche Entscheidungsfrage, wie etwa die zwischen Mars oder
Bounty eben keine Glaubensfrage ist (FW 53), also auch keine moralische Qualität
besitzt oder nicht mit einer Gewissensentscheidung verwechselt werden darf. In
dieser Einsicht ist ein ganzes moraltheologisches Konzept angelegt, das bereits im
Gespräch fruchtbar entfaltet wird: Ganz konsequent wird (mit Verweis auf diese
83
In seinem Buch „Philosophische Gespräche mit Kindern“ kommt Matthews 1989 zu ganz ähnlichen Ergebnissen: Entgegen entwicklungspsychologischen Modellen sind, so M., Kinder durchaus zu in sich konsistenten Gedankenführungen, ja sogar logischen Operationen in der Lage.
Eindrucksvoll verdeutlicht er das am Beispiel der kindgemäßen Anwendung des Transitivitätsprinzips (S. 56f.); kindgemäß wird dies nur insofern zur Sprache gebracht, als Kinder offensichtlich (und so auch in der vorliegenden Unterrichtsstunde) stärker in bildhafter und phantasievoller Weise philosophieren (vgl. S. 40ff).
232
3 Theologisieren mit Kindern?
Autonomie!) die Mentalität des Abschiebens von Verantwortung auf Strukturen oder
Gott oder Teufel kritisiert, ja lächerlich gemacht (FW 66ff, besonders 70). Dass Gott
deswegen nicht aus dem Spiel fällt, überlegen wiederum die Kinder selbst, und zwar
(natürlich!) nicht durch abstrakte Antworten, sondern konkret durch Entwicklung
einer Soteriologie: Gott ist der Nothelfer (FW 82). Von daher wird sogar ein außerordentlich differenziertes Gottesbild gezeichnet: Die Metapher der Durchsichtigkeit
(FW 84) kann durchaus stehen für einen Ansatz negativer Theologie („wir können
ihn nicht sehen“!, FW 86), der gleichwohl wiederum nicht agnostisch missverstanden wird, sondern in Konfrontation mit Gottes „Unfertigkeit“ (Er kann Fehler
machen! FW 90ff!!) wieder als Impuls zur Eigenverantwortung gedeutet wird
(„…damit wir uns selbst aus dieser Situation rausbringen“ FW 98). Und ganz konsequent wird dieser Gedanke am Ende heilsdimensioniert aufgenommen, wenn Gott
als „Gott für die Armen“ (FW 165!!) nicht allein gedacht, sondern eben als Handlungsimpuls auch geglaubt und somit in gewisser Hinsicht auch verkündet wird.
(10) Damit ist das Wesentliche auch hinsichtlich der Glaubensdimension der kindlichen Äußerungen gesagt: Nirgends gesteuert, sondern nur motiviert durch Lehrerimpulse gelingt es den Kindern dieser Klasse, nicht allein reflexiv theologisch interessante Gedanken zu fassen, sondern sie auch eigenständig weiterzutreiben, gemeinsam zu entfalten, an der konkreten Lebensführung zu prüfen, so dass ihr theologisches Denken letztlich zu einer Weitergabe froher Botschaft an andere führt: Glaubst
du an Gott, so fasse Mut, du selbst zu sein und selbständig Verantwortung zu tragen,
auch für andere, denen Gott darin sichtbar werden kann. - Wenn das kein authentisches und eindrucksvolles Zeugnis kindlichen Theologisierens und kindlicher
Glaubensbezeugung ist!
3 Theologisieren mit Kindern?
Anhang zu 4.3: Freier oder unfreier Wille? Ein Unterrichtsprotokoll
233
84
Zu Beginn der Stunde hatte Frau von Choltitz die Geschichte von Gabi erzählt, die in Wut auf ihren Bruder in
dessen Zimmer stürzt und dessen Walkman zerstört. Nach ersten Versuchen, diese Handlungsweise einzuholen
85
und auf eigene Erfahrungen zu beziehen , steht nun die Frage im Zentrum, was wohl Menschen zu solchen
letztlich unüberlegten Affekthandlungen treibe.
24:53
(1) Tillmann: Es gibt ja zwei Gehirne, also das eine ist das gutmütige Gehirn und das andere ist ja das
äh/äh das nicht gutmütig ist, [L: Mhm.] und das ist meistens schneller, das das nicht güt/gutmütig ist,
der/also die Reaktion sind meistens schneller als das andere, und dann kommt das andere später an, und
dann tut´s einem wieder leid. Weil/
25:10
(2) L: Ach so, du meinst dieses limbische System [T: Ja, genau.], das viel schneller ist und das dann
schon en Befehl gibt und jetzt sozusagen einfach Hauen zum Beispiel oder was runterschmeißen, und
wenn man dann wieder denkt, äh dann ist das andere, die andere Gehirnhälfte, ach ja, der Neo cortex ist
des, ja genau. Ja! Hendrik!
25:24
(3) Hendrik: Sie haben uns ja mal gesagt, bevor man jetzt auf jemand losgehen soll, soll man immer bis
hundert zählen
25:30
(4) L: Zähl` mindestens mit zehn ja oder bis auf zehn. Ja, das heißt also, man hat mindestens ein paar
Sekunden gespart, daß man eventuell nachdenkt. Warum/warum passiert`s trotzdem, des ist zumindest
eine Erklärung. Der Martin Luther hat sich/hat/hat was/´ne andere/einen anderen Eindruck gehabt und
zwar, der hat gesagt: Tja ist eigentlich auch nicht unbedingt ein Wunder, warum einem so was passiert.
Der findet ähm Menschen, die reitet manchmal einfach was, da reitet einen der Teufel. Ganz einfach.
((L lacht kurz)) Es passiert einfach was. Und warum? Der hat folgendes gedacht: Ich mal`/ich kann
nicht so gut malen, aber ich probier` des mal. Also, hoffentlich klappt des jetzt ((beginnt ein Pferd an
die Tafel zu malen und und vollendet die Zeichnung während ihren nachfolgenden Erläuterungen)),
Pferd/Pferd zu malen.* Der hat gesagt, er glaubt, daß Menschen, also in dem Fall, also grundsätzlich
sind eigentlich eher so wie/wie en Reittier, also wie en Pferd, ( ), die/die Pferde haben auch ihre Trense
an. So und sind fertig, Sattel drauf alles/alles bereit nur, wer bestimmt normalerweise, wo ein Pferd
hingeht, wenn auf ihm geritten wird? Keine Frage. Natürlich logisch. Sara!
26:42
(5) Sara: Der Reiter
26:43
(6) L: Genau, der Reiter. Und der äh der Martin Luther sagt, Menschen sind wirklich wie Reittiere, die
bestimmen nicht selber unbedingt, wo sie hingehen, sondern da gibt`s jemand. Seiner Eindruck nach ist
es folgendermaßen: Wenn das Pferd noch in der Box steht, den Sattel schon äh der Sattel ist schon
drauf, alles ist fertig, dann kommt einer, nimmt ihn/nimmt den Pferd an den Zügeln und führt´s raus.
Und dann sagt er: Und wenn es der Teufel ist, dann hmm s`schwingt er sich drauf, und dann passieren
genau die Sachen, die nicht passieren sollen, zum Beispiel, dann rennt/rast das Pferd über alle Hürden
und reißt sie runter, oder es rast in Gärten rein, zertrampelt alles, rennt weiter oder zum Beispiel wenn
im Reitstall dann zum Bei/kleine/kleine/kleine/kleine Katzen da sind, dann wenn die nicht so schnell
so/schnell genug wegkommen können, dann würden die auch noch zertrampelt. Das heißt also, wenn da
der Teufel ist und der ein/diesen/dieses Pferd da sich schnappt, den Menschen und ähm loslegt, dann
passiert einfach/einfach die/ einfach alle die Sachen, die einem nicht passieren sollten, dann sagt er:
Nein, so ist es nicht immer/so ist es nicht immer sondern er hat en anderen Eindruck, daß is ach was,
daß is zwar theoretisch auch der Teufel einen am Zügel greifen könnte, aber er denkt, nee eigentlich is
es so, dass Teufel und Gott sich immer streiten, Teufel will irgendwo wegreiten, dann kommt Gott und
sagt: Moment halt hier, wenn hier jemand reitet, dann bin ich es. Und dann streiten sie sich sozusagen
um die Zügel und äh wenn Gott dann den Zügel hat, und er sich da draufschwingt, na ja, das kann man
sich dann schon vorstellen, was nach Martin Luther dann wieder passiert, beim Teufel geht alles schief,
84
Das Protokoll stellte mir freundlicherweise Gerhard Büttner zur Verfügung. Es wurde ebenfalls in dem Band
Büttner&Rupp 2002 abgedruckt (S. 53-69). Für die Abdruckgenehmigung danke ich Herrn Büttner ebenso,
wie der Lehrerin, Frau von Choltitz, Dank zu sagen ist für eine solche nicht nur engagierte und mutige,
sondern auch vom Standpunkt der philosophiedidaktischen Analyse aus durchweg gelungenen Stunde, was
noch stärker in der entsprechenden Video-Aufzeichnung deutlich wird. Dorothea von Choltitz hat ihre Stunde
unter dem Titel „Kommentar zu meinem Unterricht über den freien bzw. unfreien Willen“ ebenfalls in dem
Band Büttner&Rupp 2002, S.71-78 kommentiert.
85
Zur Einbindung des Unterrichtsgesprächs in einen größeren Rahmen vgl. Büttner&Rupp 2002, S.53 und oben
den Teil (2) meiner Analyse.
234
3 Theologisieren mit Kindern?
restlos alles, da ist alles passiert, was nicht passieren sollte, es tut jemand weh, es geht etwas kaputt
und,und. Und Kevin!
28:39
(7) Kevin: Bei Gott da passiert´s dann nichts, also da/der reit´s/der reitet das Pferd immer ganz gerade.
Und da wo der Gott auch hin will und trampelt keine Tiere tot.
28:52
(8) L: Ja. Ganz genau. Was wolltest du noch sagen.
28:54
(9) Elisabeth: Also ich wollte noch dazu, was Ähnliches gibt´s auch immer bei Donald Duck oder so, da
is jetzt immer so en so ähm en Teufel und dann noch so en Engel, und der Engel der streitet sich dann
immer mit dem Teufel, was der machen soll.
29:05
(10) L: Aha. Ja, des is ganz ähnlich. Also und dann äh Luther sagt: Gut, wenn Gott den Zügel hat, dann
wird alles gut, und wenn der Teufel den Zügel hat, dann ist es aus, dann ist/der schwingt der sich drauf
und, der Mensch macht wirklich restlos all das, was ähm ja, was der will oder dann geht ihm einfach
alles schief. Des war sozusagen mal die/des war die Idee, da können wir jetzt mal überlegen, ob ihr/ob
ihr denkt, daß des ´ne gu/eine gute Idee`s/ist, ((L schreibt über die Pferdezeichnung: Martin Luther))
das nun relativ viel erklärt oder nicht. Stimmt des, daß es Situationen gibt, in denen man denkt: Oh nee,
ich hab was gemacht, aber eigentlich wollte ich das nicht. Des is doch kaputtgegangen Ich weiß nicht.
Mh stimmt des oder stimmt des nicht. Elisabeth, was würdest du sagen.
29:56
(11) Elisabeth: Ja also ich würd` sagen schon, also wenigstens manchmal, weil wenn man dann wirklich
was Schlimmes getan hat, also dann/dann/dann ist man ja wirklich danach. irgendwie schon geschockt,
will man sowas überhaupt tut also wo/was man eigentlich gar nicht die Idee dazu hätte.
30:17
(12) L: Mhm. Also fast wie wenn man/irgendein anderer hätte das Gefühl, ein anderer hätte die Idee
gehabt oder so, daß man´s nicht richtig selber macht. [Elisabeth: Ja, so ungefähr.] Was meint ihr gibt´s
sowas oder gibt´s sowas nicht. Ist des `ne gute Erklärung oder/oder würdet ihr das einfach anders
erklären? Kevin!
30:36
(13) Kevin: Ja, also ich würd` sagen, des ist schon so. Weil wenn man was kaputt macht, also nur
was/eigentlich ganz arg wütend ist zum Beispiel ,daß einer jetzt ähm ein Buch vollgekritzelt hat oder
die das Buchzeichen rausgemacht hat ja dann kann man ja auch/also aus `nem ganz dicken Buch dann
(dann macht man ja auch sowas) im ersten Moment, aber im zweiten dann nimmer.
31:09
(14) L: Ach so, ja vielleicht kann man sogar überlegen, wann sowas passiert. Kevin gerade gesagt, im
ersten Moment vielleicht, dann könnt man schon fast denken: Ach stimmt das ja. Nikolas!
31:20
(15) Nikolas: Ja, des is` genauso, als ob man/wenn man jemanden fragt: Hast du schon mal gelogen?
Nö. Des ist ja des gleiche des hat schon/schon bestimmt jeder schon mal gemacht, also öfters bestimmt,
des is ja/des passiert auf jeden Fall.
31:30
(16) L: Ach so. Würdest du jetzt sagen, selber, also Martin Luther, der hat früher gelebt hat einfach
auch andere, ja andere Erlebnisse gehabt, würdest du jetzt in dem Fall sagen, wenn einer sagt: Nö. Ich
hab noch nie gelogen. Würdest du dann eher sagen: Ja, des war jetzt [Nikolas: Des war gelogen. ] war
des ja/des war gelogen (war des gelogen). Des is` klar. Würdest du sagen, es/er, es is` ´ne gute
Erklärung, daß da schon der Teufel da mitgespielt hat. Oder würdest du sagen: Na ja, andere Erziehung
ist (auch ganz gut.)?
31:55
(17) Nikolas: Ich weiß nicht, des is` normal irgendwie. Keine Ahnung.
31:59
(18) L: Also, des gibt´s einfach auch öfters, daß man so schnelle Reaktionen hat, die halt/die nicht
immer so ganz in Ordnung sind. Joa, Larissa.
32:05
(19) Larissa: Ja, also ich würd` auch dasselbe sagen wie der Kevin, weil im (ersten) Moment denkt man
immer Rache ja, da muß man halt irgendwas dagegen tun, und dann, wenn man`s getan hat, und Wut
dann da/da ausgelassen hat, dann/dann tut`s einem schon wieder leid.
32:14
(20) L: Aha. Daß es einfach was Normales ist. Daß, so/so sind Menschen halt einfach, kann man das so
sagen? (Sonst is` es/)
32:25
(21) Larissa: Weil, daß passiert eigentlich ja jedem Menschen.
32:27
(22) L: Aha. Ja.
32:28
(23) Tillmann: Ja, ähm mitdem/mit dem Lügen sage, wie der Niko, ja, und wenn er zum Beispiel seine
eigene Haut damit retten kann, manche/also, dann/dann sagt man das automatisch zum Beispiel wenn
ha/wenn man jetzt einen ermordet hat, angenommen. ((MitschülerInnen lachen.)) Und dann fragt/fragt
die Polizei hast du ihn ermordet, dann sagt man automatisch Nein, weil/
32:49
(24) L: Also bei dem/wenn jemand einen ermordet hat, da ist es auch sehr oft ((Lacht)) ( ) das war jetzt
zwar was anderes, aber man denkt da auch: O wei , hab ich das gewollt, oder hab ich das eigentlich
3 Theologisieren mit Kindern?
235
nicht gewollt. Wenn der Martin Luther jetzt sich so vorstellt, daß der Mensch fast/ist nur so wie ein
Pferd, wo einfach immer jemand draufsitzt, was denkt ihr, wie würde er äh s/würde er sagen meistens
reitet die Menschen der Teufel oder eher meistens eher Gott? Wenn man schon so überlegt, wie würdet
denn ihr des dann einschätzen? Ja.
33:12
(25) S: Ich würd` sagen beides gleichzeitig, manchmal der Teufel und manchmal auch der Gott. [L:
Mhm. Würdeste sagen/]. Manchmal machen sie was Gutes, manchmal auch was Böses.
33:32
(27) Elisabeth: Ich würd` sagen, meistens steht`s in der Box. Also, wird von keinem geritten. [L: Aha.]
Weil, ich mein, es passiert ja nicht jeden Tag, daß man gleich so ausflippt, oder auch [L: Mhm.] oder
gleich/gleich ganz ruhig bleibt.
33:42
(28) L: Ja. Das find ich auch sehr interessant. Ja, Sara.
33:46
(29) Sara: Ähm, ja, ich denk` eigentlich, wenn man so im normalen Leben, wenn nichts passiert, is`
schon der Gott, aber wenn/wenn da jetzt/wenn man jetzt wütend ist, dann ist es halt der Teufel. Also,
des glaub ich ( )
33:59
(30) L: Ha das ist doch interessant. Also normalerweise steht man in der Box. Was heißt/was würde
wenn man´s überträgt/was heißt des? Normalerweise wird man weder vom Teufel geritten noch
vom/noch vom Gott, sondern normalerweise steht man in der Box. Wie würde/ich bin mal ganz
gespannt, die Elisabeth weiß natürlich genau, wie se des gemeint hat. Was glaubt ihr, äh was/wie man
des übertragen kann? Wann steht man in der Box. Selbständig sozusagen? (Man kann ja nicht)Also es
ist immer so, also, es hat immer ´ne Trense an und so en Sattel, aber gut, steht in ´ner Box. Martin!
(26) L: Elisabeth.
34:32
(31) Martin: (Wenn man in der ( ) ist.)
34:35
(32) L.: Und warum steht man in dem Fall in der Box?
34:37
(33) Martin: Ja, weil man da ja/ja weil man da sich selbst steuert sozusagen.
34:43
(34) L: Man steuert sich selbst. In der Box steuert man sich selbst. Wann würdet ihr sagen, wann
ste/wann steht man normalerweise in der Box. Tillmann!
34:49
(35) Tillmann: Zum Beispiel jetzt im Moment, in diesem Moment ( ) [L: Und warum?] weil wir ganz
normal sind, weil wir nicht wütend aufein/aufeinander sind oder/oder weil wir uns auch nicht äh groß
jetzt also andren so ganz lieb sind ah lieber Junge und so (( Streicht seinem Nachbarn über die
Schultern - Lachen der MitschülerInnen)) also ganz normal eben.
35:09
(36) L: Aha. Ja. Larissa, wie würdest du´s denken?
35:11
(37) Larissa: Also ich denk´ halt, wenn man was macht, was einem Spaß macht, also wenn man grad`
irgendwie in Bewegung ist, Sport macht oder sonst irgendwas anderes oder malt oder irgendwas macht,
dann steht man auch in der Box, weil da macht man ja nichts, sagt man ja zum Beispiel net ähm zu
seiner: Oh du bist heute mein Schatz oder was, oder man/man zer/zerreißt auch nicht das Bild, weil da
ist man ganz normal.
35:32
(38) L: Mhm. Und noch/noch vielleicht noch Nikolas. Und dann.
35:35
(39) Nikolas: Ja also wenn man ganz ruhig ist, wenn man zum Beispiel schlafen würde, wenn
dann/dann ist es ja auch äh macht man ja gar nichts, oder wenn man zum Beispiel/wenn man jetzt zum
Beispiel ähm spielen würde draußen mit ´nem Freund oder sowas, dann ist man ja auch ganz normal
sowas ganz normal halt. Da ist es auch so, denk ich jetzt mal, meine Meinung.
35:52
(40) L: Bin ich gespannt. Haben die alle genau dasselbe gesagt, hast du das gemeint, steht man dann in
der Box?
35:56
(41) Elisabeth: Ja, also ich würd` auch sagen, ja, des auch, aber wenn man in der Box steht, dann
verhindert man auch Streit manchmal so. [L: Ah. Erklär´mal.] Ja, also, wenn´s jetzt en bissl brenzlig ist
sozusagen, also dann ähm daß man da/da nicht gleich also dann eher den Streit verhindert als gleich äh
los/also loszubrüllen oder so, ja.
36:25
(42) L: Das ist jetzt spannend. Ähm wenn jetzt/also stellt euch vor, da/die Gabi äh sieht ihre
Bescherung, was auch immer da passiert ist, und sie steht da und denkt: Moment, ich geh jetzt nicht
rüber, ich mach jetzt keinen Ärger, ich geh` jetzt rüber und sag`: Moment, warum hast du das gemacht?
Wir reden miteinander. Hat Gabi das ganz alleine gedacht, selbständig, hat sie selber entschieden oder
war das doch Gott? Der sie da praktisch da unterstützt hat? Wie ist denn des, glaubt ihr wirklich/also
Nikolas hat nämlich gesagt, wenn man schläft, dann steuert einen niemand, würd/glaubt ihr das
eigentlich wirklich? Hendrik, ich glaub du (bist dran)!
37:04
(43) Hendrik: Wenn man schläft, dann wird man ja auch irgendwie gesteuert, träumt man ja auch was.
236
3 Theologisieren mit Kindern?
37:09
(44) L: Aha. Was würdst denn du sagen, wenn jemand nichts macht, oder normale Sachen macht,
wer/wer oder was steuert denn wer/wer steuert dann?
37:17
(45) Hendrik: Da streiten die sich grad. [L: Hä?] Da streiten sich der Gott und der Teufel grad`?
37:23
(46) L: So, wenn sie sich streiten. Ah ja, hat da, gut/des ist also erstmal deine Idee. Was/was würdest du
sagen, wenn man schläft oder wenn man selber so (entscheidet).
37:33
(47) Lars: Dann steuert man sich selber. und so en bisschen halt der Gott, so en bissel abwechselnd.
37:37
(48) L: Mhm. Ah hast du ´ne Ahnung wie abwechselnd?
37:40
(49) Lars: Also des Träumen vielleicht der Gott oder so, [L: Mhm.] und wenn man einschläft ( ) man
sich selber.
37:47
(50) L: Mhm. ( ) Eben jetzt grad zum Beispiel ist doch ziemlich interessant so, wenn man so abends
daliegt und häufig nachdenkt und so wer steuert. Da kann man ganz verschiedene Meinungen haben.
Des ist klar, ne. Ja!
37:57
(51) Anna: Ich würd` sagen, beim schlechten Träumen steuert einen der Teufel und bei guten irgendwie
Gott.
38:03
(52) L: Und wenn jetzt zum Beispiel/ich/also ich nehme an man /man geht zum Kiosk und sagt, ich
überleg` mir: Nehm` ich jetzt en Mars oder en Bounty. Elisabeth würde sagen also es wird bestimmt
sowas, da steht man in der Box. Wird man da gesteuert oder wird man da nicht gesteuert? (Des is`
immer spannend.). Elisabeth.
38:21
(53) Elisabeth: Jo, also ich würd` sagen eigentlich, daß man da nicht gesteuert wird, weil äh, ich mein,
ist ja selber der eigene Geschmack, ob man jetzt einem das Bounty oder lecker schmeckt mehr
schmeckt oder das Mars, also ich mein, das entscheidet ja wohl nicht Gott oder der Teufel.
38:39
(54) L: Aha. Sara, was würdest du sagen?
38:40
(55) Sara: Ja, mit dem/ähm/wenn man normal ist, wer da steuert, des is eigentlich ganz verschieden,
wenn Leute, die irgendwie ähm stehlen oder so, da steuert halt, wenn se normal sind der Teufel und bei
anderen, die ja eigentlich nicht sowas machen, is es halt der Gott. Des kommt eigentlich ganz auf die
Menschen dann an.
38:57
(56) L: Mhm. Du hast jetzt eigentlich grad` so ne Antwort gegeben, der Luther würde das auch sagen,
also, bei manchen Leuten ist normal ähm ja, daß sie immer viel Unfug machen, paßt zu ihnen und des
wäre dann der Teufel, und bei anderen Leuten, die machen relativ viel/also sind halt auch normal, und
da passiert nicht so viel, äh, da geht nicht soviel schief, da/da läuft alles ungefähr, da/da ist Gott dabei,
also Luther würde sagen, ähm, und das ist jetzt die Frage ob`s stimmt ne, wenn jemand ganz normal
entscheidet, und des geht ganz gut aus, da ist immer noch trotzdem der Teufel oder Gott dabei.
Elisabeth hat gesagt: Nee, das ist mein Geschmack. Das entscheide ich. So, Larissa, was denkst du?
39:42
(57) Larissa: Also, ich hab mal so ´ne wenn/wenn ich als dann so dastehe, und meine Mutter fragt:
Willst du lieber ein Bounty zum Beispiel oder en Mars und irgendwie zum Beispiel und dann irgendwie
denkt man s`is egal sagt man dann halt automatisch, und dann denkt man aber lieber, oh ich hätt` doch
lieber des Mars oder so, wenn sie dann mit dem Bounty ankommt, dann irgendwie stellt man sich auch
schon irgendwie vor. Ich stell´ mir des auch immer schon vor, w/wie ich des haben will oder so und
dann, wenn ich sag s`is mir egal, dann will ich halt doch lieber des eine, und da denk` ich halt, daß des
der Körper macht also net Gott und der Teufel (des entscheidet man selber).
40:15
(58) L: Also, manche würden jetzt sagen, da streitet sich jetzt irgendwas und du sagst, es ist einfach
dein Körper, der da mal des nicht weiß und des.
(59) L: Das ist der/entweder der Körper steuert einen oder man selbst steuert einen. Tillmann!
40:28
(60) Tillmann: Ja, ich wollt` sagen, wenn man schläft, dann ich glaub`, dann steuert man sich und auch
irgendwie manchmal Gott und manchmal auch der Teufel, weil man kann sich ja auch/ man kann ja
auch irgendwie überlegen im Traum, was man jetzt tut auch und wo man hingeht oder so im Traum.
40:46
(61) L: Und/noch ja/und du.
40:48
(62) Nikolas: Ja, ich hab` mal so ein Buch gehabt, also das war über/das war über so die Seele und so
weiter für Kinder so erk/wie des erklärt ist, und da haben die gesagt, daß im Traum die Seele wandern
tut und daß der Körper und die Seele mit einem silbernen Band s/verbunden ist, das nie reißt, äh reißen
kann und daß die Seele entweder dann äh in ein anderes Land geht irgendwann des sieht man oder es
geht in die Zukunft oder in die Vergangenheit.
41:11
(63) L: Mhm. Wurde da auch gesagt, obdes/ist das von Gott erlaubt oder gemacht oder/
3 Theologisieren mit Kindern?
237
41:15
(64) Nikolas: Es heißt nur die Seele und so, der Körper und so.
41:18
(65) L: Aha. Ja, des is` auf jeden Fall ähm was glaubt wenn jetzt einer/wenn einem was passiert ist,
wenn der Gabi des passiert ist und sie sagt, der Walkman liegt da: Oh, des war jetzt der Teufel, der
mich geritten hat. Hm, wie klingt das? Vorhin haben wir nämlich gesagt: Nun ja, vielleicht kann man`s
ja ab und zu sagen, (so interpretieren) was ist daran vielleicht/vielleicht doch merkwürdig oder nicht. Ja,
was würdest du sagen?
41:49
(66) Julia: Das klingt irgendwie albern, also der Teufel hat mich geritten, jetzt bin ich, also jetzt ist der
Teufel daran schuld oder ich, also irgendwie halt albern, daß man so denkt.
42:01
(67) L: Larissa.
42:02
(68) Larissa: Wenn die des jetzt zu ihrem Bruder sagt, dann denkt der: Boah, bist du bescheuert, du hast
mir eben meinen Walkman kaputtgemacht, ja, dann brauchst net mit Teufel oder Gott anzukommen, des
hilft dir jetzt ja auch nicht mehr weiter, oder so. Und ähm ich denk`, die hat schon recht, aber man kann
des net einem dann sagen. Die denken halt alle, du bist bescheuert, wenn du sowas sagst, du hast es ja
selbst gemacht.
42:21
(69) L: Ah, wir sind da jetzt/also äh einerseits hat se recht, andererseits sagt man des is äh/des is
bescheuert, wie paßt denn das zusammen. Ja, Tillmann!
42:31
(70) Tillmann: Na ja, also ich glaub äh, wenn/wenn man dann sagt ähm, der Teufel hat mich geritten,
man ist da schon selbst dran schuld, find´ich, auch, weil man kann ja nicht immer alles auf den Teufel
schieben, oder so ((MitschülerInnen lachen)).
42:42
(71) L: Mhm. Ja. Das heißt also, wir ähm ist der Mensch/wenn ihr jetzt entscheiden müßt, ist der
Mensch jetzt ein wirklich so ein Reittier, das immer nur entweder geritten wird von dem und von dem
und äh gar nicht bestimmen kann, welche Ideen oder welchen (Wut) oder welche Gefühle einen reiten,
oder ist es nicht so, wenn man/wenn ihr euch entscheiden dürft. Was würdet ihr sagen, stimmt das jetzt
eher oder stimmt das nicht? Ja, schwierig. Julia.
43:16
(72) Julia: Ich würd` sagen von jedem ein bißchen, also, daß man Entscheidungen trifft, die eigentlich
von Gott und vom Teufel geführt werden und auch ohne, also, daß man alleine die entscheidet, wenn´s
um wichtige Sachen geht, (Privates oder so).
43:28
(73) L: Dann entscheidet man alleine. [Julia: Ja.]. Elisabeth!
43:32
(74) Elisabeth: Ja also, ich würd` auch so ähnlich wie die Julia sagen, also weil, man wird ja nicht
immer/entweder steuert man sich nicht immer alleine oder man wird aber denk` ich auch nicht immer
vom Gott oder vom Teufel gesteuert. Das is` schon irgendwie so en/so en Mischmasch. Ja, vielleicht en
bißchen näher (am Teufel und am Gott).
43:54
(75) L: Dein/dein Modell war sowieso es gibt ´ne Box und/oder man wird ausgeritten. Ja? Okay. Und in
der Box äh entscheidet man selbst. Lars.
44:03
(76) Lars: (Es ist ja nicht immer so), weil wenn man sich jetzt ein Auto kaufen will, dann sagt haja und
Gott: Nö, des kaufst dir nicht, des ist ein schlechtes Auto, oder so ((MitschülerInnen lachen)).
44:14
(77) L: ( ) Ja, sagt mal, aber gestern oder wie lang war das vor/vor ein paar Tagen haben einige Leute,
wie habt ihr das gemalt, wie Gott und der Mensch zusammenhängen. In fast allen euren Bildern, ist es
schon ähm beschrieben, würd` ich mal sagen. Wie hängt Gott und Mensch zusammen? Schau/Schaut
ihr mal euch eure eigenen Bilder nochmal an.* Ah, jetzt könnt ihr also Künstler interpretieren ihre
Bilder selbständig. Wie hängen die zusammen, Gott und Mensch? Hm auch mal/mal gucken, wer
hat/wen haben wir heute noch nicht so range/ ( ) hast schon aufgeschlagen? . Nee, okay. Nachher
kommst du dran. Ähm, ja. Hendrik.
44:54
(78) Hendrik: Äh, daß Gott uns steuert und als ein/ also, daß jeder Mensch halt von Gott gesteuert wird.
[L: Wie hast du das gemalt?] Des is/steht Gott halt oben auf ´ner Wolke und hat so en Steuerknüppel
und unten steht ein Mann, und der sagt: Ich wird` von Gott gesteuert.
45:10
(79) L: Ja. Findest du`s/ähm würdest du`s jetzt nochmal was Zusätzliches reinmalen? Nachdem wir jetzt
überlegt haben. Grundsätzlich findest du schon, das es so ist? Is interessant, ne! Achtung, jetzt hast du`s
wirklich schwer. Was/wie würdest du sagen, wenn jemand entscheidet welches Bounty, welches
Twixx? Oder so. Würdest du sagen, da ist in/im Hintergrund ganz im Geheimen ist irgendwie Gott da,
der steuert ihn so allgemein. Und wie [Hendrik: En bißchen.] würdest des sehen? So en bißchen Wie`n/
45:41
(80) Hendrik: En bißchen entscheidet man auch selbst.
45:46
(81) L: Aha. Eine Dame Elisabeth! Wie hast du`s gemalt?
238
45:49
3 Theologisieren mit Kindern?
(82) Eliabeth: Ja, ich hab`s so gemalt, daß er mich so halt versteht, daß Gott sozusagen ein Vater von
uns allen ist [L: Mhm.] Ja und daß er uns in Notsituationen helft und so, also der Vater auch von den
Tieren ist, und so von allen Lebenden.
46:07
(83) L: Also, wie hast du`s gemalt? Damit man des/
46:09
(84) Elisabeth: Ja, ich hab` einfach den ähm also damit man auch merkt, der ist ja nicht so wie en
Mensch wie uns also hier daß er da steht da irgendwo, sondern ich hab` einfach ähm da den Gott halt
gemalt, und dann anschließend mit blau drüber, daß es so en bissel durchsichtig ist.
46:26
(85) L: Und was bedeutet des Blaue dann?
46:29
(86) Elisabeth: Ja, also, daß er durchsichtiger ist, daß wir ihn nicht sehen können, aber daß er also
trotzdem dann sozusagen unser Vater ist.
46:37
(87) L: Ist das jetzt fast das Gleiche wie der Hendrik gesagt hat, daß so en bißchen im so im
Hintergrund oder so ist Gott dann schon da mit dem Blau. Vornedran sind die Menschen. Oder is` des
wieder was anderes?
46:50
(88) Elisabeth: Ich würd sagen, des was der Hendrik gemeint hat, ist schon was anderes.[L: Mhm.] Weil
also naja, ich mein` die Menschen tun ja auch schon Sachen, also die, wo Gott nicht gesagt hat. Ja tu`
des jetzt und ich steuer´ dich so ja [L: Mhm.] sondern die machen ja auch mal was, was dem Gott halt
zum Beispiel jetzt nicht so gefällt, oder so. Aber trotzdem denk` ich, ist Gott immer und überall. So
irgendwie unter uns.
47:19
(89) L: Mhm. Gott ist immer und überall. Patrick.
47:22
(90) Patrick: Also ich hab` jetzt gemalt, daß der Gott ähm also, daß unten en Mensch ist, der halt auch
nicht gut ist, also der schlechte Sachen gemacht hat und der Gott steuert den trotzdem, also der Gott
steuert manchmal einen, manchmal einen schlecht, ja.
47:38
(91) L: Stimmt. Des is doch intre/stimmt des, daß Gott ( ) wenn Gott die Menschen steuert, s`is
eigentlich logisch, dann muß er sie eigentlich auch manchmal schlecht steuern. Kann sowas sein?
Meinung! S´is auch interessant ne? Ja.
47:55
(92) Anna: Ja, wenn , daß er auch mal en Fehler macht.
47:58
(93) L: Ach, Gott macht auch mal en Fehler? Würdest/ja/oder man macht was extra, macht er`s aus
Versehen oder macht er`s extra? Was würdest du sagen?
48:07
(94) S: Ja, ich denk auch, aus Versehen, er kann ja auch nicht immer in die Zukunft blicken.
48:14
(95) L: Aha. S`strecken jetzt so viele/ Julia was glaubst du?
48:17
(96) Julia: Also, ich denk´, daß ähm ähm ja also/* (Jetzt is` es weg.)
48:29
(97) L: Also, ma/macht Gott das extra, manchmal, daß er jemand böse steuert? Oder wie is` es, wie
kann man`s verstehen. Ja, Tillmann.
48:37
(98) Tillmann: Ja, also ich glaub´ schon, daß er das er das manchmal extra macht, damit wir uns selbst
aus dieser Situation rausbringen, vielleicht. Daß wir auch s/daß wir uns nicht immer auf ihn verlassen
sollen und so.
48:47
(99) L: So eine Art Erziehung.
48:49
(100) S: Ja, genau.
48:50
(101) L: Also, wenn mal was schiefgeht, ist es auch vielleicht einfach Erziehung.
48:52
(102) Tillmann: Ja, also ich hab` hier gemalt, dann Gott auch auf ´ner Wolke und das eben das er da
eben da Briefe liest, also die Gebete, die wir zu ihm gesprochen haben und so.[L: Mhm.] Und, daß er
uns auch steuert, aber eben auch manchmal schlecht, daß wir uns selbst/also selbst aus was rausbringen
müssen und so. Uns nicht immer auf ihn verlassen müssen. Und so.
49:12
(103) L: Aha. Paß mal auf. Ja, jetzt/jetzt nachdem ähm ich zeig` euch mal ´ne andere System. Der
Luther hat ja gesagt, Menschen werden immer, immer gesteuert. Es gibt den Erasmus von Rotterdam,
((L schreibt Erasmus an die Tafel.)) der hat zur gleichen Zeit gelebt hat, aber was anderes gesagt hat.
Der hat gesagt: Nee, nee, nee, also Menschen sind keine Reittiere, Menschen sind auch keine Pferde, äh
Menschen können durchaus schon selber entscheiden. Jawohl. Und zwar, hat er das folgendermaßen
gezeigt und auch erzählt, daß es mit Menschen so ist, wie mit einem Kleinkind, ((L packt Babypuppe
aus)) und zwar, das muß jetzt schon fast ein Jahr sein, denn es kann zwar schon en bißchen laufen, aber
noch nicht so richtig. Und zwar, der sagt: Beim Menschen ist es eigentlich immer, wenn sie wirklich
erstmal alleine gelassen sind, dann fallen sie hin. ((L legt Babypuppe auf den Boden)) Klappt nichts
3 Theologisieren mit Kindern?
239
mehr. Und dann kommt, also, ich spiel` jetzt im Moment mal da Gott, dann kommt Gott. Jetzt mal ´ne
Frage, was könnte der machen, was könnte jetzt Gott einfach machen. Vorschläge! Nikolas!
50:14
(104) Nikolas: Des äh, oft wieder so aufrecht hinstellen und dann daß es dann so helfen, wie wenn
Mutter des macht oder so, die Hände so festhalten, und dann so en bissle mitlaufen, daß des auch so
macht, (des is der Anfang) dann geht der wieder weg, und des kann dann wieder weiterlaufen.
50:27
(105) L: Ah. Unterstützen. Okay. Hat jemand noch ´ne andere, ´ne ganz/eine ganz/eine andere Idee?
Der will nicht mehr, is` was schiefgelaufen, keine Lust mehr. Keine Lust mehr sich zu bewegen, ach
nee, Larissa!
50:37
(106) Larissa: Also mit dem reden halt und streicheln vielleicht, und dann halt
auch helfen.
50:42
(107) L: Ah so. Also wenn wenn`s/jetzt nur en ganz Kleines wär`, und es fängt an zu reden und man
versteht`s vielleicht gar nicht so richtig. Der Erasmus hat gesagt, der Gott macht des immer so.
Eigentlich könnt er`s ja natürlich aufheben so ((L nimmt Babypuppe auf den Arm)) und helfen und
tragen. Macht der aber nicht. ((L legt Babypuppe wieder auf den Boden)) Der macht was anderes. Es
liegt frustriert da, schiefgelaufen, der nimmt en Apfel, en ganz tollen und legt ihn hier hin. ((L legt in
einiger Entfernung zur Babypuppe einen Apfel auf den Boden)) So, und dann wer kann schon mal en
bißchen weitererzählen? Was könnte jetzt passieren?
Also Gott hat auf jeden Fall schon mal etwas gemacht. Nächster Vorschlag. Ja!
51:20
(108) Britta: Vielleicht riecht das Baby irgendwie den Apfel und geht dann dem Geruch nach. [L:
Geht`s dann dem/?] Geruch nach ( )
50:30
(109) L: Okay. Wie geht en Baby dem Geruch/also, wenn en Apfel da ist und das Baby liegt da wie
geht es [S: Krabbelt.] Krabbelt, fängt an zu krabbeln, gut. Des müssen wir jetzt mal spielen. Also es
könnte so sein, daß Erasmus sagt: Also (Baby/richtet sich/)sieht den und richtet sich auf und krabbelt
dahin. (L führt Babypuppe zum Apfel)) Was würde das dann heißen? Wieviel äh/wieviel ähm macht en
Mensch dann alleine, und wieviel macht Gott? Wie/macht Gott sehr viel oder schaffen die
Menschen/entscheiden die Menschen sich meistens alleine und schaffen (meistens alles alleine). Wenn
des jetzt so wär`, was wär`s dann. Lars.
52:04
(110) Lars: Vielleicht nur so ´ne kleine Starthilfe.
52:06
(111) L: (Von wo?) Elisabeth würdest du`s auch so sagen? Oder.
52:09
(112) Elisabeth: Ja, doch so ähnlich. Also, daß er den sozusagen en Tip gibt oder so und daß es dann
klappt.
52:17
(113) L: Ja, genau. Erasmus sagt: Nee, nee, so ist es auch nicht. Des/ so/ so gut sind die Menschen so
gut und so intelligent und sagen wir mal so schaffen`s die Menschen eigentlich nicht, sondern, fangen
wir wieder an. ((L setzt Babypuppe wieder an Ausgangspunkt.)) Er sagt, er findet beim Menschen is` es
immer so. (Is` platt) , is alles schief gegangen und Gott hat hier den Apfel hingelegt und der duftet und
ah schön und das Baby guckt natürlich zuerst rüber. So und dann will sich`s aufrichten. Ah will
(nämlich eigentlich laufen), und es klappt nicht richtig. Da kommt Gott und hilft ihm so en bißchen, so
erstmal stehen.((L gibt Babypuppe Laufhilfe)) Gut. Baby versucht`s und guckt den Apfel an, und dann
klappt´s na, geh` schonmal Ah. Versucht`s en bißchen (( Lachen der SchülerInnen)) klappt wieder
nicht richtig und da kommt Gott und sagt so alles gut, probieren wir des mal. ((L läuft mit Babypuppe,
SchülerInnen lachen)) S´kann sein, daß es ein bißchen fast schon vergessen hat, dann will´s da
rumlaufen und dann sagt er ((L flüstert)) Guck` mal. Da, guck` doch mal den Apfel. Da läuft´s wieder
hin ((Lachen)) so und dann ist es gepackt. Der Erasmus glaubt, genau so/genau so ist es/ er
macht´s/macht es Gott mit den Menschen, und genauso funktioniert´s. Und jetzt ähm jetzt ist nämlich
die Frage, was sagt denn der Erasmus. Macht´s der Mensch/entscheidet sich der Mensch alleine ents/
macht Gott alles so wie bei diesem Reittier oder/oder wie ist es, was macht jetzt Gott, was macht der
Mensch? Wer? Larissa?
53:48
(114) Larissa: Also ich wollt noch was zu dieser Starthilfe sagen, also ich denk`, ähm, wenn/daß der
den Apfel dahinlegt, um halt sagen: Komm, des macht doch Spaß zu laufen, da kriegste auch immer
was, da kannste dir ja Ziele machen und so. Wenn du dir was vornimmst, kannst du da immer hingehen
und dir des holen und dann bist du auch wieder glücklich dann kannst er den anderen glücklich machen,
also ich denk`/
54:09
(115) L: Apfel als gute Idee, so/so gute Ideen, was man alles machen kann. Ja, ähm, macht jetzt der
Mensch was oder macht Gott was oder wie würden wird`n des/wie kann man das jetzt so
auseinandernehmen. Nikolas!
240
54:20
3 Theologisieren mit Kindern?
(116) Nikolas: Ja, daß der erstmal den Apfel hingelegt hat und dann find` der, des ist dann auch wie ´ne
Starthilfe, aber nicht des, wie der Martin Luther des sagt, daß der Gott äh des sagt, hopp, da ist en
Apfel, hol´ ihn dir oder sowas äh da ähm ich finde, das müßte wie der Erasmus es macht, daß der sagt,
äh, daß der da ähm en Apfel hinlegt und dann guckt des Baby ja des schon an und versucht es ja schon,
aber es schafft net/es schaftt es nicht, und dann kommt erst Gott an, also nur mal und hilft es dem
nochmal.
54:47
(117) L: Ja, wann macht denn des Baby was alleine und wann macht´s Gott?
54:50
(118) Nikolas: Ja, es guckt zuerst den Apfel an und dann versucht es halt hinzulaufen und schafft`s aber
nicht.
54:54
(119) L: Also eigentlich macht das Baby ja schon was (eigentlich s`guckt, wenn´s aufsteht) und was
macht´s noch? [Nikolas: Umkippen.] Umkippen. Und was macht`s noch?
55:02
(120) S: Ha ja, es geht ja mit den Füßen, oder.
55:04
(121) L: Natürlich probiert`s so gut es es packt. Ja, gut. Gott/Gott macht also mal Gott was draus, und
der Mensch macht was, so findet des jetzt Erasmus. Wenn ihr euch jetzt überlegt wenn jetzt ganz
normal in eurem eigenen Leben überlegt/überlegt. Habt ihr den Eindruck, daß des stimmt. Die Elisabeth
hat vorhin gesagt, sie denkt erstmal, da gibt´s ´ne ganz große Box, in den entscheidet man allein. Was
würde jetzt der Erasmus sei/sagen, gibt`s bei/gibt`s bei Erasmus ´ne Box, wo der Mensch ganz alleine
entscheidet oder nicht? Sara!
55:42
(122) Sara: Ja, ich glaub` eher nicht, weil ähm der Apfel war ja schon mal da, und dann/da hat er ja
schonmal geholfen und ich glaub` eher, der/der will damit sagen, daß Gott uns eigentlich immer leitet
und net/und net, daß wir alles alleine machen, oder so.
55:58
(123) L: Sagt das ähm also gut/ des sagt der Luther eigentlich auch. Gell. Gott leitet uns immer. Also
jedenfalls, wenn der (S: Ja, aber der)) wo ist der Unterschied?
56:06
(124) Sara: Ja, bei dem gibt`s jetzt sozusagen Erasmus gibt sozusagen keine Box, wo das Pferd da ist
und zum Beispiel noch auf den Reiter wartet oder so, sondern, da is, da wär`/ bei wenn der Erasmus
(des so sagen würde) wär` der Reiter praktisch immer da.
56:24
(125) L: Ja. Is der/is der. Ja. Tillmann!
56:27
(126) Tillmann: Also vielleicht steht das Pferd doch im/in der Box, aber eben kümmrt sich der Reiter
um das Pferd. Macht`s/also Hufeisen sauber oder bürstet so.
56:37
(127) L: Mhm. Also Gott kümmert sich immer en bißchen. Jetzt hat jeder eine Chance und zwar, jeder
von euch hat ein Bild gemalt ((SchülerInnen stimmen zu)) So ist Gott mit den Menschen und jetzt könnt
ihr mal äh könnt` ihr mal überlegen, wie wäre des, wenn ihr euer Bild sozusagen zeigt. Also zuerst mal
ist hier ein Mensch, der ist erledigt. (L legt Babypuppe wieder auf den Boden) Der ist/hat keine Lust,
der Apfel liegt immer noch da. Was glaubt ihr jetzt eigentlich, was macht en Mensch wie
entsch/entscheidet der sich, wenn er sich ganz/ganz alleine entscheiden würde, was wäre dann, wenn
Gott mithilft, wie hilft er mit oder wenn Gott alles alleine macht, wie wär`s. Jetzt darf jeder erst mal
überlegen, gut, wie glaub` ich das eigentlich. Macht der Mensch alles allein oder nur manchmal oder
nur en bißchen oder gemischt oder ähm eben total alleine? Und dann ihr dürft/ihr könnt euch überlegen
wie macht ihr des könnt anfangen und mal zeigen, was ihr glaubt, wie das eigentlich ist mit Gott und
den Menschen. Wer fängt mal an? Geht in die Mitte, und zeigt des mal also /wie könnt/ wir haben
Apfel, (das kann/kann der) Gott hinlegen, des kann ´ne Idee sein, wir haben irgendwie noch sowas und
wir haben das Baby. Wer macht mal? Wer hat ´ne Idee dazu? (Wer kommt mal) Erklärt des mal, die
erste. Okay, dann/komm mal vor und/und mach` das einfach mal.
58:03
(128) Larissa: Also, ähm das Baby, das sieht da hinten den Apfel schon mal (Larissa legt Apfel auf den
Boden) und des is dann am/des sieht den halt da und will halt dann zu dem hingehen (Larissa geht mit
Babypuppe in Richtung Apfel) und irgendwann denkt`s : oh des is` aber zu weit weg und so und dann
denkt´s: Oh Gott, jetzt will ich nimmer und dann legt`s sich hin (Larissa legt Babypuppe auf den
Boden) und irgendwann ähm kommt dann Gott und hilft ihm dann weiter vorzugehen zum Apfel.
(Larissa geht mit Babypuppe zum Apfel) Und dann hat sie den Apfel und dann ißt sie ihn auch selbst.
58:31
(129) L: Aha. Okay. Also des ist ganz schön selb/also des is selbständiger als der Erasmus. Oder [S: Ja.]
bei Erasmus. Kann das Kind selber aufstehen und/und ißt auch selber. Okay. Selbständiger. Die nächste
Idee. Hendrik, wie glaubst du`s? Mach ma´s wieder weg.
58:49
(130) Hendrik: Also ich hätt´ jetzt gedacht, daß der Gott dann also der legt auch en Apfel hin und das
Kind will da ((Lautes Lachen der MitschülerInnen, weil Patrick den Apfel kickt)) will da halt auch hin
und des schafft´s halt nicht und dann steuert der Gott (mit so Fäden) [L: Ah. ( )] daß der Gott des dann
3 Theologisieren mit Kindern?
241
irgendwie so steuert. (Lachen der Mitschülerinnen). (und es läuft dann halt selbst hin) [L: Und dann?]
Und dann ißt`s den Apfel. [L: Selbständig, oder auch mit als Marionette?] Selbständig.
59:16
(131) L: Ähm. Würdeste jetzt sagen, bei dir is es/is es Baby weniger selbständig oder gleich selbständig
wie bei der Larissa.
59:22
(132) Hendrik: Joa, eigentlich auch gleich.
59:25
(133) L: Ja, gleich? Meinen die anderen das auch? Larissa würdest du jetzt sagen, das ist ganz ähnlich
selbständig?
59:31
(134) Larissa: Also en bissl hilft dann Gott schon mehr mit wegen den Fäden denk` ich schon, weil´s
macht´s ja dann auch selbst.
59:37
(135) L: Ja. Gut, der Mensch als Marionette. Ja, jetzt haben wir ein weibliches Wesen, ein männliches
Wesen, wer macht jetzt noch? Gut, Kevin. Zeig mal, wie glaubst du des?
59:51
(136) Kevin: Also (der kommt von oben, so mit Steuerknüppel) Steh/steh`ma`auf (Kevin imitiert kurzes
Wimmern, MitschülerInnen lachen.)) Und dann sagt`s: Will aber zum Apfel ((Kevin richtet Babypuppe
auf und führt sie) Dann sagt der Gott: Okay, dann geh` mer dahin. Geht`s, denkt` s: Ich will aber den
Apfel doch net. Kehrt`s wieder um.
Legt`s sich wieder hin. Sagt der : Du wolltest doch en Apfel. Dann geht`s wieder hoch und sagt: Okay,
jetzt geh` ich. Und dann geht`s hier (Kevin führt Babypuppe zum Apfel) und ißt.
00:32
(137) L: Toll., danke. ((MitschülerInnen klatschen))
00:36
(138) L: Jetzt bin ich mal gespannt, jetzt probieren wir des mal zu interpretieren, bevor du sagst, wie du
das gemeint hast. Warum sagt der K/warum hat das Baby zuerst gesagt: Ja, ich will den Apfel. Und
dann will es wieder nicht. Wie würdet ihr das verstehen? Was hat der Kevin damit gemeint? Lars!
00:52
(139) Lars: Vielleicht war`s dem Baby zu anstrengend. Weil`s hat ja auch gesagt, der Weg also wär` en
bissl weit oder so.
00:57
(140) L: Wie würd` man des übertragen so im Normalen bei den Menschen.
01:02
(141) Lars: Keine Lust mehr. ((Lachen der MitschülerInnen))
01:05
(142) L: Also, man verliert also die Lust.
01:06
(143) Lars: Ja, man will hin, aber dann hat man keine Lust mehr.
01:09
(144) L: Ah ja, okay. Nächster Vorschlag. Was würdest du sagen?
01:11
(145) Anna: Gott fordert ihn wieder auf hinzugehen. Ähm, also sagt: Komm mach`s nochmal, das
schaffst du schon. Also sowas wie ´ne Prüfung. Also, wenn man irgendwie ´ne Prüfung abschließt. Oh,
ich schaff´` des nicht, ich mach` des doch lieber/doch lieb/doch lieber nicht und ja, daß er dann wieder
sagt: Komm mach`s dann hast`es hinter dir.
01:32
(146) L: Ach so kommen die da gerannt, also ich hab ´keine Lust oder der nächste Gedanke: iIch
schaff`s nicht. Ja, und dann ist wieder Gott und der sagt: Komm, hopp, hopp. Gut, wer würd` noch was
sagen?
01:44
(147) Tillmann: Also, ich glaub`, daß Gott äh also man hat/man geht los, aber dann ähm is` man/denkt
man: Ach das ist der Weg nicht wert. Und so und dann kommt Gott und macht einen wieder stark.
01:55
(148) L: Mhm. Heißt das jetzt eigentlich, daß der Mensch/also bis jetzt hat ja jeder gesagt, der Mensch
braucht ähm/is` nicht so ganz selbständig. Der will mal was und, dann kippt der Wille wieder um, also
ist der Wille nicht so richtig frei.* Er will mal und dann gibt er`s auf, dann kommt, er hat keine Lust,
dann er schafft`s nicht. Ja, jetzt haben wir des wieder, die Frage, ähm, glaubt das jetzt jeder, daß der
Mensch eigentlich haa mal was eigentlich entscheiden wollt, mal auch was frei entscheidet, aber das
dann doch nicht so richtig kann oder gibt`s da jemand der sagt: Nö, nö (des is doch irgendwie anders).
Larissa!
02:31
(150) Larissa: Ich wollt` des noch sagen, also, ähm ich denk halt, das Baby, das sieht halt dann den
Apfel und denkt: Oah, des würd` ich jetzt auch gern haben, weil ich hab` Hunger und so. Und
dann/dann geht`s halt schon mal und wandert halt da mal en halben Weg dahin oder en Stückchen, und
dann denkt`s: Oah, mir tun die Beine weh. Ich hab` keine Lust mehr, diesen kack Apfel, der kann da
auch liegenbleiben. Wart` ich halt, bis meine Mama kommt. Oder so, ja. Und dann/dann/dann bleibt der
da, und dann kommt halt Gott und sagt: Komm, deine Mama kommt erst später, oder so, geh` doch da
jetzt hin, du hast doch schon bald den ganzen Weg, oder so. Und hilft ihm halt.
03:06
(151) L: Guck` emol, wie Kevin/wie hast du das gemeint? Haben/haben die dich richtig so interpretiert?
Ja, Tillmann!
242
3 Theologisieren mit Kindern?
03:11
(152) Kevin: Ja, also ich hab`/weiß eigentlich gar nicht net irgendwie so, wie`s ich gemeint hab`, weil,
der Gott hat`s einfach gesteuert und hat`s Kind halt gedacht: Ach, der ist ja eigentlich gar nicht so rot
und ist wieder umgekehrt. [L: Aha.] Und dann hat`s halt gedacht: Oh, jetzt hätt` ich ihn doch lieber,
deshalb wär` ich halt gleich hin, dann ist es halt doch hin.
03:31
(153) L: Aha. Da gibt`s so en Wort, da heißt es: Gott/äh, der Mensch denkt, aber Gott lenkt. [S: Ja,
kenn` ich.]. Würdet ihr sagen, des stimmt immer. So als/als letzten Abschluß. Wie frei/Ja, Ma/äh Julia.
03:51
(154) Julia: Nicht immer, aber immer öfter. (Lachen der MitschülerInnen).
03:55
(155) L: Gott denkt aber, nee, der/der Mensch denkt, aber Gott lenkt, immer öfter, also Gott muß immer
mehr.
03:59
(156) Julia: Ja, aber nicht immer, aber manchmal schon.
04:02
(157) L: Ah ja.
04:03
(158) S: Ich denk`, das ist abwechselnd, manchmal denkt der Gott oder der Mensch, des is halt
abwechselnd.
04:09
(159) L: Wenn jetzt noch jemand käme. Nicht der Luther, nicht der Erasmus sagt: Nö, der Mensch ist
überhaupt gar kein Baby, der Mensch ist ja erwachsen und der Mensch geht rum, überlegt sich was
holt/ißt sie/ißt dann einfach den Apfel. Findet ihr das besser? Stimmt das eher? Oder was würdet ihr
denn ihm sagen? ( ). Tillmann.
04:39
(160) Tillmann: Wenn man zum Beispiel jetzt in der Stadt ist und sieht, also so vielleicht en Stück
weiter entfernt zehn Pfennig liegen, dann geht man ja auch nicht hin, weil man denkt, des/der loh/ der
Weg lohnt sich nicht, oder so. ( ) [Kevin: Aber ich würd` da hingehen. ( )]
05:26
(161) L: Mhm. Okay. Larissa.
05.27
(162) Larissa: Ja, also Menschen sind schon faul, aber ich denk` manche die arm sind, die gehen auch
wegen ´nem Ein-Pfennig-Stück dahin, also ich denk` des is` halt die Reichen denen ist des ja schnuppe,
ob da jetzt en Zehn-Mark-Schein liegt, weil die sind halt dann Millionär und haben halt genug ZehnMark-Scheine zuhause und die denken: Oh komm`, ich geh` lieber wieder in mei/meine Limusine und
laß mich da durch die Stadt fahren als wenn ich da jetzt austeig` und da den/den Zehn-Mark-Schein
hol`.
05:53
(163) L: Also hier, eigentlich von der von dem/äh von der Uhr aus hat die Schulglocke schon
geklingelt. Will jetzt jemand nochmal kurz was sagen, was er selber denkt, also/nochmal erklären wie
ma/was macht Gott, was macht der Mensch oder gibt`s auch en Teufel, der da mitmacht. Ja.
06:06
(164) Tillmann: Deswegen galub` ich arme Leute [L: Mhm.] also die haben viel mehr irgendwie von
Leben überhaupt. [L: Warum?] Weil/weil sie bemühen sich den Weg zu gehen oder des/und so. [L:
Aha.] Sie machen des und die Reichen, die denken dann erst gar nicht erst dadrüber nach und so und
dann ja und haben als halb/haben halt genug und die Armen , die dann die hol/die holen sich dann die
zehn Mark und dann sind sie froh, daß sie zehn Mark haben und sowas.
06:34
(165) L: Is` des dann Gott, wenn die Armen arm sind? Die Armut hilft denen ja natürlich dann zu
bemühen, (würdest du dann schon sagen) sogar Gott ist so ( ) Armut, des wär` ja schon fast so, wie
wenn Gott schon irgendwas Böses also was nicht Schönes hat und würdest du sagen, is` des
übertrieben?
06:52
(166) Tillmann: Na ja, ich glaub` schon, also, daß also daß Gott schon also für die Armen eher ist, also.
07:00
(167) L: Mhm. Ja, okay, letzter Abschlußsatz: Nikolas.
07:03
(168) Nikolas: Also, wenn man das überlegt, also zum Beispiel ein Steinzeitmensch, ich weiß nicht,
ob`s da auch schon Äpfel gab und wenn /der würd` dann da kriegen die ja nicht so oft was zu essen, die
müssen zur jagen gehen wenn die da en Apfel sehen, die würden sich den da auch holen, aber in
heutiger Zeit die würden, da würden( ) anstatt zum Apfel oder sowas. (Also auch, daß die durch die
Zeit der Entwicklung) auch en bissle faul geworden sind. Das die/das die immer was zum essen haben
und nichts dafür machen müssen.
((L schließt die Stunde ab.))
3 Theologisieren mit Kindern?
5
243
Schlussfolgerungen
Ausgehend von unserer Grundfrage: Warum und inwiefern sind kindliche Äußerungen von philosophischer und theologischer Qualität? kann ich zusammenfassen:
1. Grundsätzlich sollte nicht von einer (verkindlichenden) Theologie für Kinder,
sondern von einer Theologie der Kinder die Rede sein. Erst das eröffnet die Frage
nach eigenständigen theologischen Gedanken von Kindern sowie nach möglichen
Formen kommunikativer Auseinandersetzung mit solchen Gedanken.
2. Philosophie und Theologie weisen als Bereiche menschlicher Erfahrung und
Erkenntnis einen wesentlichen Unterschied auf:
a) Philosophie vollzieht sich als empathetischer Bezug auf Weisheit (im Unterschied zu Weisheit wie auch zu Weisheitslehre) stets in Form eines sich seiner
selbst bewussten also reflektierenden Denkens.
b) Theologie aber lässt sich vom Wortsinn her weiter fassen: jede Äußerung von
Glauben, so er sich mitteilt, - in vielfältigen Formen -, kann mit gutem Grund als
Theologie verstanden werden.
3. a) In diesem Sinne sind Kinder keine Philosophen, wohl aber (mehr als mancher
Erwachsene) philosophisch Ahnende.
b) Aufgabe eines Philosophierens mit Kindern ist es daher, mit den Kindern
philosophisches Fragen zu kultivieren und darin Wege zu ebnen hin zu Ebenen
philosophischer Reflexion.
4. a) Theologen sind Kinder viel eher, insofern sie sich und uns originäre Glaubenserfahrungen mitteilen. Theologisieren mit Kindern erinnert daher die Theologie an
die eigene Basis, die sie in Glaubens-Erfahrungen hat, und ermöglicht andererseits
Kindern, Wege zu beschreiten, im Glauben zu wachsen, Glauben auch bewusst zu
leben.
b) Philosophische Auseinandersetzung mit kindlicher Theologie hat in diesem
Zusammenhang die Aufgabe, Glaube (in seinem auch Mitteilung einschließenden
Sinn) als elementare Dimension menschlicher Erfahrung zur Reflexion zu
bringen.
Was bedeutet es demnach für die Theologie, wenn Kinder Theologen sind, und zu
welchen religionspädagogischen Konsequenzen für ein Theologisieren mit Kindern
muss eine solche Sicht führen ? Ich schließe aus meinen Bemerkungen:
244
3 Theologisieren mit Kindern?
5. Eine Theologie der Kinder gibt es.
• Kinder formulieren sie erfahrungsbezogen, aber nicht immer direkt, sondern meist
verborgen hinter einer vorgegebenen oder bildhaften oder narrativen Sprachform.
Das erinnert uns daran, dass jede Theologie ihren Wert verliert, wenn sie nicht in
konkreten Lebenserfahrungen verortet wird.
• Traditionen der Theologie einschließlich ihrer Dogmen sind ebenso nichts anderes
als verdichtete Glaubenserfahrungen. Nur als solche haben sie bleibenden Wert
für heute und über das Heute hinaus.
• Theologie ist Theologie nur im Hinblick auf gelebtes Leben; theologisch ausgedrückt: Orthodoxie hat ihr notwendiges Korrelat in Orthopraxie.
6. Für das theologische Gespräch mit Kindern folgt für mich:
• Impulse für ein solches Gespräch liefern nur solche Medien, seien es Texte, Bilder
oder Aktionen, die als symbolisch vermittelte auf Dechiffrierung drängen.
• Dilemma-Geschichten sind ein geeignetes Mittel, solche Gespräche in Gang zu
bringen. Kriterium für eine gute Dilemma-Geschichte aber ist ihr konkreter
Erfahrungsbezug wie die in ihr selbst angelegte Provokation zu unterschiedlichen
Antworten.
• Mythische Elemente können Folien bieten, narrativ ein Problem zur Erfahrung zu
bringen sowie in der Dechiffrierung Wege zu eigenverantwortlichem Denken und
Handeln zu eröffnen.
• Ebenso können spielerische und interaktionelle Elemente geeignete Impulse
liefern, dass Kinder erfahrungsorientiert in eine Fragestellung eingebunden
werden, um so für sich Wege der Auseinandersetzung freizulegen.
• Das theologische Gespräch mit Kindern lebt davon, zunächst einmal die Kinder
selbst sich äußern zu lassen, dann aber auch durch gezieltes Nachfragen mit dem
Geäußerten ins Gespräch zu bringen. Wege zu einem solchen Gespräch können
Formeln bieten wie: Was meinst du mit ...? oder: Beschreibe mir deinen Gedanken noch mal genauer... oder auch kommunikativ: Wer hat verstanden, was N.
gerade gemeint hat, und könnte das versuchen auszuformulieren...? usf. - Doch
läuft ein solches Gespräch nicht von selbst; die Kenntnis philosophischer
Gesprächsführungsformen, etwa des Sokratischen Gesprächs, liefert eine gute
Voraussetzung, solche Gespräche führen zu können.
Die kommentierten Unterrichtsbeispiele bieten aus meiner Sicht genügend Belege für
diese Thesen.
IV
Unterrichtsmodelle
Kapitel
4-1
„Kannst Du nicht schlafen?"
Die Frage nach Gott im Bilderbuch 1
Die Frage nach Gott ist deswegen besonders schwer, weil gar nicht so klar ist, nach
was eigentlich gefragt wird, wenn wir nach Gott fragen. Zunächst einmal sind viele
Menschen geprägt durch das, was von den Religionen im Laufe der Jahrtausende
überliefert ist, die Bilder über das, was „Gott“ meint, beinhaltet und für unser Leben
bedeutet. Darum könnte man versucht sein, schlicht nach dem Inhalt dieser Bilder zu
fragen, um damit zu verstehen, was Gott ist. Doch zumindest die tiefere Bedeutung
der Bilder, nicht nur ihre oberflächliche Bezeichnung, erschließt sich erst mit der
Zusatzbedingung, dass sie für uns auch einen Sinn machen. Das heißt diese Bilder
bezeichnen nicht nur bestimmte Inhalte, die die Religionen überliefern, sondern
bringen auch den Bezug, den sie für uns gewinnen können, zum Ausdruck; sie sind
für ihre Hörer und Betrachter eingebunden in den Kontext einer bereits vollzogenen
Gotteserfahrung oder zumindest einer Tradition, die mehr oder weniger
selbstverständlich Verlässlichkeit bürgt. Wenn wir aber erst einmal wissen wollen,
was Religion und Religiosität, Gotteserfahrung und Glauben überhaupt sind, müssen
wir auch diese Voraussetzungen bedenken. Wer dies tut, nähert sich einer
philosophischen Auseinandersetzung mit Gott und Religion. Von der
philosophischen Frage nach Gott unterscheidet sich die religiöse insofern, als sie den
Sinn einer solchen Erfahrung nicht mehr hinterfragt, während für die Philosophie das
Grundlegendere von Interesse ist, was es ist, dass wir überhaupt nach Gott fragen
und was wir darin zur Erfahrung bringen könnten; erst von daher und nach Bedenken
dieser Frage kommt für die Philosophie in den Blick, was Gott ist. Die Bilder, in
denen die Religionen von Gott sprechen, bleiben aufgrund dieser Einschränkung in
ihren Gehalten nicht unberücksichtigt, doch das philosophische Fragen zielt in erster
1
Dieses Kapitel bietet die um wenige den Kontext erläuternde Passagen ergänzte Rohfassung des
Kapitels 11 meines Buchs zum Thema „Philosophieren mit Bilderbüchern“, das 2002 im BeltzVerlag erscheinen wird. Das Buch ist konzipiert sowohl als Einführung ins Philosophieren über
Bilderbücher; in diesem Zusammenhang fragt das Kapitel 11 nach Religion und Gott. Zugleich gibt
es Hinweise zur Erschließung von Bilderbüchern unter philosophischen Aspekten. In beiden
Zielsetzungen richtet es sich nicht zuerst an Fachphilosophen, sondern an Eltern, Erzieherinnen und
Lehrer/innen. Der für eine solche Einführung notwendige Stil wurde für die vorliegende Fassung
beibehalten.
4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch
249
Linie darauf, in ihnen und aus ihnen herauszulesen, was überhaupt Religiosität für
den Menschen bedeutet.
Unter Berücksichtigung dieser Einschränkung soll nachfolgend gleichwohl der
Versuch gemacht werden, die Frage nach Gott über Bilderbücher zu erschließen.
Hintergrund dafür ist ein doppeltes Interesse. Zum einen: Zur Auseinandersetzung
mit dieser fundamentaleren Frage sind ausdrücklich religiöse Kinder- und
Bilderbücher nur bedingt geeignet. Die meisten dieser Titel haben religiöse
Traditionsgüter, insbesondere biblische Geschichten zum Thema und wollen mit
ihnen bekannt machen, richten aber dabei ihr Augenmerk zumindest nicht vorrangig
und häufig gar nicht auf die philosophisch entscheidende Frage, was denn an diesen
Überlieferungen überhaupt religiös sei, genauer, warum und wie Menschen in
solchen Bildern ihre religiösen Urerfahrungen festgehalten haben. Dies aber setzt
eben eine andere Fragehaltung voraus als die eher historische, wer oder was denn
nun den „liebe Gott“ sei, oder was denn dieser Jesus gesagt und getan habe; vielmehr
geht es um die elementare anthropologische Ebene, welche Rolle das Religiöse für
Menschsein spielt, d.h. es ist von urmenschlichen Erfahrungen auszugehen, um in
ihnen das Religiöse auszumachen, was dann erst nach Gott fragen lässt.
Das andere Interesse gilt der Form der Erkundung von Gott und Religion. Wenn
Religiosität nicht irgendeine beliebige Ebene menschlicher Lebenserfahrung ist,
sondern eine elementare, die Tiefen seiner Existenz betreffende, wird es kaum
möglich sein, dies in faktische Sprache zu fassen. Religiöse Überlieferungen arbeiten
daher vor allem mit dem Modus der Verdichtung, griechisch der Symbolisierung
solcher elementarer Erfahrungen.2 Neben dichter Sprache sind es aber insbesondere
Bilder, die solche Verdichtungen auszudrücken in der Lage sind. Freilich sind dann
bloß äußere Illustrationen letztlich uninteressant. Bedeutsam sind für die Ebene des
Religiösen nur solche Bilder, in die es sich lohnt hineinzugehen und den
Erfahrungen, die in ihnen versammelt sind, nachzuspüren.
Mit diesem doppelten Interesse sollen nachfolgend nur vier Bücher betrachtet
werden, um mit ihnen vier ganz grundlegenden Fragen von Religiosität zu erläutern.
Indirekt werden wir damit jedoch auch Kriterien in Erfahrung bringen können für
gelungene Bilderbücher zu konkreteren Themen aus der Tradition des Religiösen.
Denn auch bei der Thematisierung z.B. konkreter biblischer Geschichten gewinnen
Bilderbücher ihre Qualität dadurch, dass sie, wie erläutert, der in ihnen bewahrten
Urerfahrung Ausdruck verschaffen können.
2
Vgl. dazu ausführlicher das Kapitel 2-2.
250
1
4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch
Religiöse Urerfahrungen
Eine solche menschliche Urerfahrung wird durchaus auch in vorderhand
nichtreligiösen Bilderbüchern zu Thema gemacht, man muss sie nur als solche zu
verstehen wissen. Zum Beispiel macht sie der kleine Bär, der den ganzen Tag mit
dem großen Bären gespielt hat und nun, als es dunkel wird, ins Bett gebracht wird;
„aber der kleine Bär konnte nicht schlafen“ heißt es dann lapidar in dem Buch
Kannst du nicht schlafen kleiner Bär3.
Das Bild S.7 braucht diesen
erklärenden Satz gar nicht: der kleine
Bär turnt unter seinem Bettzeug
herum, wirft sich das Kopfkissen
über den Kopf, ein zweites Kissen
und selbst das Spielmännchen aus
Stoff sind schon aus dem Bett
gefallen. Und die Augen des kleinen
Bären blicken gespannt aus der
dunklen Ecke der Bärenhöhle zum
großen Bären, der es sich bereits mit
einem
spannenden
Bärenbuch
gemütlich gemacht hat. Aber warum
kann der kleine Bär nicht schlafen?
Die
Folgeseite
bringt
eine
Erklärung, die keiner weiteren
Erläuterung bedarf und zugleich die
Aussichtslosigkeit aller Hilfestellung
vor Augen hält: „Ich fürchte mich“, sagt der kleine Bär. Und zwar fürchtet er sich
vor der „Dunkelheit rundherum“. Und die kann der große Bär mit allen
Anstrengungen nicht beiseite schaffen, weder mit kleinen Lichtchen noch mit den
größten Laternen. Die Aussichtslosigkeit wird deutlich durch die völlig hilflose
Wendung des kleinen Bären an den großen, der wiederum noch so zugewandt schauen,
zureden und auch sich verhalten kann, die Furcht kann er dem kleinen Bären nicht
nehmen, die Furcht, die so groß ist, dass der Kleine sich nur noch an seinen Füßchen,
an sich selbst festhalten kann.
3
Martin Waddell/Barbara Firth: Kannst du nicht schlafen, kleiner Bär? Wien/München (Betz) 1989
(London 1988) 32 S.
4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch
251
Warum? Um zu spüren, dass er noch da
ist. Und darum muss er auch nach allen
weiteren Versuchen in seinem Bettchen
herumturnen, um sich ja nicht zu
verlieren an die große Dunkelheit. Und
diese große Dunkelheit gibt es, es ist die
Nacht, im Buch draußen vor der
Bärenhöhle, in unser aller Wirklichkeit
im Eindämmern und Schlaf, in dem wir
ja nicht mehr wissen noch spüren, dass
wir bei uns sind.
Mit aller Dramatik, lebensnah konkret
und doch in eine vielfältig lesbare
Bildergeschichte gepackt und so
überhaupt erträglich, ist hier eine
existentielle Herausforderung auf Papier
gebracht. Es ist doch so: Gerade die vielleicht selbstverständlichste Sache unseres Lebens, dass wir einschlafen und dann
auch wieder aufwachen, ist so selbstverständlich nicht. Denn da passiert etwas mit
uns, das wir geschehen lassen müssen, dem wir noch elementarer uns ausliefern
müssen als dem Hunger oder dem Durst, die wir bis zu einem gewissen Grad
aufschieben können. Und ausliefern müssen wir uns dem Schlaf, weil der
andererseits sich nicht so unwillkürlich vollzieht wie der Atem oder der Herzschlag.
Diese können wir zwar, wenn wir acht geben, auch erspüren und ebenfalls in
bestimmtem Rahmen steuern, aber im Alltag vollziehen sich Atem und Herzschlag,
ohne dass wir es merken. In den Schlaf dagegen sich zu begeben, das merken wir
stets, jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir auch einschlafen. Und das
bedeutet nicht mehr und nicht weniger, dass wir es merken, ja dass es uns vollständig
bewusst wird, dass unser Bewusstsein und unser Gespür ausgeschaltet werden.
Schon die Paradoxie, dieses Phänomen in Sprache zu fassen, muss verunsichern:
Beim Einschlafen wird unser Bewusstsein ausgeschaltet, und eben dessen werden
wir uns im Akt des Einschlafens bewusst. Und dann haben wir natürlich auch keine
absolute Sicherheit wieder aufzuwachen. Das verunsichert nicht nur, das entzieht uns
alle Möglichkeiten zu reagieren, macht Angst. Und diese Angst braucht ein Ventil,
nämlich in der Furcht vor irgendetwas eher Greifbarem, etwa der Dunkelheit.
Darum ist auch nicht ungezogen oder gar krank, wer nicht einschlafen kann.
Gewiss, im Alter haben viele Menschen Probleme, und es gibt aufgrund anderer
körperlicher Störungen auch pathologische Fälle, in jedem Lebensalter. Aber das
252
4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch
Nicht-Einschlafen-Wollen kleiner Kinder, das ist weder Krankheit noch
Ungezogenheit, sondern dahinter steht jene ganz tief sich äußernde Furcht, sich
verlieren zu können, plötzlich, ohne dass man es merkt, nicht mehr da zu sein, und
das zu einem Zeitpunkt der Lebensentwicklung, wo man gerade im Begriff ist, für
dieses Dasein seiner selbst ein Gespür zu entwickeln. Da helfen keine
Ersatzhandlungen wie Vorlesen oder Lichtanlassen oder Auf-den-Arm-Nehmen und
Herumlaufen, auch wenn mit ihnen das Einschlafen häufig gelingt; das
zugrundeliegende Problem wird damit nur verdeckt oder kurzfristig in Vergessenheit
gebracht. Erst recht helfen keine biologischen oder psychologischen Erklärungen,
etwa die von unserem physischen Sosein, das uns nun mal wie allen Lebewesen den
Schlaf aufzwinge. Nein, im Einschlafen werden wir konfrontiert mit jenem von
Leibniz als metaphysisch qualifizierten Übel allen Menschseins. Leibniz
unterscheidet in seiner Theodizee zwischen drei Formen des Übels, denen wir
Menschen unterworfen sind, dem physischen Übel von Krankheit und
Gebrechlichkeit, dem moralischen Übel, das Böse zu erleben und auch es selbst tun
zu können, und dem metaphysischen Übel der Endlichkeit.4 Einen Satz von Bloch
abgewandelt ließe sich sagen: Ich bin, aber ich habe mich nicht, sondern werde mir
im Einschlafen auch selbst entzogen, darum müssen wir das Vertrauen des
Einschlafens lernen, das die Zuversicht des Wiederaufwachens einschließt.5
4
5
Vgl. Leibniz (1985 [1720]), I,21, S.241. “Man kann”, so Leibniz im Abschnitt 21 seiner Theodizee,
„das Übel [le mal] metaphysisch, physisch und moralisch auffassen. Das metaphysische Übel
besteht in der bloßen Unvollkommenheit [imperfection], das physische Übel im Leiden
[souffrance]und das moralische Übel in der Sünden [péché].“ – Im Folgesatz macht Leibniz einen
qualitativen Unterschied zwischen dem metaphysischen Übel einerseits, das es „schon vor der [Ur]Sünde“ als „eine ursprüngliche Unvollkommenheit im Geschöpf“ gebe, und andererseits dem
physischen und dem moralischen Übel, die „nicht notwendig“ seien. Das heißt, das physische Übel
des Leidens und der Krankheit wie auch das moralische Übel des Bösen sind durch die Kontingenz
menschlichen Daseins bzw. die böse Tat des Menschen verursacht. Das metaphysische Übel
hingegen bezeichnet so etwas wie ein ursprüngliches menschliches Sosein, eine conditio humana.
Daraus ergibt sich, dass das metaphysische Übel den anderen Übeln als Grundbedingung
vorgelagert ist, während umgekehrt die Möglichkeit des physischen Übels und die Gefahr zu
moralischem Übel ihren Grund in dieser ursprünglichen Unvollkommenheit haben. – Für unseren
Zusammenhang bedeutet das, dass das Nicht-Einschlafen-Können natürlich zunächst einmal als
physisches Übel sich darstellt. In der Auseinandersetzung damit aber werden wir mit der
metaphysisch zu nennenden Unvollkommenheit als Grund für ein solches Übel konfrontiert. Eben
darum geht es im vorliegenden Bilderbuch.
Ernst Bloch beginnt seine „Tübinger Einleitung in die Philosophie“ (Bloch (1963)) mit den oft
zitierten Sätzen: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ – Mit ihnen ist nicht
nur die fundamentale Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit menschlichen Daseins auf einen kurzen
Begriff gebracht; eindrücklich bringt Bloch mit ihnen auch die Zwiespältigkeit menschlichen
Selbstverhältnisses zum Ausdruck, um die es in unserem Zusammenhang geht: Wollen wir
Menschen uns mit uns selbst auseinandersetzen, erfahren wir, dass im Akt der Auseinandersetzung
der Gegenstand der Auseinandersetzung, so selbstverständlich wir seiner inne sind, sich uns stets
auch entzieht. Darum zählt das „Ich“-Sagen zu den komplexesten philosophischen Problemen, die
begrifflich nie eineindeutig zu fassen sind, was Kant gültig klar im Problem der Paralogismen vor
Augen geführt hat, die sich aus Problemen einer rationalen Psychologie ergeben, d.h. aus dem
4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch
253
Was hat das mit der Frage nach Religion und Gott zu tun? Nun, ich behaupte, eben
hier mit dieser Erfahrung beginnt, was die Philosophie die Religiosität oder die
religiöse Ebene von Menschsein nennt. Das wissen auch die großen religiösen
Traditionen, etwa die Bibel: „Ich lege mich nieder und schlafe ein, ich wache wieder
auf, denn ER beschützt mich“, heißt es scheinbar banal in Psalm 3, 9. Lesen wir
diesen Satz mit seinen vier Teilen aufmerksam noch einmal. Belanglos mag noch die
Beschreibung der ersten drei Satzteile sein, denn wem widerfährt das nicht, sich
hinzulegen, einzuschlafen, wieder aufzuwachen. Nicht mehr selbstverständlich ist
der letzte Satzteil, der für die Selbstverständlichkeit der ersten drei zunächst
behauptet, dass sie keineswegs selbstverständlich sind, sondern dass sie einen Grund
haben, einen Grund dafür, dass es so ist, wie es ist, dass ich zeitweise wache und
zeitweise schlafe, und des weiteren, dass ich einen Grund haben muss, mich auf
diese Befindlichkeit auch einlassen zu können, so dass ich es bin, der einschläft und
wieder aufwacht. Zum zweiten liefert der letzte Satzteil diesen Grund gleich mit,
indem er versichert, dass ich in diesem Akt, in dem ich mich meiner Befindlichkeit
unmittelbar ausgeliefert finde, einem Gegenüber begegne, hier „ER“ genannt, das
mich in dieser Erfahrung trägt, so dass ich vertrauensvoll mich darauf einstellen
kann, wie es meiner Befindlichkeit entspricht. Der Psalm 91 weiß dies noch genauer:
„Wer im Schutz des Höchsten wohnt und ruht im Schatten des Allmächtigen, der sagt
zum Herrn: ‘Du bist für mich Zuflucht und Burg, mein Gott, dem ich vertraue.’ …
Du brauchst dich vor dem Schrecken der Nacht nicht zu fürchten, noch vor dem
Pfeil, der am Tag dahinfliegt … Denn der Herr ist deine Zuflucht, du hast dir den
Höchsten als Schutz erwählt … Denn er befiehlt seinen Engeln, dich zu behüten auf
all deinen Wegen.“ Nicht mehr und nicht weniger als die Einsicht in die eigene
Endlichkeit und das Vertrauen, sich ihr auch stellen zu können, wird hier auf den
Begriff gebracht, und zwar in einer Sprache, die mit Bildern, die jeder sich vorstellen
kann, das Unvorstellbare bannt und so überhaupt erträglich macht. Diese Bilder
haben religiösen Charakter, weil sie benennen, was auf einer ganz elementaren
Ebene Vertrauen und Verlässlichkeit schafft, was aber trotzdem oder wohl gerade
deswegen nur in Bildern sich ausdrücken lässt. Jene Einsicht aber in die eigene
Hinfälligkeit wie dieses Vertrauen, sich ihr auch stellen zu können, die ich religiöse
Urerfahrungen nennen würde, brechen nirgends so fundamental auf wie in der
Erfahrung des Einschlafens bzw. des (kindlichen, d.h. natürlichen und nicht
pathologischen) Nicht-Einschlafen-Könnens, wenn sie denn ernst genommen wird in
ihrer uns elementar in Frage stellenden Tiefendimension.
(letztlich nie gelingenden) Versuch, festzumachen, was wir als „Ich“ im Ichsagen stets
voraussetzen.
254
4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch
Um es nochmals zu
betonen: Damit ist nicht
behauptet, dass religiös sei,
wer die Erfahrung des NichtEinschlafens mache; vielmehr
gewinnt umgekehrt an dieser
menschlichen
Urerfahrung
Religiosität eine für den
Menschen fassbare Form.
Religiös im engeren Sinne ist
erst derjenige Mensch, der
zugleich sich auf diese
Erfahrung einlässt und um
eine sie verlässlich tragende
Antwort bemüht ist. Eine
solche Antwort, die Lösung
des Vertrauens, sich der
eigenen Endlichkeit auch
stellen zu können, wird in
unserem Bilderbuch ebenfalls angeboten: Der Konfrontation mit der großen
Dunkelheit „da draußen“ begegnet der große Bär mit dem verblüffenden Vorschlag,
doch hinauszugehen in die große Dunkelheit, sich ihr also quasi zu stellen.
Und das ist kein psychologischer Taschenspielertrick, denn der kleine Bär darf sich
ganz fest an den großen drücken und vermag
so zu sehen, was er sich alleine nicht zu
sehen getraut hätte: „den großen leuchtenden
Mond“, der mitten in der Nacht die
Dunkelheit erhellt und der damit, wir ahnen
es, einen Vorschein für die wieder
kommende Helligkeit des Tages bietet.
Möglich gemacht aber hat dies das
Vertrauen, das der kleine Bär gegenüber dem
großen gewinnen kann, denn „tief und fest
und geborgen in den Armen des großen
Bären“ kann er einschlafen.
4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch
255
Wiederum ist damit nicht behauptet, das Erstaunen im Angesicht des Vollmonds
und vor allem die Erfahrung, vom anderen geliebten Menschen getragen zu sein und
sich ihm anvertrauen zu dürfen, das seien bereits in sich religiöse Erfahrungen. Und
doch dürfen sie als Erfahrungen ernst genommen werden, die eine religiöse
Tiefendimension in sich tragen, weil derjenige, der diese Erfahrungen macht, intuitiv
weiß, dass sie nicht allein für sich selbst stehen, sondern Bild, Angeld für etwas sind,
was dahinter wirkt. Nennen wir dies ruhig eine Kraft oder Macht: Das Erstaunen vor
dem Mond oder die Erfahrung des In-den-Arm-Genommen-Werdens verdeutlichen
uns, dass so etwas überhaupt möglich ist, dass wir getragen sind, dass wir uns verlassen können. Wer eine solche Erfahrung macht, ist, so behaupte ich, in einem
weiten oder elementaren Sinn religiös. Zur Klarheit: Ein solcher Mensch glaubt
deswegen noch nicht notwendig oder hätte gar eine bestimmte Religion, meinen
doch „eine Religion haben“, „glauben“ und „religiös sein“ keineswegs das Gleiche.
Religiös zu sein ist die Voraussetzung für die sehr viel konkreteren anderen beiden
Verhältnisse, kann aber auch unabhängig von den anderen sich vorfinden; religiös in
solch elementarem Sinne aber ist jeder Mensch, so wie jeder Mensch, zumindest
potentiell, fühlen, denken, handeln, genießen kann. Diese Einsicht ist an der
Erfahrung des Nicht-Einschlafen-Könnens in unserem Bilderbuch zu gewinnen.
Und wie kann dies zusammen mit Kindern erschlossen werden? Nun, Kinder leben
zunächst einmal in einer Welt der unmittelbaren Wahrnehmung, in der alle Sinne
aktiv sind. Diese Unmittelbarkeit, das stellt sich in der Auseinandersetzung mit
verschiedensten Bilderbüchern immer wieder heraus6, kann durch nichts so
angemessen in seiner Vielfalt wie auch Eindringlichkeit dargestellt werden wie durch
Bilder. Erneut bietet es sich also an, mit den Kindern in die Bilder „hineinzugehen“
und diese Wege miteinander zur Sprache zu bringen. Dazu wieder ein paar
Anregungen:
• Schon die erste Doppelseite des Buchs bringt das Thema in eindrücklicher Weise
zum Ausdruck: Da stehen inmitten des großen weiten Waldes auf einer freien
verschneiten Fläche der große und der kleine Bär, ganz klein beide, und trotzdem
eingebunden in die weite Welt um sie herum. Und der Kleine schaut, die Ärmchen
fragend nach unten und leicht nach hinten gewandt, in vollem Vertrauen den
Großen an: Was machen wir jetzt? Bist du auch immer da? Hilfst du mir? Ohne
den Großen stünde der Kleine sehr verloren und einsam da. Und doch gibt es ja
für beide noch die gemütliche Bärenhöhle, in die sie sich abends zurückziehen;
und selbst der Wald ist in seiner Weite nicht unfassbar, sondern in einer geheimen
6
Wie eingangs des Kapitels erwähnt, stellt das vorliegende Kapitel eine leicht veränderte Fassung
eines Kapitels meines Buchs zum Thema „Philosophieren mit Bilderbüchern“ dar.
256
4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch
Ordnung stehen die Bäume da, hinter ihnen wachsen andere, und durch den
Nebelschimmer werden sie alle erleuchtet vom Schein der winterlichen Sonne, der
durch die lichten Wolken hindurch alles erhellt. Dies und einiges mehr lässt sich
gemeinsam durch dieses Bild erzählen, weil in ihm nicht nur einfach etwas
abgebildet wird, Wald, Schnee, Sonne, zwei Bären, sondern diese Bilder
unmittelbar, ohne dass dies ausgesprochen werden muss, jedoch dadurch dass sie
Geschichten freisetzen, für Urerfahrungen von Ausgeliefertsein und Vertrauen
stehen.
• Oder wir greifen auf das oben abgebildete Bild zurück, auf dem der kleine Bär
seine Füßchen hält und der große das Bett-Tuch nimmt, um ihn zuzudecken:
Worüber werden sich die beiden unterhalten? Was sagt der kleine, und wie sagt er
es? Und ist der große lieb zum kleinen, warum? Woran können wir das sehen?
• Oder das drittletzte, ebenfalls oben abgebildete Bild, auf dem der große Bär den
kleinen auf dem Arm nach draußen trägt, dem großen die Nacht erleuchtenden
Mond entgegen: „‘Ich hab dir den Mond gebracht, kleiner Bär’, sagte der große
Bär.“ - so der Text im Buch. Vielleicht sagt der große Bär aber noch mehr?
Vielleicht singt er ein Lied: „Weißt du wie viel Sternlein stehen an dem großen
Himmelszelt“? Oder vielleicht spricht er ein Gebet, etwa den oben zitierten
Psalm? Für die religiösen Leser ist ein solcher Hinweis selbstverständlich. Aber
lässt er sich auch für nichtreligiöse Eltern erschließen? Sind nicht alle diese
Inszenierungen, die Eltern beim Einschlafen ihrer Kinder aufwenden, sei es das
Licht-Anlassen, die Gute-Nacht-Geschichte, das Gute-Nacht-Lied, das Betrachten
eines Bildes, das Gebet, das Händchen-Halten, sind nicht all dies Bilder des
Vertrauens, eines Vertrauens, das zwar die Eltern vermitteln, das aber seinen
Ursprung viel tiefer hat als bloß in ihnen selbst?
2
Glaubenserfahrung
Nun lautet das vorliegende Kapitel „Die Frage nach Gott“, und darum ist über die
eben benannte Grunderfahrung von Religiosität hinauszugehen zu den anderen
bereits angedeuteten Ebenen von Gläubigkeit und Religionszugehörigkeit.
Auch hier ist, orientiert man sich jedenfalls an den großen religiösen Traditionen,
nicht von Definitionen, sondern von Erfahrungen auszugehen. In ihren
Glaubensgeschichten erzählen die heiligen Texte der Religionen ausführlich und
eindringlich davon. Eine dieser Glaubensgeschichten ist die von Jona. Sie ist durch
ihre Bilderkraft, vor allem das Bild vom großen Fisch, der Jona verschlingt und dann
wieder ausspeit, oft zur Darstellung gekommen. Für unseren Zusammenhang, die
4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch
257
philosophische Frage nach Gott, ist unter allen Bilderbüchern herauszuheben das von
Sekiya Miyoshi7, gerade weil es weder mit dem Text noch vor allem mit seinen
Bildern die biblische Vorlage schlicht und damit schlecht bloß illustriert, sondern
seine Deutungskraft ganz auf die uns hier interessierende exemplarische und
vorbildhafte Glaubens-Erfahrung des Jona konzentriert.
Die erste Doppelseite bringt gleich die Pointe dieses Zugangs zum Ausdruck: Wir
sehen rechts nicht etwa Jona, wie er in der biblischen Überlieferung gleich im ersten
Satz als Adressat eines Handlungsauftrags eingeführt wird, sondern ein lediglich
blau-weiß gestaltetes Bild, durch die klare Trennlinie zwischen dem kleineren oberen
weißen Teil mit zwei blauen Farbflecken und dem größeren unteren blauen Teil, das
ganz unten in Grüntöne übergeht, unmittelbar als Meer mit Himmel auszumachen:
7
Sekiya Miyoshi: Jona. Hamburg (Wittig) 1978 (Tokyo 1977), 28 S.
258
4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch
Daneben findet sich links der einfache Satz: „Vor langer Zeit lebte ein
riesengroßer Fisch, der leuchtete in allen Farben des Regenbogens.“ Nun wissen wir,
dass einerseits die Farben des Regenbogens, wenn sie gebündelt werden, Weiß
ergeben, andererseits Blau traditionell die Farbe des Transzendenten, Unendlichen
und auch Unsichtbaren ist - in die Tiefe des Meeres vermag ja niemand zu blicken.
Kein Wunder mithin, dass wir auf dem ersten Bild diesen Riesenfisch nicht sehen,
und doch ahnen wir, dass er da ist.
Auch auf der zweiten Doppelseite sehen wir den Fisch noch nicht als Fisch, aber
immerhin bereits die Farben des Regenbogens, die nun in der Verbindung der
Elemente von Wasser und Luft zur lebendigen Erde als bewohntem Raum sichtbar
werden. Im Blickzentrum dieses Bildes erblicken wir oben auf einer Klippe liegend,
den Kopf zur Ruhe auf einen Arm gestützt, eine Gestalt, offensichtlich Jona. Dem
Bild nach zu urteilen hört und sieht er hier weniger, vielmehr vernimmt er, ganz
eingebunden ins Zentrum des sich entfaltenden Regenbogens, dessen Glanz, was im
Text ausgedeutet wird, er höre im Schlaf eine Stimme. Ganz selbst von diesem Glanz
erfüllt, strahlt er quasi hinaus auf das ihn umgebende Land und Meer. Dass er laut
biblischem Text den Auftrag erfahren hat, die Botschaft des Guten gegen das Böse
zu tragen, braucht durch zusätzlichen Text eigentlich nicht mehr erschlossen werden.
4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch
259
Eine solche Erfüllung aber führt nicht notwendig zur sofortigen Umsetzung. Es
kommen vielmehr Bedenken, Einwände und Angst, ja vielleicht gehören sie notwendig dazu, damit Handeln nicht
fremdgesteuert oder bloß aus einem
zufälligen
Impuls
entstanden
geschieht, sondern selbst verantwortet und begründet entschieden:
Miyoshi gestaltet das folgende Bild
in dunklen Tönen, die wie eine
Beklemmung auf den unten rechts
gebeugt fliehenden Jona eindrücken:
Jona flieht vor Gottes Auftrag, so die
biblische Überlieferung; - ist er der
Aufgabe wirklich gewachsen, oder
bricht er unter der Last zusammen?
Das erste Mal taucht der Fisch sichtbar im
nächsten Bild auf, das Jona schlafend auf
dem Schiff zeigt, auf dem er mitfährt, um ans
Ende der Welt zu kommen, ganz weit weg
von dem, was er gehört hat. Die weitere
Geschichte aus der Bibel dürfte bekannt sein:
Das Schiff gerät in einen Sturm, und Jona,
dem die Schuld daran gegeben wird, weil er
vor seinem Gott davongelaufen ist, wird ins
Meer geworfen.
Dort aber, mitten in der Tiefe des Wassers,
„wartete“ bereits, so der Text bei Miyoshi,
„der große Fisch mit offenem Maul. Mit
einem Schluck verschlang er Jona.“
Dieses Bild hat natürlich vielfältige Deutungen evoziert. Eine gibt die Bibel selbst,
die Jona psalmartig klagen lässt: „Aus der Tiefe der Unterwelt schrie ich um Hilfe …
Du hast mich in die Tiefe geworfen, in das Herz der Meere; mich umschlossen die
Fluten, all Deine Wellen und Wogen schlugen über mir zusammen … Das Wasser
reichte mir bis an die Kehle, die Urflut umschloss mich … Bis zu den Wurzeln der
Berge, tief in die Erde kam ich hinab; ihre Riegel schlossen mich ein für immer.“
Nicht nur eine bestimmte Lebensform, sondern die Existenz überhaupt ist hier in
Frage gestellt: Wenn wir Menschen dazu in der Lage sind, aus unserem biologischen
Daherleben heraus zu treten und so nicht nur da zu sein, sondern selbständig zu
260
4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch
ek-sistieren (wörtl: herauszutreten, nämlich ins Dasein)8, dann wird diese conditio
humana hier auf den Kopf gestellt: Mit den Abgründen der Elemente konfrontiert ist
das Leben über Jona zusammengebrochen, der Möglichkeit von Existenz ist im
wahrsten Sinne des Wortes der Boden entzogen. Die religiösen Überlieferungen
nennen häufig diese Metaphern existentieller Erschütterung, die uns scheinbar aus
den Angeln heben, aber so wiederum freilegen, was uns gleichwohl trägt: So ging es
Gautama Siddharta bei seiner Erleuchtung, durch diese Abgründe hindurch musste
Jesus in der Wüste, und mitten auf dem Meer drohte unterzugehen auch der Fischer
Simon. Doch wer das erfahren hat, hat sich selbst nicht verloren, sondern gewinnt
sich selbst, so Simon, der in seinem scheinbaren Untergang von Jesus erfahren darf,
dass er Petrus, ein Fels und damit Halt sein kann für andere.9 Und so auch Jona:
„…Du aber hörtest mein Rufen … Du holtest mich lebendig aus dem Grab herauf.“
Denn die Fluten, die Jona umschlossen, haben sich als die lebensspendenden und die
Existenz tragenden Wasser Gottes erwiesen. Auch Jona wendet sich mit neuem Mut
seiner zuvor abgewiesenen Aufgabe zu.
Für die existentielle Bedrohung im Bauch des Fisches hat Miyoshi in seinem Buch
kein Bild gefunden. Der Fisch in dem entscheidenden, die Geschichte wendenden
Mittelbild des Bilderbuchs ist durchweg freundlich, eher die Verbildlichung der
Energie, die Jona nun gestärkt kommenden Aufgaben entgegen sehen lässt. Wie
lustvoll solche Energie sein kann, bringt Miyoshi eindrucksvoll in das Folge-Bild, in
dem der Fisch Jona mit aller Farbenvielfalt des Regenbogens ausgestattet in einem
hohen Bogen an Land schleudert.
8
9
Diese Deutung des Existenzbegriffs hat am klarsten Martin Heidegger herausgestellt, wenn er in
den handschriftlichen Randbemerkungen zu seinem eigenen Exemplar von „Sein und Zeit“ zu dem
hervorgehobenen Satz „Das Dasein ist seine Erschlossenheit“ (Heidegger 1979, S.133) notiert:
„Dasein existiert und nur es; somit [ist] Existenz das Aus- und Hinaus-stehen in die Offenheit des
Da: Ek-sistenz.“ (Heidegger 1979, S.442).
Vgl. dazu meine Ausführungen in Kap. 4-2.
4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch
261
Welches Kind und welcher Erwachsene ist nicht gern in solcher, uns die Sinne
nehmenden wie zugleich sie ganz vereinnahmenden Weise schon einmal eine lange
Rutschbahn hinabgerutscht oder mit der Achterbahn gefahren?
Jona kommt nun, wie aus der biblischen Geschichte bekannt, seinem Auftrag nach,
geht nach Ninive und verkündet Gottes Gerechtigkeit. Die biblische Vorlage eröffnet
damit die Diskussion der schwierigen Frage, ob diese Gerechtigkeit Gnade für alle
bedeutet oder auch Strafgericht gegen die Bösen, bzw. ob es auch für die Bösen
Vergebung geben kann, obwohl damit das Böse nicht ungeschehen gemacht werden
kann. Im biblischen Kontext wird diese Diskussion nicht analytisch, sondern
subjektiv in den Reaktionen Jonas zur Sprache gebracht. Dies tut auch Miyoshi: Jona
predigt voller Energie, hat gleichwohl Angst vor den Reaktionen, fragt sich, ob es
Vergebung geben kann, läuft rot an vor Zorn über ausbleibende Vergeltung, doch bei
allem weiß er sich letztlich erfüllt vom Auftrag Gottes, der seine subjektiven
Reaktionen bestehen lässt wie auch zugleich relativiert: Der Fisch bleibt stets als
ausgleichendes Element im Horizont des Geschehens: Auch die gelbe Farbe des
Neids und die Röte des Zorns gehören wie zuvor das Grün der Energie zu den Farben
des Regenbogens.
Und so endet das Bilderbuch auch anders als die biblische Vorlage, nämlich wie es
begonnen hatte, mit dem Fisch: Die beiden Abschlussbilder mögen kritische
Betrachter kitschig finden, eines machen sie jedoch deutlich, den Versuch Miyoshis,
für die alles übersteigende Güte Gottes, die für uns Lebensgrundlage und Vielfalt des
Erlebens bedeutet, Bilder zu finden: Das vorletzte Bild zeigt den wieder nach Hause
zurückgekehrten Jona inmitten einer friedlichen Landschaft, friedlich, da nicht
eindimensional, sondern entfaltet zur Lebendigkeit aller Farben des Regenbogens,
die aber in einen Ordnungszusammenhang sich fügen: Stimmigkeit und
262
4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch
Lebensfreude sollen von diesem Bild ausgehen. Liegt hier der Akzent auf Einheit
und Harmonie, so verstärkt das letzte Bild den Aspekt der Differenz und Vielfalt:
Gegen eindimensionales Schwarz-Weiß-Denken plädiert es für das Bunte: Inmitten
des scheinbar eindimensional blauen Meeres, scheinbar getrennt durch den Horizont
vom farblosen Weiß des Himmels bekommt der große Fisch viele Kinder und
Kindeskinder in allen Farben des Regenbogens leuchtend.
Inwiefern nun kommt mit diesem Bilderbuch eine Antwort zur Darstellung auf die
Frage, was nicht nur ein religiöser, sondern ein gläubiger Mensch ist? Dazu sind die
im Nachvollzug des Buchs entwickelten Deutungen nur noch einmal kategorial für
sich auszusprechen:
• Auf einer ersten Ebene geht es um eine den alltäglichen Lebenslauf irritierende
Erfahrung; sie wird als Anspruch, Aufruf, Impuls zur Veränderung oder
zumindest zum Bedenken wahrgenommen.
• Die zweite Ebene ist die Auseinandersetzung mit diesem Anspruch. Natürlich
muss ich zunächst einmal mich dafür öffnen, um den Anspruch wahrnehmen zu
können. Dies geschieht in einer Öffnung der Sinne. Dann folgt das Fragen und
Hinterfragen, auch Infragestellen, das nicht selten, so wie hier bei Jona, eine
Erschütterung und das Gefühl existentiellen Verlusts bedeutet.
• In dieser Auseinandersetzung spüre ich dann aber, und das ist der entscheidende
Schritt, dass es nicht irgendetwas ist, von dem ich mich herausgefordert fühle und
mit dem ich mich auseinandersetze, sondern etwas, das mich in meiner Existenz
trägt. Nur scheinbar ist diese Erfahrung eine von Fremdbestimmung. In Wahrheit
merkt der gläubige Mensch in der elementaren Konfrontation mit seiner Existenz,
dass er sich diese nicht selbst gegeben hat, sich ihr aber gleichwohl je neu zu
stellen und sie je neu zu verantworten die Kraft hat; insofern erfährt der
Glaubende seine Existenz als Geschenk. Die Religionen nennen den Spender
dieses Geschenks Gott.
• Bei dieser Erfahrung bleibt es aber nicht als einem bloß punktuellen und
einmaligen Erleben. Vielmehr greift, da es sich ja um eine existentielle Erfahrung
handelt, diese Erfahrung über in die konkrete Lebensgestaltung. Auch dies erfolgt
nicht bruchlos, sondern in Freisetzung aller Gefühle, Entschlüsse, Bedenken,
Einsichten, also in ständiger Auseinandersetzung, nicht blindem Gehorsam.
• Daraus aber erwächst die Kraft, sich immer wieder neuen Lebenssituationen
stellen zu können wie auch die lebensentscheidenden Fragen nach Herkunft, Ziel
und Gerechtigkeit des Lebens angehen zu können.
4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch
263
Die eben genannten Ebenen gläubiger Religiosität haben wir aus der genauen
Betrachtung des Bilderbuchs erschlossen, mit der biblischen Bildergeschichte von
Jona im Hinterkopf. Diese Ebenen lassen sich in fast allen von den Religionen
dokumentierten Glaubens-Erfahrungen wiederfinden. So kann auch eine Formel zur
„Definition“ verständlich werden, die mir einleuchtend erscheint, weil sie die
genannten Dimensionen genau in Begriffe zu fassen versucht: Der
Religionswissenschaftler Gustav Mensching bestimmt
Religion „als erlebnishafte Begegnung mit heiliger Wirklichkeit und als
antwortendes Handeln des vom Heiligen existentiell bestimmten Menschen“. 10
3
Wer ist Gott?
Damit kann unsere Frage nun in eine dritte Richtung gewendet werden: Nachdem
wir erstens in Erfahrung gebracht haben, was die Religiosität des Menschen ist, und
zweitens was dann ein Mensch ist, der sich dieser Religiosität auch stellt, also seine
Existenz als glaubende erfährt, muss es nun drittens um die genauere Bezeichnung
dessen gehen, das ich als den meine Existenz tragenden Grund erfahren habe, also
um das, was wir Gott nennen. Das aber ist nur in zweierlei Hinsicht möglich:
Entweder frage ich nach dem, was hinter allem als alles tragender Grund steht, oder
ich frage nach dem, was sich in konkret erfahrbarer Wirklichkeit als das es in seiner
Besonderheit Prägende offenbart. Die erste Frage ist eine Frage, in der sich
Theologie und traditionelle Metaphysik verbinden, die zweite Frage vollzieht eine
Kehre weg von der Frage nach dem Sein als tragendem Grund des Seienden hin zu
einer Phänomenologie des konkreten Seienden selbst.
Auch für diese beiden komplizierten Fragestellungen gibt es Bilderbücher, mit denen
die Richtung dieser Fragen sich erspüren lässt, Hinter dem Hügel11 und Ein Stiefel
fiel vom Himmel12.
10
11
12
Mensching (1961); ausführlicher zur Erläuterung der in dieser „Definition“ enthaltenen Elemente
siehe oben imKap.1-3.
Shigeko Yano: Hinter dem Hügel. Dt.Text v. U.Wölfel. Düsseldorf (Patmos) 1985 (Tokyo 1977),
24 S.
Kåre Bluitgen/Chiara Carrer: Ein Stiefel fiel vom Himmel. Wuppertal (P.Hammer) 2001, 32 S.
264
3.1
4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch
Gott als tragender Grund meiner Existenz
Auf dem ersten Bild von Hinter dem Hügel steht ein Kind, uns den Rücken
zugewandt, am Horizont einer für uns sichtbaren Landschaft, einer hügeligen ganz in
Gelbtönen gehaltenen, Wärme ausstrahlenden, doch spezifisch nicht bestimmbaren
Landschaft. In der linken Hand hält es einen Wanderstab, wie Hirten ihn haben, und
blickt in die Ferne, die im Bild farblos bzw. weiß bleibt. Es sieht ganz offenkundig in
eine unserem Blick verborgene Landschaft (oder das Meer) hinter dem Hügel, und
dann werden wir durch den Satz überrascht „Was hinter dem Hügel ist, kann ich
nicht sehen.“
Das Bild bringt die Ambivalenz dieser Erfahrung besser zum Ausdruck als die
Sprache es zu tun vermag. Natürlich können wir auf einen Hügel laufen, und dann
sehen wir, was dahinter ist, werden es zumindest sehen können. Oder ich war schon
einmal dort, und darum weiß ich beispielsweise, und so fährt der auch der Text fort:
„Da ist eine Wiese.“ Die so erläuterte Erfahrung könnte man erkenntnistheoretisch
aufbereiten: Banalerweise weiß ich natürlich von nichts, was mir noch nicht vor die
Augen gekommen ist, nichts kann im Verstand sein, was nicht zuvor den Sinnen sich
gezeigt hat. Wenn ich aber dann doch von etwas weiß, was gleichwohl hinter dem
Sichtbaren meinem Blickfeld verborgen ist, dann wohl deshalb, weil ich die
Fähigkeit habe, Erfahrungen, die ich früher einmal gemacht habe, zu speichern und
mich später daran zu erinnern. Und so wäre der Satz auf der Ebene physischer
Wahrnehmung und psychischer Erinnerungsleistung völlig klar: „Was hinter dem
Hügel ist, kann ich nicht sehen. Aber ich weiß doch, ich weiß: Da ist eine Wiese.“
Die Ambivalenz dieser Erfahrung bleibt ihrer kognitionstheoretischen
Differenzierung vorbehalten, doch auch ihre sprachliche Gestalt deutet immerhin an,
dass das nicht alles ist: „…ich weiß doch, ich weiß…“ repetiert der Text
4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch
265
bedeutungsschwanger, - Wissen hat auf unterschiedlichen Ebenen seine Basis, nicht
nur auf der der sinnlichen Wahrnehmung des physisch vor uns Liegenden. Worin
aber dieses Mehr des Wissens liegt, darüber erfahren wir durch den Text nichts
weiter.
Mehr aber „sagt“ hier das Bild:
• Auf der ersten Ebene der unmittelbaren Betrachtung wird unser Blick ganz in das
Bild mit seiner weiten gelben Fläche hinein und zugleich über diese Fläche
hinausgetragen, in jenen Horizont, der hinter dem durch die Trennung des gelben
Hügels und des weißen Himmels angedeuteten optisch-geografischen Horizont
verläuft.
• Auf einer zweiten Ebene können wir genauer beobachten: Zunächst fällt die große
gelbe Fläche auf, die sich ganz durch den Mittelteil des Bildes zieht. Es ist ein
warmer Gelbton, der durch seine rotbraune Färbung und die kleinen Einsprengsel
in grünlichen Tönen gleich an eine Wiese oder ein Feld denken lässt. Als
Landschaft, Erde, auf der wir stehen können, gibt diese Fläche dem Bild und damit
uns als Betrachtern Halt. Im unteren Teil wird das Gelb heller und stärker mit den
grünlichen Partikeln durchsetzt und läuft in der Mitte aus dem Bild heraus. An
dieser Stelle scheinen wir als Betrachter zu stehen und werden so vom helleren
Teil durch den größten dunkleren in der Mitte des Bildes nach oben zum höchsten
Punkt der gelben Fläche hingezogen. Das Bild wird im unteren Teil rechts und
links begrenzt durch sehr helle, fast weiße Flächen; sie sind nicht weiter
strukturiert, und so wird der Blick ins Bild hinein deutlich von der unteren Mitte
her gelenkt. Oben aber am Horizont der gelben Fläche geht diese relativ schnell in
ein schmales, sehr helles und gleichwohl intensives Gelb über, das sich bruchlos in
das Weiß des oberen Teils verliert. Der Horizont, der so markiert wird, ist insofern
nicht scharf, sondern als Übergang gezeichnet, wodurch der Effekt, den Blick in
jenes nicht mehr als Etwas auszumachende Weiß zu wenden, verstärkt wird.
• Wenn wir als Betrachter unseren Blick in der Mitte des Bildes, genauer ganz im
rechten Teil der linken Bildhälfte in den Horizont richten, steht das Kind, die
Hauptperson des Bildes wie des ganzen Buches, quasi rechts neben uns. Neben
ihm blicken wir mit ihm hinter den Hügel. Dieses Kind nun ist einerseits wie wir
noch ganz der diesseitigen Welt verbunden, andererseits ebenso sehr schon in die
jenseitige Welt aufgenommen. Warum? Seine Füße können wir eigentlich nicht
sehen, sie sind wie verwurzelt ganz in den kaum kniehohen Gräsern auf dem
Hügel verborgen. Aber auch das uns Sichtbare des Kindes sehen wir eigentlich nur
schemenhaft, und doch entdecken wir beim genauen Hinsehen mehr: Das Kind
scheint nämlich nicht mehr zu stehen, sondern sich bereits in den Horizont
hineinzubewegen, vom Kamm des Hügels zur anderen Seite hinabzusteigen: Das
266
4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch
rechte Füßchen scheint leicht nach vorn gewandt, jedenfalls suggeriert dies die an
dieser Stelle leicht nach rechts oben verlaufende Grasnarbe. Und der linke Arm ist
physiologisch ganz entsprechend nach links vorne gewandt, so als ob der
Wanderstab schon einen ersten Schritt hinab getan hätte; jedenfalls ahnen wir hier
genau die nach rechts hinten leicht zurückgeschwungene rechte Hand. Und dann
hat das Kind einen blauen Kittel an. Von der blauen Farbe wissen wir, dass sie ein
Symbol der Weite und Unendlichkeit ist, aber mit diesem Bild bringen wir auch
sinnlich in Erfahrung, dass es vor allem dieses Blau ist, das unsere
Aufmerksamkeit hinter den Horizont zieht.
• Und schließlich sehen wir im oberen Teil das Weiß des Himmels. Kein Himmel ist
natürlich real so weiß, selbst wenn wir Nebel haben. Nebel anzunehmen, dazu
bietet aber die Stimmung des Bildes keinen Anlass. Vielmehr steht das Weiß wohl
dafür, dass etwas sichtbar ist, ohne dass wir dies in dem, was es ist, genauer sehen
können, ohne dass wir sagen oder gar bezeichnen zu können, was dieses Etwas ist.
Da ist schlicht etwas. Und dieses Etwas bestimmt das ganze Bild in dem, was es ist
in seinen Details; denn ohne das Weiß des Himmels sähen wir gar nichts von den
auf der Diesseite des Bildes uns zugänglichen Dingen.
Dieser Bildbefund birgt schon Richtungen seiner Deutung. Sie lassen sich in unsrem
Kontext der Frage nach Gott kennzeichnen mit den drei Begriffen Metaphysik,
Transzendenz und Negative Theologie:
(1) Die erste in unserer genaueren Beobachtung festgestellte Ebene ist die der
Metaphysik: Hinter oder auch jenseits des vor uns Liegenden, der sichtbaren
gelben Fläche oder des begehbaren Hügels wissen wir um etwas, das nicht mehr
physisch-materiell sichtbar ist. Der sichtbare Horizont zwischen dem gelben
Hügel und dem weißen Himmel ist der Vordergrund einer nicht mehr sichtbaren
Grenze zwischen dem sinnlich vor uns Liegenden und dem dahinter, hinter
(griech. „meta“) dem sinnlich Fassbaren (griech. “physika“) sich verbergenden,
dessen Vorhandensein uns durch den sichtbaren Horizont gleichwohl intuitiv
klar ist.
(2) Auf einer zweiten Ebene werden wir mit den Schäferkind über die Kammgrenze
hinausgezogen in jene jenseitige Welt. Wir über-schreiten, „trans-zendieren“
(lat.), das vor uns Liegende, Diesseitige, auf etwas nicht mehr konkret
Begehbares und Sichtbares hin, einen jenseitigen „Raum“ der Transzendenz.
(3) Dieses dem unmittelbaren Zugriff entzogene und verborgene Jenseitige ist aber
nicht einfach eine Anderwelt, über die wir wie über die diesseitige TatsachenWelt definierende und sie als ein Etwas artikulierende Aussagen machen können.
Sondern nur negativ können wir im Sagen, dass dies nicht eine als Etwas, nicht
4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch
267
eine als Tatsache zu bezeichnende Welt ist, Aussagen machen. Solche Aussagen
bezeichnen durchaus etwas, aber etwas, das dadurch charakterisiert ist, dass es
sich nicht in sprachlich fixierbare, weil Tatsachen beschreibende Ausdrücke
fassen lässt. Ein philosophischer Ausdruck zur Bezeichnung eines solchen Etwas
ist „Nichtseiendes“. Und der theologische Ausdruck dafür ist nur scheinbar
positiver, ist bei Lichte besehen aber auch lediglich eine Chiffre für etwas, was
eben nicht sich benennen lassen kann, nämlich „Gott“.
Auf dieser Ebene versucht Yano das Bilderbuch weiter zu gestalten: Die vorsichtigen
Aquarelltöne mögen Ausdruck sein für die Vorsicht, das in den Bildern
„Gezeichnete“ mit der Bezeichnung zugleich wieder aufzuheben, nur als Beispiel für
eine auch anders mögliche Erfahrung anzusehen. Die Schafe auf der dritten
Doppelseite mögen noch deutlich als Schafe auszumachen sein. Die Sterne einige
Seiten später sind es nicht mehr so klar: An einigen Stellen verschwimmt der
optische Eindruck von einem gelben Fleck, der als Stern auszumachen wäre, in eine
nur noch gelblich schimmernden Tönung, die das Blau des Himmels färbt. Und auch
die Blätter der Bäume sind wie durchsichtig gezeichnet: Verschwommen „sehen“ wir
zugleich in sie hinein, in ihren feinen Gliederungen erkennen wir Lebenselemente.
Und das Bild von der untergegangenen Sonne am Ende des Buchs liefert auch nur
den „farbigen Abglanz“ des Lichts (Goethe), den die Atmosphäre uns widerspiegelt
von der hinter dem Horizont am Abend bereits verschwundenen Sonne, von der wir
aber gerade durch ihr Verschwundensein vielleicht klarer wissen, dass sie da ist, als
wenn sie noch „am Himmel“ stünde, weil wir dann nie genau in sie hineinsehen
könnten, ohne zu erblinden.
268
4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch
Manche Betrachter halten das letzte Bild des Buchs, das das Kind mit seinen
Eltern grau, fast als Schatten, von hinten zeigt, und seinen Text für überflüssig:
„Alles kommt her von Gott, und Gott ist überall. Aber ich sehe ihn nicht. Ich weiß
nur, ich weiß: Er ist da.“ Überflüssig scheint mir dieser Text in der Tat, wenn er nur
aufschriebe, was durch die Bild-Erfahrung vorher sehr viel offener und zugleich
klarer hat erfasst werden können. Aber im Muster der vorangegangenen Sätze leistet
vielleicht auch dieser Satz etwas anderes als eine „Erklärung“; möglicherweise gibt er
eine gut geeignete Antwort auf die ja
immerhin berechtigte Kinderfrage, doch
einmal zu sagen, wer oder was Gott ist,
von dem die Religionen ja ständig reden.
Im Muster der vorangegangenen Sätze
verdeutlicht dieses Ende, dass auch für
„Gott“ gilt, dass er/sie kein eindeutig zu
fassendes Etwas ist, das wir als klare und
distinkte sinnliche Erfahrung ausmachen
könnten. Aber wir können „Gott“
ausmachen im Erfassen der Durchsichtigkeit von jedem als „etwas“ zu
Bezeichnendem.
Mit Kindern kann das Buch insgesamt leicht erschlossen werden als Bild-Meditation
oder auch als Traumreise unter Hören des Textes mit geschlossenen Augen. Denn
seine „Botschaft“ ist nicht das Erfassen der begrifflichen Hintergründe, deren
Benennung, wie wir sie vorgenommen haben, für uns Erwachsene die Erschließung
dieses Buchs erleichtern sollten, sondern um das unmittelbare Erfassen einer
Stimmung, einer Erfahrung, die den Nährboden bieten kann, auf dem später solche
Erfahrungen begrifflich gefasst werden können.
3.2
Gott als Alltagserfahrung
Die letzte Ebene unser Auseinandersetzung mit der Gottesfrage, die Thematisierung
Gottes durch eine genaue und darum tiefgründige Phänomenologie des konkret vor
uns liegenden Seienden, ist die Kehrseite der eben geleisteten Auseinandersetzung.
Lautete eben die Frage, wie wir über das Diesseits konkreter Erfahrungen
hinausgelangen können zu einem Jenseits, das sich als tragender Grund des Diesseits
erweist, fragen wir nun, ob und wie sich ein solcher unsere Wirklichkeit tragender
Grund auch konkret in der Wirklichkeit des So-Seienden zeigt. Religiös ist das die
Frage, wie Gott im Alltag zu erfahren sei.
4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch
269
Nun leben wir, sagen Soziologen, in einer patchwork-Gesellschaft.13 Die
ermöglicht nicht nur Pluralität, sondern führt immer mehr auch zu einem
Auseinanderlaufen der vielfältigen Ebenen von Wirklichkeit, zu Diversifikation.
Diversifiziert, so meinen Religionssoziologen, stellt sich in modernen Gesellschaften
auch Religion dar: Wir leben nicht nur im Kontext vieler unterschiedlicher
Religionen, sondern die Menschen „nutzen“ die Traditionen und Angebote der
einzelnen Religionen auch durcheinander. So bedeutet Protestant zu sein heute
keineswegs, nicht auch ganz selbstverständlich an einer katholischen
Osternachtsfeier teilzunehmen, einen Kurs für buddhistische Zen-Meditation zu
belegen, mit indianischer Naturverehrung zu sympathisieren oder den Hindu
Mahatma Gandhi als persönliches Vorbild für sich anzusehen. Ja, vielleicht gehört es
heute auch zu möglichen Formen, seine Religiosität zu leben (wenngleich dies i.d.R.
eher nicht bewusst geschieht), in ein Eisstadion zu gehen und Wunderkerzen
anzuzünden und in Fan-Gesänge einzustimmen oder ein Auto mit einem Stern über
die Straßen zu bewegen und ihm einen kleinen Tempel in Form der Garage zu
weihen, oder auch den ritualisierten Konsum der täglichen Tagesschau, der QuizSendung, der vorabendlichen Soap-Reihe, des Abendkrimis, der Live-Sendung wie
die religiöse Liturgie zu einer heiligen Feierstunde zu stilisieren.
Mit einem patchwork, mit unterschiedlichen Feldern auf die ganze Seite verteilt,
beginnt und endet auch das letzte in unserem Rahmen vorzustellende Bilderbuch Ein
Stiefel fiel vom Himmel. Die Geschichte ist schnell erzählt: In Bewunderung seines
Regenbogens verliert Gott, auf einer Wolke sitzend, einen seiner Stiefel. Er begibt
sich auf die Erde, um ihn wiederzufinden, fragt den Parkwächter, den vorbeieilenden
Geschäftsmann, den Pfarrer, das Fundbüro, den Schuhladen. Doch alles ist umsonst.
13
Vgl. dazu meine Ausführungen oben Kap.1-1.
270
4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch
Bei einer Militärparade wird er als verrückter Landstreicher von der Polizei in
Gewahrsam genommen, über dessen Verrücktheit sie jedoch so zu lachen anfangen,
dass sie vergessen, die Gefängnistür zu verschließen. So kann Gott sich in der Nacht
davonschleichen. Am frühen Morgen trifft er einen kleinen Jungen beim Angeln,
einer zeitaufwändigen Beschäftigung; und weil er sich so viel Zeit nehmen kann, hat
er tatsächlich auch den Stiefel Gottes gefunden und lässt sich darauf ein, Gottes
Geschichte zu hören.
Theologisch bewanderte Leser können in dieser Geschichte eine ganze
Christologie entdecken: Auch für Jesus ist überliefert, dass er zwar nicht der Stiefel,
aber der Sohn Gottes ist, etwas, das Gott „schon seit Ewigkeiten“ hat und sehr liebt.
Und geboren wird auch dieser Jesus unter Umständen, wo ihn zunächst keiner
vermutet und niemand ihn findet. Sogar vom Schuhe-Binden ist bei diesem Jesus die
Rede. Offenkundiger ist die Parallele, dass auch er, wie der Gott unseres Buchs, sich
auf alle Alltäglichkeiten einlässt und dabei Probleme bekommt: Jesus darf am Sabbat
nicht aufs Weizenfeld, Gott im Buch nicht auf den Rasen des Parks. Das Heil sucht
Jesus bei den Armen und Aussätzigen, Gott sucht seinen Stiefel im Müll. Hören will
keiner so recht auf Gott, selbst die Pharisäer und Schriftgelehrten haben eher
vorgefertigte Meinungen, setzen sich aber nicht auseinander, ebenso wenig wie viele
Menschen, die eher aus Konvention nach Jerusalem kommen denn aus innerer
Überzeugung; und ebenso trifft Gott im Buch kurz vor dem Sonntag nur ein
Fundbüro mit vergessenen Sachen oder das Schuhgeschäft mit Devotionalien; nur
eine kleine Verkäuferin hat ein wenig Mitleid mit Gottes geschundenen Füßen und
schlägt eine Behandlung vor, ebenso wie jene Sünderin, die Jesus mit ihrem Haar die
Füße salbt. Und sogar um einen König geht es, der hoch leben soll; diese Szene
kennen wir von Jesu Einzug nach Jerusalem. Als König aber hat Gott in der Welt
nichts verloren und wird eingesperrt, wie auch Jesus, der als König der Juden eher
Spott als Ärger auslöst. Im Gefängnis wird Gott dann sogar gequält, jedenfalls in den
Bildern, wie auch Jesus. Und doch kann er eigentümlich geheimnisvoll fliehen, unter
Zurücklassung nur von „wunderlichen Fußspuren“; Gott ist einfach aufgestanden und
gegangen. Und in dieser neuerlichen (auferstandenen?) Daseinsweise trifft er keinen
anderen als einen Fischer, so wie es die ersten Jünger Jesu auch waren. Und der
allein hat Zeit, die Geschichte zu hören, so viel Zeit, dass er sie auch wird
weitererzählen können.
Das Interessante an diesem Buch ist aber nicht nur die hier kurz skizzierte, einige
vielleicht verstörende Aktualisierung der Gottesgeschichte, sondern auch die Bilder,
denen auf den ersten Blick gar nichts Religiöses eigen zu sein scheint, die aber
immer wieder mit kleinen religiösen Anspielungen arbeiten, eben auf der Ebene
irgendwie patchworkartig bekannter religiöser Versatzstücke. So sehen wir Gott als
Mann mit weißem Rauschebart, oder wir erkennen den immer wieder kehrenden
4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch
271
Finger Gottes aus Michelangelos berühmtem Sixtinischem Erschaffungs-Fresko. Das
Wichtigste und auch für Kinder Lesbare dieser Bilder aber scheint mir zu sein, dass
sie durch ihren Collagen- oder Patchwork-Charakter beim Betrachter überall
Anregungen zum Nachfragen und Weitererzählen freisetzen.
Das geschieht auf zwei Ebenen: Auf einer ersten Ebene sind alle Bilder bereits als
Bildergeschichten gestaltet, mehrere Szenen oder auch Perspektiven oder auch
Bezugsebenen sind zugleich dargestellt. Das ist aber nicht nur irgendein auf alle
möglichen Themen anwendbares Gestaltungsprinzip, sondern ein besonders auf
unser Thema bezogenes: Gleich das erste Gott auf der Erde zeigende Bild stellt uns
Gott vor als in eine Geschichte eingebundene Person:
Über den Text hinaus wird auf dem oberen Rand die „Geschichte“ vom Verlust
des Stiefels noch einmal erzählt, und zwar einerseits von Gott selbst, indem er mit
seinem linken Zeigefinger auf diese Bilderkette hinweist und andererseits durch die
Bilderkette selbst, in der (wohl durch Menschen) diese Geschichte in Bilder gefasst
worden ist. „Was bedeutet das?“ – so lassen die Bilder unwillkürlich ihre Betrachter
fragen und fordern sie damit ihrerseits zu einem Nacherzählen auf. Das ist mehr als
ein didaktisches Element, das gibt Einblick in das von uns gesuchte Verständnis von
Religion im Alltag: Zunächst wird die vorhin angesprochene Problematik der
Illustration von Geschichten aus der religiösen Tradition hier zugleich aufgenommen
wie hinterfragt. Die einzelnen Bilder bezeichnen einerseits etwas, was auf ihnen zu
sehen ist, den Regenbogen, die Wolke, das Hinabgleiten des Stiefels, aber auch
stärker abstrakte Bilder wie den Finger Gottes, das Frage- und das Ausrufezeichen.
Mit der Erläuterung dieser Bezeichnung ist aber noch nicht alles, ja das Wesentliche
noch nicht gesagt. Denn einen Sinn gewinnen die Bilder erst, indem jemand sie – so
eine zweite Dimension - als Geschichte auch einem anderen erzählt, also dadurch,
dass etwas erst ist, was es ist, indem es zugleich vermittelt wird. Und darin, dies ist
272
4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch
eine dritte Dimension, mag dann deutlich werden, dass hier etwas erzählt wird, das
nicht allein Wort oder Bild des Autors ist, sondern das eine göttliche Botschaft zu
tragen vermag: Religiöse Bilder und Worte beanspruchen stets einen Zuspruch und
Anspruch zum Ausdruck zu bringen, der zwar in der Gestalt menschlich fixierter
Bilder oder Worte daherkommt, das menschlich Sagbare aber zugleich übersteigt,
indem es einen Sinn erst gewinnt, wenn ich als Leser oder Hörer mich darauf auch
einlasse in einer meine Existenz herausfordernden Art. Soweit zur ersten Ebene der
Bildgestaltung.
Auf einer ganz anderen Ebene spielt das Bild, in dessen Rahmen auch diese
Bilderkette eingebettet ist, die Auseinandersetzung zwischen Gott und dem
Parkwächter im Park, den Gott unerlaubterweise betreten hat. Auf den Parkinseln
finden sich nur Bäume, Sträucher, ein Ententeich, auf den Bäumen auch Vögel; nur
Gott hat es sich bequem gemacht auf einem Stück Parkfläche, alle anderen Menschen
bleiben ordnungsgemäß auf den Wegen oder sandigen Flächen. Und dabei steht doch
dabei „public park“, öffentlich für wen? Und was heißt das, dass dafür Regeln und
Schilder aufgestellt werden? Ordnungen gelten wohl nicht ohne Grund, aber warum
gibt es überhaupt Ordnungen, ja selbst einfach wie die Zahlenordnung? Damit ist die
zweite Ebene der Bildgestaltung angesprochen: Ständig provozieren die Bilder zur
Frage nach der Ordnung von allem über den Sinn von Regeln und Ordnungen über
die geordnete Alltagswelt hin zur Ordnung von Zahlen, von Abläufen hin zur
Ordnung aller Ordnung und des Lebens, also dem Prinzip von Ordnung überhaupt.
Verwirrend und zunächst ohne
Deutungsmöglichkeiten präsentieren
sich vor allem die vielen Zahlen, die
z.T. ordnend, z.T. messend, z.T.
aufzählend und summierend sich
durch die einzelnen Bilder ziehen.
Zahlenfrei sind nur die ersten beiden
Bilder vor Gottes Erdengang; auf
dem letzten ist Gott am rechten
Ärmel nur noch ein kleiner
Zahlenzettel haften geblieben.
Zahlen sind wie Buchstaben Möglichkeiten, die Welt als Ordnung zu verstehen
und als Ablauf, in dem wir eine Rolle spielen können. Wer sich mit Zahlen,
Buchstaben, Summen und Sätzen auseinandersetzt, reflektiert somit auf unser
Menschsein als geschichtliches, das meint als ein in ein Geschehen eingewobenes
Sein. Geschehen als Ordnung und Ablauf zu verstehen, unterstellt ihm aber einen
Sinn. Und dieser Sinn ist auch die Voraussetzung dafür, dass wir uns auf
Vergangenes und auf Künftiges beziehen können als etwas, wodurch unser Hier und
4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch
273
Jetzt Sinn, was wörtlich meint eine Ausrichtung, gewinnen kann. Und dies ist
Voraussetzung dafür, dass wir in das Hier und Jetzt gestaltend eingreifen können,
weil es stets auch anders sein könnte als es sich uns im Augenblick darstellt. Und
dies ist wiederum der Hintergrund dafür, dass wir uns Geschichten erzählen können:
Und eben dazu gibt das Buch Anregungen, nicht nur durch die Schluss-Seite, auf
der erzählt wird von der Zeit, die Gott sich endlich nehmen kann, seine Geschichte
zu erzählen, sondern vor allem durch die Bilder, die den tieferen Sinn dieses
Schlusses einholen: Wer sich Zeit nehmen kann, Geschichten zu erzählen und ihnen
zuzuhören, und eben dazu fordern die Bilder des Buchs auf, der bekommt ein Gefühl
und allmählich vielleicht auch einen Begriff davon vermittelt, dass wir Zeit zu
gestalten in der Lage sind und so Geschichte machen können. Zu sprengen wäre in
dieser Perspektive das bloße Nebeneinander von Ereignissen, Dingen, Menschen,
Verhältnissen, die Menschen ihrerseits auf bloße Nummern oder Objekte zu
reduzieren drohen:
Einzelereignisse können, geschichtsphilosophisch gesehen, mit dieser Perspektive,
erzählt zu werden, in ihrer Besonderheit festgehalten werden, gewinnen einen Wert
274
4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch
als Besonderheiten in dem Sinne, „im kleinen die Maße des bloß Seienden zu
sprengen“ und sie insofern „vom Standpunkt der Erlösung“ aus zu sehen (Adorno).14
Was hat nun diese Einsicht mit Religion zu tun? Nun, in der Tat sind wir eben
deshalb, weil wir dies tun können, religiös. Denn eine Geschichte erzählen bedeutet
eben, eine Macht aufbieten zu können gegen das Realitätsprinzip, dass alles so sei
wie es ist, eine Macht, von der her das Hier und Jetzt einen Sinn gewinnen kann, sei
es zur Bestätigung, sei es, um es zu verändern auf ein besseres Leben hin. Zumindest
die abendländischen sog. Offenbarungsreligionen haben ihre Pointe eben darin, das
Leben zu reflektieren auf eine andere, in ihm sich dauernd geltend machende, es aber
gleichwohl auch transzendierende Dimension hin, die wiederum zu weltveränderndem oder zumindest -gestaltendem Leben führt.
14
Vgl. Theodor W. Adorno: Die Aktualität der Philosophie [1931], in: Ges.Schriften, Bd.1,
Frankfurt 1973, S. 344; sowie der berühmte Schluss-Aphorismus 153 aus Adorno: Minima
Moralia [1951].
Kapitel
4-2
„…hinaus in die Tiefe…“
Eine Skizze erfahrungsdimensionierter
Bibelerkundung 1
Wie ist es möglich, mit der biblischen Botschaft so vertraut zu werden, dass einerseits
der oberflächliche Verlauf einer „Geschichte“ zur Kenntnis genommen wird, andererseits zugleich Wege ihrer Deutung freigesetzt werden, konkreter, dass der tiefere
Sinngehalt wie auch die äußere Bedeutung2 eines biblisch überlieferten Geschehens
zugleich wahrgenommen, ja auseinander erschlossen werden können?
Die Frage ist komplizierter und auch schwieriger zu beantworten, als es auf den
ersten Blick klingt. Fakt ist, dass einige Religionslehrerinnen und -lehrer und auch
manche Religionspädagogen3 meinen, beide Zugänge würden sich gegenseitig
ausschließen und könnten zumindest für Kinder nicht miteinander vermittelt werden.
Denn, so ließe sich vordergründig einsichtig argumentieren, konfrontiere ich die
Kinder damit, dass ja alles „in Wirklichkeit“ gar nicht so gemeint sei, wie wir es in
der Bibel lesen, sondern einen ganz anderen Sinn habe, nehme ich sie mit ihrem
unmittelbaren und naiven Zugang zu den Texten und ihren Bildern nicht ernst.
Vermittle ich ihnen andererseits biblische Geschehnisse als historische Fakten, setzte
ich sie der Gefahr aus, einen Aberglauben aufzubauen, der dann später dazu führt,
dass „das“ ja alles gar nicht wahr sei (weil die Tatsachen der Wirklichkeit eben
anders aussehen), oder aber einen Fundamentalismus auszubilden, dass es eben ent1
Dieses Kapitel ist für diese Arbeit neu geschrieben worden, geht aber zurück auf eine mehrfach von
mir im Religionsunterricht der Klasse 11 durchgeführte Unterrichtseinheit und entsprechende
Notizen zur Unterrichtsvorbereitung. Sie wurden hier für die Abschnitte 1 und 2 ausführlicher
entfaltet. Der abschließende Abschnitt 4, der diese Einheit in einen Entwurf für die gesamte
Jahrgangsstufe 11 einbindet, geht zurück auf ein schriftliches Konzept aus dem Jahr 1996, das hier
gestrafft wiedergegeben wird.
2
Die Begriffe „Sinn“ und „Bedeutung” werden hier bewusst benutzt im Sinne der Fregeschen
Unterscheidung, wonach die „Bedeutung“ den mit einem Ausdruck gemeinten Gegenstand, sein
Referenzobjekt meint, „Sinn“ hingegen die Konnotation, also das, was dieser Gegenstand für mich
meint (Frege 1892). Dass dieser Unterscheidung keine akademische ist, sondern für das
Verständnis religiöser Sprache eine elementare Voraussetzung auf den Begriff bringt, das wird
genauer im Kapitel 2-2 erläutert.
3
Für Ethik-Lehrkräfte und Philosophie-Didaktiker gilt dieser Verdacht natürlich nur eingeschränkt,
weil hier kaum längere Erfahrungen vorliegen. Die Anforderung, Texte und Geschichten differenziert lesen, erschließen und deuten zu können, gilt freilich für den Ethik- und Religionsunterricht in
gleichem Maße und dürfte hier wie dort keineswegs selbstverständlich vorauszusetzen sein.
4-2 „…hinaus in die Tiefe…“
277
gegen der normalerweise faktisch verlaufenden Wirklichkeit ab und zu eine andere
Wirklichkeit gäbe, die quasi die Naturgesetze außer Kraft setzend zuweilen in die
normale Wirklichkeit einbreche.
Eine Möglichkeit zur Lösung wäre es, entwicklungspsychologisch untermauert die
Ansicht zu vertreten, eine solche Schizoidität sei nicht so schlimm, weil wir alle uns
durch verschiedene Stadien des Verhältnisses zu Wirklichkeiten hindurch allmählich
zu einem erwachsenen Verhältnis erst empor bilden würden. Und deshalb seien
bestimmte animistische oder fabulierende oder naive Stadien durchaus als solche zu
akzeptieren und für jüngere Kinder beizubehalten.4 Später würde dies dann ganz
natürlich durch einen sachangemessenen Zugang abgelöst. Doch mit dieser Lösung
ist das Problem wahrlich nicht gelöst. Denn in welchem Verhältnis sieht dann das
erwachsene Bewusstsein beide Ebenen, die der äußeren Bedeutung und die des
inneren Sinns zueinander? Bleibt es bei zwei Welten, oder wird eine von ihnen ins
Recht gesetzt, die andere dagegen als unrichtig zurückgewiesen? Und wie steht es um
das angeblich bloß fabulierende Stadium von Kindern; hat denn das gar keinen Inhalt,
ist denn damit gar kein Sinn gemeint? Allgemein formuliert ist auf dieser Grundlage
nicht zu beantworten, wie eine Person, die als Person doch immer dieselbe bleibt,
Einheit auch zwischen verschiedenen Stufen des Bewusstseins soll stiften können, es
sei denn, Stufen der Vergangenheit würden tatsächlich als im Nachhinein „falsch“
markiert.5
Gibt es also eine Möglichkeit der Verbindung beider Ebenen in einem einheitlichen
und doch klar differenzierbaren Zugang? Ich glaube ja. Und ich will dies exemplarisch verdeutlichen durch ein über mehrere Jahre für die Klasse 11 erprobtes Modell
der Verbindung von Bibelkunde und Sinnorientierung.6 Entsprechende Rückschlüsse
4
Diese Bemerkungen beziehen sich (polemisch) auf Aussagen insbesondere der Piaget-Schule, etwa
Piaget (1926). Ebenso nehme ich damit deutlich Partei für eine Pädagogik der sog „Zweiten“
Naivität, wie sie etwa Halbfas vertritt, gegen die These des Beibehaltens einer sog. „Ersten“
Naivität bei Grundschulkindern, wie sie am deutlichsten von Bucher gegen Halbfas behauptet wird
(Bucher 1989 sowie 1990). – Durch meine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Ansatz von
Halbfas (Petermann 1992) habe ich selbst in diese Diskussion eingegriffen, was zu einer heftigen
Entgegnung, namentlich durch Bucher (1992b) führte. - Zur Weiterentwicklung meines
Verständnisses von „Zweiter Naivität“ vgl. den Abschnitt 2 des Kapitels 3.
5
Ganz ausdrücklich äußert diese Kritik Halbfas z.B. im Lehrerhandbuch 3 seines Unterrichtswerks
(Halbfas 1983ff), S. 202, wenn er meint, meiner Meinung und auch religionsunterrichtlicher
Erfahrung nach völlig zu Recht: „Doch dürften die von den meisten Religionspädagogen und
Lehrplänen für das 7. bis 9. Schuljahr angesetzten Bibellektionen auf kognitiven Treibsand gesetzt
werde, wenn nicht vom ersten Schuljahr an diese breit angelegte und intuitiv indendierte
Propädeutik [sc. intuitiver, „stark auf erzählerische, bildliche und symbolische Möglichkeiten“
setzende Bibelkunde] stattfindet.“
6
Sowohl evangelischerseits wie katholischerseits sehen die Bildungspläne in Baden-Württemberg
als Themen für die Klasse 11 seit langen Jahren eine Einführung in den sachgerechten Umgang mit
der Bibel zum einen und eine Auseinandersetzung mit der Frage nach Sinn und gelingendem Leben
zum anderen vor. Schon früh in meiner religionsunterrichtlichen Tätigkeit hatte ich die Idee, beide
278
4-2 „…hinaus in die Tiefe…“
für jüngere Kinder liegen dabei auf der Hand, können aber nur hier indirekt
angedeutet werden. In einem ersten Punkt (1) wird durch einen sog. präsentativen
Zugang ein Bild zur Berufung der ersten Jünger gedeutet. Dem folgt (2) eine
Erschließung der biblischen Bezugstexte. Sie wird (3) wieder zurückgebunden an das
Impuls-Bild, das damit eine auch theologische Bedeutung gewinnt. Aus diesem
Verfahren sind schließlich Konsequenzen für meine These zu ziehen (4), d.h. diese
Deutung wird als Beleg ausgewertet dafür, dass es einen die äußere Bedeutungsebene
wie zugleich die innere Sinnebene einschließenden Zugang zu religiösen Traditionsgütern gibt. Ein abschließender Punkt (5) schließlich verweist kurz auf die
schulischen Rahmenbedingungen, in deren Kontext die Idee entstanden ist.
1
Duccios Berufungsbild
Zunächst betrachten wir ein abgedrucktes Bild von Duccio di Buoninsegna.7 Dieser
präsentative Einstieg hat nicht den Sinn einer nur vorläufigen Hinführung zum
Thema, sondern bietet uns bereits in sich die ganze Komplexität des Themas an:
Sachkundlich führt dieses Bild ins Zentrum des zur Auseinandersetzung stehenden
Unterrichtsgegenstands, als ästhetischer Reiz spricht es den Betrachter auf der Ebene
des Affektiven an, die unmittelbarer die existentielle Aussage zu verdeutlichen
vermag, und durch seine diffizile Komposition bietet es zugleich eine hervorragende
Folie zur Reflexion und Diskussion der Sache.8
Für den Einsatz im Unterricht empfiehlt es sich, die nebenstehende Abbildung als
Folie zu reproduzieren. Für die Erschließung empfehle ich einen vierfachen Zugang9:
Themen nicht, wie oft üblich, getrennt voneinander zu verhandeln, sondern miteinander zu
vernetzen. Zur Erläuterung dieser Idee vgl. den Abschnitt 5 dieses Kapitels.
7
Duccio di Buoninsegna: Christus beruft die Apostel Petrus und Andreas. 43,5x46 cm, Bild „d“ der
Predella der Rückseite der „Maestà“ des Duccio für dem Dom von Siena (vor 1311), heute
Washington, National Gallery of Art; hier aus: C. Jannella: Duccio di Buoninsegna. Firenze: Scala
1991, Abb.43, S. 38.
8
Zur genaueren Begründung des Präsentativen vgl. die Erläuterungen zur zweite Ebene von
Erfahrung als sinnlicher Erfahrung im Abschnitt (2) der Einleitung (S. 36ff).
9
Das folgende Deutungsschema habe ich in Unterricht und Seminaren vielfach erprobt.
Wissenschaftlich ist es angelehnt beispielsweise an Erwin Panofsky: Sinn und Deutung in der
bildenden Kunst, Köln 1975 [New York 1957]; sowie Panofsky: Zum Problem der Beschreibung
und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst [1931], in: ders: Aufsätze zu Grundfragen der
Kunstwissenschaft. Berlin 1974, S.85-97; sowie neuerdings: Stefan Müller-Doohm: Bildinterpretation als struktural hermeneutische Symbolanalyse; in: R.Hitzler/A.Honer (Hg.): Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Opladen: Leske+Budrich 1997, S. 81-108.
4-2 „…hinaus in die Tiefe…“
279
• Einer Phase erster unmittelbarer Wahrnehmung (1.1)
• sollte (1.2) eine detaillierte ikonografische Entschlüsselung einzelner Bildelemente
folgen,
• dann (1.3) der Versuch eines ikonologischen, das Bild als Gesamtbild fassenden
Eindrucks;
• am Ende kann dann eine offene rezeptionsästhetische Einbindung des Wahrgenommenen in die eigene Erfahrungswelt stehen. Auf diese Phase verzichte ich
hier, weil sie aufgenommen wird in den Punkten 3 und 4 (zur Erläuterung s.u.).
280
1.1
4-2 „…hinaus in die Tiefe…“
unmittelbare Wahrnehmung
Auf einer ersten Ebene geht es darum, dem ästhetischen Zugang, den ein Bild zu
bieten vermag , möglichst umfassend Raum zu geben. Insofern es hier noch nicht auf
Reflexion des Wahrgenommenen ankommt, sondern das Wahrnehmen selbst, ist es
durchaus angemessen, von einem „stummen“ (besser „stillen“) Impuls zu sprechen.10
Von allen Deutungsversuchen oder Einordnungen in möglicherweise bereits bekannte
Schemata oder Kenntnisse sollte darum möglichst abgesehen werden. Gleichwohl
sind gezielte Lenkungen des Blicks sinnvoll, ja erforderlich, um die Wahrnehmung
auch wirklich auf das Wahrnehmen zu konzentrieren. Verstellende oder gar in die Irre
führende Assoziationen können so ausgeschieden werden, eine Gefahr, die jeder
Einsatz vordergründig gegenständlicher Bilder hat.
Darum schlage ich für das vorliegende Bild ein noch ganz auf der assoziativen
Ebene bleibendes, gleichwohl gezieltes Verfahren vor. Sinnvoll scheinen mir dafür
folgende Anweisungen:
Betrachten wir das Bild zunächst einmal völlig losgelöst von seinem etwa
vorhandenen Titel oder der Zuordnung zu einem möglicherweise bekannten
Ereignis und nennen es probeweise einfach „Begegnung am Ufer“.
Unter dieser von aller inhaltlichen Besetzung befreiten Perspektive schauen
wir zunächst auf mögliche Auffälligkeiten bei den drei Personen: Was
mögen sie gerade tun, fühlen, denken?
10
Im schulischen Unterricht beliebt ist der sog. Stillimpuls oder auch stumme Impuls. Sein Einsatz
wird in der Regel damit begründet, die Schülerinnen und Schülern in ihrem Eindruck nicht zu
präformieren und den weiteren Unterricht ganz aus diesen subjektiven Erfahrungen weiter zu
entwickeln. Das sollte dann freilich auch das genaue Kriterium dafür sein, einen Impuls auch
wirklich als stillen einzusetzen. Das aber scheint mir für nur ganz wenige Themen wirklich gut
geeignet, bei solchen nämlich, in denen die je eigene und ganz zufällige Erfahrungswelt nicht nur
die Form der Erschließung sein soll, sondern auch ihr Gegenstand, ihr Inhalt; oder es geht um
solche Impulse, die, wie etwa die Karikatur, ein Thema schon so offenkundig zum Ausdruck
bringen problematisieren, dass sie selbst schon eine Deutung des in ihnen ausgedrückten Gehalts
darstellen. Ansonsten empfehle ich eher ganz gezielte, auf den Horizont der Zielsetzung
abgestimmte Leitfragen einem präsentativen Impuls mitzugeben.
Den Ausdruck „stummer“ Impuls halte ich für verfehlt, es sei denn, er meint die banale
Aufforderung, bei einer Bildbetrachtung nicht zu reden. Der Impuls selbst, also etwa das Bild,
bleibt natürlich nicht stumm, sondern will als Impuls ja gerade etwas anstoßen, (im metaphorischen
Sinn) zur Sprache bringen.
In jedem Falle aber sollte ein solcher Stillimpuls, wenn er denn einen Sinn hat, auch irgendwie im
weiteren Verlauf wieder zur Sprache oder zumindest in Erinnerung gebracht werden können. Dafür
scheint mir wenigstens die Anweisung sinnvoll, erste Assoziationen zu einem Bild nach einer
Phase der stillen Betrachtung in Stichworten ins Heft zu notieren.
4-2 „…hinaus in die Tiefe…“
281
Sodann betrachten wir den Raum, in dem sie gemalt sind. Fällt an ihm irgend
etwas auf, etwa was das Boot angeht, das Wasser, den Felsen zur Linken,
aber auch die Größenverhältnisse?
Schließlich nehmen wir noch die Farben in Augenschein. Haben sie irgendeine besondere Wirkung auf uns?
Alle Beobachtungen können wir nach einer jeweils angemessen langen Phase
der Betrachtung in Stichworten festhalten, am besten, indem wir sie als
Fragen formulieren.
Zum Abschluss ist es möglich, zu diesem Bild aufgrund unserer Beobachtungen auch eine kleine Geschichte zu schreiben, was sich hier ereignen mag.
1.2
ikonografische Entschlüsselung
Dieser zweite Schritt dient dazu, die unmittelbaren Beobachtungen aus dem ersten
Schritt mit einigen Informationen zu konfrontieren. Darum war es sinnvoll, die
Beobachtungen möglichst in Frageform zu notieren. Nun bietet sich ein eher umgekehrtes Vorgehen an, also das Erarbeiten von Informationen zu folgenden Punkten:
Eine erste Information hinsichtlich der Wirkung sollte der Größe des Bildes
im Original gelten (s.o. ca. 50 x 50 cm).
Zusätzlich kann es von Bedeutung sein, dass dieses Bild (ursprünglich, s.u.)
in eine ganze Reihe von Bildern mit ähnlichen Situationen eingebunden war
(wobei eine Aufklärung über den biblischen Kontext zunächst noch
ausgespart bleiben sollte).
Zur Einordnung des Bildes könnte das Alter geschätzt werden, weniger um
mit möglicherweise vorhandenen Vorinformationen zu glänzen, sondern um
sich dem Thema des Bildes und seiner eigentümlichen Bearbeitung zu
nähern.
Die Beobachtung der Farben sollten zu einer Aufklärung über das Material
führen. Es handelt sich um Ölfarben sowie Blattgold, was auf vorbehandeltes
Holz in sehr leichter und dünner Form aufgetragen ist. Eine Zusatzinformation zur Ikonenmalerei, bei der das Gold auch den Sinn hat, Hintergründiges durchschimmern und erstrahlen zu lassen, ist sinnvoll.
Hinsichtlich der Räume ist wohl klar, dass es sich um ein Geschehen handelt
auf einem Gewässer einerseits, wo gerade der Vorgang des Netz-Einholens
unterbrochen wird, und auf einem felsigen Gelände andererseits, auf dem die
282
4-2 „…hinaus in die Tiefe…“
Person links steht. Das löst die Frage aus nach irgendwelchen Situationen, in
denen Wasser, Land und Fischfang eine so wichtige Rolle spielen, dass es sie
zu malen lohnt. Auch die eigentümliche Färbung des Himmels sollte als
Datum festgehalten werden.
Damit ist fast schon die Frage nach den dargestellten Personen angesprochen.
Als Vorinformation kann der Hinweis nützlich sein, dass die unterschiedliche
Größe auf eine unterschiedliche Bedeutsamkeit der Personen verweist.
Im Detail kann dann über Beschreibung ikonografischer Topoi zu einer
Identifizierung der Personen fortgeschritten werden: Der Mann links am Ufer
mit dem glatten dunklen Haar, dem leichten Bartwuchs ist Jesus, der sich
über die ausgestreckte rechte Hand den beiden im Boot zuwendet. Der
Mittlere mit dem weißen kürzeren Haar und dem eher rundlichen Gesicht ist
Simon Petrus, der sich offensichtlich von diesem Jesus angesprochen fühlt
und mit seiner Rechten darauf reagiert. Und der ein wenig finster
dreinblickende Mann rechts im Boot ist Andreas, der in den neutestamentlichen Zeugnissen als der Bruder des Simon beschrieben wird.
Abschließend kann die Information geliefert werden über den
Zusammenhang, in dem dieses Bild ursprünglich gehängt war: Es bietet als
Berufung der Jünger Simon und Andreas am See Genezareth das
wahrscheinlich vierte von ursprünglich wohl neun Bildern zu Szenen aus
dem Leben und Wirken Jesu, offensichtlich mit dem Sinn, den Betrachtern
Schlüsselszenen des Neuen Testaments vor Augen zu halten.11
1.3
ikonologische Sinngebung
Mit der ikonografischen Entschlüsselung und Zur-Kenntnis-Nahme der äußeren
„Bedeutung“ des Bildes ist für das Ziel der Erschließung noch nicht viel erreicht.
Aber über die genaue Betrachtung des Bildes haben wir uns auch seiner tieferen
Sinngebung genähert. Damit gelangen wir zur entscheidenden Phase dieses ersten
Elements. Die Beobachtungen aus der ersten Phase sind nun durch gezielte Fragen
11
Zum Gesamtaufbau des Werks vgl. den o.a. Band: Jannella: Duccio die Buoninsegna (1991),
S. 21f. Daraus geht hervor, dass es sich ursprünglich um eine riesige Altartafel zur Gottesmutter
Maria handelte, bestehend aus ca. 65 Einzelbildern auf vorder- und Rück-Seite zu verschiedenen
biblischen Zyklen und einem großen Altarbild mit der thronenden Gottesmutter. Das Werk wurde
in mehreren Jahren Anfang des 14. Jahrhunderts von Duccio und Schülern geschaffen, 1771 nach
mehreren Umstellungen jedoch in Einzelteile zersägt, so dass sich inzwischen viele Einzelteile in
verschiedensten Museen der Welt befinden.
4-2 „…hinaus in die Tiefe…“
283
und Deutungsversuche zu präzisieren, erneut nach der Reihenfolge der ersten
Fragereihe, beispielsweise:
Was fällt zunächst auf an den einzelnen Personen? Wie äußert sich Jesus,
welche Haltung, vielleicht welche Worte unterstellt ihm Duccio, indem er ihn
als Berufenden so zeichnet, wie er ihn zeichnet? Wie ist die Haltung des
Simon zu deuten; was läuft hier bei ihm ab, als er den Ruf Jesu hört; wie vor
allem ist seine Handhaltung, und zwar sowohl rechts als auch links zu
verstehen? Und was können wir aus der Haltung seines Bruders Andreas
folgern, wie reagiert er auf den Anruf Jesu?
Auch die Gegenstände spielen eine sinngebende Rolle. So fragen wir
zunächst weiter nach dem Boot: Was ist das für ein eigenartiger Kahn, ist er
geeignet zum Fischfang, ist er sicher? Dann sollte der Fels ins Spiel gebracht
werden: Natürlich ist damit das Ufer des Sees bezeichnet, aber warum mag es
gerade ein Steilufer sein, auf was könnte der Fels als Untergrund zum Stehen
und auch als Begrenzung des Wassers verweisen?
Haben auch die Farben des Bildes einen inneren Sinn? Wie steht es
beispielsweise mit dem blendend gold gefärbten Himmel? Was erreicht der
Maler, indem er dieses dritte Element neben dem irdischen Fels und dem
flüssigen Gefilde des Wassers so auszeichnet? Und warum tragen die drei
Personen Gewänder gerade in diesen Farben, Jesus in kräftigem Blau und
Rot, Andreas in eher abgetöntem Rot und Petrus in der Mitte in einem relativ
blassen Blau?
Eigens zu verweisen ist auf die Bildgestaltung: Wo liegen Blickfänge,
Zentren des Bildes? Warum ist einerseits die Herzgegend des Simon ein
Zentrum des Bildes? Und welchen Sinn macht vor allem jener enge Raum
zwischen Fels und Bootsspitze, die gerade (noch) nicht aneinander stoßen?
Hat das einen das Geschehen zusätzlich dramatisierenden Sinn?
Wir haben in der ersten Phase versucht, dem Bild eine Geschichte zu unterstellen. Versuchen wir dies mit den inzwischen erhaltenen Informationen und
Deutungsrichtungen erneut. Genauer wäre zu fragen: Was ist für Duccio
wichtig an der Berufung der ersten Jünger durch Jesus, was möchte er uns
durch sein Bild vermitteln?
284
2
4-2 „…hinaus in die Tiefe…“
Die Berufungsgeschichten der neutestamentlichen Evangelien
Ziel des folgenden Elements ist es, die neutestamentlichen Belege zur Jüngerberufung
kennen zu lernen und darüber zugleich einiges zur Komposition der Evangelien in
Erfahrung zu bringen. Indem diese Aufgabe durch das erste Element eine Basis hat,
wird jedoch die Kenntnisnahme dieser Fakten eingebunden in die Frage nach
Lebenssinn und -orientierung. - Zum Vorgehen schlage ich folgende Phasen vor:
2.1
Erkundung der neutestamentlichen Berufungsgeschichten
Durch eine entsprechende Unterrichtsplanung lässt sich das vorderhand langweilige
Unternehmen, etwas in der Bibel nachzuschlagen, lebendiger, das eigene entdeckende
Lernen einbeziehend, gestalten. Geeignet dafür erscheinen mir folgende Schritte bzw.
Arbeitsaufgaben, zu denen jeweils kurz die Zielsetzung angegeben ist:
Mit dem Ziel, als „Nebeneffekt“ auch den Aufbau der Evangelien strukturell
zu erfassen, sollten die Schülerinnen und Schüler selbständig versuchen, die
Geschichten von der Berufung der ersten Jünger zu suchen. Als Suchkriterien
werden dabei folgende Fragen weiterhelfen: a) eher im AT oder NT zu
suchen, b) wenn im NT, in welchen der Schriften, c) wo ungefähr sollte man
in den Evangelien suchen? – Für Antworten sind jeweils Begründungen zu
liefern.
Wenn die Suche zu vier Ergebnissen geführt hat (Mt 4,18ff; Mk 1,16ff;
Lk 5,1ff; Jo 2, 35ff), stellt sich unmittelbar die Frage, wie es zu solch
unterschiedlichen Überlieferungen kommen kann. Dafür sind zunächst die
offenkundigen Unterschiede zu markieren: Die deutlichsten Parallelen wird
man zwischen Mk und Mt finden, den entferntesten Text bei Jo – hier
tauchen auch ganz andere Namen auf, am Ende die Jünger Philippus und
Natanael, anfangs der Täufer, mit dem die Geschichte eine ganz andere
Wendung nimmt. – Mit einem solchen Ergebnis hätten die Schülerinnen und
Schüler eigenständig einen ersten synoptischen Vergleich vorgenommen und
zugleich in Erfahrung gebracht, dass die neutestamentlichen Schriftsteller mit
ihren unterschiedlichen Texten eine je eigene Botschaft im Sinn haben,
weniger die detailgetreue Abbildung eines Geschehens. – Eine kurze
Information zur historischen Genese der Evangelien lässt sich an dieses
Suchergebnis leicht anschließen.
4-2 „…hinaus in die Tiefe…“
285
In einer ersten Wiederaufnahme des Duccio-Bilds ist schließlich zu fragen,
welchen dieser Texte Duccio mit seinem Bild wohl im Sinn hatte. Obwohl
auf den ersten Blick alles dafür zu sprechen scheint, dass es um die Texte von
Mk bzw. Mt geht, lässt die ausdrücklich hervorgehobene Haltung des Petrus
nur den Schluss zu, dass Duccio die Überlieferungen des Mk/Mt mit der des
Lk kompiliert hat. Offen bleibt die Frage, warum und mit welchem Recht?
Diese Frage kann als Provokation zu einer weiteren Auseinandersetzung mit
den biblischen Texten genommen werden.
2.2
Detailliertere Auseinandersetzung mit den Geschichten von Markus
und Lukas
Als Ergebnis der Phase 2.1 (zumindest als naheliegender Schluss) kann festgehalten
werden, dass es den neutestamentlichen Schriftstellern nicht auf exakte historische
Genauigkeit ankommt, sondern dass sie etwas damit im Sinn haben, eine Geschichte
gerade so überliefert zu haben. Um nun den Bezug genauer erschließen zu können,
den das Bild von Duccio zu diesen Quellen aufbaut, ist es nützlich, an die beiden für
Duccio einschlägigen Perikopen von Mk und Lk die genauere Frage ihres Sinns zu
stellen.12 Auf detailliertere Tipps zur unterrichtlichen Erschließung verzichte ich hier
und liefere nur einige Hinweise zur Sachananalyse.
Die Pointe der Markus-Geschichte erschließt sich am besten durch die eindrückliche,
eng an der Diktion des Markus angelehnte Übersetzung von Fridolin Stier13:
16
Als er am See von Galiläa entlangging, sah er Simon und Andreas, den Bruder
Simons, wie sie im See netzwarfen; sie waren ja Fischer. 17 Und Jesus sprach sie an:
Auf! mir nach, dass ich Menschenfischer aus euch mache! 18 Und gleich ließen sie die
Netze und folgten ihm. 19 Und als er ein wenig weitergegangen, sah er Jakobus, den
Sohn des Zebedäus, und Johannes, dessen Bruder – auch sie im Boot – wie sie eben die
Netzte zurecht machten. 20 Und gleich rief er sie; und sie ließen ihren Vater Zebedäus
samt den Lohnknechten im Boot und gingen weg – ihm nach.
Die Frage nach Auffälligkeiten dieses Textes wird schnell zu dem Ergebnis führen,
dass die Nachfolge hier ohne Begründung und Erklärungsversuch erzählt wird, ja
12
Im Zusammenhang des hier interessierenden Kontextes und auch um den Rahmen der
Erläuterungen nicht zu sprengen, verzichte ich an dieser Stelle auf eine ansonsten bei der Arbeit
mit Bibelstellen übliche, zuweilen auch ertragreiche Einbindung in die einschlägige exegetische
Literatur und beschränke mich auf Markierungen einiger für den differenzierenden Blick
offenkundiger Auffälligkeiten.
13
Stier (1989).
286
4-2 „…hinaus in die Tiefe…“
dass das Überraschende des Ereignisses durch das zweimalige „und gleich“ sogar
ausdrücklich hervorgehoben wird. Offensichtlich lag Mk daran, nicht die innere
Erfahrung bei den Jüngern nachzuzeichnen, sondern das Plötzliche, Unmittelbare und
vor allem das Einschneidende und Radikale dieser Wendung. Zu diesem Zwecke
verdichtet er14 ein „in Wirklichkeit“ sicher anders und vor allem viel ausgedehnter
verlaufenes Geschehen auf wenige Informationen und die elementare Sinnsetzung
dieser Erfahrung: Jesus ist den Jüngern in einer das ganze Leben einschneidend und
fundamental verändernden Weise begegnet. Dieser Akzent entfaltet programmatisch
die Ankündigung Mk 1, 15 und bildet den Auftakt für weitere „Erläuterungen“ des
Reiches Gottes in den folgenden Versen.
Lukas dagegen scheint es gerade auf die Auslotung der inneren Erfahrung der
Berufung anzukommen. Darum wohl konzentriert er die Geschichte ganz auf einen
der Jünger, nämlich Simon:
1
Es begab sich aber, als sich die Menge zu ihm drängte, um das Wort Gottes zu hören,
da stand er am See Genezareth 2 und sah zwei Boote am Ufer liegen; die Fischer aber
waren ausgestiegen und wuschen ihre Netze. 3 Da stieg er in eins der Boote, das Simon
gehörte, und bat ihn, ein wenig vom Land wegzufahren. Und er setzte sich und lehrte
die Menge vom Boot aus. 4 Und als er aufgehört hatte zu reden, sprach er zu Simon:
Fahre hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus! 5 Und Simon
antwortete und sprach: Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts
gefangen; aber auf dein Wort will ich die Netze auswerfen. 6 Und als sie das taten,
fingen sie eine große Menge Fische, und ihre Netze begannen zu reißen. 7 Und sie
winkten ihren Gefährten, die im andern Boot waren, sie sollten kommen und mit ihnen
ziehen. Und sie kamen und füllten beide Boote voll, so dass sie fast sanken. 8 Als das
Simon Petrus sah, fiel er Jesus zu Füßen und sprach: Herr, geh weg von mir! Ich bin ein
sündiger Mensch. 9 Denn ein Schrecken hatte ihn erfasst und alle, die bei ihm waren,
über diesen Fang, den sie miteinander getan hatten, 10 ebenso auch Jakobus und
Johannes, die Söhne des Zebedäus, Simons Gefährten. Und Jesus sprach zu Simon:
Fürchte dich nicht! Von nun an wirst du Menschen fangen. 11 Und sie brachten die
15
Boote ans Land und verließen alles und folgten ihm nach.
Lukas bindet in die ihm vorliegende „Geschichte“ offenkundig drei andere ein,
einerseits die von der Predigt vom See aus, anderseits die vom großen Fischfang, den
die Jünger tätigen, schließlich die Berufung des Simon, um so der Erfahrung, die die
Jünger machen, das entsprechende Gewicht zu geben. Darüber hinaus „verlegt“ er die
Geschichte zeitlich weg vom Anfang der Tätigkeit Jesu, an dem sie bei Mk gestanden
hatte. Damit kommt ihr weniger exponierender Charakter zu als vielmehr ein auf
einer ersten Stufe synthetisierender: Was zuvor durch einige Ereignisse vor Augen
14
Zum literarischen Mittel der Verdichtung vgl. die kurzen Erläuterungen im Kap. 4-3, Abschnitt 4.
15
Übersetzung nach der 1984 revidierten Lutherbibel.
4-2 „…hinaus in die Tiefe…“
287
geführt wurde, wird nun zu Beginn des Kap.5 auf den Punkt und zur Erfahrung
gebracht. Dass es Lukas dabei ebenfalls nicht auf eine historisierende Abbildung
eines Geschehens ankommt, wird belegt nicht nur durch den Akt dieser kompilierenden Komposition, sondern auch äußerlich durch die offen beibehaltenen Brüche in
der Grammatik (v. 4a-4b sowie v. 9-11): Noch deutlicher als bei Mk steht nicht
irgendeine Geschichte im Vordergrund, sondern die Wirkung, zu der die Begegnung
mit Jesus führt. Auch hier wird das „in Wirklichkeit“ ausführlichere Geschehen
verdichtet, doch mit anderen Mitteln: Im Zentrum steht die Erfahrung des Simon, für
die alle anderen Daten symbolischen Wert gewinnen:
Alle „drängen“ sich um Jesus, doch Simon soll „hinaus“ fahren, auf Abstand.
„Hinaus“ führt die Fahrt auch Simon selbst, hinaus nämlich aus seinem
bisherigen Leben und Alltag.
Das Hinausfahren führt Simon dann in die „Tiefe“, nicht nur des Sees,
sondern auch seiner selbst; er wird mit dem konfrontiert, was eigentlich Mitte
seines Lebens ist.16
Entsprechend scheint auch der Fischfang eher Zeichen für Sinnsuche zu sein,
jedenfalls nicht bloß Angabe einer alltäglichen Tätigkeit. Warum sonst sollten
die Boote fast sinken?
Schließlich weist Simon Jesus zurück, so sehr hat ihn diese Erfahrung mit
etwas ganz Elementarem konfrontiert. Er selbst jedenfalls kommt mit dem,
was er erfahren hat, noch nicht zurecht.
Doch die Antwort Jesu verweist darauf, dass in dieser Erfahrung von Grenze
und Abgründigkeit zugleich Vertrauen aufgebrochen ist, von dem er sich
angenommen wissen darf.
Der abschließende Verweis auf die anderen Jünger scheint darauf hin zu
deuten, dass die Erfahrung des Simon eine exemplarische ist, also nicht nur
für ihn allein gilt, sondern an ihm als eine alle Jünger, ja alle Menschen
angehende verdeutlicht wurde.
16
Zuweilen wird hier das griechische „evpana,gage eivj to. ba,qoj“ eher geografisch übersetzt, Simon
solle auf „die Mitte“ des Sees hinaus fahren. In einem symbolischen Sinne kann auch dies durchaus
den Sinn dieser Anweisung einholen, geht es doch um die Erfahrung einer zuvor offensichtlich
nicht oder nicht voll ausgeloteten Lebens-Mitte.
288
3
4-2 „…hinaus in die Tiefe…“
Duccio als Theologe
Das bisherige Vorgehen muss natürlich insofern zu einem Abschluss gebracht
werden, als die Beobachtungen zu den Perikopen von Mk und Lk wieder zurückgebunden werden an das Bild von Duccio. Dazu folgen wiederum lediglich einige
Hinweise zur sachlichen Aufbereitung als Voraussetzung für die hier nur angedeutete
didaktische Umsetzung in konkrete unterrichtliche Aufgabenstellungen.
Zunächst liegt es nahe, erneut die Frage zu stellen, welche der beiden Perikopen
Duccio in sein Bild aufgenommen hat, nun aber mit der konkreteren Perspektive, auf
welche Elemente er wo in durch welche Gestaltung Bezug nimmt. Dazu ist es
nützlich, die oben in Punkt 1.3 zur ikonologischen Erschließung formulierten Fragen
zu Personen, Gegenständen, Räumen, Farben, Bildgestaltung wieder aufzunehmen
und nun genauer zu prüfen, wie er damit die biblischen Vorlagen kommentiert und zu
einer eigenen Geschichte ausformuliert.
Am ehesten wird nun ins Auge fallen das Verhalten des Simon. Natürlich wird
hier die Geschichte des Lukas zitiert, doch mit einer ganz eigenen Sinngebung:
Interessant scheint mir vor allem die Gesamtbewegung des Simon zu sein.
Simon löst sich ja ganz offensichtlich schon von seinem alltäglichen Geschäft,
das Netz wird von der Linken kaum noch gehalten, fast scheint es ihm schon zu
entgleiten, nicht weil er es nicht mehr halten könnte, sondern weil die
Bewegung bereits in eine andere Richtung geht. So ist das rechte Bein nicht nur
unbelastet, sondern scheint bereits in einer Vorwärtsbewegung auf die Spitze
des Bootes bzw. aus dem Boot heraus begriffen. Jedenfalls verlagert der
Oberkörper gerade den Schwerpunkt vor die Beine. Der rechte Arm machte
dann fast eine Abstoßbewegung. Und die Geste mit der Rechten ist wohl nur
auf den ersten Blick eine abwehrende. Kaum vorstellbar ist es, dass der hier
abgebildete Mann sagen würde: Geh weg von mir. Zu offen ist die Hand dem
Anspruch, dem er sich ausgeliefert sieht, zugewandt, und auch die Augen
blicken gerade, offen und interessiert auf den ihn ansprechenden Jesus. Simon
scheint vielmehr zu sagen: Ja, hier bin ich, ich bin bereit und komme. Das
„hinaus in die Tiefe“ hat hier schon stattgefunden, denn dieser Simon hat seine
Mitte gefunden und steht jetzt vor der Herausforderung zu einem „selbstbewusst mitten ins Leben hinein“. Duccio würde seine Geschichte somit
jenseits des biblischen Berufungsereignisses ansiedeln, die Geschichte also
weitererzählen unter der Perspektive: Die, denen solche Berufung geschah, wie
reagierten sie, und was zeigen sie uns dadurch?
4-2 „…hinaus in die Tiefe…“
289
In dieser Perspektive gewinnt auch Andreas eine ganz eigene Faszination. Sehr
viel stärker ist er gewiss noch gebunden an seine Tätigkeit als Fischer. Und
doch ist das Geschehen auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen. Die Hände
halten das Netz so sicher auch nicht mehr, denn die Konzentration dieses
Mannes sagt etwas anderes: Was soll ich damit anfangen, was hier gerade
geschieht? Das fragende Gesicht, ins Bild gebracht durch die zur Nasenwurzel
hin konzentrierten Augenbrauen und die eher zugespitzte Mund- und Kinnpartie, die unklar gegenläufige Bewegung des Oberkörpers, der Arme, des
Beckens, der Beine nach rechts oder nach links dokumentieren eine intensive
Auseinandersetzung. „Sofort“ jedenfalls lässt dieser Mann keineswegs alles
stehen und liegen. Er ist vielmehr wie auch Simon in eine ihn elementar
erschütternde Erfahrung geraten und muss sich ihr nun stellen. Das zeitliche
„sofort“ wird von Duccio somit in ein qualitatives „sofort“ umgedeutet. Und
wie bei Simon bleibt auch dieses Geschehen nicht allein bei Andreas, sondern
zieht auch die Betrachter in eine Beschäftigung mit sich selbst hinein.
Im Blick auf das markinische „und gleich“ bzw. „sofort“ wird auch ein weiterer
Blickfang des Bildes interessant, jene Stelle zwischen Boot und Felsufer. Hier
geht es, das mag dieses Detail ausdrücken, nicht um dies oder das, sondern um
etwas elementar Herausforderndes. Hier sind wir „sofort“, unmittelbar, mit
Herz und Seele, vor allem aber entscheidend gefragt sowie herausgefordert. So
scheint Duccio das „sofort“ der Synoptiker für sich und für uns als Betrachter
zu deuten und zu übersetzen.
Und Jesus? Wie eigentümlich „blass“ wirkt er plötzlich! Natürlich ist er in
stärkeren Farben gemalt, auch größer, seine Bedeutung wird somit von Duccio
keineswegs zurückgestellt. Doch seine weiche Einladungsgeste führt fast schon
aus dem Bild heraus, so als sei er selber, seine Person nur als Mittler gemeint,
nicht als Gegenstand der Herausforderung. In dieser Perspektive fällt uns
plötzlich auch sein eigenartig nebliger Blick auf: So schaut keiner, der die
anderen auf seine Person fixieren und einschwören will, sondern einer, der sich
als „Gesandter“ einer Botschaft versteht: „Wer an mich glaubt, glaubt nicht an
mich, sondern an den, der mich gesandt hat.“ (Jo 12,44). Duccio also als ein
Vertreter johanneischer Theologie, die er in die Botschaft der Synoptiker
einbaut? Warum nicht, denn wir sehen jetzt auch genauer, wie Jesus gar nicht
mehr recht auf dem Felsen steht, sondern ihm zugleich schon schwebend
enthoben ist. Diesen Jesus müssen die Jünger und müssen wir nicht mehr
fragen, wohin wir gehen sollen, weil wir den Weg nicht zu kennen glauben (Jo
14, 5ff), denn durch ihn hindurch werden die beiden, Simon und Andreas auf
das Werk Jesu verwiesen, dessen Erbe anzutreten ist (Jo 14, 11f; vgl. auch Röm
8,17). Ist dieser Jesus am Ufer also nicht vielmehr jener Jesus, der den Jüngern
290
4-2 „…hinaus in die Tiefe…“
als Auferstandener erscheint, und ihnen nun symbolisch als Auftrag für ihr
eigenes Tun den großen Fischfang zukommen lässt (Jo 21)? Weiß also Duccio
nicht nur um die Nähe zwischen Lk 5 und Jo 21, sondern versteht er die
Jüngerberufung auch als Sendungsauftrag? Ist Duccio also ein außerordentlich
intelligenter Theologe, der damit auch uns als Betrachter zu Theologen,
erfahrenden Auslegern der biblischen Botschaft machen will?
4
Konsequenzen: Erfahrungsdimensionierte Erkundung
von Religiosität
Die letzten Überlegungen haben zunächst einmal unmittelbar in die oben im Teil 1
genannte aber dort ausgeblendete Ebene der rezeptionsästhetischen Einholung (1.4)
hineingeführt. Mit den soeben skizzierten Hinweisen können die Schülerinnen und
Schüler sich in die Akteure, insbesondere die beiden Jünger hineinversetzen lassen,
etwa mit der Frage: Wo könnte mir so etwas zustoßen? Und wie wäre es, würde mir
so etwas zustoßen?
Der Grund für diese Möglichkeit liegt aber in dem rezeptionsästhetischen
Verfahren, das bereits Duccio angewandt hat, hat er doch seinerseits die biblische
Vorlage zu etwas umgestaltet, was in dieser Weise jedenfalls die Vorlage allein nicht
hergibt. Dazu musste Duccio dreierlei leisten: 1.) hatte er sich genauestens in genaue
Kenntnis zu setzen über die biblischen Vorlagen, einschließlich der zunächst nicht
erwähnten johanneischen Perspektive. 2.) musste er sich auch mit der Frage des
tieferen Sinns dieser Quellen auseinandersetzen, sie also einerseits als Verdichtungen
eines sehr viel weiteren Geschehens verstehen, andererseits auch ihre Botschaft an
den Leser herausfinden. Und dadurch wurde er schließlich 3.) dazu herausgefordert,
den Sinngehalt auch auf sich selbst zu übertragen bzw. auf die möglichen Betrachter
seines Bildes, die sich ja durch das Bild angesprochen fühlen sollten, nicht nur auf
dem Bild etwas erkennen sollten.
Im Einblick in dieses Verfahren gewinnen wiederum die biblischen Geschichten
einen anderen Charakter. Auch die biblischen Schriftsteller haben sich exakt diese
drei Fragen gestellt und nur aufgrund dieser komplexen Auseinandersetzung die
Geschichten gerade so und nicht anders aufgeschrieben. Sie sind deshalb Theologen
und keine Historiografen.
Für uns schließlich, die wir uns in dieser Weise mit einem Bild und einigen
biblischen Texten auseinandergesetzt haben, scheint mir durch dieses Vorgehen eben
4-2 „…hinaus in die Tiefe…“
291
jene zuerst genannte Hypothese bestätigt zu sein, dass es nämlich gelingen kann, die
äußere Bedeutung und den tieferen Sinngehalt einer Geschichte, hier eines biblischen
Textes, in einem weiteren Sinne von religiösen Gegenständen überhaupt, zugleich, ja
auseinander zu erschließen. Ja wir können noch einen Schritt weiter gehen und sagen,
dass zur Aneignung von religiösen Gegenständen und religiösen Texten ein solches
Vorgehen auch notwendig ist, weil wir ansonsten davon rein gar nicht verstehen
würden.17 Ein solches Verfahren würde ich im Duktus der ganzen hier zur Diskussion
stehenden Arbeit eine erfahrungsdimensionierte Erkundung von Religiosität nennen.
4
Zum Rahmen der schulischen Umsetzung 18
Vorbemerkung
Der seit dem Schuljahr 1994/95 geltende Lehrplan für den Katholischen
Religionsunterricht in Klasse 11 in Baden-Württemberg wurde zumindest anfangs in
seinen Veränderungen im Vergleich zum Lehrplan von 1984 nicht recht zur Kenntnis
genommen. Dabei spielte vor allem die Gewohnheit eine große Rolle, dass (zumindest scheinbar) nach wie vor die sog. Bibeleinheit im Zentrum der Klasse 11 steht, und
bei der Wahl zwischen Religions- oder Sinnthema ersteres nunmehr als Pflichteinheit
gegenüber letzterem als Wahl herausgehoben ist; nach dem alten Lehrplan konnte
zwischen Sinn- und Religionsthema gewählt werden. Die Neuerungen sind gleichwohl nicht unerheblich, was bereits ein vergleichender Blick in die vorhandenen
Unterrichtsmaterialien dokumentiert, die allesamt auf den neuen Lehrplan nicht mehr
recht passen wollen. Schon um dem Abhilfe zu schaffen, soll die folgende
Konzeption einen Beitrag leisten.
Seine Pointe hat mein Vorschlag in der These einer wesentlich anderen Gestaltung
der beiden Pflichteinheiten für Klasse 11. Mein konkretisierender Vorschlag ist es,
die beiden Themen nicht als getrennte Einheiten je für sich durchzunehmen, sondern
sie jeweils als unterschiedliche Aspekte zu einzelnen Themen zu verhandeln, aus
17
Zur genaueren Erläuterung dieser These in Bezug auf religiöse Texte vgl. die Ausführungen in den
Kapiteln 2-2 und 4-3.
18
Die folgenden Ausführungen sind 1996 entstanden und beziehen sich auf den „Bildungsplan für
das Gymnasium“ von 1994. Dieser Lehrplan ist zur Zeit der Abfassung dieser Arbeit noch gültig,
und meine entsprechenden Einlassungen haben an Relevanz seitdem nicht verloren. Bis auf einige
Anmerkungen habe ich daher die Ausführungen unverändert übernommen. Der Transparenz halber
sind Verweise auf einzelne Punkte dieses Planes nachfolgend per Anmerkung kurz ausgeführt.
292
4-2 „…hinaus in die Tiefe…“
denen sich dann gleichsam bausteinartig fast die gesamte Klasse 11 zusammensetzt.
Das wird, so behaupte ich, dem Sinn und Anspruch beider Themen, sowohl der
Bibeleinheit, als auch der Religionseinheit, aber auch der Konzeption von Klasse 11
insgesamt gerechter und zwar ganz im Sinne der Lehrplanänderungen. Mein
Vorschlag ist durch kurze Thesen in drei Teilen zu erläutern:
In einem ersten Teil (I) werde ich kurz eine Begründung vorlegen für eine
neue Konzeption, wie sie sich aus dem Lehrplan und der in der Bibeleinheit
einerseits und der Religionseinheit andererseits zur Debatte stehenden Sache
ergibt.
Zweitens (II) werde ich eine Übersicht der unter dieser Perspektive
anzubietenden Themen bzw. Bausteine vorlegen, jeweils mit einer kurzen
Strukturskizze, die den unterschiedlichen Aspekt des Biblischen und des
Religionsphilosophischen verdeutlicht.
Schließlich wird in einem dritten Teil ( III ) kurz das oben ausführlicher
vorgestellte Unterrichtsmodell „…hinaus in die Tiefe“ auf die Umsetzung
dieser Konzeption hin kommentiert.19
( I ) Zur Begründung
1. Die Pflichteinheiten für Klasse 11 sind zwar im Vergleich zum alten Lehrplan
von 1984 im wesentlichen geblieben, doch haben sich die Gesichtspunkte ihrer
Behandlung verändert. Der neue LP kann insofern als eine konsequente Fortschreibung des alten (d.h. Verbesserung angesichts heutiger Unterrichtserfahrungen in
Konsequenz des Grundansatzes) angesehen werden, als er
a) das Korrelationsprinzip konsistenter in den Aufbau der einzelnen Themen
einzubinden versteht,
b) die Themen der Klasse 11 deutlicher als hermeneutische Grundlegung für den
weiteren Oberstufenunterricht konzipiert,
c) damit den Anforderungen eines Oberstufenunterrichts im Fach Religion heute
besser gerecht wird.
19
In der ursprünglichen Fassung dieses Textes folgte als dritter Teil (III) die Ausführung zweier
Textbausteine als konkrete Unterrichtsentwürfe. Der erste Entwurf war das nun in den Teilen 1, 2
und 3 des Kapitels vorgestellte Modell zur Jüngerberufung (s.u. in These 11 der Baustein 1
Jüngerberufungen: Religiosität als existenzerhellende Erfahrung), den zweiten Entwurf bildete der
unten unter der Überschrift „Unterwegs: das Urmotiv für Religiosität“ Baustein 2 zu Abraham, der
in seinen wesentlichen Elementen eingegangen ist in die im Kapitel 1-4 dokumentierte Skizze zu
Sinnsuche und Abraham (Vgl. Petermann 2000b).
4-2 „…hinaus in die Tiefe…“
293
2. Zur Begründung dieser These: In der Einheit 1 zur Bibel liegt der Akzent nun
nicht mehr primär auf der Vermittlung von Sachwissen über die Bibel, sondern auf
der Vermittlung der Bibel als ein auch heute Menschen herausforderndes Dokument
von Glaubenserfahrungen.20 Die Vermittlung von literaturwissenschaftlichem Sachwissen wird eingebunden in den Aufweis des persönlichen, erfahrungsbezogenen,
lebensverändernden Anspruchs biblischer Botschaft als Schlüssel zum Verständnis
seiner Entstehung wie als Zugang zur Auseinandersetzung heute.
Durch diese Konzeption wird der eigentliche Sinn des didaktischen Korrelationsprinzips auch inhaltlich transparenter: Es geht nicht um einen bloßen Bezug der
anthropologischen und theologischen Dimensionen aufeinander, sondern um die
Lesart theologischer Inhalte unter einem anthropologische Grundfragen klärenden
Gesichtspunkt und umgekehrt die Thematisierung anthropologischer Fragen in ihrer
theologischen Tiefendimension.
3. Die Bibeleinheit ist mit dieser Akzentverschiebung zugleich darauf angelegt,
einerseits auch das Sinnthema21 in wesentlichen Fragestellungen mit abzudecken
(insofern nämlich unter dem Aspekt sinnerschließender Lebens- und Glaubenserfahrungen biblische Themen anzusprechen sind) und andererseits zentrale Fragen
der Religionseinheit22 zur Sprache zu bringen (insofern in der existentiellen
Bibelauslegung notwendig die urreligiöse Frage des Ergriffenseins vom Unbedingten
mit angesprochen wird.). Konsequenterweise strafft der neue LP daher die beiden
anderen alten Pflichtthemen: Die Einheit "Religion" thematisiert aus dem alten LP
nur noch die Grundfrage nach dem Religiösen, ergänzt dies aber durch die
erfahrungsbezogene und zugleich wissensorientierte Auseinandersetzung mit zwei
Grundtypen von Weltreligionen (Islam und Buddhismus, zu erschließen anhand der
Personen Buddhas und Mohammend). Die "Sinn"- Einheit bietet als Wahleinheit die
Möglichkeit, auf Sinnfragen bezogene Schwerpunkte in der Bibel- oder
Religionseinheit zu setzen oder beide Einheiten durch andere diesbezügliche Aspekte
zu ergänzen.
20
Der Bildungsplan 1994 nennt die Einheit darum konsequent auch „Die Bibel, eine Herausforderung“, im alten Lehrplan von 1984 hieß sie „Einführung in den sachgemäßen Umgang mit der
Bibel“.
21
Es handelt sich um die Einheit „Auf der Suche nach Glück und Sinn“, nunmehr (1994) eine
Wahleinheit. Der frühere Titel „Die Sinnfrage als Zugang zur religiösen Frage“ (1984) hatte diese
Einheit sehr viel stärker an die Religionsthematik angebunden.
22
Sie heißt 1994 „Religion der Völker“ und bildet neben der Bibeleinheit die zweite Pflichteinheit.
Im früheren Lehrplan 1984 war neben der Bibeleinheit pflichtgemäß entweder die Sinneinheit oder
die als „Religion – Illusion oder Wirklichkeit“ benannte zu verhandeln.
294
4-2 „…hinaus in die Tiefe…“
4. Die Straffung insbesondere der Religions- wie der Sinneinheit sowie die
Konzentration der Bibeleinheit auf existentielle Fragestellungen hilft, den Unterricht
in Klasse 11 konsequenter als hermeneutische Grundlage für die Klassen 12 und 13
zu konzipieren, ohne Gefahr zu laufen, wesentliche Inhalte aus späteren Themenstellungen bereits vorweggenommen zu haben.23
5. Der Unterricht in Klasse 11 zeigt sich in dieser Konzeption klarer im Profil eines
Oberstufenunterrichts: Die reflektierende Auseinandersetzung mit religiösen
Themen hebt den Unterricht deutlich ab vom eher emotional auf Persönlichkeitsfindung hin orientierten und orientierenden Charakter der Mittelstufe. Das ist nicht
neu am neuen LP. Entscheidend ist die Akzentverschiebung, was die Elemente der
Reflexion angeht: Wurde am alten LP die Gefahr kritisiert, in der Oberstufe
tendenziell Themenstellungen aus dem Studium im Unterricht vorwegzunehmen, so
gelingt es dem neuen LP sehr viel besser, durch Betonung hermeneutischer Grundlagenfragen Wege zu einem möglichen Studium (nicht nur der Theologie) zu bahnen
(und nicht einen wissenschaftlichen Grundkurs vorwegzunehmen), ohne dabei auf die
Vermittlung zentraler wissenschaftlicher Fragestellungen zu verzichten.
( II )
Vorschlag zur eigenverantwortlichen Gestaltung des neuen Lehrplans
6. Der neue LP verbietet von vorneherein ein sklavisches Vorgehen Punkt für
Punkt: So werden etwa die Inhalte 1.1. („Ausdrucksformen von Religion“), 1.3.
(„Umschreibung des Begriffs Religion“), 1.4. („Funktionen von Religion in der
Gesellschaft“) im Religionsthema sich nicht ohne Probleme losgelöst voneinander
behandeln lassen; möglicherweise können sie sogar innerhalb der Thematisierung
etwa des Islam oder auch innerhalb eines Punktes der Bibeleinheit (aus 2.1 („AT“)
oder 2.2 („NT“)) verhandelt werden. - Oder: Die Bibeleinheit legt es nahe,
wesentliche Teile aus 3 („Existentielle Auslegung biblischer Texte“) in 2.1. und 2.2
zur Sprache zu bringen bzw. umgekehrt. Die Zielsetzung von 224 gebietet es weiterhin
geradezu, die Punkt 2.3. und 2.4.25 nicht (zumindest nicht allein) gesondert zu
verhandeln, sondern insinuiert ihre Behandlung innerhalb der Thematisierung von
2.1.und 2.2. (AT bzw. NT) - Kurz: Der neue LP fordert noch stärker als der alte die
Lehrer zu einem eigenständigen Verlaufsplan heraus, der die wesentlichen Inhalte in
23
Für die in Baden-Württemberg jetzt avisierte allgemeine Einführung des 12-jährigen Gymnasiums
wird eine solche Anlage sich als noch wichtiger erweisen.
24
„Erfahrungen werden in unterschiedlichen Sprachformen festgehalten, die zu erschließen sind.“
25
„Die Bibel, eine Sammlung literarischer Gattungen und Textsorten, Sitz im Leben“ sowie:
„Beziehung zwischen Form und Inhalt, Texterschließung“.
4-2 „…hinaus in die Tiefe…“
295
einer je eigenen und doch das allgemeine Ziel der Klasse 11 einholenden Konzeption
zu verzahnen versteht.
7. Die Freiheit der Lehrkräfte bei der Konzeption wird vor allem in der Auswahl der
Medien sichtbar (sei es nun der biblischen Perikopen, philosophischer und
theologischer Texte, ergänzender Bilder oder von Dokumenten persönlicher
Lebenserfahrungen), mit denen einzelne Inhalte erschlossen werden sollen. Die
folgenden Thesen wollen daher einige allgemeine sowie einen ganz konkreten Anstoß
liefern für eine m.E. sinnvolle Konzeption in dieser Richtung.
8. Schon in den früheren Jahren hatte ich bei der Planung von Klasse 11 stets die
für den jeweiligen Jahrgang anstehenden Abitur-Themen mit im Blick gehabt. Die
Klasse 11 gewinnt so stärker den Status eines die Oberstufe erschließenden Jahrgangs
und sollte daher sinnvollerweise möglichst auch von der gleichen Lehrerin oder
Lehrer wie 12/13 unterrichtet werden. In Klasse 11 können dadurch gezielter:
a) Vorwegnahmen wichtiger Texte in 12 und 13 vermieden werden bzw.
b) auch gerade umgekehrt durch gezielte Fragestellungen Texte zweimal in sich
ergänzender Weise erschlossen werden (z.B. eine Behandlung von Gen 1ff bei
den sog. „Sternchen“(*)-Themen "Glauben und Wissen" oder "Anthropologie");
c) hermeneutisch Grundfragen der jeweils kommenden *-Themen erarbeitet
werden (was sich etwa bei der Kombination "Jesus Christus" / "Theol.
Anthropologie" besonders nahe legt, wenn die Frage: Was ist der Mensch im
Lichte der christlichen Offenbarungsbotschaft? zum Leitthema für 11,12,13
erhoben wird),
d) oder wieder gerade umgekehrt durch Themen, die in 12/13 nicht angesprochen
werden, den Oberstufenunterricht mit Klasse 11 gerade zu ergänzen (so etwa
bei gleichen *-Themen wie c) durch Konzentration auf Fragen aus dem
Umkreis "Glauben-Wissen").
9. Galt die These 8 als Ermunterung zu flexibler Gestaltung von Klasse 11, so hat
die These 9 das umgekehrte Anliegen, in die Konzeption von Klasse 11 einen
verallgemeinerungsfähigen roten Faden einzubringen. Hier scheint mir das
Jahrgangsthema zu allgemein und darum ungriffig formuliert zu sein.26 Wenn man
von den Inhalten her die Arbeit mit der Bibel als Buch einerseits und die
26
Es lautet offiziell: „Der reflektierte Umgang mit Traditionen, mit dem Phänomen Religion und mit
der Bibel ermöglicht es dem jungen Erwachsenen, zu Überzeugungen zu gelangen, die er denkend
und handelnd verantworten kann.“
296
4-2 „…hinaus in die Tiefe…“
Auseinandersetzung mit der Frage nach Religion als unbedingter Frage von
Menschsein für die unverzichtbaren Säulen der Klasse 11 ansieht, liegt es nahe, als
Leitfrage für die Klasse 11 etwa eine Formulierung wie folgt zu finden:
„anima naturaliter religiosa. Religiosität als lebendige Erfahrung erschließen“.
Zielsetzung wäre es dabei, die Bibel als Buch geronnener Glaubenserfahrungen und
Impuls zur eigenverantwortlichen Lebensgestaltung zu begreifen und zu reflektieren
10. Von dieser Konzeption her sehe ich es als Möglichkeit an, die Klasse 11 eher
bausteinhaft aus verschieden akzentuierten Elementen zu konzipieren, die je für sich
nach Möglichkeit beide oben angesprochenen Fragen berühren bzw. Grundlagen zu
ihrer orientierenden Beantwortung schaffen. Sinnvoll erscheint es mir demnach,
Elemente, die eher auf das Verständnis der Bibel ausgerichtet sind, in ihrer
Konzeption klar auf die religiöse Grundfrage hin ("Was heißt bzw. wie äußert sich
Religiosität?") zu konzipieren und umgekehrt zur Erschließung einer religionsphilosophischen Fragestellung auf biblische Beispiele, besser Paradigmata zurückzugreifen. Weitere Lehrplaninhalte (wie etwa "Methoden der Texterschließung" oder
"Funktionen der Religion" sollten, so meine ich, in diese Grundkonzeption
eingewoben werden.
11. Aus diesem Gedanken könnten sich beispielsweise folgende Bausteine ergeben,
aus denen der Unterricht in Klasse 11 zusammenzusetzen wäre27:
1
Jüngerberufungen: Religiosität als existenzerhellende Erfahrung
28
- Duccio di Buoninsegna: Bildmeditation
- synoptischer Vergleich der ntl. Berufungsgeschichten
- Topos der Berufung: erste Bestimmung eines religiösen Menschen
2
Unterwegs: das Urmotiv für Religiosität
- Der Mensch als Sinn-Wesen: unterwegs auf der Suche nach sich selbst
[z.B. Schuberts "Winterreise": Reise als Folie der Sinnfrage Bsp. einer persönlichen Biographie in Stationen]
- Weg-Motive in der Bibel
29
- Abraham, Paradigma menschlichen Unterwegs-Seins
27
Alle der nachfolgend nur grob skizzierten Bausteine habe ich im Laufe der Jahre im Unterricht der
Klasse 11 durchgeführt. Neben der Entfaltung des Bausteins 1 in den Teilen (1) und (2) dieses
Kapitels finden sich Elemente einer Konkretisierung auch in anderen Kapiteln; dazu werden kurze
Verweise per Anmerkung gegeben. – Durch Verweiszeichen (→) werden einige offensichtliche
Bezüge zu Themeninhalten hergestellt.
28
Dieses Element kommt in den ersten drei Teilen dieses Kapitels zur Ausführung. Unten folgt
zudem eine Strukturskizze, die die Bezüge zu den jeweiligen Themen herstellt.
29
Vgl. dazu meine Ausführungen im Abschnitt 1 des Kapitels 1-4, die wesentlich auf diese
unterrichtlichen Erfahrungen zurückgehen.
4-2 „…hinaus in die Tiefe…“
297
(a) Erschließung Gen 11,27-12,9 (u.U. auch weitere Stationen Gen 13 - 17,1-11 18,1-15 - 18,16-33 - 22
(b) Einführung "Bibel verstehen": hermeneutische Schlüssel anhand der AbrahamGeschichte
(c) A., Vater des Glaubens: Paradigma menschlichen Unterwegsseins - Schlüssel des
jüdisch-christlich-islamischen Gottes- und Menschenverständnisses:
Vater des Glaubens
3
Orte von Religiosität
- Gewissen/Herz: bibl. Hintergrund - Kirche
- Religionsunterricht - Theologie (Übersicht der theologischen Disziplinen)
30
- religionswissenschaftliche Vergleiche: Religionen → Islam / Buddhismus
4
Identität: Ichwerdung
- Mensch als fragendes Wesen
- Ich-Erlebnisse
- Stufen/Ebenen der Identität [ Individuum / Selbst / Subjekt / Person]
- Heteronomie / Autonomie / Theonomie
5
Jona: auf der Suche nach sich selbst im Angesicht Gottes
- Topos der Lehrerzählung (→ Gattungen ; Einteilung d. Bibel; → Lektüre e. Ganzschrift)
31
- Bilder in Jona / Bilderbücher zu Jona
- existentielle Interpretation des Buchs
6
Camus: Menschwerdung ohne Gott
- Mythos von Sisyphos
- antike Götterwelt (→ Erscheinungsformen/Funktionen von Religion)
- S's Taten - S's Strafen - Camus' Interpretation
- autonome (Camus) vs. theonome (Jona) Selbsterfahrung
- Absurdität und Gottesnähe: Kohelet
8
Offenbarung von Menschsein in Niedrigkeit: Weihnachten
- Weihnachts-Topoi [→ Gattungen, Entstehung NT,]
- bibl. Hintergründe [ synopt. Vgl. theol. Anspruch der jeweilg. Weihnachtsevangelien]
- Brueghels Weihnachtsbilder: Weihnachten als "Bild" der Erschließung
histor./existenz. Situationen
- Weihnachten heute ?
9
Brueghels Menschenbilder (Jahreszeitenbilder):
- (vgl. Zink-Reihe: Christliche Kunst: Bd. "Menschenbilder"): Jahreszeiten als Horizonte der
Erschließung menschlicher Existenz;
→ Religion als Horizont der Erschließung menschlicher Existenz
(→ Funktionen d. Religion)
30
Damit wäre, personal orientiert, das Element „2.2 Grundtypen von Weltreligionen“ der
Religionseinheit eingelöst.
31
Eines dieser Bilderbücher wird ausführlicher erschlossen im Zusammenhang des Kapitels 4-1.
298
10
4-2 „…hinaus in die Tiefe…“
Bibel: Ur-Kunde vom Glauben
- Literarkritik: Bibel im historischen Aufriss [z.B. i. Anschluss an Tobit]
- Bibel und Wahrheit [z.B. i. Abschluss an Auferstehungsthema]
32
- Lessing [vgl. D; religionsphilosophische Frage nach Religion]
- Geschichte Israels - bibl. Glauben als geschichtlicher [z.B. im Anschluss an Abraham]
- Dimensionen des Zugangs zur Bibel
- Kanonizität
- hermeneutische Interpretations-Kriterien:
*Textkritik - Literarkritik - Formkritik *Ebenen der Texterschließung: historische Ebene - Verdichtungen - Symbolik existentieller An-Spruch (Botschaft)
*Ansätze der Bibelauslegung: wissenschaftlich - Bibel teilen/meditieren gesellschaftspolit./soziolog./psychol. - therapeutisch/existenziell
*"Wahrheit" der Bibel: [z.B. anhand Gen 1/2: -->Pentateuch-Genese]
11
Der leidende Mensch: Passion und Auferstehung
- Passion: Problem des Bösen / Leibniz / Passion als religiöse Erfahrung /
Jesu Passion im religionsgeschichtlichen Kontext
- Auferstehung als Erfahrung (Lk 24 und Jo 21 als Paradigmen),
- NT-Genese: Ereignis der Auferstehung als Initial der christlichen Bewegung
12
Gottessuche durch Leiderfahrung: Ijob
- Lektüre des Buchs (u.U. in Ausschnitten; → Lektüre einer Ganzschrift)
- Strukturierung und Entwicklung der Frage nach Gott bei Jiob (Verzweiflung – Anklage –
Gottessuche – Selbstsuche)
- Vergleiche mit modernen Dokumenten zur Theodizee (z.B. Dostojewski od. Wiesel)
14
Tobit: Heilung und Heil
- Tobit im atl.Kanon - Tobit als Buch jüdischer Identität
(→ Lektüre einer Ganzschrift / → Glaubenserfahrungen
- Heilungsinterpretation
- Religion und menschliche Psyche
[ Freud vs.Jung - Drewermann - tiefenpsychologische Bibeldeutung ]
16
Markus: Erlösung aus Ängsten
- Überblick Mk - Markus als Schriftsteller/Evangelist (→ Lektüre einer Ganzschrift)
- Situationen von Angst / Sit. der Erlösung (Deutung der mark. Heilungsgeschichten auf
- Strukturen von Heilung und Heil - Vgl. tiefenpsychologische Bibeldeutung)
18
33
Wer darf ich sein? - Was soll ich tun ? (Ethik-Kunde)
32
Hintergründe zu diesem Element werden im Kapitel 2-1 zur Sprache gebracht.
33
Einige Elemente dieses Bausteins finden sich wieder im Abschnitt 2 des Kapitels 4-4.
4-2 „…hinaus in die Tiefe…“
299
( III) Religiosität als Erfahrung des Gerufenseins
- ein Beispiel zur Konkretisierung
12. Als Beispiel einer auf die religiöse Grundfrage hin konzipierten Bibeleinheit
habe ich oben in den Teilen 1, 2 und 3 dieses Kapitels die neutestamentlichen
Jüngerberufungen vorgestellt. Der nachfolgende Kommentar soll die entsprechenden
Bezüge zu den Inhalten des Lehrplans wie den Entwurf als Beispiel einer
Konkretisierung des eben skizzierten Gesamtkonzepts vorstellen:
Diese Einheit ist zuzuordnen dem LP 1.2.2. („Neues Testament: Begegnungsgeschichten“) Innerhalb dieser Thematik werden jedoch weiterhin folgende
Punkte ganz konkret mit erschlossen: 1.2.4. („hermeneutische Texterschließung“), 1.3. („existentielle Auslegung biblischer Texte“), 2.1.3. (Religion als
„Ergriffensein vom Unbedingten“); angesprochen werden darüber hinaus
allgemein die Punkte 1.1. und 2. („Die Bibel, eine Herausforderung“ sowie „Die
Bibel, eine Sammlung von Glaubenserfahrungen“), 1.1.2. („Neuentdeckung eines
alten Buches“), 1.3.3. („Existenzverändernde Kraft des Gotteswortes“), und
hinsichtlich des Sinn-Themas 3.2.1. („Entwickeln der Erlebnisfähigkeit:
Entdecken der Tiefendimension“), 3.2.2. („Befähigung zum Vertrauen“ und
„Verwurzelung im Glauben“) und 3.3.3. („Bewältigung von Sinnkrisen im
Glauben“).
Die Verschränkung einer Reihe von Inhalten ist ein bewusst auch in
Folgeeinheiten durchgeführtes Vorgehen. Die Intention ist dabei klar: Die Gefahr
eines eher technisch-wissensmäßigen Zugang zu den einzelnen LP-Inhalten (z.B.
verschiedene Ansätze zur Bibelauslegung schlicht zu "lernen") soll vermieden
werden, hingegen die PL-Intention der Berücksichtigung sowohl formaler Inhalte
(wie Textkritik) als auch existenzerhellender (wie Bibel-Teilen) wird nicht nur
formal erfüllt, sondern auch integrativ eingelöst, insofern an einem Beispiel
erläutert wird, dass "methodische Zugänge können helfen, Glaubenserfahrungen
in der Bibel besser zu verstehen" (Zielangabe zu 1.1.2).
Durch ihre innere Konsistenz ist die Einheit einerseits ein für sich abgeschlossenes Thema; andererseits werden öffnend bereits Inhalte aus anderen Themen
bewusst mit angesprochen, da die Einheit vom Gesamtkonzept der Klasse 11 her
aufgebaut ist.
Schließlich können durch abschließende Fragen a) nach hermeneutischen
Voraussetzungen zum Verstehen der Bibel, b) nach Elementen des biblischen
Glaubensverständnisses und c) nach dem Verhältnis Religiosität - Existenz,
genauer, was einen religiösen Menschen auszeichnet, grundlegende Kriterien der
300
4-2 „…hinaus in die Tiefe…“
Arbeit im Religionsunterricht der Klasse 11 erarbeitet werden, so dass sich die
Einheit sehr gut als Einstieg in die Gesamtthematik von Klasse 11 eignet.
Methodisch ist die Konzeption darauf angelegt, die Schüler gleich zu Beginn von
Klasse 11 sowohl zu ermutigen, ins Detail zu gehen (und dafür ein Beispiel zu
geben), und zugleich ihnen das Gespür zu vermitteln, durch Exemplarisches auch
das Ganze in den Blick zu bekommen.
Kapitel
4-3
„Meine Wege erzählte ich und du antwortetest mir …
lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“
Ein Unterrichtsvorschlag zum Thema
„Religiöse Sprache“ 1
1
Ein Gebet als Unterrichtsgegenstand ?
1.a. Zur Begründung: Das oben als Motto des Kapitels angegebene Zitat ist
entnommen dem biblischen Psalm 119.2 Die Erschließung eines Gebets scheint für
einen exemplarischen Unterrichtsvorschlag zum Thema „religiöse Sprache“ auf den
ersten Blick denkbar ungeeignet, scheint dies doch der Intention des Paulus zu widersprechen, wonach nicht das entrückte geisterfüllte Reden und Sprechen der Erschließung des Glaubens dient, sondern nur das mit Verstand geäußerte (1 Kor 14).3 Beten
aber ist wohl kein Akt der verstandesmäßigen Auseinandersetzung mit dem Glauben,
sondern eine unmittelbare Äußerung von Glauben. Man findet sich hier vielleicht
schon jenseits der Grenze wieder, die zu übertreten nur aus der Binnenperspektive des
Glaubens möglich ist. Denn ein Gebet zu sprechen, das kann doch nur dem Glaubenden möglich sein. Somit scheint sich das Gebet einer vernünftigen Erschließung zu
entziehen. Und doch deutet Paulus selbst an, dass es durchaus möglich ist, auch mit
dem Verstand zu beten (1 Kor 14, 15). Reizvoll erscheint es darum, vernünftige
Zugangsweisen zu religiöser Sprache gerade an einem Gebet zu erschließen, nicht
1
Dieses Teilkapitel bietet eine um zusätzliche Kommentare und sachliche Ergänzungen erheblich
erweiterte Fassung des Teils 2 meines Beitrags: H. B. Petermann: „Wer Ohren hat zu hören, der
höre!“ - Religiöse Sprache verstehen; in: E. Martens & Ph. Thomas (Hg.): Praxishandbuch Philosophie. Bd. 4: Religionsphilosophie. München: bsv 2002. Teile dieser Ausführung werden eingehen in den von mir gemeinsam mit Philipp Thomas erarbeiten Band zur Religionsphilosophie in
der ebenfalls im bsv-Verlag erscheinenden Reihe „Philosophieren können“ (erscheint voraussichtlich Anfang 2003).
2
Psalm 119, 26 in der „Verdeutschung“ von Martin Buber. Heidelberg: Lambert Schneider 91982.
3
Die Ausführungen des Paulus in 1 Kor 14 bilden das Eingangszitat zum Kapitel 2-2, dem der erste
Teil des Beitrags zugrunde liegt, dessen zweiter Teil hier fortgesetzt wird. Das Zitat wird dort
genauer erläutert.
4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“
303
zuletzt um die möglicherweise gerade hier am tiefsten liegenden Vorurteile gegen
eine Auseinandersetzung mit Religion überhaupt und religiöse Sprache insbesondere
aufzubrechen.
Sieht man auf die Tradition der großen und philosophisch gebildeten wie einflussreichen Theologen, so erhält diese Möglichkeit sachlich Unterstützung und Nahrung:
"Groß bist du, o Herr, und hoch zu preisen, groß ist deine Kraft und unermesslich
deine Weisheit"; mit diesem Zitat aus dem Psalm 147 beginnt etwa Augustinus seine
berühmten Confessiones.4 Das Buch schließt auch mit einem Gebet, so dass das
Gebet dem gesamten Text nicht nur den Rahmen, sondern auch seine Form verleiht.
Liegt da nicht der Gedanke nahe, das Gebet liefere für die differenzierten theologischen und philosophischen Reflexionen, die zweifelsohne das Herzstück dieses
Buches bieten, nicht nur den Rahmen, in dem diese letztlich aufgehoben werden,
sondern sei vielmehr auch die innere Form dieser Reflexion, gleichsam als ihre Möglichkeitsbedingung? Das Gebet zu Beginn und am Ende relativiert nämlich keineswegs die in es eingeschlossenen Reflexionen, sondern hat im Gegenteil den Sinn,
auch wirklich mit allem Ernst in die Reflexion eintreten zu können. Augustinus überlegt daher in den dem Eingangszitat folgenden Sätzen weiter, zunächst einen scheinbaren Gegensatz aufmachend, ob es nun besser sei zu wissen und zu erkennen oder
besser anzurufen und zu preisen, um diesen Gegensatz unmittelbar wieder aufzulösen
durch die Einsicht "Doch wer wollte dich anrufen, ohne dich zu kennen?" Die rechte
Form des betenden Anrufens ist mithin nichts weniger als Gotteserkenntnis, und die
reflexive Erkenntnis erweist sich als wahre Form des Dankpreises gegenüber der
Gnade dieser Einsicht. Der weitere Text der Confessiones lässt sich dann konsequent
als intellektueller und reflexiver Weg dieser Selbstvergewisserung verstehen (s.u.).
1.b. Thema des Psalms 119 ist das geschriebene Wort, genauer die Gestaltwerdung
von Sprache im geschriebenen Wort.5 Das wird unten genauer zu erläutern sein. Die
4
Vgl. dazu den Abschnitt 2.8. des vorliegenden Kapitels, in dem Eingangs- wie Abschlussgebet der
Confessiones und die unmittelbar angeschlossenen bzw. vorausgehenden Reflexionen zum Gegenstand gemacht werden.
5
Auf eine genauere Exegese des Ps 119 kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht eingegangen
werden. Daher sei per Fußnote nur kurz wichtige Literatur erwähnt: Natürlich findet sich in den
gängigen AT-Kommentaren, sofern sie ein wenig detaillierter angelegt sind, meist auch ein
Hinweis auf den Ps 119 als Tora-Psalm. Das gilt auch für die (nicht sehr verbreiteten) SpezialKommentare zum Buch der Psalmen. Auffallend ist jedoch, dass sich nur sehr wenige Arbeiten
finden, die sich ausführlicher auch auf den Ps 119 spezialisieren. Einen umso höheren Stellenwert
darf daher auch heute noch beanspruchen die Monografie von Alfons Deissler (1965), zumal es
Deissler gelingt, genaue sprachliche Beobachtungen mit einleuchtenden und gut begründeten
theologischen Deutungen zu verbinden. Zwei neuere Monografien (Soll 1991, Freedman 1999)
hingegen sind zwar der sprachlichen Struktur noch detaillierter auf der Spur, was durchweg interessante und spannende Konsequenzen avisiert, sie scheinen dabei aber die theologische Botschaft
des Psalms eher nur am Rande im Blick zu haben, glauben zumindest auskommen zu können ohne
304
4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“
Auseinandersetzung mit dem Text führt insofern notwendig zur Reflexion von
Sprache, konkret etwa zur Frage der Spannung zwischen dem (bloß) geschriebenen
gegenüber dem gesprochenen Wort, andererseits zum zeitlich für je neue Deutungen
offenen Surplus des Geschriebenen gegenüber dem unmittelbar vergehenden Gesprochenen, weiterhin zur Dimension der Lebenserschließung durch Vergewisserung wie
Perspektivenöffnung durch Sprache, und natürlich zum Problem des Gewordenseins
von Sprache; zumindest am Horizont kann schließlich die Frage nach dem Sinn von
Schrift als heiliger bzw. vom Wort als Wort Gottes angesprochen werden.
1.c. Ziele: Begründung und problemorientierter Themenzuschnitt legen es daher
durchweg nahe, ein Gebet als Beispiel einer sinnvollen und vieldimensionalen Auseinandersetzung mit religiöser Sprache zu wählen. Daraus ergeben sich folgende
Zielsetzungen: Gerade an Psalm 119 lassen sich paradigmatisch erschließen
die ästhetische Dimension religiöser Texte
die Eigenart der Wirklichkeitsmitteilung in religiösen Texten
die Eigenart religiöser Sprache
der Charakter des Gebets als besonderer Form religiöser Sprache
die philosophische Dimension in religiösen Texten
die Weiterverarbeitung religiöser Texte in theologischer Literatur.
1.d. Methoden werden im folgenden Vorschlag exemplarisch vorgeschlagen und
andeutungsweise entfaltet. Vor eher diskursiven Wegen wird als Einstieg ein eher
präsentativer Zugang6 gewählt (2.1.). 2.2. arbeitet auch für die Material-Erschließung
eher erfahrungsorientiert. In 2.3. werden neben der diskursiven Form der Texterschließung auch Eigentätigkeiten der Schülerinnen und Schüler verlangt. Der Möglichkeit des Lehrervortrags wird in 2.4., 2.5. und 2.6. die Gruppenarbeit, auch als
Arbeit in Stationen gegenübergestellt. 2.7. stellt hohe Anforderungen an Textarbeit
oder arbeitet (im Alternativvorschlag) eher rezeptionsästhetisch bzw. dekonstruktiv.
Das Anspruchsniveau ist bewusst variabel gewählt, so dass Elemente bereits ab
Klasse 9, aber auch in der Sek II eingesetzt werden können.
die theologisch m.E. notwendige Reflexion auf den Wert einer linguistische Analyse, so als wäre
die Historismus-Gefahr historisch-kritischer Exegese nie eigentlich debattiert worden. Auch aus
diesem Grunde meine ich es mir erlauben zu können, einige Beobachtungen zum Psalm 119 ohne
ausführliche Erkundung der exegetischen Literatur zu machen.
6
Zur Erläuterung präsentativer Unterrichtsformen vgl. meine Ausführungen in der Einleitung,
Abschnitt 2, sowie auch die Kapitel 4-1 und 4-3.
4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“
2
305
Der Unterrichtsvorschlag
In den folgenden Punkten werden einzelne Phasen des Unterrichtsmodells kurz
skizziert, mit den notwendigen Erklärungen versehen und dazu mögliche Arbeitsvorschläge unterbreitet.
2.1. Als ersten Zugang wähle ich die Konfrontation mit der äußeren Form des
Textes. Ein Zugang über das Hören kann sich in Unkundigkeit der hebräischen
Sprache nur schwer einstellen. Mithilfe einer visuellen Übersicht ist jedoch ein erster
bereits erschließender Zugang möglich. Am besten für diesen zunächst rein ästhetischen Zugang ist die Auseinandersetzung mit dem gesamten Psalm ohne Verszählung geeignet, wie er auf den beiden folgenden Seiten abgebildet ist.7
Ersatzweise wäre auch die folgende Kurzfassung möglich, in der die ersten beiden
Buchstabengruppen a b vollständig, die folgenden acht g d h w z x j y mit ihrem
Anfang zitiert sind; der Übersicht halber sind dabei die jeweils ersten Buchstaben
hervorgehoben:
`hw"hy> tr;AtB. ~ykilh. ho ; %r,d'-ymeymit. yrev.a;
`WhWvr>d>yI ble-lk'B. wyt'do[e yrec.nO yrev.a;
`^yt,xor>ao hj'yBia;w> hx'yfia' ^yd,QupiB.
…
`^r,b'D> xK;v.a, al{ [v'[]T;v.a, ^yt,QoxuB.
… ^D,b.[;l. rb'D'-rkoz>
`Wkl'h' wyk'r'd>Bi hl'w>[; Wl[]p'-al{ @a;
`^r,b'd> hr'm.v.a,w> hy<x.a, ^D>b.[;-l[; lmoG>
`daom. rmov.li ^yd,Qupi ht'yWIci hT'a;
`^t,r'ATmi tAal'p.nI hj'yBia;w> yn:y[e-lG:
`^yQ,xu rmov.li yk'r'd> WnKoyI yl;x]a;
`^yt,wOc.mi yNIM,mi rTes.T;-la; #r,a'b' ykinOa' rGE
`^yt,wOc.mi-lK'-la yjiyBih;B. vAbae-al{ za'
`t[e-lk'b. ^yj,P'v.mi-la, hb'a]t;l. yvip.n:
…
`^q,d>ci yjeP.v.mi ydIm.l'B. bb'le rv,yOB. ^d>Aa
hs'r>G"
… t'yfi[' bAj
`daom.-d[; ynIbez>[;T;-la; rmov.a, ^yQ,xu-ta,
…
…
`^r,b'd>Ki rmov.li Axr>a'-ta, r[;N:-hK,z:y> hM,B;
… rp'[l' , hq'bD
. '
… ynIWf[' ^yd,y"
`^yt,wOc.Mimi ynIGEv.T;-la; ^yTiv.r;d> yBili-lk'B.
…
`%l'-aj'x/a, al{ ![;m;l. ^t,r'm.ai yTin>p;c' yBiliB.
… hw"hy> ynIreAh
`^yQ,xu ynIdeM.l; hw"hy> hT'a; %WrB'
7
`^ypi-yjeP.v.mi lKo yTir>P;si yt;p'f.Bi
…
`!Ah-lK' l[;K. yTif.f; ^yt,wOd>[e %r,d,B.
…^d,s'x] ynIauboywI
…
… hw"hy> yqil.x,
Es folgen 84 weitere Verse mit
den Buchstaben k l m n s [ p
c q r f bzw.v bis zum letzten
Buchstaben
… ytiN"rI br;qT
.
Nur der Klarheit halber hier der Hinweis, dass der Text natürlich rechtsbündig beginnt, also auf
Seite 307 rechts oben mit a und auf Seite 306 unten links endet mit t.
306
4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“
`!w<a'-lk' yBi-jl,v.T;-la;w> ^t,r'm.aiB. !keh' ym;['P.
`^yd,WQPi hr'm.v.a,w> ~d'a' qv,[ome ynIdeP.
`^yQ,xu-ta, ynIdeM.l;w> ^D,b.[;B. raeh' ^yn<P'
`^t,r'At Wrm.v'-al{ l[; yn"y[e Wdr>y" ~yIm;-ygEl.P;
`^yj,P'v.mi rv'y"w> hw"hy> hT'a; qyDIc;
`daom. hn"Wma/w< ^yt,do[e qd,c, t'yWIci
`yr'c' ^yr,b'd> Wxk.v'-yKi ytia'n>qi ynIt.t;M.ci
`Hb'hea] ^D>b.[;w> daom. ^t.r'm.ai hp'Wrc.
`yTix.k'v' al{ ^yd,QuPi hz<b.nIw> ykinOa' ry[ic'
`tm,a/ ^t.r'Atw> ~l'A[l. qd,c, ^t.q'd>ci
`y['vu[]v; ^yt,wOc.mi ynIWac'm. qAcm'W-rc;
`hy<x.a,w> ynInEybih] ~l'A[l. ^yt,wOd>[e qd,c,
`hr'Coa, ^yQ,xu hw"hy> ynInE[] ble-lk'b. ytiar'q'
`^yt,do[e hr'm.v.a,w> ynI[eyviAh ^ytiar'q.
`yTil.x'yI Î^r>b'd>liÐ ¿^yr,b'd>liÀ h['WEv;a]w" @v,N<b; yTim.D;qi
`^t,r'm.aiB. x;yfil' tArmuv.a; yn:y[e WmD>qi
`ynIYEx; ^j,P'v.miK. hw"hy> ^D,s.x;k. h['m.vi yliAq
`Wqx'r' ^t.r'ATmi hM'zI yped>ro Wbr>q'
`tm,a/ ^yt,wOc.mi-lk'w> hw"hy> hT'a; bArq'
`~T'd>s;y> ~l'A[l. yKi ^yt,do[eme yTi[.d;y" ~d,q,
`yTix.k'v' al{ ^t.r'At-yKi ynIceL.x;w> yyIn>['-haer>
`ynIYEx; ^t.r'm.ail. ynIlea'g>W ybiyrI hb'yrI
`Wvr'd' al{ ^yQ,xu-yKi h['Wvy> ~y[iv'r>me qAxr'
`ynIYEx; ^yj,P'v.miK. hw"hy> ~yBir; ^ym,x]r;
`ytiyjin" al{ ^yt,wOd>[eme yr'c'w> yp;d>ro ~yBir;
`Wrm'v' al{ ^t.r'm.ai rv,a] hj'j'Aqt.a,w" ~ydIg>bo ytiyair'
`ynIYEx; ^D>s.x;K. hw"hy> yTib.h'a' ^yd,WQpi-yKi haer>
`^q,d>ci jP;v.mi-lK' ~l'A[l.W tm,a/ ^r>b'D>-varo
`yBili dx;P' Î^r>b'D>miWÐ ¿^yr,b'D>miWÀ ~N"xi ynIWpd'r> ~yrIf'
`br' ll'v' aceAmK. ^t,r'm.ai-l[; ykinOa' ff'
`yTib.h'a' ^t.r'AT hb'[et;a]w: ytianEf' rq,v,
`^q,d>ci yjeP.v.mi l[; ^yTil.L;hi ~AYB; [b;v,
`lAvk.mi Aml'-!yaew> ^t,r'At ybeh]aol. br' ~Alv'
`ytiyfi[' ^yt,wOc.miW hw"hy> ^t.['Wvyli yTir>B;fi
`daom. ~beh]aow" ^yt,do[e yvip.n: hr'm.v'
`^D,g>n< yk;r'D>-lk' yKi ^yt,do[ew> ^yd,WQpi yTir>m;v'
`ynInEybih] ^r>b'd>Ki hw"hy> ^yn<p'l. ytiN"rI br;q.Ti
`ynIleyCih; ^t.r'm.aiK. ^yn<p'l. ytiN"xiT. aAbT'
`^yQ,xu ynIdeM.l;t. yKi hL'hiT. yt;p'f. hn"[.B;T;
`qd,C, ^yt,wOc.mi-lk' yKi ^t,r'm.ai ynIAvl. ![;T;
`yTir>x'b' ^yd,WQpi yKi ynIrez>['l. ^d>y"-yhiT.
`y['vu[]v; ^t.r'Atw> hw"hy> ^t.['Wvyli yTib.a;T'
`ynIruz>[]y: ^j,P'v.miW &'l,l.h;t.W yvip.n:-yxiT.
`yTix.k'v' al{ ^yt,wOc.mi yKi ^D,b.[; vQeB; dbeao hf,K. ytiy[iT'
`~yIm'V'B; bC'nI ^r>b'D> hw"hy> ~l'A[l.
`dmo[]T;w: #r,a, T'n>n:AK ^t,n"Wma/ rdow" rdol.
`^yd,b'[] lKoh; yKi ~AYh; Wdm.[' ^yj,P'v.mil.
`yyIn>['b. yTid>b;a' za' y['vu[]v; ^t.r'At yleWl
`ynIt'yYIxi~b' yKi ^yd,WQPi xK;v.a,-al{ ~l'A[l.
`yTiv.r'd' ^yd,WQpi yKi ynI[eyviAh ynIa]-^l.
`!n"ABt.a, ^yt,do[e ynIdeB.a;l. ~y[iv'r> WWqi yli
`daom. ^t.w"c.mi hb'x'r> #qe ytiyair' hl'k.Ti lk'l.
`ytix'yfi ayhi ~AYh;-lK' ^t,r'At yTib.h;a'-hm'
`yli-ayhi~l'A[l. yKi ^t,wOc.mi ynImeK.x;T. yb;y>aome
`yli hx'yfi^yt,wOd>[e yKi yTil.K;f.hi yd;M.l;m.-lK'mi
`yTir>c'n" ^yd,WQpi yKi !n"ABt.a, ~ynIqeZ>mi
`^r,b'D> rmov.a, ![;m;l. yl'g>r; ytialiK' [r' xr;ao-lK'mi
`ynIt'reAh hT'a;-yKi yTir>s'-al{ ^yj,P'v.Mimi
`ypil. vb;D>mi ^t,r'm.ai yKixil. Wcl.m.NI-hm;
`rq,v' xr;ao-lK' ytianEf' !Ke-l[; !n"ABt.a, ^yd,WQPimi
`ytib'ytin>li rAaw> ^r,b'd> ylig>r;l.-rnE
`^q,d>ci yjeP.v.mi rmov.li hm'YEq;a]w" yTi[.B;v.nI
`^r,b'd>ki ynIYEx; hw"hy> daom.-d[; ytiynE[]n:
`ynIdeM.l; ^yj,P'v.miW hw"hy> an"-hcer> yPi tAbd>nI
`yTix.k'v' al{ ^t.r'Atw> dymit' yPik;b. yvip.n:
`ytiy[it' al{ ^yd,WQPimiW yli xP; ~y[iv'r> Wnt.n"
`hM'he yBili !Aff.-yKi ~l'A[l. ^yt,wOd>[e yTil.x;n"
`bq,[e ~l'A[l. ^yQ,xu tAf[]l; yBili ytiyjin"
`yTib.h'a' ^t.r'Atw> ytianEf' ~ypi[]se
`yTil.x'yI ^r>b'd>li hT'a' yNIgIm'W yrIt.si
`yh'l{a/ twOc.mi hr'C.a,w> ~y[irem. yNIM,mi-WrWs
`yrIb.Fimi ynIveybiT.-la;w> hy<x.a,w> ^t.r'm.aik. ynIkem.s'
`dymit' ^yQ,xub. h['v.a,w> h['veW"aiw> ynIde['s.
`~t'ymir>T; rq,v,-yKi ^yQ,xume ~ygIAv-lK' t'ylis'
`^yt,do[e yTib.h;a' !kel' #r,a'-y[ev.rI-lk' T'B;v.hi ~ygIsi
`ytiarey" ^yj,P'v.MimiW yrIf'b. ^D>x.P;mi rm;s'
`yq'v.[ol. ynIxeyNIT;-lB; qd,c,w" jP'v.mi ytiyfi['
`~ydIzE ynIquv.[;y:-la; bAjl. ^D>b.[; bro[]
`^q,d>ci tr;m.ail.W ^t,['Wvyli WlK' yn:y[e
`ynIdeM.l; ^yQ,xuw> ^D,s.x;k. ^D>b.[;-~[i hfe[]
`^yt,do[e h['d>aew> ynInEybih] ynIa'-^D>b.[;
`^t,r'AT Wrpehe hw"hyl; tAf[]l; t[e
`zP'miW bh'Z"mi ^yt,wOc.mi yTib.h;a' !Ke-l[;
`ytianEf' rq,v, xr;ao-lK' yTir>V'yI lko ydeWQPi-lK' !Ke-l[;
`yvip.n: ~t;r'c'n> !Ke-l[; ^yt,wOd>[e tAal'P.
`~yyIt'P. !ybime ryaiy" ^yr,b'D> xt;Pe
`yTib.a'y" ^yt,wOc.mil. yKi hp'a'v.a,w" yTir>[;p'-yPi
`^m,v. ybeh]aol. jP'v.miK. ynINEx'w> yl;ae-hnEP.
4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“
307
`hw"hy> tr;AtB. ~ykil.hoh; %r,d'-ymeymit. yrev.a;
`yTiv.r'd' ^yd,Qupi yKi hb'x'r>b' hk'L.h;t.a,w>
`WhWvr>d>yI ble-lk'B. wyt'do[e yrec.nO yrev.a;
`vAbae al{w> ~ykil'm. dg<n< ^yt,do[eb. hr'B.d;a]w:
`Wkl'h' wyk'r'd>Bi hl'w>[; Wl[]p'-al{ @a;
`yTib.h'a' rv,a] ^yt,wOc.miB. [v;[]T;v.a,w>
`daom. rmov.li ^yd,Qupi ht'yWIci hT'a;
`^yQ,xub. hx'yfia'w> yTib.h'a' rv,a] ^yt,wOc.mi-la, yP;k;-aF'a,w>
`^yQ,xu rmov.li yk'r'd> WnKoyI yl;x]a;
`ynIT'l.x;yI rv,a] l[; ^D,b.[;l. rb'D'-rkoz>
`^yt,wOc.mi-lK'-la yjiyBih;B. vAbae-al{ za'
`ynIt.Y"xi ^t.r'm.ai yKi yyIn>['b. ytim'x'n< tazO
`^q,d>ci yjeP.v.mi ydIm.l'B. bb'le rv,yOB. ^d>Aa
`ytiyjin" al{ ^t.r'ATmi daom.-d[; ynIcuylih/ ~ydIzE
`daom.-d[; ynIbez>[;T;-la; rmov.a, ^yQ,xu-ta,
`~x'n<t.a,w" hw"hy> ~l'A[me ^yj,P'v.mi yTir>k;z"
`^r,b'd>Ki rmov.li Axr>a'-ta, r[;N:-hK,z:y> hM,B;
`^t,r'AT ybez>[o ~y[iv'r>me ynIt.z:x'a] hp'['l.z:
`^yt,wOc.Mimi ynIGEv.T;-la; ^yTiv.r;d> yBili-lk'B.
`yr'Wgm. tybeB. ^yQ,xu yli-Wyh' tArmiz>
`%l'-aj'x/a, al{ ![;m;l. ^t,r'm.ai yTin>p;c' yBiliB.
`^t,r'AT hr'm.v.a,w" hw"hy> ^m.vi hl'y>L;b; yTir>k;z"
`^yQ,xu ynIdeM.l; hw"hy> hT'a; %WrB'
`yTir>c'n" ^yd,Qupi yKi yLi-ht'y>h' tazO
`^ypi-yjeP.v.mi lKo yTir>P;si yt;p'f.Bi
`^yr,b'D> rmov.li yTir>m;a' hw"hy> yqil.x,
`!Ah-lK' l[;K. yTif.f; ^yt,wOd>[e %r,d,B.
`^t,r'm.aiK. ynINEx' ble-lk'b. ^yn<p' ytiyLixi
`^yt,xor>ao hj'yBia;w> hx'yfia' ^yd,QupiB.
`^yt,do[e-la, yl;g>r; hb'yvia'w" yk'r'd> yTib.V;xi
`^r,b'D> xK;v.a, al{ [v'[]T;v.a, ^yt,QoxuB.
`^yt,wOc.mi rmov.li yTih.m'h.m;t.hi al{w> yTiv.x;
`^r,b'd> hr'm.v.a,w> hy<x.a, ^D>b.[;-l[; lmoG>
`yTix.k'v' al{ ^t.r'AT ynIduW>[i~y[iv'r> yleb.x,
`^t,r'ATmi tAal'p.nI hj'yBia;w> yn:y[e-lG:
`^q,d>ci yjeP.v.mi l[; %l' tAdAhl. ~Wqa' hl'y>l;-tAcx]
`^yt,wOc.mi yNIM,mi rTes.T;-la; #r,a'b' ykinOa' rGE
`^yd,WQPi yrem.vol.W^Warey> rv,a]-lk'l. ynIa' rbex'
`t[e-lk'b. ^yj,P'v.mi-la, hb'a]t;l. yvip.n: hs'r>G"
`ynIdeM.l; ^yQ,xu #r,a'h' ha'l.m' hw"hy> ^D>s.x;
`^yt,wOc.Mimi ~ygIVoh; ~yrIWra] ~ydIzE T'r>[;G"
`^r,b'd>Ki hw"hy> ^D>b.[;-~[i t'yfi[' bAj
`yTir>c'n" ^yt,do[e yKi zWbw" hP'r>x, yl;['me lG:
`yTin>m'a/h, ^yt,wOc.mib. yKi ynIdeM.l; t[;d;w" ~[;j; bWj
`^yQ,xuB. x;yfiy" ^D>b.[; WrB'd>nI yBi ~yrIf' Wbv.y" ~G
`yTir>m'v' ^t.r'm.ai hT'[;w> ggEvo ynIa] hn<[/a, ~r,j,
`ytic'[] yven>a; y['vu[]v; ^yt,do[e-~G:
`^yQ,xu ynIdeM.l; byjimeW hT'a;-bAj
`^r,b'd>Ki ynIYEx; yvip.n: rp'['l, hq'b.D'
`^yd,WQPi rCoa/ ble-lk'B. ynIa] ~ydIzE rq,v, yl;[' Wlp.j'
`^yQ,xu ynIdeM.l; ynInE[]T;w: yTir>P;si yk;r'D>
`yTi[.v'[]vi ^t.r'AT ynIa] ~B'li bl,xeK; vp;j'
`^yt,Aal.p.nIB. hx'yfia'w> ynInEybih] ^yd,WQPi-%r,D,
`^yQ,xu dm;l.a, ![;m;l. ytiyNE[u-yki yli-bAj
`^r,b'd>Ki ynImeY>q; hg"WTmi yvip.n: hp'l.D'
`@s,k'w" bh'z" ypel.a;me^yPi-tr;At yli-bAj
`ynINEx' ^t.r'Atw> yNIM,mi rseh' rq,v,-%r,D,
`^yt,wOc.mi hd'm.l.a,w> ynInEybih] ynIWnn>Aky>w: ynIWf[' ^yd,y"
`ytiyWIvi ^yj,P'v.mi yTir>x'b' hn"Wma/-%r,D,
`yTil.x'yI ^r>b'd>li yKi Wxm'f.yIw> ynIWar>yI ^ya,rey>
`ynIveybiT.-la; hw"hy> ^yt,wOd>[eb. yTiq.b;D'
`ynIt'yNI[i hn"Wma/w< ^yj,P'v.mi qd,c,-yKi hw"hy> yTi[.d;y"
`yBili byxir>t; yKi #Wra' ^yt,wOc.mi-%r,D,
`^D,b.[;l. ^t.r'm.aiK. ynImex]n:l. ^D>s.x; an"-yhiy>
`bq,[e hN"r,C.a,w> ^yQ,xu %r,D, hw"hy> ynIreAh
`y['vu[]v; ^t.r'At-yKi hy<x.a,w> ^ym,x]r; ynIWaboy>
`ble-lk'b. hN"r,m.v.a,w> ^t,r'At hr'C.a,w> ynInEybih]
`^yd,WQpiB. x;yfia' ynIa] ynIWtW>[i rq,v,-yKi~ydIzE WvboyE
`yTic.p'x' Ab-yKi ^yt,wOc.mi bytin>Bi ynIkeyrId>h;
`^yt,do[e Îy[ed>yOw>Ð ¿W[d>y"w>À^ya,rey> yli WbWvy"
`[c;B'-la, la;w> ^yt,wOd>[e-la, yBili-jh;
`vAbae al{ ![;m;l. ^yQ,xuB. ~ymit' yBili-yhiy>
`ynIYEx; ^k,r'd>Bi aw>v' tAar>me yn:y[e rbe[]h;
`yTil.x'yI ^r>b'd>li yvip.n: ^t.['Wvt.li ht'l.K'
`^t,a'r>yIl. rv,a] ^t,r'm.ai ^D>b.[;l. ~qeh'
`ynImex]n:T. yt;m' rmoale ^t,r'm.ail. yn:y[e WlK'
`~ybiAj ^yj,P'v.mi yKi yTir>gOy" rv,a] ytiP'r>x, rbe[]h;
`yTix.k'v' al{ ^yQ,xu rAjyqiB. danOK. ytiyyIh'-yKi
`ynIYEx; ^t.q'd>ciB. ^yd,Qupil. yTib.a;T' hNEhi
`jP'v.mi yp;d>rob. hf,[]T; yt;m'^D,b.[;-ymey> hM'K;
`^t,r'm.aiK. ^t.['WvT. hw"hy> ^d,s'x] ynIauboywI
`^t,r'Atk. al{ rv,a] tAxyvi ~ydIzE yli-WrK'
`^r,b'd>Bi yTix.j;b'-yKi rb'd' ypir>xo hn<[/a,w>
`ynIrez>[' ynIWpd'r> rq,v, hn"Wma/ ^yt,wOc.mi-lK'
`^yd,wQupi yTib.z:['-al{ ynIa]w: #r,a'b' ynIWLKi j[;m.Ki `yTil.x'yI ^j,P'v.mil. yKi daom.-d[; tm,a/-rb;d> yPimi lCeT;-la;w>
`d[,w" ~l'A[l. dymit' ^t.r'At hr'm.v.a,w>
`^yPi tWd[e hr'm.v.a,w> ynIYEx; ^D>s.x;K.
308
4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“
Zielsetzung dieses ersten Schritts ist es, über den rein ästhetischen Zugang (hier den
bloßen visuellen Eindruck) ein Gefühl für die Wirkmächtigkeit des geschriebenen
Wortes zu erlangen. Sprache gewinnt als geschriebene gegenüber der bloß gesprochenen einen höheren Grad von Eindringlichkeit und Orientierung. Im Judentum
scheint dies derart wichtig zu sein, dass diesem Thema ein ganzes Lied-Gebet
gewidmet ist.
Im einzelnen ist dies über folgende Phasen erreichbar:
Die unmittelbare Konfrontation mit der Textgestalt, wie abgebildet am besten
ohne Verszählung am Rande, führt zur Frage nach einem der Anordnung der
abgebildeten Zeichens zugrundeliegenden System.
Die Optik dieses längsten Psalms der Bibel verdeutlicht eine sehr klare Ordnung:
Die Druckansicht wird schnell zu der Vermutung führen, dass es sich hier um
eine in Versform geschriebene Sprache handelt, die man von rechts nach links
schreibt. Je 8 Verse beginnen, das sieht auch der Laie bald, mit dem jeweils
gleichen Buchstaben. Die insgesamt 176 Verse sind somit in 22 Gruppen à 8
Versen aufgeteilt. Die Vermutung, dass es sich bei den 22 Gruppen um die 22
Buchstaben des hebräischen Alphabets handelt, findet schnell ihre Bestätigung.
Die Arbeit am Text wird konkretisiert durch die Aufgabe, die Verse durchzuzählen und ihnen eine durch das Schriftbild selbst offenkundige Ordnung zu
geben.
Das Ergebnis von 22 mal 8 Versen mit je gleichem Anfang wird zur Information
über die Struktur der hebräischen Schrift mit 22 Buchstaben führen, die gereiht
von rechts nach links zu lesen sind.
Mit einer Tabelle aus einer hebräischen Sprachlehre lassen sich leicht die 22
Buchstaben auch benennen. Ergänzend kann auf die Bedeutung der 8-Zahl in der
sehr viel später in der italienischen Lyrik gebräuchlichen Stanzenform verwiesen
werden. In der jüdischen Zahlenmystik kommt der „8“ die Bedeutung
vollendeter, ewiger Abgeschlossenheit zu.
Schließlich kann als Übergang zum nächsten Schritt die Frage nach dem Sinn
solcher Textgestalt aufgeworfen werden. Leicht werden dabei Hinweise sich
ergeben, dass hier die Struktur von Sprache selbst zum Thema gemacht wird.
Als fächerübergreifende Zusatzaufgabe lassen sich mithilfe einer hebräischen
Sprachlehre relativ leicht Teile des Textes auch entziffern und versuchsweise
lesen.
4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“
309
2.2. Der folgende Schritt ergibt sich konsequent aus dem ersten: In einer zunehmend
dianoetisch-wissenschaftlich bestimmten Gesellschaft erscheint es als teilweise auch
kruder Anachronismus, wenn in Talmud-Schulen, vor allem aber in Koran-Schulen
religiöser Text schlicht auswendig gelernt wird, scheinbar ohne Sinn und verständige
Auseinandersetzung. Solche Rezitation religiöser Texte ist freilich in allen Religionen
beheimatet. Zumindest in katholischen Kirchen (mehr noch natürlich in den Ostkirchen) kennt das Christentum die Litanei, in der formelhaft nach jedem Namen ein
„ora pro nobis“ oder Ähnliches wiederholt wird. Aber auch andere Religionen wie
der Lamaismus kennen sog. „Gebetsmühlen“. Auf solche religiösen Vollzüge ist in
einem zweiten Schritt hinzuweisen. Am deutlichsten mag das gelingen durch Verweis
auf die Schönheit als letztem Sinn-Kriterium für religiöse Texte, wie es der (traditionelle) Islam in der ritualisierten und hochartifiziellen Rezitation der Koran-Suren
pflegt.8 Und die im gregorianischen Choral gesungenen Stundengebete erleben eine
Renaissance nicht nur in der mönchischen Tradition, sondern gerade auch in kirchlich
eher indifferenten oder gar ablehnenden Kreisen.
Das Ziel dieses Schritts: Die Konfrontation mit der vielen Religionen eigenen
ästhetischen Ritualisierung religiöser Texte verweist auf die existentielle Bedeutung,
die das Sprechen religiöser Texte in den Religionen hat. – Gemeint ist damit: Was
zunächst ästhetisch wirkt, also auf der Ebene sinnlicher Wahrnehmung, bleibt haften
in eher affektiv-emotionaler Weise. Damit wird nicht die logische Auseinandersetzung angesprochen, sondern eine unsere Existenz tiefer in Anspruch nehmende
Begegnung mit dem Religiösen.
Folgende Möglichkeiten bieten sich zur Erarbeitung an:
Eventuell bekannte Rezitations-Traditionen in den Religionen durch die
Schülerinnen und Schüler nennen lassen.
Beispiele ritualisierter Rezitation durch Tonträger dokumentieren.9
Kleine Informationen der Hintergründe können zur Einordnung helfen; so etwa
die Erläuterung des Begriffs „Stundengebet“ in der christlichen Tradition.
Auf diesem Hintergrund kann man sich in freiem Gespräch über den
ästhetischen Zugang dem Sinn solcher Rezitationen nähern, etwa durch den
Gedanken der im Gebetsrhythmus ritualisierten Zeit, der durch die
Wiederholung sich vollziehenden Verinnerlichung, der durch die quasi
8
Exemplarisch sei dazu verwiesen auf das Buch von Navid Kermani: Gott ist schön. Das ästhetische
Erleben des Koran. München: Beck 1999. Vgl. dazu den nachfolgend präsentierten Textauszug.
9
Für die Gregorianik gibt es eine vielfältige Auswahl. Für die Qur’an-Rezitation im Islam ist
empfehlenswert die CD Nr.13150-2 bei Celestial Harmonies. Aufnahmen zu buddhistische SutrenRezitationen sind schwerer zu besorgen.
310
4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“
reflexionslose Gestaltung deutlichen Aktivierung der ästhetischen, auf
sinnliche Erfahrung und Genuss angelegten Lebensäußerung etc.
Bei Bedarf ist der Einsatz auch eines theoretisch-erläuternden Textes zu dieser
Thematik möglich.
Dazu eignen sich sehr gut die nachfolgend von mir zusammengestellten Auszüge aus Navid
10
Kermani: Gott ist schön (1999) . Kompakt lässt sich damit Kermanis keineswegs neue, aber
eindrucksvoll neu herausgearbeitete These erschließen von der Schönheit des Koran als seiner
eigentümlichen Botschaft. Im ersten Teil ist der ästhetische Charakter von Religionen
überhaupt auf den Punkt gebracht, während die nachfolgenden Passagen den besonderen
Charakter des Koran verdeutlichen:
10
Die nachfolgenden [ in Kopie ] vorgelegten Auszüge stammen aus den Seiten 9 und 12f. (für den
ersten Abschnitt) sowie 19f., 25f., 69, 39, 114, 150.
4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“
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4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“
4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“
313
Der Textauszug ließe sich z.B. durch folgende Fragen erschließen und bearbeiten:
1. Fassen Sie zusammen: Aufgrund welcher Elemente gilt der Koran als vor allem auch
ästhetisch bedeutsames Dokument?
2. Diskutieren Sie, welche Konsequenzen Kermanis Deutung hat für die Beschäftigung oder
auch einfach Rezitation des Koran a) für gläubige Muslime, b) für nicht glaubende
Menschen.
3. Besorgen Sie sich ein Tondokument zur Rezitation des Koran. Prüfen Sie: Können Sie die
von Kermanis an Sure 39:23 und dem Zitat von Abû Zahra veranschaulichten Aussagen
nachvollziehen?
4. Überlegen Sie: Was bedeutet Kermanis These für jeden Versuch, sich mit den Inhalten des
Koran auseinander zu setzen?
5. Suchen Sie nach Beispielen in anderen Religionen, wonach religiösen Texten eine ähnliche
eher ästhetische Bedeutung zukommt.
2.3 Ein hervorragend geeigneter Text, der die ersten Eindrücke und Fragen nun auf
ein theoretisches Gerüst stellt, ist Martin Bubers „Beilage“ zu seiner „Verdeutschung“ der Hebräischen Bibel. Zur Erarbeitung empfiehlt sich die folgende Zusammenfassung:
5
10
15
20
25
Ein Doppeltes hebt die Schrift, das sogenannte
Alte Testament, von den großen Büchern der
Weltreligionen ab.
Das eine ist, dass Ereignis und Wort hier
durchaus im Volk, in der Geschichte, in der
Welt stehen. Was sich begibt, begibt sich nicht
in einem ausgesparten Raum zwischen Gott
und dem Einzelnen … Das Heilige dringt in
die Geschichte ein, ohne sie zu entrechten.
Und das andere ist, dass hier ein Gesetz
spricht, das dem natürlichen Leben des
Menschen gilt, … der triebhafte, der leidenschaftliche Mensch wird angenommen, wie er
ist … Das Heilige dringt in die Natur ein, ohne
sie zu vergewaltigen.
Fasst man [die Schrift] als „religiöses Schrifttum“, … dann versagt es, und dann muss man
sich ihm versagen. Fasst man es als Abdruck
einer lebenumschließenden Wirklichkeit, dann
fasst man es, und dann erfasst es einen.
Der spezifisch heutige Mensch aber vermag
dies kaum noch. Wenn er an der Schrift überhaupt noch „Interesse“ nimmt, dann eben ein
„religiöses“ - zumeist nicht einmal das, sondern ein „religionsgeschichtliches“ oder ein
30
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50
„kulturgeschichtliches“ oder ein „ästhetisches“
und dergleichen mehr, jedenfalls ein Interesse
des abgelösten, in autonome Bereiche „aufgeteilten“ Geistes. Er stellt sich dem biblischen
Wort nicht mehr, wie die früheren Geschlechter, um auf es zu hören, er konfrontiert sein
Leben nicht mehr mit dem Wort …
Dem „heutigen Menschen“ ist die Glaubenssicherheit nicht zugänglich und kann ihm nicht
zugänglich gemacht werden … Aber die
Glaubensaufgeschlossenheit ist ihm nicht
versagt. Auch er kann sich, eben wenn er mit
der Sache wahrhaft Ernst macht, diesem Buch
auftun und sich von dessen Strahlen treffen
lassen … Dazu muss er freilich die Schrift
vornehmen, als kennte er sie noch nicht; als
hätte er sie nicht in der Schule und seither im
Schein „religiöser“ und „wissenschaftlicher“
Sicherheiten vorgesetzt bekommen … Er
glaubt nichts von vornherein, er glaubt nichts
von vornherein nicht. Er liest laut, was dasteht,
er hört das Wort, das da spricht, und es kommt
zu ihm, nichts ist präjudiziert, der Strom der
Zeiten strömt, und dieses Menschen Heutigkeit
wird selber zum auffangenden Gefäß.
314
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70
4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“
Die Hebräische Bibel ist wesentlich durch die
Sprache der Botschaft geprägt und gefügt …
Wir lesen Psalmen, die uns nichts andres zu
sagen scheinen als den Hilferuf des gepeinigten Menschen nach oben, aber wir brauchen
nur recht hinzuhören, um zu erkennen, dass da
nicht ein beliebiger Mensch, sondern einer
redet, der unter der Offenbarung steht und
auch noch aufschreiend sie bezeugt … Es
hieße, die Art der Bibel gründlich verkennen,
wenn man annähme, dass sie die Botschaft
jeweils anheftete, wie schlechten Parabeln eine
„Moral“ anhaftet; … alles in der Schrift ist
echte Gesprochenheit, der gegenüber „Inhalt“
und „Form“ als die Ergebnisse einer Pseudoanalyse erscheinen; so kann denn auch die
Botschaft, wo sie sich unmittelbar ausspricht,
nicht zur Anmerkung oder zum Kommentar
zusammenschrumpfen. Sie dringt ein in die
Gestaltung, sie bestimmt die Gestalt mit …
Die hebräischen Laute haben für einen Leser,
der kein Hörer mehr ist, ihre Unmittelbarkeit
eingebüßt, sie sind von der stimmlosen theo-
75
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95
logisch-literarischen Beredsamkeit durchsetzt
und werden durch sie genötigt … Dies erkennen, heißt freilich dem Übersetzer eine
grundsätzlich unerfüllbare Aufgabe zuweisen;
denn das Besondere ist eben das Besondere
und kann nicht „wiedergegeben“ werden, die
Sinnlichkeiten der Sprachen sind verschieden,
ihre Vorstellungen und ihre Weisen sie auszuspinnen, ihre Innervationen und ihre Bewegungen, ihre Leidenschaften und ihre Musik.
Grundsätzlich kann denn auch Botschaft, in
ihrer schicksalhaften Verschweißung von Sinn
und Laut, nicht übertragen werden; sie kann es
nur praktisch: annährend…; denn nicht in den
„Quellen“, sondern hier ist in Wahrheit Bibel,
das nämlich, was zu Zeugnissen und Urkunden
hinzutritt: zeitenverschmelzender Glaube an
Empfang und Übergabe, das Zusammensehen
aller Wandlungen in der Ruhe des Wortes.
Von diesem Wissen um lebendige Einheit ist
das Verhältnis unsrer Übertragung zum Text
bestimmt.
Buber spricht auf diesen Seiten11 folgende Themen an:
(a) den eigentümliche Inhalt der Schrift,
(b) die mangelnde Aufgeschlossenheit des heutigen Menschen zum Verstehen der
Schrift,
(c) der existentielle Anspruch der Schrift,
(d) die Sinnlichkeit der Sprache als Ausdruck für den Lebensbezug der Schrift,
(e) die Schrift als unmittelbares Zeugnis, die nicht eine Moral hinter ihren Sätzen
transportieren will.
Alle Punkte sind für unseren Zusammenhang von entscheidender Bedeutung. Als
heuristische Folie zur weiteren Erläuterung des Ps 119 lassen sich auf der Grundlage
des Buber-Textes eine Reihe von Fragen formulieren, etwa:
Nach Buber steht das biblische Wort mitten im „natürlichen Leben des
Menschen"; wo kommt dies im Ps 119 zum Ausdruck?
11
Aus: Martin Buber: Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift. Beilage zum ersten Band von „Die
Schrift“. Heidelberg: Lambert Schneider 1954, S. 3ff.
4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“
315
Was fühle, erlebe ich, was möchte ich unmittelbar aussprechen, wenn ich, wie
Buber es empfiehlt, ohne Vorkenntnisse zum Text, laut lese und höre, was
dasteht, und versuche mich davon treffen zu lassen?
Prüfen wir: Macht es einen Unterschied, eine bestimmte Textpassage laut zu
lesen / zu rezitieren und einfach zu hören oder in nach Verständnis strebender
Form sie zu lesen? Kann ich den Unterschied beschreiben?
Buber schreibt, die Bibel wolle wesentlich eine Botschaft bezeugen ohne damit
eine Moral zu vermitteln. Welche Botschaft, sei es von der Lage eines Menschen,
der dies verfasst hat, oder sei es für mich, weil ich mich angesprochen fühle,
vermittelt mir das unmittelbare Hören einer Textpassage?
Entsprechende Aufgabenstellung können die Schülerinnen und Schüler durchaus
selbst nach der Lektüre des Buber-Textes für sich oder die Klasse erstellen, etwa
durch die Anweisung:
Was halten Sie nach Lektüre des Textes für wichtig, um es als Kriterium zur
verständigen Lektüre eines Bibeltextes zu verwenden? Formulieren Sie entsprechende Prüffragen zur Erschließung eines biblischen Textes!
2.4. Zur Verständigung des speziellen Hintergrunds für Ps 119 als Tora-Psalm ist es
sinnvoll, den Aufbau der jüdischen Bibel zu wiederholen bzw. zu erarbeiten.
Wenigstens erforderlich ist es, die Bedeutung von „Tora“ (hrAt) zu verstehen. Dazu
die wesentlichen Informationen:
Mit dem Begriff Tora werden zunächst äußerlich die fünf Bücher Mose, der
sog. Pentateuch (griech.: 5 Bücher) bezeichnet. Sie bilden den ersten und
wichtigsten Teil der hebräischen Bibel. Mit den prophetischen Schriften
(Nebiim) und den sog. übrigen Schriften (Ketubim) wird die Tora unter dem
Kunstwort TeNaCh (für die Anfangsbuchstaben der drei Schrift-Gruppen) zum
Kanon der Heiligen Schrift im Judentum zusammengefasst.
Die Tora ist nicht nur die erste, sondern auch wichtigste Gruppe biblischer
Schriften. Die Bedeutung der Tora für jüdisches Glaubensleben ist auch daran
zu ermessen, dass die fünf Bücher im Rahmen des liturgischen Jahres im
Gottesdienst der Synagoge vorgelesen werden. Der Grund: In ihnen sind nicht
nur die zentralen Geschichten von der Genese des jüdischen Glaubens
zusammengetragen, sondern auch die wichtigsten Anweisungen für jüdisches
Glaubensleben, kulminierend in den Zehn Geboten. Im engeren Sinn bezeichnet
die Tora daher auch die Zehn Gebote, in einem weiteren Sinn alle in der Bibel
dokumentierte Gebote und Verbote Gottes.
316
4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“
Gleichwohl ist es nicht legitim, „Tora“ mit „Gesetz“ in der Konnotation unseres
Sprachgebrauchs zu übersetzen. Vielmehr ist „Weisung“ oder „Belehrung“
gemeint. Das bedeutet, im Horizont einer um der Erwählung des Menschen
willen rechtstranszendenten Weisung durch Gott sind hier in der Tora
Leitlinien, Geländer, Hilfestellungen formuliert für konkrete Lebensführung.
Diese Informationen können durch Lehrervortrag gegeben, aber auch durch entsprechende Textvorlagen selbst erschlossen werden.12
2.5. Als nächsten Schritt können die Schülerinnen und Schüler auf Grundlage der
Schritte 2.3 und 2.4 den Psalm in der deutschen Übersetzung zur Hand nehmen und
zu einer ersten inhaltlichen Auseinandersetzung kommen. Grundsätzlich ist dabei
vorauszusetzen: Als Leben weisendes Wort wird im Psalm 119 TORA (hrAt) selbst
zum Thema, die Schrift als biblisch kanonisiertes Wort Gottes. In der Tat ist dies
zugleich theologische Form wie Inhalt des gesamten Psalms.
Für die weitere Erschließung bieten sich folgende Fragestellungen an:
herausarbeiten, mit welchen anderen Begriffen Tora und das Wort Gottes als
Thema des Psalms umschrieben wird;
versuchen, aus dieser Untersuchung eine Struktur herauszufinden, unter der der
Psalm tatsächlich komponiert worden ist;
schließlich zu einer Deutung dieses Vorgehens vorstoßen: Was hat den / die
Schreiber veranlasst, den Text gerade so zu verfassen?
Als Hintergrundsinformation mögen dazu folgende Hinweise genügen:
• Neben dem Wort Tora finden sich sieben weitere Worte, die Subjekt oder Gegenstand des Textes sind; steht für Tora in der Regel Weisung, seltener Gesetz (Vulgata:
lex), so finden sich daneben die Begriffe piqqudim (Befehle, Ordnungen, Bestimmungen, iustitiae), (e)dut (Zeugnis, testimonium), mispat (Rechte, Urteile, iudicia),
miswah (Gebot, praeceptum), chokim (Gesetze, Satzungen, iustificationes), dâbâr
(Wort, Logos, sermon), (i)mrah (Spruch, eloquium). Die Achtzahl der Schlüsselbegriffe steht in zumindest eigentümlicher Parallelität zur Achtzahl der Strophenverse. Genauere Auskunft dazu vermag die nachfolgende Tabelle zu geben:
12
Dafür bietet sich als bereits unterrichtlich aufbereitetes Material sehr gut an das Buch von
A.Lohrbächer (Hg.): Was Christen vom Judentum lernen können. Modelle und Materialien für den
Unterricht. Freiburg (Herder) 1994.
4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“
317
318
4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“
Keineswegs verblüffend ist die Tatsache, dass manche Übersetzungen diese im
hebräischen Text klar vorgegebene Struktur nicht zur Kenntnis nehmen und dass es
so recht willkürlichen zu einer die einzelnen Worte je nach Zusammenhang oder auch
Gefühl unterschiedlichen Übersetzung kommt.13 Die Tabelle verdeutlicht zudem, dass
für die hier exemplarisch verwendeten deutschen Übersetzungen einzig Buber auch
im Deutschen durchgängig zu acht verschiedenen Begriffen findet:
• In jedem Vers (außer v.122) taucht mindestens einer dieser Begriffe auf. Die
Reihung der Begriffe folgt keiner logischen Struktur, doch ist es eigentümlich, dass
sich als Gesamtzahl der verwendeten Begriffe 177 ergibt, also quasi identisch mit der
Zahl der Verse. Auch die Gesamtverteilung der 8 Schlüsselbegriffe ist relativ gleichmäßig: dâbâr, chokim, miswah kommen genau 22 mal vor, mit 19 mal am seltensten
(i)mrah, tora (wohl mit Grund) am häufigsten, 25 mal, doch auch nicht extrem
different.14
2.6. Eine inhaltliche Deutung dieser Strukturanalyse kann sicher nur exemplarisch
erfolgen. Es bietet sich an, in Arbeitsgruppen vorzugehen, die sich einzelne Strophen
vornehmen; besonders gut geeignet sind dafür die Strophen 4, 12, 13, 19, 22. Sie
wären mit den oben in 2.3. mit Buber erarbeiteten heuristischen Fragen zu bearbeiten.
Zuvor können aber auch folgende einfachere Erschließungsfragen gestellt werden:
Welche Begriffe für das Wort Gottes spielen in dieser Versgruppe die zentrale
Rolle? Ist daraus eine inhaltliche Akzentsetzung zu erkennen?
In welcher Situation befindet sich der Sprecher des Psalms?
Welche Rolle kommt demgegenüber dem Gotteswort zu, und wie gestaltet sich
genauer das Verhältnis von Sprecher zu Gotteswort bzw. umgekehrt?
Welche Konsequenzen, welche Folgen für die konkrete Lebensführung des
Sprechers ergeben sich aus alledem?
Exemplarisch seien diese Struktur sowie Möglichkeiten der Interpretation an der
vierten Versgruppe (Dalet (d), vv.25-32) verdeutlicht, aus der auch das Motto für
dieses Kapitel entnommen ist. In der eindrücklichen Übersetzung von Buber15 lauten
die Verse:
13
Natürlich richtet sich diese Kritik gegen die in der Theologie recht weit verbreitete Kluft zwischen
Exegetikern einerseits und Systematikern andererseits. Dabei finden sich Arbeiten, die ein sprachanalytisches Verfahren theologisch zu begründen verstehen, noch seltener als Arbeiten, die theologische Gedanken aus einer textgenauen Deutung der Schrift heraus entwickeln. Der Vorwurf
klingt pauschalisierend, lässt sich aber, denke ich, durch viele Beispiele leicht belegen.
14
Zur genaueren Verteilung der Worte vgl. Freedman (1999), S.50ff.
15
Wie oben Anm. 2.
4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“
Meine Seele haftet am Staub,
belebe mich gemäß deiner Rede!
Meine Wege erzählte ich und du antwortetest mir. –
lehre mich deine Gesetze,
lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn,
besinnen will ich deine Wunder.
Vor Gram entsickert mir die Seele,
erhalte mich gemäß deiner Rede!
319
Den Lügenweg rücke mir ab,
vergönne mir deine Weisung!
Den Weg der Treue habe ich gewählt,
deine Rechtsgeheiße gehegt.
An deinen Zeugnissen hafte ich –
DU, beschäme mich nimmer!
Ich laufe den Weg deiner Gebote,
denn du weitest mein Herz.
• Strukturell auffallend ist, dass in keinem Vers mehr als eines der genannten
Schlüsselworte genannt ist. Das Wort „Rede“ kommt als einziges zweimal vor. Unter
weiteren sinngebenden Worten fällt der fünfmalige Gebrauch des Wortes „Weg“ auf.
• Der Beter findet sich völlig am Boden: Lügen, Beschämungen haben ihn in eine
verzweifelte Lage gebracht, gegrämt und verzweifelt fühlt er sich innerlich dem Tode
nahe. Ohne weitere inhaltliche Ausführungen der Hintergründe, doch in aller Intensität, diese existentiell verzweifelte Situation zum Ausdruck zu bringen, kommt diese
Lage zur Sprache. – Sprachlos geworden ist der Beter mithin nicht, im Gegenteil: Er
sieht zumindest die Möglichkeit, was ihm passiert ist und wie es ihm geht, zu erzählen (26!). Unsicherheit scheint jedoch darüber zu bestehen, wie konsequent der
Weg der Lüge gemieden werden kann (29) und demgegenüber die Bemühung um
Treue oder Wahrheit (30) Verlässlichkeit birgt. – Das Gebet bietet somit eine Folie,
diese Situation nochmals zur Sprache zu bringen wie auch jedem Nachbeter die
Möglichkeit zu eröffnen, diese Schilderung mit eigenen Erfahrungen zu füllen.
• Dem Beter gegenüber steht das Wort Gottes. Es hat offensichtlich bereits in der
Vergangenheit ein Kriterium geboten, sich gegen die Lüge zu wehren (30,31); die
Orientierung an ihm bringt eine gewisse Sicherheit, auch bislang den verlässlichen
Weg gegangen zu sein (30). Gleichwohl hat sich Verstehen dabei noch nicht eingestellt (27). Doch bietet das Wort Gottes die Möglichkeit dialogischer Auseinandersetzung (26), zunächst mit sich selbst zur Vergewisserung der eigenen Lage, dann zur
Erfahrung neuer Möglichkeiten: Mit der direkten Ansprache Gottes selbst (31) wird
ein Dialogpartner identifiziert.
• Das verbürgt zunächst einmal, dass der Beter am Leben bleibt (25,28). Ein erster
Schritt zur Befreiung mag die genaue Besinnung des Wortes Gottes sein (27), die zur
Entdeckung je neuer Perspektiven wie ein Wunder führt. Nur die intensive Auseinandersetzung mit Tradition, Text und dem als lebendig machend erfahrenden Gott führt
zum Verstehen. Zu dieser Besinnung, das scheint jetzt deutlich, gehört auch das
immer wieder neu zur Sprache bringen dieser Erfahrungen: v.26 erscheint so in
neuem Licht. Im Gehen dieses Weges der Besinnung, Auseinandersetzung und
320
4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“
Artikulation erfahre ich auch das mir entgegenstehende Wort nicht als etwas Fixes,
sondern als Weg, der mir gewiesen wird (27,30,32). Erst dies erhält mich nicht nur
am Leben, sondern weitet mich auch.
• Wichtig scheint über diese interne Erschließung des Textes die strukturelle: Was
passiert mit demjenigen, der diese Erfahrung bewusst und intensiv nachlebt, indem er
dieses Gebet spricht? Genau diese Frage scheint den Schlüssel zu liefern zur
Erschließung des Sinns von Gebet: Wer betet wie der Psalmist, so kann man verallgemeinern, begibt sich in eine intensive Erfahrung seiner Selbst, die als Weg, also als
Geschichte entziffert werden kann. Im Nachsprechen eines Gebets löse ich mich
zunächst von mir in meiner augenblicklichen Subjektivität und erfahre ich mich als
geschichtliches Wesen. Dadurch werden mir als zweiter Erfahrung auch die leitenden
und verlässlichen Elemente meiner Lebensführung deutlicher. Auch sie erfahre ich
dabei als etwas, was einerseits mir den je entscheidenden Halt gibt, was andererseits
mich aber zu je neuer Auseinandersetzung herausfordert, und in welcher Auseinandersetzung ich schließlich die entscheidenden Gründe für die weitere Lebensführung
finde, weil sie zur Erweiterung meiner Lebensperspektiven führen. Freilich, das ist
die religiöse Pointe solcher Sprachformen, gelingen diese Erfahrungen nur in der
Erfahrung der Übersteigung bzw. des Zurücklassens unmittelbarer Subjektivität und
in Konfrontation mit einem Gegenüber, das ich als tieferen Grund meiner selbst
erfahre.
2.7. Gegenüber solcher Detaildeutung würde eine dann folgende Gesamtdeutung
darauf reflektieren, welche „Funktion“, besser welchen Sinn nun das Sprechen eines
Gebets haben kann.
Dazu mag als Diskussionstext für höhere Klassen eine eher theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema Gebet sich anschließen.
Sehr gut geeignet, wenngleich auf hohem Niveau geschrieben, ist dafür eine einschlägige Abhandlung
16
von Michael Theunissen.
Th. stellt sich der Aufgabe, zumindest als Perspektive die „Wahrheit des
Evangeliums“ anzusprechen unter einem Blickwinkel, der zwar nicht eingelöst werden soll, aber
gleichwohl die Linie der Deutung abgibt: „einerseits eine Diagnose dessen, was heute ist, eine vollständige Analyse des modernen Bewusstseins und der in ihm reflektierten Wirklichkeit andererseits
eine zureichende Beschreibung der auch in sich historisch eingefärbten Situation des Menschen, wie
sie sich in der Innenperspektive des je eigenen Existenzvollzugs darstellt.“ (S.325) Dadurch kommt er
zu Deutungen der Glaubens- und Gebetsstruktur wie etwa folgender: „Der Glaubende lebt im Gleich16
Michael Theunissen: ~O aivtw/n lamba,nei. Der Gebetsglaube Jesu und die Zeitlichkeit des
Christseins; in ders.: Negative Theologie der Zeit. Frankfurt (Suhrkamp) 1991, S. 321-378. Nach
dieser Ausgabe des zuerst 1976 veröffentlichten Aufsatzes wird nachfolgend zitiert. Besonders
wichtig für unseren Zusammenhang sind darin die beiden ersten Abschnitte „Über die Schwierigkeit, philosophisch von Jesus zu reden“ (S.321ff) und „Der Gebetsglaube Jesu“ (S.326ff).
4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“
321
klang mit der Zeit, er lässt sich mit ihr versöhnen, doch so, dass das Leiden an ihr, auf das er antwortet,
im Dulden seiner Geduld ebenso wie in seiner Duldsamkeit lebendig bleibt.“ (S.327) oder: „Die
Einheit von Selbstverlust und Selbstfindung übergreift einen absoluten Gegensatz. Wird der Mensch
dadurch frei von sich, dass er seine Eigenmächtigkeit verabschiedet, so wird er frei zu sich, indem er
sich ergreift und sich hierbei nicht nur seiner selbst, sondern ebenso wohl der Welt bemächtigt. Das
ungeheuerliche Wort [Jesu] ‚euch wird nichts unmöglich sein’ zielt nicht zuletzt auch auf diese Macht.
In seinem Lichte wird offenbar, dass der Glaube, als das radikal andere gegenüber jeder Art von
Resignation, zum radikal weltverändernden Handeln ermächtigt. Indessen basiert die Macht, die er
verleiht, auf der Macht Gottes und ist nichts als deren Manifestation. Dadurch unterscheidet sich die
vom Glauben getragene Freiheit des Menschen zu sich vom eigenmächtigen ‚autonomen’ Selbstsein“.
(S.337) - Theunissens These ist es, dass diese Struktur der Existenz- und Glaubensreflexion der im
Sinne Jesu Betende sich im Akt des Betens vergewissert. Dies wird reflexiv und begriffs-analytisch
entfaltet, wie auf theologischer Seite sonst nur zuweilen in Aufsätzen von Karl Rahner oder Romano
Guardini oder in der mittelalterlichen Tradition der Mystik, im Unterschied zu Praxis- oder Erbauungsbüchern, die es zum Thema „Gebet“ in großer Zahl gibt.
Alternativ böte sich an, aus Jörg Zinks bekannter Betschule17 das Inhaltsverzeichnis
zu nehmen und zu prüfen, inwiefern das hier Behauptete durch Lesen des Psalms 119
auch tatsächlich geleistet wird bzw. werden kann bzw. unter welchen Voraussetzungen dies geleistet werden kann, ohne freilich von vorneherein sich auf die Innensicht dieses Buches einzulassen. Zink kategorisiert z.B. folgende Dimensionen des
Betens:
•
Sich einfinden: Sammlung - Wahrnehmung - Der innere Mensch;
•
die Welt sehen: Diesseitiges Leben - Tatsachen – Schicksale;
•
die Stunde wissen: Tage und Augenblicke - Gegenwart – Dunkelheit;
•
mitgehen - Lieben - Das Neue schaffen, Bejahen;
•
Zu Hause sein: Gewissheit - Geborgenheit - Vertrauen
Ausgehend von der eher rezeptionsästhetisch oder dekonstruktiv dimensionierten
Fragestellung, was erforderlich sei, um zu diesen Zuständen bzw. Erfahrungen zu
gelangen und wozu sie führen könnten, könnte in einem weiteren Schritt gefragt
werden, ob und inwieweit der Beter des Ps 119 (der Verfasser wie der je neu aktuelle
Beter) zu solchen Erfahrungen käme.
17
Jörg Zink: Wie wir beten können. Stuttgart: Kreuz 1970.
322
4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“
2.8. Schließlich wären als Transfer der starken These vom Gebet als Form reflexiver
Glaubensvergewisserung und auch -erschließung die Eingangs- und die Schlusspassage aus Augustinus’ Confessiones zur Erfahrung zu bringen:
Groß bist du Herr und hoch zu loben, groß
ist die Fülle deiner Kraft und unermesslich sind
die Spuren deiner Weisheit. Und preisen will
dich der Mensch, ein Teilchen deiner
5 Schöpfung, der Mensch, sich tragend mit seiner
Sterblichkeit, die das Zeugnis seiner Sünde über
ihn ablegt … Auch ein solcher Mensch will
dich preisen, will dich preisen, eben weil auch
er ein Teilchen deiner Schöpfung ist. Du reizest
10 zur Freude an deinem Lobe, weil du für dich
uns erschufest und weil unser Herz ruhelos
bleibt, so lang es nicht ruhet in dir.
So gib denn, Herr, mir zu erkennen, was
eher ist: dich anrufen oder dich preisen, dich
15 erkennen oder dich anrufen. Wer vermöchte
dich anrufen, ohne dass er dich erkennete? (…)
Wie soll ich meinen Gott anrufen, meinen
Gott und Herrn? Ich rufe ihn ja in mich selbst,
so oft ich ihn anrufe. Und welches ist die Stätte
20 in mir, wo Gott in mich eingeht, wo der Gott
eingeht, der Himmel und Erde schuf? Herr,
mein Gott, so ist in mir etwas, das dich fasst!
Fassen dich denn Himmel und Erde, die du
schufst, in denen du mich erschufst? Oder fasst
25 dich darum Alles, was da ist, weil ohne dich
nichts wäre, was da ist? Weil denn auch ich bin,
was flehe ich zu dir, dass du in mich kommest,
der ich nicht wäre, wenn du nicht in mir wärest?
Mein Gott, was bist du? Was frage ich? Wer als
30 mein Herr! Denn wer ist Herr außer dem Herrn,
und wer ist Gott außer unserm Gott! Du
Höchster, Bester, Mächtiger, Allvermögender!
Du Erbarmungsvoller und Allgerechter, Verborgenster und Allgegenwärtiger, voll Schönheit
35 und voll Stärke! Der du fest stehst und doch
nicht zu fassen bist; selber wandellos, Alles
wandelst, niemals neu wirst (…) Wie vermögen
wir dich auszusprechen, o du mein Gott und
mein Leben, meine Süße, heilige Wonne! Was
weiß der Mensch zu reden, wenn er redet von
dir? Der Beredten Mund verstummt vor dir,
aber wehe denen, die von dir schweigen!
Wer wird mir verleihen, in dir zu ruhen, wer
wird mir helfen, dass du in mein Herz kommest
45 und es beseligend sättigest, bis ich vergesse alle
meine Schmerzen, und dich umfange, mein
einziges Gut? Was bist du mir? Sieh mich
erbarmend an, dass ich wage zu reden. Und was
bin ich dir, dass du gebietest von mir geliebt zu
50 werden … Bei deiner reichen Erbarmung
verkünd' es mir, verkünd' es mir, was du mir
bist! Meiner Seele sage: Ich bin Heil (Psalm
35, 5). So sprich du, dass ich vermöge zu hören.
Siehe, meines Herzens Ohren sind vor dir,
55 schließ sie auf und sprich zu meiner Seele: Ich
bin dein Heil! Eilen will ich dieser Stimme nach
und dich ergreifen. Verbirg dein Angesicht
nicht vor mir; streben will ich, um nie zu sterben, damit ich diese sehe! Will ersterben der
60 Welt und mir, damit ich zu leben beginne meine
todesfreie Ewigkeit, bis ich in dir lebe und du
in mir! Aber eng ist meiner Seele Haus. Wie
wirst du einziehen? Mach' es weit! (…)
Wir also sehen, was du geschaffen, weil es
65 ist, aber nur darum ist es, weil du es siehst. Wir
sehen mit den Augen, dass es ist, und mit dem
Geiste, dass es gut ist, du aber sahest das
Geschaffene ebenda, wo du es sahest, als es
geschaffen werden sollte. (…)
70 Dies zu verstehen, kann wohl ein Mensch dem
andern dazu helfen? Oder ein Engel dem
andern, oder ein Engel dem Menschen? Von dir
müssen wir’s erbitten, in dir es suchen,
bei dir anklopfen. So, nur so werden wir empfangen, werden
75
wir finden und wird
uns aufgetan.
Amen
40
4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“
323
Für die Erschließung dieses eindrucksvollen Texts18 bieten sich die folgenden Fragen
an:
Lesen Sie den Text mehrmals aufmerksam durch und markieren Sie dann, welche Passagen
eher Gebetscharakter haben, welche eher als theologisch-philosophische Reflexion einzuordnen
sind. Begründen Sie Ihre Entscheidung.
Versuchen Sie, den Gedankengang Zl. 17-37 zu rekonstruieren. Prüfen Sie insbesondere, wie
Augustinus zu der eigentümlich paradoxen (In-)Fragestellung Zl. 26ff kommt.
Nehmen Sie die Aussagen in Zl. 37ff, um wichtige Einsichten aus dem bislang zum Thema
„religiöse Sprache“ Verhandelten festzuhalten bzw. als These(n) zu formulieren.
Erörtern Sie, ausgehend vom Text, die Frage: Kann der Mensch Gott nun erkennen oder nicht?
Skizzieren Sie das Bild vom Menschen in seinem Bezug zu Gott, von dem Augustinus in
seinem Text ausgeht (vgl. insbes. Zl. 3ff und 65ff). Inwiefern ist es eine Grundlage für die
anderen zuerst formulierten Fragen?
Erörtern Sie abschließend die Funktion, die das Gebet für die philosophische Reflexion bzw.
den Sinn philosophischer Reflexion hat und umgekehrt den Stellenwert, den die philosophische
Reflexion für das Gebet hat bzw. was sie zur Erschließung des Sinns eines Gebets beitragen
kann. (Vgl. dazu insbesondere die Zl. 13ff und 50ff).
18
Augustinus: Bekenntnisse, 1.Buch, Übers. Georg Rapp, Stuttgart 1838; orthografisch leicht
verändert zitiert nach: Digitale Bibliothek Band 2: Philosophie, Berlin 1998. Die Schluss-Passage
ist zitiert nach der Übersetzung von W.Thimme, München: dtv 1982 (Zürich 1950), S. 406.
Kapitel
4-4
Was sollen wir tun?
Philosophische Orientierungen zu Fragen
moralischer Wertentscheidungen 1
Beginnen wir unsere Überlegungen mit einem kleinen Szenario: Sie wollen mit Ihrer
Klasse die Frage gentechnisch veränderter Nahrungsmittel verhandeln2 und haben
sich ein wenig in der entsprechenden Literatur umgetan. Da müssen Sie z.B.
folgendes lesen:
•
Der Biologe Hans Mohr schreibt 1999: „Für den (ethischen) Fachmann sind
die Argumente, die auf diesem Sektor [gentechnisch hergestellter Lebensmittel]
zur Akzeptanzverweigerung führen, nur schwer nachzuvollziehen. Natürlich
stellen marktfähige Lebensmittel, bei deren Produktion gentechnische Verfahren eine Rolle spielen, keine Gefahr für den Menschen dar, sonst würden
aufgrund der Rechtslage in unserem Land diese Lebensmittel ja nicht
zugelassen.“ 3
•
Ebenfalls 1999 behauptet José Lutzenberger über die Herrmannsdorfer Landwerkstätten: Sie „schaffen eine ökologische Lebens-Mittel-Qualität, die
Gesundheit und Wohlbefinden fördert und wie vorbeugende Medizin für ein
1
Dieses Kapitel ist hervorgegangen aus unterschiedlichen Vorträgen zu Fragen moralischer
Erziehung im Rahmen der Lehrerfortbildung in den Jahren 1998 und 1999. In gekürzter Form
wurde es veröffentlicht in der Zeitschrift: Haushalt & Bildung Heft 1 / 2001, S. 27-35, welches das
Thema „Werte und Leitbild“ zum Schwerpunkt hat. Gezielt werden in diesem Beitrag die zentrale
Unterscheidung zwischen Moral und Ethik wie auch die Möglichkeiten ethischer Urteilsbildung in
einem für Lehrerinnen und Lehrer konkreten Kontext entwickelt. Den auf Lehrerfortbildung
zugeschnittenen Stil habe ich beibehalten, den Beitrag gleichwohl erheblich erweitert, vor allem in
den erläuternden Passagen, aber auch in einigen Anmerkungen, ohne jedoch für die sehr
allgemeinen und zusammenfassenden Auskünfte zur philosophischen Ethik detailliertere Belege in
der Fachliteratur beizubringen.
In den Zusammenhang der vorliegenden Arbeit gliedert sich diese Abhandlung insofern organisch
ein, als nicht nur äußerlich auch die theologische Problematik moralischer Bildung zumindest
angerissen wird, sondern die Frage nach moralischer Orientierung tief auch in originär
religionspädagogische Bereich eingreift. Vgl. dazu genauer meine Bemerkungen in der Einleitung.
2
Die Zielgruppe der ersten Veröffentlichung dieses Kapitels waren (s. Anm.1) Lehrerinnen und
Lehrern, die sich, so die Zielsetzung der Zeitschrift „Haushalt&Bildung“, mit Fragen von
„Gesundheit, Umwelt, Zusammenleben, Verbraucherfragen, Beruf“ beschäftigen.
3
Mohr (1999). In: Haushalt&Bildung Heft 4/1999: Schwerpunkt: Ernährung und Gentechnik.
4-4 Was sollen wir tun?
325
gutes und langes Leben wirkt. So entsteht eine Ess-Genuss-Kultur, die vom
Aussterben bedroht ist. Der inneren Logik folgend sind solche Lebens-Mittel
gentechnikfrei.“ 4
Wir sind mit Recht irritiert: Was sollen wir tun angesichts solch konträrer Stellungnahmen? Nun laufen für die Philosophie in dieser Frage: Was sollen wir tun, alle
Fragen der Moral zusammen, so jedenfalls Kant, auch Fragen nach der Gestaltung
fundamentaler Wertentscheidungen. Warum also nicht die Philosophie fragen, um
ein Antwort zu erhalten? Der folgende Beitrag wird Sie enttäuschen, wenn Sie am
Ende ein „So ist es!“ erwarten; sind Sie aber gespannt, warum und wie die Philosophie gleichwohl Orientierung bieten kann, sollten Sie weiterlesen.5
Zunächst führen uns die beiden Stellungnahmen recht genau zu zwei sehr viel
konkreteren Problemstellungen, die meinen Beitrag gliedern:
Wenn erstens niemand der einen oder der anderen Position ganz ohne Nachfragen wird Recht geben können, stehen ethische Prinzipien zur Debatte, die
hier verletzt oder gefragt sein könnten und deren Bewusstmachung uns eine
erste Orientierung liefert.
Zweitens aber sind wir gefragt nach geeigneten Verfahren, die es uns ermöglichen, gerade angesichts der schwer zu lösenden Problematik gleichwohl
verantwortlich und verlässlich eine Entscheidung zu fällen.
1
Die Frage nach ethischen Prinzipien
1.1
Verunsicherungen bei moralischen Fragestellungen
Zunächst also: Welche ethischen Prinzipien, vielleicht auch Werte dürfen oder
müssen wir veranschlagen, um zu einem moralischen Urteil zu kommen? So selbstverständlich, wie der ehemalige Bundespräsident Herzog in seiner Bildungsrede von
1997 mit der Forderung „Ich wünsche mir ein Bildungssystem, das wertorientiert
ist“ sie vorauszusetzen schien, sind moralische oder ethische Prinzipien jedenfalls
nicht. Welche Werte gelten denn heute noch, bzw. mit welchen Werten verbinden
wir überhaupt noch allgemeinverbindliche Geltungsansprüche? Eher schon muss
4
José Lutzenberger / Franz-Theo Gottwald: Ernährung in der Wissensgesellschaft. Frankfurt/M.:
Campus 1999. Die im Zitat genannten Land-Werkstätten gelten als Vorzeigeprojekt für einen
ökologisch ausgewogen arbeitenden Landwirtschaftsbetrieb.
5
Zur Orientierungsleistung der Philosophie vgl. oben Kap. 1-2, Abschnitt 4.
326
4-4 Was sollen wir tun?
man der Frage des „Spiegel“ vom Jahresende 1999 zustimmen: „3000 Jahre nach
Moses – 2000 Jahre nach Christus – Wo ist die Moral?“. Warum aber diese
Orientierungsschwäche? Dazu drei genauere Beobachtungen:
1.) Die Auseinandersetzung mit gentechnisch veränderten Lebensmitteln hält uns
recht genau die Eigenart heutiger Wertentscheidungsprobleme vor Augen: Aufgrund
ihrer Komplexität können wir nicht mehr unmittelbar durch ein Gefühl für das Gute
und das Böse entscheiden: Der Philosoph Hans Jonas hat die Gründe für diese
Komplexität bereits vor über 10 Jahren auf den Begriff gebracht6: Zunehmend sind
wir heute vor Entscheidungen gestellt, die in ihrer Tragweite so weit gehen, dass wir
die Folgen nicht nur nicht kennen, sondern nicht einmal in ihrer Möglichkeit überschauen. Als Paradigma für eher makroskopische Probleme sah Jonas den Fall
Tschernobyl, dessen Folgen einzuschätzen unser Fassungsvermögen übersteigt:
Auch die Rede von Halbwertzeiten ist nur der quasi religiöse Griff zur sprachlichen
Bannung, was sich uns faktisch völlig entzieht. Einer anderen, eher mikroskopischen
Schwierigkeit sind wir nach Jonas bei Fragen der Biotechnologie ausgesetzt. Hier tun
wir, meinte er, einen Blick in innere Strukturen, die wir weniger vom Gegenstand als
vielmehr von der Art des Blicks eigentlich gar nicht fassen und bewältigen können.
Auch hier sind wir nicht in der Lage, mögliche Folgen real abzuschätzen; doch
zudem bekommen wir, wie der Philosoph Ronald Dworkin es formulierte, Angst,
nicht davor, das Falsche zu tun, sondern Angst, „die Gewissheit zu verlieren, genau
zu wissen, was falsch ist“.
2.) Das hat Folgen auch auf dem Gebiet persönlicher Lebensführung: Wir leben in
Zeiten und Welten, in denen Menschen schier alles möglich ist oder zumindest
scheint. Werte sind da nur noch sehr relative Größen: Möglich sind, so meinen viele,
zu anderen Zeiten, in anderen Kulturen auch ganz andere Werte und Normen. Diese
Ansicht wird sogar als ein Gewinn ausgegeben, nämlich als ein Produkt einer
liberalen und toleranten Einstellung. Insofern könne man allenfalls noch von einer
Vielzahl von „Moralen“ sprechen. Nicht selten versteigt sich diese Einstellung aber
6
Vgl. dazu die Rede von Hans Jonas zum Erhalt des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels
1987, sowie bereits Passagen aus seinem Buch zur „Praxis des Prinzips Verantwortung“: Technik,
Medizin und Ethik. Frankfurt/M.: Insel 1985.
Zur Komplexität moralischer Wertentscheidungen angesichts neuester Probleme vgl. auch die
jüngste Einlassung von Jürgen Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu
einer liberalen Eugenik? Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001. - Angesichts der Erschütterung der für
moralische Urteile notwendigen kategorialen Unterscheidung zwischen Subjektivem und
Objektivem durch die Herausforderungen der Gentechnik, diagnostiziert auch Habermas, mit
Rückgriff auf Jonas, die Gefahr des Umschlagens von „Naturbeherrschung in einen Akt der
Selbstbemächtigung“ (S.85), ein für Habermas entscheidendes Argument, in diesen Herausforderungen „das Selbstverständnis von moralisch handelnden und um ihre Existenz besorgten
Personen im Ganzen“ affiziert zu sehen (S.54); Möglichkeiten einer Lösung sieht er darum nur in
einer nicht mehr traditionellen, sondern gattungsethisch eingebetteten Moral (S.70ff).
4-4 Was sollen wir tun?
327
auch zu einem Relativismus nach der Art: „Das muss letztlich jeder für sich
entscheiden.“ – Moralischer Verbindlichkeit wird damit tendenziell der Boden
entzogen.
3.) Entgegengesetzt dazu gibt es geradezu einen Ethik-Boom: Konfrontiert mit
immer neuen Möglichkeiten der technischen Umsetzung wissenschaftlicher Entdeckungen (vor allem im biologisch-medizinischen sowie im informationstechnischmedialen, aber auch im weltpolitisch-ökonomischen Bereich) werden zunehmend
Wissenschaftler und Politiker vom Verbraucher und Nutzer in die Pflicht genommen
zu klären: Ist auch erlaubt, sinnvoll, geboten, was wissenschaftlich, technisch, infrastrukturell möglich ist?
Verunsicherung also hat sich breit gemacht, was eigentlich noch Moralität bzw.
moralisch sei. Meine Deutung: Einerseits scheint sich Moralität immer mehr im
Üblichen, zu einer bloßen Frage des Lebensstils zu verflüchtigen, andererseits auf
das kalkulatorisch Abwägbare sich zu reduzieren.
Was ist gemeint? Bleiben wir am eingangs zitierten Beispiel: Sich für die Ansicht
Lutzenbergers zu entscheiden, ist möglicherweise gar kein moralisches Problem; der
eine mag dafür sein, der nächste ist anderer Meinung, und vielleicht billigen wir das
dem anderen auch zu; so scheint es unser Leben auch nicht existentiell zu berühren,
ob wir uns nun so oder so verhalten, - leben würden wir auch anders. Dann aber wäre
die Frage nach dem Pro und Contra der Gentechnologie keine moralische Frage,
sondern nur noch eine der Üblichkeit bzw. des Lebensstils.7 - Die Aussage von Mohr
andererseits spielt uns vor, dass die Frage der Beurteilung von gentechnischen
Verfahren oder Produkten einer klaren Kontrolle unterliegen könne und dass das
ethische Verfahren der Abwägung in sich bereits moralische Akzeptanz beinhalte.
Dann aber würde Moralität reduziert auf das, was kalkulatorisch abwägbar ist. Mit
dem Verfahren moralischer Entscheidungsfindung könnte man auch die Entscheidung selbst getrost an sog. Fachleute delegieren.8 Aber was bleibt dann als Moral für
uns selbst übrig?
7
Mit dieser m.E. elementaren Unterscheidung zwischen moralischen Fragen, mit denen es mir Ernst
ist, einerseits und andererseits Fragen bloßer Üblichkeit, arbeitet Gernot Böhme: Ethik im Kontext.
Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997.
8
Dieser Einwand richtet sich natürlich nicht gegen die prinzipiell sinnvolle Einrichtung von
Verfahren zur ethischen Urteilsbildung, wie sie von diversen Ethik-Instituten installiert worden
sind. Vgl. dazu z.B. Katrin Platzer: Interdisziplinarität in einem gesellschaftlichen Handlungsfeld:
Ethische Urteilsbildung im Kontext moderner Biotechnologie und Gentechnik. In: A.Wellensiek /
H.B.Petermann (Hg.): Interdisziplinäres Lehren und Lernen in der Lehrerbildung. Perspektiven für
innovative Ausbildungskonzepte. Weinheim: Beltz 2002, S.166-187. – Die Gefahren solcher
Institutionen werden freilich gut sichtbar etwa in dem Problem des 2001 von der Deutschen
Bundesregierung eingerichteten Nationalen Ethikrats, sich nicht als Legitimationsinstanz für die
Politik missbrauchen zu lassen.
328
4-4 Was sollen wir tun?
Der Rückgriff auf eine allgemeinverbindliche und auch jeden betreffende Moral
jedenfalls scheint nicht mehr ohne weiteres möglich. Das gilt selbst für die
Theologie. Zwar scheint, wenn man beim Beispiel gentechnischer Veränderungen
bleibt, ein klares Nein angebracht: Wenn man Überschriften liest wie Dem Schöpfer
ins Handwerk pfuschen? und wenn es bei der Gentechnologie wirklich um Die
Zweite Schöpfung ginge, könnte man sich vielleicht darauf berufen, dass nach
jüdisch-christlichem und auch islamischem Glauben der Schöpfer des Himmels und
der Erde und somit auch von allem Leben Gott allein ist, dass es dem Menschen also
verwehrt sei, sich als Schöpfer zu Welt und Leben zu verhalten. Aber ist das
überhaupt gemeint, dass wir uns in der Gentechnologie als Schöpfer verhielten?
Gerade Jude, Christ und Muslim könnten umgekehrt an den Satz erinnern: Macht
euch die Erde untertan! um sie zu bebauen und zu bewahren (Gen 2,15). Wäre es
dann nicht gerade unsere Aufgabe, Anthropotechniken zu entwickeln, ein vielzitiertes
Wort aus dem letzten Jahr9, um unsere Verantwortung für die Zukunft
wahrzunehmen, so eine weitere Überschrift, zum Segen für das Leben der
Menschheit? Auch die Orientierung des Menschen an der eigenen Geschöpflichkeit
sowie an seine Bindung an die Gottesebenbildlichkeit (Gen 1,28) entbindet ihn nicht
von der eigenen Verantwortung.
So leicht ist es also auch für den Theologen nicht, eine eindeutige Antwort auf
heutige Fragen zu geben. Auf Prinzipien wie die zitierten allein sich zu berufen, hilft
nur bedingt weiter. In gleicher Weise kommt es an auf biblisch eben nicht fixierte
genauere Sachkenntnisse zum Thema wie auch auf den Einsatz unserer Vernunft zur
Entscheidung ganz konkreter Problemstellungen in heutiger Zeit, die ebenfalls in den
Dokumenten der Religionen nicht vorgegeben sind.10
Der Philosoph hat es in dieser Frage noch schwerer als der Theologe, hat er doch
gar keinen festen Codex moralischer Normen oder Prinzipien vorgegeben; vielmehr
versucht er grundsätzlich alles als Grundwert, Fundamentalnorm, ethisches Prinzip
Veranschlagte auf seine Sinnhaftigkeit zu überprüfen, um so Hilfe dafür zu bieten,
dass, warum und wie wir uns überhaupt als moralische Wesen verstehen können.
Nun gehen in der öffentlichen Diskussion die Begriffe „Moral“, „Ethik“, „Werte“,
9
Gemeint sind die heftig diskutierten Einlassungen von Peter Sloterdijk: Regeln für den
Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus. Frankfurt/M:
Suhrkamp 1999.
10
Diese Ansicht vertrete ich natürlich nicht ohne Wissen um die ausführlichen Diskussionen um eine
autonome theologische Ethik seit den 70er-Jahren des 20. Jh.. Darauf kann im Kontext dieses
Kapitels nicht ausführlicher eingegangen werden. Vgl. deshalb die Notizen in meinem Einleitungskapitel, die das vorliegende Kapitel auch transparenter in den Gesamtkontext der Arbeit
einzubinden versuchen.
4-4 Was sollen wir tun?
329
„Normen“ usw. recht bunt durcheinander; - für den Philosophen ein Indiz, dass das
Verständnis von Moral, Werten, Ethik problematisch geworden ist.
1.2
Was eigentlich ist „Moral“ ?
Zwei Beispiele mögen diese Sprachverwirrung illustrieren, und zugleich zu einer
begrifflichen Schärfung der Fragestellung überleiten:
Ein Redner im Herbst 2000 meinte zu Aufgaben der Lehrerbildung:
„…diese in gentechnischen Labors herangezüchteten Chimären aus Mensch
und Tier, zu nichts anderem hergestellt, als eines Tages geschlachtet zu
werden, um als Organbanken zu dienen …; - hier ist, meine ich, die Bildung in
Schule und Hochschule gefragt, um über derart menschenverachtende
Praktiken aufzuklären!“ 11
Die Stoßrichtung der Aussage ist klar: Mit einer als Schreckensszenario ausgemalten Situationsbeschreibung will der Redner warnen vor den Möglichkeiten der
Gentechnik. Seine Strategie ist aber bei genauerem Hinsehen nicht das Argument,
das den Hörer zur eigenverantwortlichen Einsicht bringen soll, sondern die
moralische Empörung, die als rhetorischer Gestus auf den Hörer übertragen wird,
damit dieser sich die gleiche ablehnende Position zu eigen mache. Ist aber jemand,
der auf diesem Wege zur Moral findet, ein moralischer Mensch? Streng genommen
nicht, denn, so behaupte ich, die moralische Empörung allein verhindert eher Moral
als dass sie sie fördern würde. Der Grund: Eine Auseinandersetzung und damit die
Möglichkeit einer auch gegen Widerstreit gewappneten persönlichen Stellungnahme
hat nicht stattgefunden. Ein solcher Mensch hätte vielmehr eine bestimmte Moral
lediglich übernommen, ohne ihren Wert für das eigene Leben oder das anderer
reflektiert zu haben.
Das zweite Beispiel:
In einem Radio-Feature zum Thema Xenotransplantation, also der Verpflanzung tierischer Organe an Menschen meinte im Sommer 2000 ein Mediziner
völlig überzeugt: Man habe angesichts der Proteste von Tierschützern Ethiker
gefragt, die hätten keine prinzipiellen Einwände erhoben, also sei dieses
Verfahren ethisch. - Man kann dieses Beispiel ohne Probleme übertragen auf
11
Es handelt sich um die persönliche Mitschrift eines öffentlich gehaltenen Referats, dessen Autor
ich an dieser Stelle aus Diskretionsgründen nicht nenne, auch deshalb nicht, weil es sich hier nur
um ein Beispiel für eine meiner Beobachtung nach gar nicht seltene Einlassung sog. Gebildeter zu
entsprechenden Themen handelt, wobei es mir hier lediglich um die nachfolgend zu destruierende
Argumentationsform geht.
330
4-4 Was sollen wir tun?
unsere Debatte: Angesichts von Problemen in der Akzeptanz der Bevölkerung
gegenüber gentechnisch veränderten Lebensmitteln habe man eine Kommission für Technologiefolgenabschätzung gefragt; die habe herausgefunden,
es gebe keine prinzipiellen Einwände, also seien solche Lebensmittel ethisch
vertretbar.
In dem Eingangszitat von Mohr scheint eine ähnliche Argumentation vorzuliegen.
Offensichtlich ist auch hier etwas anderes gemeint als das, was gesagt wird:
„Ethisch“ wird gesetzt für „richtig“ oder „akzeptabel“. Doch dieser Fehler verrät
zugleich einen Fehler im moralischen Denken: Wer so redet, erwartet als „Ethik“
Handlungsvorgaben: Dieses darf man, jenes darf man nicht! Wertentscheidungen
könnten demnach delegiert werden, etwa weil es verbindlich vorgegebene Werte
gebe, die von Spezialisten, also z.B. Philosophen, geklärt und von anderen Spezialisten, z.B. Pädagogen, vermittelt werden könnten. Was aber wäre dann Moral? Hat
denn solch ein Mediziner, solch ein Lebensmitteltechniker selbst keine Moral, um
verantwortlich sich mit dem Problem auseinander zu setzen? Hat entsprechend ein
Kind, ein Jugendlicher keine eigene Moral, sondern ist er etwa moralisch nur dann,
wenn er sich in gesellschaftlich oder kulturell vorgegebene Standards fügt?
Was also ist Moral, und wann eigentlich geht es um eine moralisch relevante
Situation? Das muss nun weiter geklärt werden, nicht als abstrakt theoretische Frage,
sondern als eine, die konkret auf die grundsätzlich gestellte Frage nach ethischen
Prinzipien zielt.
Auf die Frage, wie ein Kind sittlich zu erziehen sei, gaben die Griechen die
Antwort: wenn du es zum Bürger eines Staats von guten Gesetzen machst. Bereits
vor 200 Jahren zitiert der Rechtsphilosoph Hegel diese Tradition mit einem
ironischen Unterton12; die Meinung, Moral gründe sich und habe ihren Bezugspunkt
im allgemein Geltenden, hatte schon damals ihre allgemeine Geltung verloren.
Allerdings meinte ursprünglich „Moral“ eben dies: Der allgemein gültige Brauch,
griechisch „êthos“, etymologisch gleichbedeutend mit „Sitte“, ist das stets schon
gültige Herkommen des Menschen, das Ge-Wohnte, an dem er sein Handeln
ausrichtet. Der lateinische Begriff „mos / moralis“, ursprünglich nichts anderes
meinend13, deutet dagegen schon eine Änderung des Sinns an, wird doch damit eher
12
G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), § 153 Anm.
13
Darin liegt der Grund für die nach wie vor gebräuchliche Bezeichnungen „Moralphilosophie“ und
auch „Moraltheologie“. Nach heutigem philosophischen Sprachverständnis ist es angemessener
von philosophischer bzw. theologischer Ethik zu sprechen. (Vgl. meine Begriffs-Erklärungen auf
den beiden nachfolgenden Seiten.) - Auch Kant hatte noch jenes alte Verständnis von „Moral“, so
dass i.d.R., wenn er von „Moral“ redet, wir heute „Ethik“ lesen müssen. Wichtig ist diese
Differenzierung nicht zuletzt im internationalen Verhältnis, weil etwa die französische Sprache
diese Unterscheidung nicht macht, so dass die Disziplin „morale“ eben nicht „Moral“ in unserem
4-4 Was sollen wir tun?
331
das je persönliche Streben, der Mut des einzelnen bezeichnet. Die Aufklärung im
18.Jh. hat unser Handeln dann nicht mehr in einem ihm vorausliegenden, nicht mehr
hinterfragbaren Guten begründet, an dem unser Handeln sich zu orientieren habe,
sondern in der Autonomie jedes Einzelnen: „Es ist nichts in der Welt, ja überhaupt
auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte
gehalten werden, als allein ein guter Wille“, so Kant.14 Das ist kein Aufruf zum
Egoismus, im Gegenteil: In der Neuzeit hat der Mensch die Bindung an eine
kosmische Weltordnung, an kirchliche Macht oder obrigkeitliche Gewalt verloren.
Infolge der Erfahrungen willkürlicher Herrschaftsgeltung (und sie machen wir heute
in veränderter Form, wenn wir uns dem Wissen wie dem Urteil sog. Spezialisten
ausgesetzt sehen), bürgt solche Bindung an Autorität keine Verlässlichkeit mehr,
zudem ist sie durchschaubar geworden; damit sind Räume je persönlicher Lebensgestaltung eröffnet; (zumindest in der Aufklärung, beides gilt heute nicht mehr ohne
weiteres.) Auf sich selbst gestellt entdeckt der Mensch nicht nur die Möglichkeiten
selbständig zu handeln, sondern erkennt, muss erkennen, dass er nur ist, was er ist,
wenn er auch selbst Subjekt seines Handelns ist. Dies gilt seither als unaufgebbare
Basis aller Moral: Von Moral zu reden ist sinnvoll nur im Horizont menschlicher
Freiheit; genauer: Wäre nicht Freiheit der wesentliche Grund all unseres Handelns,
gäbe es gar keine Moral. Das ist festzuhalten gerade auch angesichts der abgründigsten und gewalttätigsten Äußerungen von Menschen gegen Mitmenschen und
Mitwelt, angesichts auch der grauenhaftesten Schrecken dieser unserer Freiheit, und
auch angesichts realer Gefahren der Biotechnologie, etwa durch Präimplantationsdiagnostik sich eine neue Form der Eugenik einzuhandeln. Der Versuch, Moral aus
immer schon Bestehendem abzuleiten, selbst aus einem als ewig veranschlagten
Wert wie etwa Humanität, dieser Versuch muss entschieden zurückgewiesen werden:
Die Delegation unserer eigenen Verantwortung an überhistorische oder menschenunabhängige Mächte oder immer schon bestehende oder vorgegebene Werte zementiert nur jene Gewalttätigkeiten. Retten kann uns vor ihnen nur, bewusster zur Eigenverantwortung zu stehen.15
Und ist es nicht auch alltäglich so? Obwohl der Rückgriff auf eine allgemeinverbindliche Moral heute anachronistisch ist, ist doch immer wieder der einzelne mit
allem Ernst gefragt, ist immer wieder Situationen ausgeliefert, die zum einen so und
nur so, mit aller Verbindlichkeit beantwortet werden wollen, so dass sich AlternaSinne meint, sondern „Ethik“. Zu den Konsequenzen dieser Sprachregelung im Zusammenhang
des Schulfachs „Ethik“ vgl. oben Kap. 1-2.
14
So der berühmte Anfangssatz seiner „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ von 1785.
15
Diese These ist, nicht zuletzt im Kontext der vorliegenden, zwar philosophisch dimensionierten,
aber als theologisch sich verstehenden Arbeit, massiv. Zur genaueren Erläuterung, die an dieser
Stelle den Rahmen sprengen würde, vgl. meine Notizen in der Einleitung.
332
4-4 Was sollen wir tun?
tiven definitiv ausschließen, und für die zweitens wir selbst persönlich gefragt sind,
die wir also nicht an jemand anders delegieren können, Situationen also, in denen es
uns ernst wird, um mit Gernot Böhme zu sprechen.16 Darum letztlich hat Kant Moral
als wesentlich autonom aufgefasst. Eine anthropologische Fundierung erfährt dieses
Plädoyer freilich bereits in der Antike. Auch die Nikomachische Ethik des Aristoteles
ist als messerscharfe Kritik an bloß vorgestellten, vorgeordneten moralischen
Normen zu verstehen. Zwar konstatiert Aristoteles unser aller Streben nach dem, was
wir gut nennen können, als Grundzug aller Moral. Doch gegen seinen Lehrer Platon
verabschiedet er sich von der Idee, als Endziel allen Handelns das Erreichen eines
höchsten Gutes anzusehen. Vielmehr bietet gerade die Einsicht in die prinzipielle
Unerreichbarkeit absoluten Gutseins die Voraussetzung, dass wir moralische Wesen
sein und das Gute tun können. Das absolut Moralische wäre den Göttern oder den
wilden Tieren vorbehalten: Beide kennen keine Moral. Was uns zu moralischen
Wesen macht, ist das Streben selbst nach dem Guten, mithin die ganz persönliche
Auseinandersetzung, vor der uns niemand retten kann, die zu spüren und zu gestalten
wir aber üben können. Dies und nur dies kann aus Sicht der Philosophie ein ethisches
Prinzip sein. Unüberholt hat Kant dies auf das Bild vom Menschen als krummem
Holze mit aufrechtem Gang gebracht und schließt daraus: „Es scheint aber der Natur
darum gar nicht zu tun gewesen zu sein, dass er [sc. der Mensch] wohl lebe; sondern
dass er sich so weit hervorarbeite, um sich, durch sein Verhalten, des Lebens und des
Wohlbefindens würdig zu machen.“17
Deshalb unterscheidet die Philosophie in neuerer Zeit zwischen Moral und Ethik.
Moral ist der für den Einzelnen oder eine Gemeinschaft verbindlich geltende
Inbegriff moralischer Normen, Werturteile, Institutionen. Ethik hingegen ist die
kritische Untersuchung des Problembereichs der Moral, also davon, was es überhaupt heißt, dass wir moralische Wesen sind, und davon, wie wir dies sein können.18
Philosophie aber und ich denke auch Theologie (nicht der eigene Glaube!) betreibt
Ethik und bringt keine Moral bei. Kants Frage Was soll ich tun? fragt also nicht nach
konkreten Handlungsrezepten, was denn konkret zu tun sei, sondern fragt nach dem
Sinn und den Gründen und der Notwendigkeit davon, dass wir uns überhaupt als
moralische Wesen in der Welt verhalten. Indem so gefragt wird, wird freilich der
Anspruch erhoben, Orientierung zu bieten dafür, dass wir uns auch tatsächlich als
16
So, wie oben Anm. 7 erwähnt, die zentrale These von Gernot Böhme: Ethik im Kontext.
Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997.
17
Immanuel Kant: Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), 6. und 3. Satz; in:
Werke, ed.Weischedel, Bd.6, Frankfurt/M.: Insel 1964, S. 41 bzw. 37.
18
Erstmals konsequent hat mit dieser Unterscheidung in solcher Klarheit gearbeitet Patzig (1971),
von dem ich diese definitorische (zugegebenermaßen künstliche) Unterscheidung zwischen Moral
und Ethik übernehme.
4-4 Was sollen wir tun?
333
moralische Wesen verstehen, dass also all unser bewusstes Leben und Handeln in
Entscheidungen zwischen gut und böse sich vollzieht.19
Daraus ergibt sich eine klare pädagogische Konsequenz, die ich in folgende These
fasse:
Zur Moral, gar zu der Moral lässt sich ernst genommen kein Mensch
erziehen; demgegenüber ist die Erziehung in Moral oder eine Erziehung dazu,
sich als moralisches Wesen ernst zu nehmen, sehr wohl ein Ziel von Bildung.
Auf unsere Frage bezogen: Auch in Fragen den Gentechnologie kann es nicht
darum gehen, jungen Menschen bestimmte vorgegebene moralische Prinzipien
beizubringen, sondern sie in die Lage zu versetzen, in eigener moralischer Verantwortung sich mit Fragen der Ethik der Genetik auseinander zu setzen.
2
Welche Verfahren gibt es, um zu einer verantwortlichen Wertentscheidung zu gelangen ?
Mit meiner letzten Überlegung ist der Weg für die oben formulierte zweite Frage
freigemacht, nämlich einige Akzente für die Gestaltung von Wertentscheidungen zu
setzen. Bevor ich dazu einige konkrete unterrichtliche Anregungen liefere (2.3),
müssen aber zumindest kurz einige grundsätzliche Ebenen des Verständnisses von
„Gestaltung“ ausgebreitet werden:
2.1
Der Ort von Wertentscheidungen im schulischen Unterricht
Zunächst kurz zur unterrichtlichen Verortung der Frage: Wenn wir ernst machen
mit der eben erläuterten These von einer orientierenden Erziehung in Moral, bieten
weder Religions- noch Ethik-Unterricht die von nicht wenigen für schulische
Bildung angemahnte (direkte) Vermittlung von Werten und Normen. Und das ist
auch gut so. Denn Ethik- und Religionsunterricht leisten sehr viel mehr und
wichtigeres: Nämlich eine Orientierung im Denken.20 Was meint das?
19
Zu den bildungstheoretischen Konsequenzen dieses Verständnisses von moralischer bzw. ethischer
Orientierung vgl. erneut mein Kapitel 1-2.
20
Zum genaueren Verständnis dieses Begriffs s.o. Kap. 1-2, Abschnitt 4.
334
4-4 Was sollen wir tun?
Wenn von Moral nur geredet werden kann auf Grundlage menschlicher
Freiheit, gilt es zuallererst, uns dieser unserer Freiheit zunächst einmal bewusst
zu werden, auszuloten, auch zu spüren, was es heißt, in Freiheit zu handeln,
und welche Konsequenzen damit verbunden sind. Nur wer sich dessen bewusst
ist, kann moralisch handeln. Auf dieser Basis können dann auch bestimmte
Werte und Normen verbindlich werden und Anerkennung finden, verfallen
nicht der Austauschbarkeit. Und so allein lässt sich die Grundlage dafür
schaffen, sich verantwortlich mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen
sowie sich auf immer neue Herausforderungen einlassen zu können.
Wenn von Moral geredet werden kann nur im Horizont menschlicher Freiheit,
heißt das zweitens, dass Moral, obwohl stets je persönlich zu verantworten,
gleichwohl nicht eine individualistische, private Entscheidung ist, sondern sich
zu formen und zu gestalten hat in Auseinandersetzung mit der Sache und im
Gespräch mit anderen.21
Wie nun können auf dieser Basis Wertentscheidungsprozesse konkret im Unterricht
verhandelt werden. Auch hier zwei Punkte: Einen erneut grundsätzlich zur Differenzierung der Sache (2.2), einen schließlich als Anstoß zu auseinandersetzungsdimensionierter Unterrichtsgestaltung (2.3):
2.2
Ebenen einer Wertentscheidung
(a) Zunächst einmal kann ich fragen nach den unterschiedlichen Ebenen, auf
denen sich eine moralische Frage stellt, auf denen ich also zu einer ethischen
Diskussion kommen kann. Für unseren Zusammenhang sind, meine ich, mindestens
folgende Ebenen für eine ethische Auseinandersetzung zu berücksichtigen22:
21
Auch diese beiden Gebote können sich auf Kant berufen, wenn dieser als quasi didaktische
Prinzipien allen Philosophierens als erstes das Selber-Denken forderte, und dann als zweites das
dialogische Denken (sich an die Stelle des anderen denken zu können). Dazu und zum dritten
Prinzip vgl. die Notizen in Kap. 1-4 sowie die Gesprächsanalysen in Kap.3.
22
Die nachfolgenden Ebenen habe ich selbst erstellt in ganz pragmatischen Herausforderungen durch
Seminare zur philosophischen Ethik wie auch im interdisziplinären Gespräch in den Seminaren
zum Themenbereich „Natur-Mensch“, die ich gemeinsam mit den Kolleginnen aus der Biologie,
Lissy Jäkel und Susanne Rohrmann, der Physik, Klaus Scheler, und der Theologie, Andreas Benk
und Jörg Thierfelder in den Jahren 1999 bis 2001 an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg
veranstaltet habe (Vgl. dazu unser gemeinsamer Beitrag: Die Seminare „Natur und Mensch“ –
Erfahrungen aus vier Semestern Zusammenarbeit der Fächer Biologie, Physik, Philosophie und
Theologie; in: A.Wellensiek / H.B. Petermann (Hg.): Interdisziplinäres Lehren und Lernen in der
Lehrerbildung. Weinheim: Beltz 2002, S.201-214). - Für die grundsätzliche Frage nach Ebenen
philosophischer Ethik ist zu verweisen auf einschlägige Werke aus der analytischen Ethik, vgl.
besonders William K. Frankena: Analytische Ethik. München: dtv 1972 (USA 1963).
4-4 Was sollen wir tun?
335
Die Ethik der Wissenschaft: Warum sollen wir betrachten, beobachten, untersuchen, erforschen, entdecken, zu Kenntnissen kommen, Erkenntnis erlangen,
wissen …? – Diese Ebene von Ethik richtet sich gegen die unkritische These
vom ethisch neutralen bzw. indifferenten Naturdrang nach Erkenntnis und hat
ihren Beleg in den philosophischen Überlegungen von Aristoteles über Marx
bis hin zu Habermas.
Die Ethik der Technik: Warum sollen wir, was wir erkannt haben, zerteilen,
zusammenfügen, verändern, fortschreiben, optimieren, ausmerzen ...? – Diese
Frage richtet sich gegen die ideologischen Thesen von der Einheit von
Forschung und Technik, so als würde eine bestimmte wissenschaftliche
Erkenntnis automatisch Formen ihrer technischen Umsetzung zeitigen, gegen
die von der Vermischung von Ethos und Ethik, Ebenen die nicht selten im
naturwissenschaftlichen und medizinischen Bereich verwechselt werden, so als
würde ein Forscher oder Arzt, der einem bestimmten Standes-Ethos sich
verpflichtet sieht, sich bereits ethisch mit seinem Handeln auseinandersetzen,
sowie die von der Einschleifung von Praxis auf Technik, wie sie vor allem im
politischen Bereich in den menschenverachtenden Techniken des Nationalsozialismus zur Ideologie gemacht wurde.
Die Ethik des Handelns: Warum sollen wir zur Anwendung bringen, in unser
Leben integrieren, was wir erkannt haben und technisch bewerkstelligen
können ... ? Sie ist deswegen die zentrale ethische Ebene, weil hier wie sonst
nirgends wir herausgefordert sind, uns als moralische Wesen zu begreifen und
unser Tun als stets auch verantwortungsbezogenes Handeln und nicht nur als
gesteuerte oder automatische Tätigkeit zu verstehen. Gefragt ist hier auch
danach, worin wir unsere Moral begründen, in der Vernunft, in der Intuition, in
der diskursiven Abwägung …
Die Ethik der Entscheidungsfindung, die heute zunehmend wichtig wird, um
es bei moralischen Herausforderungen nicht nur bei fundamentalethischen
Einstellungen zu belassen, sondern nach konkreten Möglichkeiten, also
vernünftigen Verfahren einer ethischen Entscheidung und Urteilsfindung zu
suchen: Wie können wir das, was wir tun wollen, zu einer vernünftigen,
allgemein anerkennungsfähigen und der Sache dienlichen Entscheidung
bringen ? - Dabei sollte differenziert werden, wer oder was von einer ethischen
Entscheidung betroffen wird:
• mein persönliches Leben
• das Leben der Mitmenschen / der Nächsten / der Gemeinschaft der
(lebenden) Menschen / künftiger Generationen,
• die Lebensbedingungen der Menschheit überhaupt,
336
4-4 Was sollen wir tun?
• Leben und Welt als Totalität alles Seienden,
• der mögliche (nicht immer transparente!) Zusammenhang dieser Ebenen;
• ebenso sehr ist nach den möglichen Interessen zu fragen, die nach einer
Entscheidung verlangen, auch die außermoralischen wie insbesondere
ökonomischen Interessen.
(b) Wenn es weiterhin darum geht, Bedingungen auszuloten, die uns konkret zu
einer verantwortlichen Entscheidung verhelfen, macht es einen guten Sinn, zu unterscheiden zwischen grundlegenden ethischen Überlegungen und Regeln einer
angewandten Ethik.
Auf der grundlegenden Ebene unterscheidet die Philosophie im wesentlichen drei
Richtungen der Beurteilung einer Handlung als gut:
Eine Handlung ist gut aufgrund der durch sie erzielten Folgen (=teleologische
Begründung, wie sie durch die Ethik des Aristoteles grundgelegt wurde, zur
Geltung aber auch kommt in der sog. utilitaristischen Ethik der Abwägung im
Hinblick auf die durch eine Entscheidung zu maximierenden guten Folgen.
Oder eine Handlung ist gut aufgrund der ihr zugrundeliegenden Absicht, durch
die diese Handlung bindende Pflicht wird (deontologische Begründung). Sie
wird am besten durch Kant auf den Punkt gebracht und seine Auffassung von
einem uns absolut bindenden Kategorischen Imperativ, liegt aber auch der
antiken Auffassung von Sokrates zugrunde. Inwiefern religiöse Ethiken
aufgrund absolut uns bindender Normen einer solchen Begründung zuzuordnen
sind, muss im Einzelfall diskutiert werden.
Neuerdings gewinnen zunehmend Ansätze einer diskursiven, deliberativen
Ethik an Bedeutung, die zu dem, was das Gute sei, allein durch ein vernünftiges,
von allen vollziehbares Verfahren glauben gelangen zu können. Vertreter wie
Jürgen Habermas glauben, dass anders als so in unserem nachmetaphysischen
Zeitalter, in dem Normen und Wertsysteme faktisch nicht mehr mit allgemeinverbindlicher Anerkennung rechnen können, heute moralische Fragen nicht zu
klären sind.
Meine These dazu: In heutiger Auseinandersetzung werden wir Entscheidungen
verantwortlich wohl nur im Bedenken zugrundeliegender Wertentscheidungen, weil /
Fundamentalnormen (weil sonst Moral auf Technikfolgenabschätzung reduziert
wird) wie auch durch Abwägung der Folgen treffen können (weil Fundamentalnormen nur Grundbedingungen nennen, nicht aber konkrete Entscheidungen präformieren). Zugleich wird es immer schwieriger, eine Entscheidung sowohl der
4-4 Was sollen wir tun?
337
Komplexität der Sache angemessen, wie auch kritisch differenzierend, wie auch für
möglichst alle nachvollziehbar zu treffen, so dass wir in wichtigen moralischen
Entscheidungen notwendig auf einen vernünftigen Diskurs angewiesen sind (weil
Moral wesentlich keine einsame und private, sondern uns als Gemeinschaftswesen
angehende Sache ist).
Die angewandte Ethik meint zunächst einmal nicht die Anwendung festgelegter
oder durch Urteil gefundener Entscheidungen auf konkrete Fälle, in denen sie nun
Anwendung fänden. Vielmehr geht es um die ethische Entscheidungsfindung in und
angesichts konkreter, d.i. angewandter Problemfälle. Dazu gehört auch die Bioethik,
und hierbei speziell die Ethik der Genetik. Hier kann die philosophische Ethik u.a.
durch folgende Fragen zur Entscheidungsfindung verhelfen:
Werden / wird durch eine ethische Entscheidung
Dinge überschaubarer ?
neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet ?
die Vielfalt bestehender Ordnung ins Verhältnis gesetzt zu einer durch
Entscheidungen neu gesetzten Ordnung ?
weitere Entscheidungen erleichtert ?
Nutzen erhöht, Schaden minimiert ?
Gefahren gegen Chancen abgewogen ?
unmittelbare / nicht direkt einkalkulierbare Folgen bedacht - für den
Einzelnen (Betroffener / Akteur / Entscheidungsträger); - für Mitmenschen
/ Gesellschaft - Tiere / Welt ?
Folgen für Zukunft (Erblasten) kalkuliert ?
Grenzen hinsichtlich
bedacht ?
der
wissenschaftlich-technischen
Selbstkontrolle
Sind die Entscheidungen für die Betroffenen / für alle einsichtig /
nachvollziehbar ?
Handelt es sich um Entscheidungen, die durch Mehrheit zustande kommen
können, oder müssen sie durch alle getroffen werden (können) ?
Diese Ebenen zu bedenken, ist für die konkrete Unterrichtsgestaltung insofern
wichtig, als von daher sehr viel klarer die Zielsetzung(en) einer Unterrichtseinheit
wie auch einer konkreten Unterrichtsstunde benannt werden können, vor allem aber,
um die Ebene des Gesprächs und der Diskussion, die bei solchen Themen unver-
338
4-4 Was sollen wir tun?
zichtbar sind, einschätzen und ggf. auch steuern zu können, um das Gespräch von der
Gefahr der bloßen und insofern ohne Folgen bleibenden Meinungsäußerung zu
bewahren.
2.3
Anstöße zur unterrichtlichen Gestaltung von Wertentscheidungsprozessen
Ich konzentriere mich hier auf zwei Anstöße zur unterrichtlichen Gestaltung,
einerseits zum Eingangsimpuls, andererseits zur Strukturierung einer Diskussion:
(1) Als hervorragend geeigneter Gesprächsimpuls erweist sich zunächst das
Erstellen von Dilemmageschichten aus vorliegenden Quellen. Kommen wir auf
unsere Eingangszitate zurück, könnte eine solche Geschichte etwa so aussehen:
Mann, ich hab’ vielleicht Hunger, meint Uli. – Hans hilft: Komm, ich
geb’ Dir von meinem Schokoriegel! – Spinnst Du? Weißt Du denn nicht,
dass die alle genverseucht sind? So was ess’ ich nicht, gibt Uli zurück.
– Spinn Dich aus, das ist doch alles genau geprüft, was soll daran
schädlich sein? – Na ja, so genau weiß ich das nicht, aber wir kaufen
inzwischen nur noch ökologische Lebensmittel, da kann man wenigstens
sicher sein, dass da nichts Künstliches dran ist, das dann weiß ich was
verursacht…
Der Vorteil einer solchen Geschichte: Sie provoziert direkt zu weiterer Auseinandersetzung, Hinterfragen der Positionen, Interesse an weiteren Informationen und vor
allem: Sie ist unmittelbar nachzuempfinden, führt unproblematisch zur Identifikation
mit einem der Protagonisten, nicht zuletzt weil die Positionen nicht weiter entfaltet
sind und bei genauerem Hinsehen recht unmittelbar bzw. unreflektiert geäußert
werden. Bewusst ist die Geschichte zudem auf einem Niveau gehalten, auf dem noch
nicht klar ist, ob es sich hier überhaupt um ein moralisches Dilemma handelt. Genau
dies kann aber in der folgenden Bearbeitung aufgrund der fast banalen Offenheit
umso deutlicher als Problem erkannt werden. Versuchen Sie es also mit dieser
Geschichte als Eingangsimpuls oder noch besser, probieren Sie es selbst aus, als
Unterrichtseinstieg eine solche Dilemmageschichte zu schreiben. Dabei sollten
freilich einige Kriterien beachtet werden, die eine gute Dilemmageschichte
auszeichnen23:
23
Das folgende Schema habe ich in intensiverer Auseinandersetzung mit sog. Dilemmageschichten
entworfen. Vgl. dazu meine genaueren Erläuterungen in: H.-Bernhard Petermann: Philosophieren
als Konzept gegen Lebensresignation? in: ZDPE 1999, S.101ff., sowie meine kritischen Anmerkungen zu den in der Moralerziehung seit Oser üblichen Dilemmageschichten in Kap.3, Abschnitt
4.1. Wichtige Impulse zu dieser Struktur verdanke ich den Geschichten vom Garreth B. Matthews:
4-4 Was sollen wir tun?
339
Offenheit der Entscheidung
konkreter Erfahrungsbezug
weitere
Meinungsäußerungen
evozierend
unmittelbar
zur Entscheidung
drängend
dialogische Anlage
jede Meinung in sich
problematisch / aporetisch
Kürze / Pointiertheit
Kriterien
einer
DilemmaGeschichte
innere Dichte
sprachlich /
architektonisch
offenes Ende
zentral für das zur Debatte
stehende Thema
klare Polarisierung / Konflikt
Eine andere, freilich über einen Impuls schon hinausgehende, aber der Bildung von
Moralität und einer eigenen Meinung förderliche, weil sie zugleich reflektierende
Methode bestünde darin, ein kurzes Zitat wie etwa die eingangs oder unter 1.2.
dieses Kapitel zitierten mit der Aufgabe zu verbinden, einen Brief zu formulieren,
etwa mit dem Inhalt: Stell Dir vor, X hat einen Brief als Anfrage erhalten, auf den er
nun die dir vorliegenden Sätze antwortet. Versuche, diesen Fragebrief zu formulieren. – oder: Du hast an X eine Frage gestellt, die er mit den vorliegenden Sätzen
beantwortet. Bist Du zufrieden? Schreibe deine Antwort in einem Brief an X auf.24
(2) Für den weiteren Verlauf, also das Unterrichtsgespräch bzw. die problemorientierte Auseinandersetzung empfiehlt es sich, nicht bei konventionellen Fragestellungen stehen zu bleiben wie „Was meint ihr denn dazu?“ - Nicht nur für die
erfolgversprechende Unterrichtsplanung, auch im Sinne der Vorbereitung einer
gewinnbringenden ethischen Diskussion erweist es sich darum als wichtiger
Baustein, auch Einstiegsfragen zu einem Thema sehr genau vorzubreiten. Es ist ein
Irrtum, dass damit der Gesprächsverlauf zu stark vorherbestimmt und so der eigentPhilosophische Gespräche mit Kindern. Berlin: Freese 1989, und Ermanno Bencivenga: Spiele mit
der Philosophie. Berlin: Freese 1992.
24
Auch diese Methode wird ausführlicher erläutert und an einem Beispiel dargestellt in meinem eben
Anm. 23 zitierten Aufsatz in ZDPE 1999.
340
4-4 Was sollen wir tun?
liche Denkprozess erstickt würde; im Gegenteil halte ich eine solche Vorbereitung
nicht nur im Hinblick auf die gesteckten Ziele, sondern gerade auch um die
notwendige Offenheit eines Gesprächs zu garantieren, für sinnvoll. So ist es nützlich,
zunächst grundsätzlich einige Frage-Richtungen zu unterscheiden:
a.
das Ausloten der Situation, aus der heraus ein Text, eine Meinung entstanden
sein mag;
b.
das Vertiefen von Alternativen und Kontroversen;
c.
eher handlungsorientiert dann: Was wäre zu tun, zu bewerkstelligen, damit
eine durch den Text aufgestellte These zum Erfolg führt, an welche Grenzen
gerate ich dabei, was bedeutet das ?
Gehen wir beispielhaft, auf der Basis unserer Dilemmageschichte, einige daraufhin
konkret zu stellende Aufgaben durch:
Für die Zielsetzung (a) (Ausloten der Situation) könnten Sie die Schülerinnen und
Schüler z.B. mit folgenden Fragen konfrontieren:
Warum wird Uli nicht von einem solchen Schokoriegel essen wollen?
Würdest Du es tun? Warum, warum nicht?
Woher mag Hans wissen, dass gentechnisch veränderte Lebensmittel geprüft
sind?
Warum kann Uli sich sicherer sein bei ökologisch hergestellten Lebensmitteln? Würdest Du Dich dabei auch sicherer fühlen, warum, warum nicht?
Überlege: Wie wichtig ist es für dich zu wissen, ob Lebensmittel, die du isst,
mit oder ohne gentechnische Manipulationen hergestellt sind? Warum wäre
das für dich wichtig oder nicht?
Der Gewinn für die SchülerInnen in der Beantwortung solcher Fragen ist es, ein
Bewusstsein über die Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen der Erfassung und
kritischen Analyse von Lebenssituationen zu erlangen, also mehr als die bloße
Wiederspiegelung bestimmter Lebenssituationen. Zudem werden sie zumindest
durch die letzte Frage auf das Problem gestoßen, ob es sich hier überhaupt um eine
moralische Entscheidung handelt. Das Ziel der kritischen Diagnose der (Lebens-)
Umstände wird also unterlegt mit der Aufgabe, durch Differenzierung des Sehens
auch Wege des Urteilens unterscheiden zu lernen und so auch Wege zur moralischen
Urteilsfähigkeit zu ebnen.
Die Vertiefung von Alternativen (b) kann als weiterer Schritt folgen, sei es als
schriftliche Aufgabe, als Vorgabe für ein Rollenspiel oder als direkter Einstieg in ein
4-4 Was sollen wir tun?
341
Unterrichtsgespräch. Entsprechende Frage-Formulierungen sollten dann über die
bloße Wiedergabe der Szenerie hinausgehen und allmählich zur Einsicht in die Kraft
bzw. Schwäche von Argumenten und ihrer Durchsetzungsfähigkeit führen; z.B.:
Formuliert Fragen, die ihr Hans und Uli stellen wolltet.
Versucht, die Gedanken von Uli und von Hans durch ein Streitgespräch
weiter zu entfalten; welche Argumente fallen Euch noch ein?
Überzeugen Euch die Ansichten von Uli, die von Hans? Warum, warum
nicht?
Prüft die Ausdrücke, die Uli und Hans verwenden: „genverseucht“ –
„schädlich“ – „ökologisch“ – „künstlich“; was ist jeweils gemeint?
Erkundige Dich, was genau genetische Veränderung und Manipulation
meinen.
Erkundige Dich über Prüfungsmöglichkeiten oder Nachweise für Lebensmittel.
Prüfe den von Uli behaupteten Zusammenhang von „ökologisch“ und „nicht
künstlich“.
Bewusst ist auch in diese Fragekette ein Fortgang von unmittelbarer Identifikation
bzw. Betroffenheit zur Analyse der Erfahrung von Betroffenheit und dem Umgang
damit eingebaut. Damit soll verdeutlicht werden, wie z.B. die Zielsetzung
„Orientierungshilfe bei der Lebensgestaltung“ eingebunden werden kann in das (eher
philosophische) Ziel „bewusste Lebensführung“. Darüber hinaus wird die Fähigkeit
zur Argumentation, vor allem aber der dialogische bzw. diskursive Austausch von
Argumenten geübt, schließlich die Einsicht vermittelt in die Kraft bzw. Begrenztheit
vernünftig argumentierender Auseinandersetzung, auch im Vergleich zum Wert der
Rede, bloßer Meinungsmache oder auch gefühlsmäßiger und intuitiver Zustimmung
bzw. Ablehnung.
Die handlungsorientierte Perspektive (c) ist sicher die interessanteste im Hinblick
auf die Zielsetzung, zu einer konkreten Entscheidung zu befähigen. Entsprechend
könnte dann z.B. folgende Fragereihe vorgelegt werden:
Welche Gefühle hätte ich, einen solchen Schokoriegel zu essen, welche, wenn
ich mich dagegen entschiede?
Was kann ich tun, um sicher zu sein, dass Lebensmittel nicht gentechnisch
verändert sind?
342
4-4 Was sollen wir tun?
Würde ich einen als gentechnisch verändert gekennzeichneten Schokoriegel
essen, wenn er auf mögliche gesundheitliche Schäden überprüft und für
unbedenklich erklärt worden ist? Warum, warum nicht?
Wen kann ich fragen, um mehr Gewissheit in meinen Entscheidungen zu
erlangen?
Inwieweit kann ich mich auf Expertenmeinungen zu gentechnisch
veränderten Lebensmitteln verlassen?
Ist die Beantwortung dieser Fragen von bestimmten Lebensbedingungen
abhängig ?
Könnte ich / habe ich mich selbst durch die Beantwortung dieser Fragen
verändert ?
Das Ziel solcher Fragen ist es, Handlungskompetenz aufzubauen im Umgang mit
konkret uns herausfordernden Lebenssituationen. So werden eben noch nicht von
vorneherein Verhältnisse bzw. Tugenden wie Gelassenheit, Entschlossenheit,
maßvolles Abwägen, Einsicht, Entscheidungsfähigkeit u.a. oder gar bestimmte
gesellschaftliche Werte vermittelt, sondern dies könnte in der Auseinandersetzung
als strukturelle Hilfen zur Sprache kommen. - Ein so angelegter Unterricht, gleich ob
er im Fach Religion, Ethik, Biologie oder Hauswirtschaft stattfindet, bliebe frei vom
Verdacht der moralischen Unterweisung, würde vielmehr die moralische Antwort als
(notwendige) Herausforderung artikulieren können, würde einen Horizont schaffen,
Raum bieten für je persönlich zu treffende aber eben nicht vorgeprägte
Entscheidungen.
Kapitel
4-5
Recht und Gerechtigkeit und die Frage der
Menschenrechte 1
Einleitung: Probleme im Einsatz für Menschenrechte
Vielfältige Ereignisse und Debatten am Ende des 20. Jahrhunderts haben in aller
Schärfe die Problematik von Begründung und Achtung der Menschenrechte vor
Augen geführt. Anlässlich der 50-Jahr-Feier ihrer Allgemeinen Erklärung vom
10. Dezember 1948 war es einhellige Meinung, dass es sicher keine Epoche gegeben
hat, in der zunehmend mehr Staaten auf zunehmend mehr Menschenrechte sich
verpflichtet haben, bis hin zur Ausbildung konkreter Rechtsordnungen und -verfahren gegen Menschenrechtsverletzungen2, dass aber ihrer Proklamation und
formalen Anerkennung die (politische) „Wirklichkeit täglich ins Gesicht schlägt“3.
Auch die vielfältigen Initiativen der 70er- und 80er-Jahre für Frieden, Gerechtigkeit
und Ökologie sind in den 90er-Jahren merklich zurückgegangen. Ein Grund: Im
Geflecht sich diversifizierender Globalisierung sind konkrete Menschenrechtsverletzungen nicht mehr eindeutig bzw. kontextfrei auszumachen; auch die Position
der Anklage kann sich nicht frei davon wissen, selbst in die Verletzung verwickelt zu
sein. Wer etwa gegen versklavende Kinderarbeit in sog. Entwicklungsländern
protestiert, dürfte sich auch herkömmlich hergestellten und gehandelten Kaffee nicht
aufbrühen; und wer meint, Hunger und Krankheit sollten auch politisch bekämpft
werden, müsste auch (eigene) Aktienfonds kritisch unter die Lupe nehmen.
Moralische Empörung jedenfalls, wie sie sich etwa in zunehmender Spendenfreudigkeit Ausdruck verschafft, reicht nicht, um wirksam für die Menschenrechte einzu1
2
3
Dieses Kapitel ist eine um einige Erläuterungen und Anmerkungen erweiterte und in einigen
Passagen umgestellte Fassung meines Beitrags „Moral, Recht und Gerechtigkeit – Sind Menschenrechte einklagbar?“, der in dem von Johannes Rohbeck herausgegebenen „Praxishandbuch
Philosophie. Bd. Praktische Philosophie“, das 2002 im bsv-Verlag München erscheinen wird. Aus
diesem Kontext einer grundsätzlichen Orientierung für die Hand von Lehrkräften erklärt sich der
im ersten Teil eher lexikalische, wichtige Positionen zusammenfassende, aber nicht differenziert
erläuternde Stil, für den zweiten Teil die konkret auf Unterrichtspraxis zugeschnittene Darstellung.
Eine wissenschaftlich gebräuchliche und ebenso leicht und preiswert zugängliche Ausgabe der
wichtigsten Menschenrechtserklärungen bietet Heidelmeyer (1996), im folgenden zitiert nach der
3. Aufl. 1982.
Volkmar Deile: Die unvollendete Revolution; Leitartikel einer 4-seitigen Anzeige von „amnesty
international“ v. 3.12.1998 als Beilage in großen deutschen Zeitungen, hier aus Die Zeit.
4-5 Recht und Gerechtigkeit
345
treten. Auch der 1997 vorgebrachte Vorschlag einer Proklamation von Menschenpflichten4 unterbietet die Komplexität: Ehrenwert gemeint, verwässert er die
rechtlich-politische wie die begriffsanalytische Ebene, die Voraussetzung sind, deren
Differenzierung Voraussetzung ist, sich sinnvoll wie erfolgversprechend für
Menschenrechte einzusetzen.5 Das Engagement für Menschenrechte ist ein unübersichtliches Geschäft geworden, in dem der Zusammenhang von Religion, Moral,
Politik und Ökonomie wohl bedacht sein muss. Die Klärung dieser Ebenen stellt
einen wichtigen Beitrag dar nicht zuletzt im Sinne einer Pädagogik der Menschenrechte. Dass die Philosophie diese Herausforderung angenommen hat, belegen die
Diskussionen anlässlich der 200-Jahr-Feier von Kants Essay „Zum ewigen Frieden“
1995, in der eben diese Fragen thematisiert wurden6, wie auch beispielsweise Otfried
Höffes emphatisches Bekenntnis zur Philosophie als „Anwalt der Menschheit“.7
1
Fachliche Grundlegung:
Menschenrechte zwischen Recht und Gerechtigkeit
1.1
Problemaufriss: Menschenrechte als philosophischer Diskurs ?
Die Menschenrechte tragen ein Janusgesicht, das gleichzeitig der Moral und
dem Recht zugewandt ist. Ungeachtet ihres moralischen Inhalts haben sie die
Form juristischer Rechte. Sie beziehen sich wie moralische Normen auf alles,
‚was Menschenantlitz trägt’, aber als juristische Normen schützen sie einzelne
Personen nur insoweit, wie sie einer bestimmten Rechtsgemeinschaft
angehören.
Diese Einlassung von Jürgen Habermas8 bietet einen guten Rahmen, um die
Horizonte einer philosophischen Einlassung auf das Thema abzustecken. Genauer
4
5
6
7
8
Das vom „InterAction Council“ (einer Vereinigung ehemaliger Regierungschefs mit dem ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt als Ehrenvorsitzenden und Mitinitiator) herausgegebene
Dokument wurde in Deutschland veröffentlicht in: Die Zeit v. 3.10.1997. In der „Zeit“ wurde im
Anschluss auch eine heftige Debatte zum Wert dieser Erklärung geführt.
In der erwähnten Debatte in der „Zeit“ hat darauf unter Berufung auf Kant am klarsten der
deutsche Generalsekretär von „amnesty international“ Volkmar Deile hingewiesen: Rechte bedingungslos verteidigen; in: Die Zeit 21.11.1997.
Vgl. Höffe (1995), Merkel (1996), Lutz-Bachmann (1996), Gosepath/Lohmann (1998), aber auch
die Debatten in Die Zeit und Frankfurter Rundschau von 1996.
Höffe (1999), S.34. - Weniger emphatisch, aber mindestens ebenso engagiert spricht etwa Jürgen
Habermas der Philosophie aufklärenden Einfluss in der Deutung der Menschenrechte zu: Wahrheit
und Rechtfertigung, Frankfurt 1999, S. 319, 332f.
Jürgen Habermas. Der intellektuelle Diskurs über Menschenrechte; in: Brunkhorst (1999), S. 216.
346
4-5 Recht und Gerechtigkeit
geht es darum, die bereits in der Einleitung angesprochenen Ebenen von Moral,
Recht, Natur, Gesetz, Politik, Ökonomie und Gerechtigkeit, die in den Menschenrechten zusammenkommen, in ein klärendes Verhältnis zu setzen:
• Der Moral zugewandt sind Menschenrechte, insofern wir in ihnen als Personen,
d.h. fähig zu autonomen Entscheidungen hinsichtlich unserer Lebensgestaltung
angesprochen sind.9 In diesem Sinne sind Verhältnisse von Moral Voraussetzung für
Rechtsverhältnisse: Rechte haben können nur Personen. Und in den Menschenrechten geht es nicht um irgendwelche Rechte, sondern um eben die, die uns in
unserem Personsein betreffen.
• Der moralische Charakter der Menschenrechte impliziert noch etwas anderes: Es
handelt sich um Ansprüche, die wir einander natürlicherweise zubilligen, ohne dass
wir dies (wie bei Rechten im engeren Sinne) explizit miteinander vereinbart hätten,
und auch intuitiv, ohne dass wir über ihren Sinn und ihre Gründe nachgedacht hätten.
Daher ruft die Verletzung eines Menschenrechts in uns zuallererst ein moralisches
Gefühl hervor. In diesem Gefühl haben wir den tieferen Grund, uns gegen die
Verletzung eines Menschenrechts bzw. für seine Erhaltung auch einzusetzen, fühlen
wir uns doch in der Verletzung gleichsam selbst verletzt. Die Traditionen des
Naturrechts sehen daher im moralischen Charakter der Menschenrechte ihre eigentliche Begründung.
• Menschenrechte ist aber zugleich Rechte. Das meint auf einer ersten Ebene, dass
wir sie nicht nur für uns selbst beanspruchen, sondern allen Menschen zubilligen; ihr
moralischer Anspruch der Wahrung der Person gewinnt aufgrund unserer Beziehung
zu anderen rechtlichen Charakter.
• Wenn wir aber über das unmittelbare Geltendmachen von Ansprüchen hinaus
Menschenrechte als Rechte10 auch fixieren, so deswegen, weil wir über das
moralische Betroffensein hinaus juridische Rahmenbedingungen für notwendig
erachten, die die Einhaltung der Menschenrechte überwachen und Möglichkeiten und
Mittel bereithalten, gegen ihre Verletzung einzuschreiten. Die Tradition des
positiven, d.i. gesetzlich fixierten Rechts sieht im Unterschied zum Naturrecht hierin
die einzige Möglichkeit einer allgemeingültigen Wahrung der Menschenrechte.
9
10
Zu dem hier unterstellten Begriff von Moral vgl. Kant: Grundlegung der Metaphysik der Sitten,
sowie meine Erläuterungen im folgenden Kapitel 4-3-2, Abschnitt 1.2.
Hinsichtlich der Begriffe „Anspruch“ und „Recht“ ist festzuhalten, dass ich mich hier nach der in
der philosophischen Diskussion üblichen Begrifflichkeit richte, wonach Menschen grundlegend
Ansprüche haben und geltend machen können, die dann als Rechte bezeichnet werden, wenn sie
legalistisch fixiert und damit einklagbar sind. Juristen benutzen beide Ausdrücke in genau umgekehrter Bedeutung: Ansprüche sind konkret einklagbar gegen einen anderen oder gegen Institutionen, Rechte sind sehr viel weitere Bestimmungen, die mir als grundsätzlich Rechtsperson
zukommen.
4-5 Recht und Gerechtigkeit
347
• Über die rechtliche Fixierung hinaus bedarf es jedoch auch realer politischer
Verhältnisse, d.h. einer Rechtsgemeinschaft, die die verfassungsmäßig verankerten
Menschenrechte nicht nur anerkennt, sondern auch eine politische Kultur besitzt,
Menschenrechte konkret durchzusetzen.
• Die Ebene der Gerechtigkeit kommt in einer ersten Bedeutung, nämlich als sozialpolitische Gerechtigkeit ins Spiel, wenn angesichts differenter sozialer Verhältnisse,
heute durch ökonomische Globalisierung verstärkt, bestimmte Ansprüche, wie etwa
auf Gesundheit, nicht in gleichem Maße für alle Menschen geltend gemacht werden
können oder gar nur auf Kosten anderer.
• Gleichwohl ist (dies ist über das Habermas-Zitat hinaus zu behaupten) weder mit
einer rechtlichen Absicherung, noch durch eine politische Kultur noch durch ein
gerechtes ökonomisches Gefüge letztlich dem Genüge getan, geschweige denn das
hergestellt (und nicht nur gewährleistet), wonach alle in der Berufung auf Menschenrechte streben: die Anerkennung unseres Menschseins unabhängig davon, dass wir
miteinander in moralischen, rechtlichen und ökonomischen Beziehungen stehen. In
den Menschenrechten kommt insofern stets ein immer auch rechtstranszendenter
Anspruch auf letzte Gerechtigkeit zum Ausdruck.
Das Problem der Menschenrechte ist mithin nicht nur die fehlende Anerkennung und
Durchsetzung in der politisch-ökonomischen Wirklichkeit, sondern auch die Frage, in
welchem Sinne bzw. inwieweit es sich hier überhaupt um Recht handelt. Damit
provoziert die Frage der Menschenrechte wie vielleicht kein anderes politisches
Problem die Grundfrage allen Rechts, woraus nämlich einerseits alles Recht seine
letzte Legitimation erhält, und warum wir andererseits zur Einhaltung eines elementaren Gerechtigkeitsanspruchs einer verlässlichen und einklagbaren Rechtsordnung
bedürfen. Auf diese Frage konzentrieren sich die folgenden Ausführungen.
1.2
Zur Geschichte der Menschenrechte
Die Menschenrechte würden die skizzierten Probleme nicht aufwerfen, würden mit
ihnen nicht höhere als bloß rechtlich einklagbare „Rechte“ reklamiert, die jeder
Mensch für sich sollte beanspruchen können ausschließlich aufgrund seines
Menschseins und nicht aufgrund seines Status als Rechtsperson. Das weiß bereits die
Déclaration des französischen Volkes vom 27.8.1789, wenn sie nicht nur eine Reihe
grundlegender Rechte erklärt, sondern auch natürliche, unveräußerliche Menschenrechte, die in der Geschichte immer wieder missachtet und vergessen wurden, quasi
wieder-erkennt. Menschenrechte müssen insofern schon immer gegolten haben.
348
4-5 Recht und Gerechtigkeit
Das gilt nicht zuletzt für religiöse Zusammenhänge. So können beispielsweise in
den Predigten der Propheten des sog. Alten Testaments durchweg Argumentationen
auf der Basis heutigen Menschenrechtsverständnisses ausgemacht werden. Sie
klagen gegen die jeweils Herrschenden sozial gerechte Verhältnisse ein unter
Berufung auf eine letzte göttliche Gerechtigkeit, an der alle politischen Rechtserklärungen sich messen lassen müssen.11
Doch explizit Gegenstand politischer Verlautbarungen sind Menschenrechte erst
mit der Neuzeit. Üblicherweise wird als erste Urkunde die von Virginia vom 12. Juni
1776 genannt. Ohne Einschränkungen, für alle und gleichermaßen bloß hinsichtlich
des Menschseins (nicht hinsichtlich des Status als Bürger o.ä.) und daher unveräußerlich, mithin unabhängig auch von kriegerischen Verhältnissen oder der Aberkennung von Bürgerrechten, halten die Volksvertreter für alle Menschen von Natur
aus … gewisse angeborene Rechte fest.12 - Damit ist historisch ein wichtiger Schritt
getan, durch den - unter dem philosophischen Einfluss von Lockes „Second Treatise
of Government“ von 1690 - eine ursprüngliche Menschenwürde nicht nur als Grundstein der Verfassung festgeschrieben wird, sondern auch einklagbar wird. Wenn
gleichwohl auch in den Vereinigten Staaten elementare politische Freiheitsrechte erst
Jahrzehnte später juristisch Wirklichkeit wurden (faktisch noch immer nicht), dann
wohl deswegen, weil weder das zitierte Dokument noch die entsprechenden Verlautbarungen im revolutionären Frankreich die Erklärung der Menschenrechte selbst zum
Ziel hatten; diese dienten vielmehr als argumentative Basis für die Emanzipation von
der Kolonialmacht bzw. von den traditionellen Herrschaftsstrukturen Krone, Adel,
Kirche.
Damit war gleichwohl eine Bewegung in Gang gesetzt, die unter der Fahne von
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als Demokratisierungsprozess mehr und
mehr das gesamte Abendland mitgerissen hat. Die Allgemeine Erklärung der
Menschenrechte von 1948 schließlich gilt als Versuch, auf die Zerstörung dieser
Bewegung durch die Schrecken der beiden Weltkriege, insbesondere den Holocaust,
eine auch völkerrechtlich wegweisende Antwort zu finden: Menschenrechte werden
nunmehr nicht nur aufgelistet und bestätigt, sondern die Mitgliedstaaten verpflichten
11
12
Das gilt insbesondere für die vielzitierten Passagen des Propheten Amos, etwa 2,6ff oder 5,7ff,
aber auch für entsprechende Passagen in den Büchern Leviticus (z.B. Kap. 25) oder Deuteronomium (Kap. 15). Alle diese und ähnliche Einlassungen berufen sich auf die Tora als göttlicher
Weisung, die im Dekalog ihren Kernbestand zusammenfasst, wobei alle sog. Gebote von der
Grundeinsicht abhängen, die den Gerechtigkeitsmaßstab für alle Rechtsverhältnisse liefert: „Ich
bin JHWH, dein Gott, der dich aus dem Sklavenhause herausgeführt hat.“ (Dtn 5,6). – Zum theologischen Verständnis der Menschenrechte vgl. insbesondere H.E.Tödt: Menschenrechte – Grundrechte. In: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft. Teilbd. 27, Freiburg: Herder 1982,
S.9-57, hier S. 46ff.
Heidelmeyer (1982), S. 56.
4-5 Recht und Gerechtigkeit
349
sich, „die allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten durchzusetzen“. Damit geht die UNO über die bloße moralische Selbstverpflichtung hinaus und realisiert, dass moralisch allein sich Verbrechen gegen die
Menschlichkeit nicht verhindern lassen; andererseits bindet die Erklärung die ihr
beigetretenen Staaten, gerade in Anerkennung der faktischen Nichteinhaltung von
Menschenrechten bloß als „zu erreichendes Ideal“, auch politisch, ihrerseits konkrete
Rechtsordnungen zu schaffen, die zunehmend die von ihnen global anerkannten
Menschenrechte auch als einklagbare Grundrechte formulieren und somit dem
moralischen Anspruch aller nach Gerechtigkeit nachkommen.
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland hat im Art.1 eine für solche
konkrete Rechtsordnungen wegweisende vierstufige Formel gefunden, indem die in
ihm festgehaltenen und jede Rechtsprechung bindenden und einklagbaren Grundrechte ihrerseits gekoppelt werden an Menschenrechte, die wiederum einer rechtlich
nicht fixierbaren Menschenwürde sich verdanken.13
Die weitere Geschichte lässt sich eher an einigen Fragen und Kontroversen
ablesen, die in den unterschiedlichen völkerrechtlichen Pakten, den vielfältigen
Diskussionen und den einschlägigen Veröffentlichungen der letzten Jahre ihren
Niederschlag gefunden haben14:
Müssen und können die einzelnen Länder alle Menschenrechte in ihre
Verfassungen aufnehmen (auch in Deutschland ist das nicht der Fall!)?
Ist eher den persönlichen und politischen oder eher den sozialen und
kulturellen Grundrechten der Vorrang zu geben? Und wie steht es überhaupt
um die Zuordnung und Nomenklatur der einzelnen Menschenrechtsgruppen:
elementare Lebens-, negative Abwehr-, persönliche Freiheits-, politische
Teilnahme- bzw. Gestaltungs-, soziale und kulturelle Teilhabe- bzw.
13
14
Von der Systematik dieses mit Recht gerühmten Art.I des GG her lässt sich die gesamte Thematik
und Problematik des vorliegenden Kapitels aufrollen. In unvergleichlich klarer und klärender,
konkrete Rechtsentscheidungen bindender zugleich aber sie auch erst eröffnender, weil nicht
konkretistisch fixierender Weise sind die elementaren Rechtsbegriffe in Hierarchie gebracht. Der
Klarheit halber setze ich nachfolgend diese tragenden Begriffe wie ihre syntaktischen Funktionen
kursiv:
„ (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung
aller staatlichen Gewalt. - (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletztlichen und
unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens
und der Gerechtigkeit in der Welt. - (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden [hier ist in der
Logik eigentlich ein (4) zu setzen:] Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als
unmittelbar geltendes Recht.“
Sie können im begrenzten Rahmen des vorliegenden Beitrags nur aufgelistet, nicht differenziert
erläutert werden; die im Anhang angegebene Literatur, insbesondere Brunkhorst (1999), Gosepath
(1998), Höffe (1999), Shute (1996) enthält dazu die wichtigsten Informationen und vielfältige
Literaturangaben.
350
4-5 Recht und Gerechtigkeit
Leistungs- , kollektive und ökologische Rechte?15 Und in welchem Verhältnis stehen zueinander konkrete Menschenrechte und das Eine grundlegende Menschen-„Recht“ des Menschseins?
Verdankt sich die Forderung nach Universalität der Menschenrechte einem
einseitig westlichen Menschenbild oder ist sie generalisierbar?
Sind politische Rahmenbedingungen wie das Demokratie-Prinzip Voraussetzung für Menschenrechte oder (nur) sinnvolle Institutionen ihrer
Garantie?
Hängt die Anerkennung von Menschenrechten vorrangig an ihrer rechtlichen Durchsetzung oder an ihrer moralischen Vergewisserung?
Und: Ist die Rede von Menschenrechten sinnvoll allein in einem rechtlichpolitischen Rahmen, oder setzt sie tieferliegende anthropologische Einsichten voraus, vielleicht gar rechtstranszendente religiöse Glaubenssätze?
1.3
Ein Begriff der Menschenrechte
Als Zwischenergebnis und zugleich Arbeitsgrundlage für eine differenziertere
Erörterung von Begründung, Tragweite und Achtung sowie Erhaltung der
Menschenrechte kann nun zumindest hypothetisch festgehalten werden, worum es
sich bei Menschenrechten eigentlich handelt:
(1) Zunächst einmal sind es Rechte, die für Menschen gelten. Das beinhaltet
dreierlei:
Erstens geht es um elementare Rechte, d.h. Rechte, durch deren Verletzung ein
Mensch in seinem Menschsein (und nicht in seinem Status als Bürger, Familienmitglied, oder arbeitender Mensch) verletzt wird, durch das er also mit den Grundlagen seiner Existenz konfrontiert wird. Kant spricht in diesem Zusammenhang von
einem einzigen „ursprünglichen“ „angeborenen“ Recht.16 – Der zuweilen gegen
dieses anthropologische Verständnis sowie eine entsprechende Begründung der
Menschenrechte vorgebrachte Vorwurf des Speziezismus geht ersichtlich an dieser
Bedingung vorbei.
Daher kommen in ihnen apriorische, von der Ausformulierung konkreter Rechte
und Rechtsordnungen unabhängige „Rechte“ zur Geltung. Sie aber kommen jedem
15
16
Am einleuchtendsten differenziert hier Brieskorn (1997), S. 17f.
Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten (1797), A 45.
4-5 Recht und Gerechtigkeit
351
Menschen zu auch unabhängig von seiner Einbindung in einen politisch-rechtlichen
Verband.
Doch fundamentalen und begründenden Charakter gewinnen diese drittens als
Basis für alle konkreten Rechtsverordnungen.
(2) Bei Menschenrechten handelt es sich nicht um Definitionen oder Wesensmerkmale von Menschsein, sondern um Rechte. Auch dies bedeutet dreierlei:
Erstens ist von Rechten grundsätzlich nur die Rede in einem relationalen
Verhältnis, hier von Menschen gegenüber Menschen. Das meint auch Kant, wenn
jene ursprüngliche Freiheit „mit jedes anderen Freiheit“ zusammen soll bestehen
können.17
Daraus ergibt sich, dass es sich, zumindest bei den ausformulierten Menschenrechten, um gesetzte Normen handelt, nicht um naturwüchsige.
Drittens folgt aus beidem, dass es um prinzipiell nicht nur beanspruchbare,
sondern auch einklagbare Rechte gehen muss.
(3) Die zuletzt genannten rechtlichen Merkmale scheinen den ersten anthropologischen zu widersprechen. Das kann eine dritte Überlegung ausgleichen: Bei
Menschenrechten geht es um Rechte hinsichtlich menschlicher Angelegenheiten.
Damit ist viel gesagt, vor allem hinsichtlich dessen, was wir von ihrer Achtung
erwarten dürfen:
Wenn es sich um Rechte handelt, deren Einhaltung nicht beansprucht,
Menschsein zu stiften oder zu gewähren, sondern nur zu wahren und innerhalb von
Menschen gestifteten Ordnungen zu garantieren, gewinnt in ihnen ein ursprüngliches, möglicherweise vorrechtliches Menschen-„Recht“ als rechtlich-gesetzter
Anspruch bloß Gestalt, kann aber mit konkreten Menschenrechten nicht identifiziert
werden.
Ihren Grund hat diese Einschränkung historisch: Bei Menschenrechten im
engeren und hier favorisierten Sinn handelt es sich um eine Gestalt der Moderne, die
versucht, für alle Menschen unabhängig von ihrem Status, unabhängig von ihrer
kulturellen Einbettung, aber auch unabhängig von ihrer weltanschaulichen Begründung Rechte festzumachen, die für alles menschliche Verhalten untereinander
konstitutiv sind. Ein religiöser oder metaphysischer Sinn von Menschenrechten als
Begründung von Menschsein wird damit nicht abgelehnt, wird aber in dem Problem
der Geltung und Achtung der Menschenrechte nicht direkt berührt.
17
Ebd.
352
4-5 Recht und Gerechtigkeit
Damit ist drittens gemeint, dass ihre Achtung nicht in einem Naturautomatismus
passiert, sondern unser menschliches Handeln beansprucht: Wir sind verantwortlich,
durch moralische Normen, vor allem aber politische und rechtliche Ordnungen ihre
Achtung auch zu vollziehen. Wir selbst sind es aber auch, die aufgerufen sind, uns in
einen Diskurs zu ihrer verallgemeinerbaren Begründung und Anerkennung
einzulassen.
Die Rede von Menschenrechten beinhaltet mithin eine dreistellige Relation:
Einerseits geht es in ihnen nur um solche Belange von Menschsein, die auch rechtliche Relevanz gewinnen können, so dass die Beurteilung, ob ein Menschenrecht
verletzt ist bzw. wie es eingeklagt werden kann, allein vom Rechtsstatus eines
entsprechenden Falls her erfolgen kann. Andererseits hat die Legitimität eines
Menschenrechts ihr letztes normatives Kriterium nicht in sich selbst, sondern im
Menschsein, so dass ein Menschenrecht stets über seinen Status als Recht
hinausweist; dies darf und muss als eher moralische Ebene in seiner Beanspruchung
mit bedacht werden. Eine dritte fundamentale Tatsache ist es, dass bei
Menschenrechten stets von Menschen verursachte und daher auch zu verantwortende
Relationen zwischen Menschen zur Debatte stehen, nicht also das für Menschen
selbst nicht mehr disponible Menschsein selbst. Die Bezeichnung jener Relationen
als Rechte verdankt ihre Berechtigung gleichwohl einem Gerechtigkeitsanspruch, der
in allen Rechten Gestalt gewinnt, aber daher gegen alles positive Recht stets auch
„ein höheres Recht“ beansprucht.18
1.4
Recht und Gerechtigkeit
Durch unseren Versuch einer hypothetischen Definition der Menschenrechte ist auch
deutlicher geworden, warum mit der Frage der Menschenrechte auch die grundlegende Frage nach dem, was überhaupt Recht ist, zur Debatte steht, genauer die
Frage nach dem Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit. Das gilt es in einem letzten
Abschnitt genauer zu beleuchten. Auffallend ist, dass die rechtstheoretischen Diskussionen sich genau um die Bestimmung dieses Verhältnisses bewegen. Drei idealtypische Positionen haben in der Geschichte des Rechts Einfluss gewonnen:
Positives Recht ist der unmittelbare Ausfluss einer dem Recht übergeordneten, aber rechtstranszendenten Gerechtigkeit. (An ihr hat jedes
Recht daher ihr letztes normatives Kriterium.)
18
Vgl. G.W.F.Hegel (1821): Grundlinien der Philosophie des Rechts § 30.
4-5 Recht und Gerechtigkeit
353
Gerechtigkeit ist nichts anderes als der durch positives Recht herstellbare
(bzw. nach Ansicht einiger auch hergestellte) Rechtszustand.
Die Sphäre der Gerechtigkeit ist eine gegenüber der des Rechts indifferente,
so dass a) entweder Gerechtigkeit durch positives Recht nie herstellbar ist,
aber gleichwohl sein Kriterium an ihr haben kann oder b) Gerechtigkeitsanforderungen Geltung und Inhalt des positiven Rechts nicht berühren.
Natürlich kommt es auch zu Interferenzen; so sind durchaus Berührungen zwischen
1) und 3a) möglich wie auch zwischen 2) und 3b). Wichtiger als eine typologische
Einordnung einzelner Positionen ist es jedoch, ihre Aussagekraft wie ihre Gefahren
auszuloten und auf die Bedeutung für die Menschenrechte hin zu überprüfen, was an
den wichtigsten Stationen der Rechtsgeschichte19 studierbar ist:
• Bereits in der urgriechischen Mythologie stehen sich keineswegs Themis als
göttliche Satzung und Dike als menschliches Rechts schlicht entgegen. Themis ist
vielmehr die gesamte dem Verlauf von menschlichem Händel und Geschehen
wesentlich entzogene ursprüngliche und darum als göttlich empfundene Lebensordnung: Als Prinzip allen Lebens ist sie jedoch zugleich die Ordnung, die in den
Wachstumskräften und gesetzmäßigen Abläufen lebendiger Wirklichkeit wiederzuerkennen ist. Eine dieser in Themis eingebundenen realen Ordnungen ist Dike, die
die konkrete Gestaltung des Rechtslebens durch den an der Gerechtigkeit orientierten
Rechtsspruch sichert.
Diesem rechtstheoretischen Grundmuster folgen die meisten antiken wie auch
mittelalterlichen philosophischen wie religiösen Rechtsanschauungen, die menschliche Rechtsordnungen bis hin zu politischen Ordnungsstrukturen an ein kosmisches
oder göttliches Rechtsideal binden. Obwohl Menschenrechten vergleichbare Rechtsbestimmungen in ihnen durchaus zu finden sind, ist hier nicht ausdrücklich von
Rechten von Menschen die Rede, denn der Gedanke eines Rechts eines Einzelnen
gegenüber Institutionen aufgrund seiner selbstverständlichen Einbindung in die
Gemeinschaft ist noch nicht ausgebildet. Wenn Einzelne oder Gruppen oder auch
politische Institutionen Menschen gegenüber ungerecht sind, wird dies als Verstoß
gegen höhere Ordnungen interpretiert, nicht als Verstoß gegen Rechte einzelner
Menschen ihnen gegenüber.
Der Bruch dieses Denkens war unvermeidbar, als in den neuzeitlichen Konfessionskriegen die Bindung an göttliches Recht zu konkurrierenden Auslegungen
19
Vgl. dazu die umfangreichen, aber präzis und differenziert orientierenden Artikel „Recht, Gerechtigkeit“ von F.Loos/H.L.Schreiber in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 231311, „Gerechtigkeit“ von R.Hauser/F.Loos/H.L.Schreiber/H.Wenzel in: Hist.WB d. Philosophie,
Bd. 3, Basel 1974, Sp. 329-338, und „Recht“ von M.Herberger in: ebd., Bd. 8, 1992, Sp. 221-229.
354
4-5 Recht und Gerechtigkeit
führte. Dagegen half nur die Idee, die Konstituierung von Recht wie auch das
Kriterium seiner Gerechtigkeit an die vertragliche Übereinkunft der beteiligten
Rechtsgenossen zu binden. Naturrechtlicher Status kam eben dieser Übereinkunft zu.
Das neuzeitliche Naturrecht verankert das unveräußerliche Menschsein des
Menschen daher nicht mehr in einer dem Menschen entzogenen kosmischen oder
göttlichen Ordnung, sondern in einer menschlicher Macht und Selbstbestimmung
überantworteten Vernunft – so, bei allen Unterschieden, die Konstruktionen von
Hobbes über Locke bis zu Rousseau. Daher werden auch die Menschenrechte erst
mit dem Subjektivitätsdenken der Neuzeit expliziter Gegenstand politischer Vereinbarungen.
• Wie aber war nun, entkoppelt von einer metaphysischen Fundierung auch eine
allgemeinverbindliche Begründung von Menschenrechten möglich? Die entscheidende Überlegung dazu stammt von Kant, der „die Idee der Würde eines vernünftigen Wesens“ wie auch das daraus sich ergebende einzige „jedem Menschen [nur]
kraft seiner Menschheit zustehende Recht“ nicht mehr als inhaltliches, sondern (nur)
formales Prinzip aller Rechtsordnung versteht20, woraus dann erst sich konkrete
Menschenrechte ergeben, die mit dieser formalen Grundlegung ihrerseits höchstmögliche Allgemeinheit und Universalität beanspruchen können.
• Die Schwachstelle eines solchen formalen Rechtsprinzips hat vielleicht am besten
Marx artikuliert, in der Gefahr, jene grundlegende Freiheit des Menschen als lediglich negativ-absondernde Unabhängigkeit von anderen zu verstehen. Das aber ließe
„jeden Menschen im andern Menschen nicht die Verwirklichung, sondern vielmehr
[nur] die Schranke seiner Freiheit finden.“21 Diesen Gedanken des Einbaus von
Allgemeinheit als Sozialprinzip in die Idee der Freiheit des Menschen hat Marx
Hegel zu verdanken, der seinerseits den bloß gemeinschaftlichen Charakter einer
Rechtsordnung an dem abstrakten Freiheitsbegriff Rousseaus kritisiert hatte, freilich
um den Preis einer erneuten (metaphysischen) Einbindung jeder Rechtsordnung in
„höheres Recht“.22
• Der Rechtspositivismus, der in der Nachfolge der Historischen Rechtsschule des
19.Jh. das Rechtsdenken im 20.Jh. bestimmt hat, tendiert hingegen dazu, den Standpunkt absoluter und Recht letztlich normierender Gerechtigkeit als „irrationales“, ja
den Rechtsstatus von Rechtsverhältnissen gefährdendes Ideal abzuweisen (Kelsen).
Die positivistische Gewährleistung von Rechtssicherheit kann freilich, so auch der
20
21
22
Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), A 77, und: Metaphysik der Sitten (1797),
A45.
Karl Marx: Zur Judenfrage (1843); MEW Bd. 3, S. 64f.
Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), §258, § 30.
4-5 Recht und Gerechtigkeit
355
späte Radbruch, zu Konflikten mit elementaren Gerechtigkeitsforderungen führen,
die gegen ungerechte politische Regimes geltend gemacht werden müssen.
• Die Kontroverse um die Grundlegung der Rechtsordnung und ihrer Bindung an
allgemeingültige menschenrechtliche Normen entweder in einem liberal-personalen
oder in einem kommunikativ-sozialen Freiheitsprinzip reicht bis in die Gegenwart
hinein. Die jüngere Debatte etwa zwischen Liberalen wie Rawls und
Kommunitariern wie MacIntyre, Taylor und Walzer23 hat deutlich gemacht, dass die
Grundlegung einer Rechtsordnung und ihrer Bindung an allgemeingültige menschenrechtliche Normen in einem liberal-personalen oder in einem kommunikativ-sozialen
Freiheitsprinzip nicht als ausschließender Gegensatz gesehen werden kann. Vielmehr
stehen liberale, soziale und auch kollektive Ansprüche in einem gegenseitigen
Bedingungsverhältnis, das je aktuell auszuloten ist.
• Auch ein utilitaristisch verkürztes Gerechtigkeitsverständnis äußerlicher Verteilung vermag Menschenrechte nicht zu sichern. Das hat etwa Rawls bewogen, ein
Gerechtigkeitsprinzip zu etablieren, das auch den Ausgleich unverschuldeter
Ungleichheiten beinhaltet, freilich auf der Grundlage eines liberal-individualistischen
Denkens.24 Gegen die Gefahren liberalistischer Willkür und Ungerechtigkeit klagt
Habermas darum politische Rahmenbedingungen ein, die letztlich allein das Recht
als gerecht sichern können25, während Tugendhat ein Kriterium für ein gerechtes
Recht eher im System der Moral sucht26. Systemtheoretische analytische Rechtstheorien wiederum tendieren dazu, eine Gerechtigkeit als Kriterium gegenüber Recht
als bloß malerischen, aber nicht logischen und daher irrelevanten Begründungsversuch für Recht abzuweisen (Luhmann).27
• Wenn Luhmann gleichwohl Menschenrechten die Funktion zuspricht, Zukunft
offen zu halten, bricht auch in diesem vielleicht modernsten Versuch einer nichtmetaphysischen, sondern Wirklichkeit nurmehr präzise sowie verlässlich beschreibenden Rechtstheorie das alte Problem des Gegensatzes zwischen Recht und höherer
Gerechtigkeit durch, das auf die geschichtsphilosophische Dimension allen Rechtsdenkens verweist: Wenn dem Menschen in seinem Menschsein letztlich Gerechtigkeit widerfahren soll, scheint der Gedanke einer rechtstranszendenten Gerechtigkeit
23
24
25
26
27
Vgl. dazu vor allem die Anthologie einschlägiger Aufsätze Honneth (1995), sowie die
Einführungen von Reese-Schäfer (1995) und Zahlmeister (1992).
John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971), Frankfurt 1975; sowie: John Rawls: Die Idee
des politischen Liberalismus, Frankfurt 1992.
Vgl. vor allem Jürgen Habermas: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie,
Frankfurt 1996; sowie: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des
demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt 1994.
Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik, Frankfurt 1993, 13.Vorlesung.
Niklas Luhmann: Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt 1993, S. 116.
356
4-5 Recht und Gerechtigkeit
nicht verabschiedet. Benjamin sah sie in der Tradition jüdischer Geschichtsphilosophie als die alle Rechtsetzung als Akt von Gewalt entlarvende, ihren Gewaltcharakter letztlich vernichtende, doch ihren Gerechtigkeitsanspruch erlösende und
damit Recht nicht mehr setzende, sondern Gerechtigkeit waltende göttliche Gerechtigkeit.28 - Die in allen Verfassungen oder völkerrechtlichen Pakten sinnvollerweise
stets nur benannte, nie aber definierte Menschenwürde, die selber kein Recht ist, aber
Grundlage und Voraussetzung aller konkreten Menschenrechte, findet in dieser
Denkfigur eine zumindest einleuchtend sinnstiftende Begründung.29
28
29
Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt (1921), in: GS II/1, Frankfurt 1977, S. 179ff, bes. S. 198f.
Auf den theologischen Bezug dieses Satzes kann im vorliegenden Rahmen nicht näher
eingegangen werden. Es liegt auf der Hand, dass an dieser Stelle die biblische Rede von der
Gottesebenbildlichkeit des Menschen (Gen 1,27, indirekt aber auch Gen 2,7) entfaltet werden
müsste. Das würde deutlich machen, dass nicht nur letzte Gerechtigkeit, sondern auch Menschsein
selbst nicht in der Disposition menschlichen Handelns stehen. Daraus folgt wiederum, darauf sei
hier jedenfalls kurz verwiesen, dass die Menschenwürde natürlich nicht als Eigenschaft des
Menschen zu verstehen, sondern als kategoriale Wesensbestimmung. Das macht auf
philosophischer Ebene bereits Kant in seiner „Grundlegung“ (Kant (1785), A 77) mit wenigen
Worten klar: An die Stelle der Würde kann nichts anderes gesetzt werden, sie verstattet kein
Äquivalent, ist daher nicht relativ und kann auch nie zur Disposition stehen. Das bedeutet natürlich
nicht, dass wir nicht in unserer Würde auch verletzt werden könnten. Eben diese Unterscheidung
zwischen (möglicher) Verletzung und (nicht möglicher) Vernichtung menschlicher Würde wird,
nebenbei bemerkt, in neueren Debatten insbesondere bioethischer Provenienz, nicht selten zum
Nachteil für die Diskussion übersehen.
4-5 Recht und Gerechtigkeit
2
Unterrichtspraktischer Teil:
Unser tägliches Brot gib uns heute. Zum Problem der
rechtlichen Einlösung fundamentaler Lebensansprüche
2.0
Begründung und Zielsetzung
357
Im folgenden wird bewusst ein eher strittiges Beispiel als Thema zur Erläuterung der
Möglichkeiten einer unterrichtlicher Umsetzung gewählt. Damit sollen Folter,
willkürlicher Entzug elementarer juristischer Ansprüche oder Verfolgung nicht
herabgesetzt werden. Die Auseinandersetzung mit solchen Menschenrechtsverletzungen setzt aber ihren Unrechtscharakter wie entsprechende Rechtsansprüche
schon voraus und zielt somit eher auf politische Aufklärung bzw. Übernahme
politischer Verantwortung. Philosophisch interessanter, weil auch die rechtlichen
Grundlagen problematisierend, wäre die Frage der Anwendung ungerechter, sprich
gewalttätiger Mittel zur Erreichung eines in sich gerechten Zwecks, etwa bei der
Frage des militärischen Eingreifens gegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in
Bürgerkriegssituationen. Doch auch hier steht nicht die evidente Verletzung von
Menschenrechten zur Debatte, sondern die Art ihrer Verteidigung. Kritischer wird
die Diskussion elementare Ansprüche, zumal wenn Gründe für den Bruch elementarer Menschenrechte dabei nicht eindeutig auszumachen sind, oder wenn nicht klar
ist, ob in der Verletzung elementarer Ansprüche überhaupt Menschenrecht verletzt
wird. Das ist der Fall beim Phänomen Hunger, unter der Voraussetzung freilich,
dass Hunger heute oft nicht mehr ein (allein) durch Naturkatastrophen verursachtes
Schicksal darstellt, sondern ein durch menschliches Verhalten herbeigeführtes bzw.
in Kauf genommenes Unrecht oder wenigstens eine Situation, die durch menschliches Eingreifen zu verhindern ist. Spannend wäre auch die Diskussion um die
Tragweite subsistentieller Lebensansprüche wie z.B. auf technisch komplizierte und
teure Gesundheitsleistungen. Solche Fragen reichen stark auch in die an anderer
Stelle verhandelte Frage ethischer Entscheidungsfindung hinein; auch deshalb wähle
ich hier das Beispiel Hunger.
Der Vorschlag ist zunächst für die Sek I konzipiert. In der 9./10. Klasse sehen eine
Reihe von Lehrplänen der Fächern Ethik wie Geschichte/Gemeinschaftskunde explizit die Auseinandersetzung mit Menschenrechten vor. Für diese Altersstufe sinnvoll betone ich einige präsentative und erfahrungsorientierte, das affektive Element
und die Zielsetzung der Orientierung berücksichtigende Zugänge. Unter gezielterer
Erörterung auch der rechtsphilosophischen Kategorien, entsprechender Quellen
sowie reflexiver Elemente bietet sich der Vorschlag ebenso für die Sek II an. Auf
358
4-5 Recht und Gerechtigkeit
detaillierte methodische Ausführungen verzichte ich und skizziere nur exemplarisch
einige sinnvolle Unterrichtselemente unter besonderer Aufmerksamkeit für die philosophische Erarbeitung des Themas:
2.1
Präsentativer Einstieg
Die Auseinandersetzung beginnt mit einem präsentativen Einstieg: Gezeigt wird das
folgende Bild, am besten als Folie.
30
Die Erarbeitung erfolgt unter den für Bild-Erschließung sinnvollen Kriterien:
a) des unmittelbar rezeptiven Zugangs,
b) der ikonografischen Erschließung,
c) der ikonologischen Deutung und
d) der rezeptionsästhetischen Beanspruchung.31
30
31
Bild aus einem Artikel aus: Die Zeit, Nov.1998.
Zur Arbeit mit Bildern vgl. meinen Kommentar zur Auftakt-Doppelseite des Kap.7 (Spurensuche)
im Lehrerband „Ich bin gefragt“. Ethik 9/10. Berlin: Volk und Wissen 2002. Die Kriterien
beziehen sich auf Arbeiten von Erwin Panofsky (1931 und 1957, hier insbes. S. 51) sowie MüllerDoohm (1997). – Zur genaueren Begründung des Präsentativen vgl. auch die Erläuterungen zum
Einstieg in Kapitel 4-2, in der Einleitung zum Kapitel 4-1 sowie in der Einleitung, Abschnitt 2.2.
4-5 Recht und Gerechtigkeit
359
Durch differenzierte Fragestellungen lässt sich stichwortartig festhalten, z.B. in einer
mindmap mit den Ästen „erste Eindrücke – differenzierte Elemente – begründete
Deutungen“:
ad a)
das Bild einige Minuten ohne Kommentare betrachten
einige elementare Assoziationen sowie persönliche Reaktionen zum Bild
(schriftlich) zusammentragen; das Bild mit möglichst wenigen Begriffen,
einer These oder einer Frage betiteln
in einer Kleingruppe Eindrücke austauschen
ad b)
Was genau ist das bzw. könnte das sein, was wir da sehen?
ad c)
Fallen uns besondere Bild-Konstruktionen auf, die möglicherweise
sinnfällig sind? Versuch, erste Deutungen in Worte zu fassen.
ad d)
Beziehen wir uns nun selbst auf dieses Bild: Kommen wir dort vor,
haben wir etwas damit zu tun? Inwiefern? – Warum zeigen wir auf die
Abbildung bestimmte Reaktionen?
Die Anbindung an das Thema Menschenrechte findet mithilfe folgender Anstöße
statt:
Das Bild sollte als Einstieg dienen zum Thema „Menschenrechte“;
inwiefern leuchtet diese Themenstellung auf der Basis der besprochenen
ersten Eindrücke ein?
Warum/inwiefern hättet ihr für das Bild ein ganz anderes Rahmenthema
erwartet? Passt möglicherweise das Thema „Menschenrechte“ nach
eurem Eindruck für das Bild gar nicht? Warum?
Formuliert schließlich, ausgehend vom Bild und seiner Diskussion,
einige Fragen zum Thema Menschenrechte, die euch wichtig erscheinen
für eine Auseinandersetzung. Welche Zielsetzungen verbindet ihr mit
euren Anfragen, welche Erwartungen habt ihr, wenn sie im Unterricht
zur Sprache kommen?
Kommentar zur Zielsetzung dieses Einstiegs:
• Erstens soll von vorneherein der moralische Anspruch von Menschenrechten
verdeutlicht werden. Er bildet die Grundlage zugleich für den universalen Charakter
der Menschenrechte, die jeden Menschen in die Verantwortung nehmen.
360
4-5 Recht und Gerechtigkeit
• Zweitens soll jedoch vermieden werden, dass die Kinder und Jugendlichen mit
dem moralischen Anspruch als bloß äußerer Norm konfrontiert werden. Vielmehr
wird durch den affektiven Charakter des Präsentativen der je persönliche Herausforderung durch die Menschenrechte Raum gegeben.
• Die Vielschichtigkeit des Bildes ist bewusst gewählt, um die Vielschichtigkeit
und auch nicht eindeutige Einordnung dieses Bildes in den Katalog von Menschenrechten herauszustellen. Das Thema Menschenrechte wird so als Frage zur Sprache
gebracht, die es als Problem zu erschließen gilt. So können wir durch das Bild
fragen, ob sich der verhüllte Mensch überhaupt in einem Menschenrecht verletzt
fühlt oder ob hier wirklich die Verletzung eines Menschen-Rechts vorliegt oder eher
die Würde und das Menschsein des Menschen infrage steht; schließlich kann in aller
Schärfe die Frage nach Möglichkeiten und Ohnmacht moralischer wie rechtlicher
Hilfs-Maßnahmen aufbrechen.
2.2
Menschenrechte kennen lernen
Folgen sollte dann die Verortung des im Bild dargestellten Unrechts in den
Menschenrechten. Eher sachorientiert ist nun das Ziel, Menschenrechte kennen zu
lernen sowie verschiedene Gruppen von Menschenrechten zu differenzieren.
(1) Zu beginnen ist mit kurzen Sammlungsaufgaben:
bekannte elementare Menschenrechte nennen
Einordnung des Bildes
Menschenrechten in Gruppen einteilen
(2) Diesem die zufällige persönliche Kenntnis aufnehmenden Schritt folgt die
Kenntnisnahme bzw. Erläuterung und Ordnung der 1948 von der UNO erklärten
Menschenrechte.
Zunächst sind die genannten Vorschläge in dem nun vorzulegenden
Katalog wiederzuerkennen. Eventuell dort nicht gefundene Vorschläge
sollten festgehalten werden, um dies später zu überprüfen.
Konkreter ist dann (mit Hilfestellung) das im Bild Gemeinte in den
Menschenrechtskatalog einordnen.
Dann ist die Ordnung der Menschenrechte zu wiederholen, verbunden mit
dem Versuch, die Gruppen zu benennen; auf die übliche Unterteilung kann
verwiesen werden: elementare „Rechte“ des Menschseins - persönliche
4-5 Recht und Gerechtigkeit
361
Freiheitsrechte – politische Teilnahme- bzw. Gestaltungsrechte – soziale
Teilhaberechte. Vertiefend ließe sich eine Diskussion anzetteln um die
Wertigkeit und Reihenfolge der verschiedenen Gruppen, verbunden mit
einer Recherche zu den politischen Motiven unterschiedlicher Gewichtungen.
Fächerübergreifend (z.B. bei Projektarbeit) können Informationen aus dem
Geschichtsunterricht zur Entstehung der Menschenrechtserklärung und den
Streit um ihre weitere Differenzierung eingebracht werden.
Für höhere Klassen empfiehlt sich die Verortung der Erklärungen in
einschlägigen politiktheoretischen und philosophischen Texten, z.B.
Hobbes, Locke, Rousseau, Kant.
(3) Nun kann der Art. 25 genauer betrachtet werden:
Jeder Mensch hat Anspruch auf eine Lebenshaltung, die seine und seiner Familie
Gesundheit und Wohlbefinden, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung,
ärztlicher Betreuung und der notwendigen Leistungen der sozialen Fürsorge
gewährleistet, er hat das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit,
Krankheit, Invalidität, Verwitwung, Alter oder von anderweitigem Verlust seiner
Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände.
Zunächst ist analytisch festzuhalten, was alles genauer dem Schutz dieses
Menschenrechts unterliegt und wer jeweils davon betroffen ist.
Daraus ergibt sich fast zwangsläufig die Frage nach der Problematik der
hier erklärten Rechte: Wer kann sie verletzten, wem gegenüber kann sie
wer einklagen?
Fortgeschrittene Klassen schließlich können die deutsche mit der
englischen bzw. französischen Fassung vergleichen und das Wort
„Anspruch“ im Unterschied zu „Recht“ zur Diskussion stellen (die anderen Fassungen differenzieren nicht und sprechen nur von „right“ bzw.
„droit“). Interessant wäre auch der Versuch, Gründe zu finden, warum sich
dieser Artikel im deutschen Grundgesetz nicht findet.
Das tiefere Ziel dieser Untersuchungen ist, über die Einordnung des Art.25 hinaus an
diesem Beispiel die Hintergründe, Möglichkeiten und Grenzen juristischer Codifizierung von Menschenrechten bewusst zu machen und damit philosophisch den
Rechtscharakter der Menschenrechten zu problematisieren.
362
4-5 Recht und Gerechtigkeit
(4) Eine erste Zusammenfassung, zugleich einen Rahmen für weitere Unterrichtselemente bieten die folgenden Fragen. Höhere Klassen sollten sie in Arbeitsgruppen
erörtern und die Antworten in Arbeitsthesen bzw. hypothetischen Definitionen festhalten:
Was ist überhaupt ein Menschenrecht? Lassen sich dafür sinnvolle,
begründete und überprüfbare Kriterien festhalten? Wie weit reicht ein
Menschenrecht, was alles ist eingeschlossen?
Wann wird ein Menschenrecht verletzt? Wer ist jeweils dafür verantwortlich zu machen? Wem gegenüber kann eine Verletzung zur Klage
gebracht werden?
Welche notwendigen Bedingungen können genannt werden zur Bewahrung und Erhaltung der Menschenrechte? Welche weiteren Faktoren sind
dabei zu bedenken (ökonomische Strukturen, politische Systeme, infrastrukturelle und technische Möglichkeiten etc.)?
Welchen (prinzipiellen) Grenzen ist die Einhaltung von Menschenrechten
ausgesetzt?
Ein Korrektiv erhalten die entsprechenden Antworten durch die
Konfrontation mit kurzen definitorischen Texten aus der einschlägigen
Literatur, z.B. Brieskorn (1997), S.17ff, S.102ff, oder Lohmann (1998),
S.63ff, oder Höffe (1999), S.62ff.
Die weiteren Unterrichtssequenzen werden nur kurz als Vorschläge skizziert.
Wichtig für ihre konkrete Konzeption ist dabei das rechte Maß zwischen textgestützten Erörterungen, erfahrungsdimensionierten Informationen und handlungsorientierten Erarbeitungen:
2.3
Diagnose von Unrechtsverhältnissen
Für eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema Menschenrechte ist
zunächst eine genauere Diagnose von Unrechtsverhältnissen erforderlich. Ziel ist es
dabei, nicht nur Sensibilität für die Verletzung von Menschenrechten zu wecken,
sondern auch unter dem Anspruch einer kritischen Theorie und Zeitdiagnose
Ursachen für Menschenrechtsverletzungen über eine faktizitär-empirische Sicht
hinaus differenziert zur Sprache zu bringen.
4-5 Recht und Gerechtigkeit
363
Ausgehend von dem Impulsbild und der in 2.2. vorgenommenen Einordnung des
Phänomens Hunger in die Reihe von Menschenrechtsverletzungen ist nun differenzierter zu fragen:
Wie und wodurch kann entstehen, was wir auf dem Impulsbild gesehen
haben?
Was eigentlich sind Hungersnöte? Welche Faktoren spielen bei einer
Hungersnot eine Rolle?
Einzelne Faktoren sind genauer in ihrem Verhältnis zueinander auszuloten:
Armut – Arbeitslosigkeit – ungerechte Verteilung von Lebensmitteln –
ungerechte Verteilung von Produktionsmitteln zum Erhalt von Lebensmitteln wie Land, Landqualität, Einsatz von Technik beim Säen und
Ernten (bis hin zu modernen Biotechnologien) – Globalisierung vs. Regionalität der Nahrungsmittelproduktion – Nahrungsmittel-Kartelle / Preisabsprachen – geografische / politische Infrastrukturen …
Welche Rolle spielen beim Phänomen Hunger soziale Faktoren wie
Einsamkeit, Indifferenz, soziale Kälte, Agonie, Verstädterung, und ökologische Faktoren wie Klimaveränderung, Monokultur?
Haben sich heute Faktoren, die zu Hunger führen, im Vergleich zu
früheren Zeiten geändert? Inwiefern/wo ist es heute (noch) gerechtfertigt
von Hunger-„Katastrophen“ zu sprechen? Handelt es sich um reine Naturkatastrophen?
Die Diagnosen können von der Sache her nur interdisziplinär erfolgen. Wichtige
Bezugspunkte für Quellenmaterial bieten hier
aktuelle Zeitungsmaterialien zu Hungersnöten,
differenzierte Materialien von Hilfsorganisationen wie UNICEF, Misereor,
Brot für die Welt, (die auch politische Studien etwa zur Landverteilung
bieten), auch durch Internetrecherche,
wirtschafts- und ernährungs-wissenschaftliche Studien wie das Buch
J.Lutzenberger/F.T.Gottwald: Ernährung in der Wissensgesellschaft.
Vision: Informiert essen. Frankfurt/M.: Campus 1999, oder R.Strahm:
Warum sie so arm sind, Wuppertal 9.Aufl.1995.
364
2.4
4-5 Recht und Gerechtigkeit
Bedingungen zur Verhütung von Hunger
Der Folgeschritt hat elementare Bedingungen zur Verhütung von Hunger zu
benennen, auszuloten und gegeneinander abzuwägen. Dafür sind zwei Fragedimensionen zu unterscheiden, die hier nur kurz angedeutet werden können:
a) Warum überhaupt sollen wir Hunger verhüten und bekämpfen – der anthropologische und moralische Diskurs. – Hier können Fragen zur Sprache kommen nach
dem Menschsein des Menschen, inclusive des Problems der Einordnung von Hunger
in die Übel des physischen Mangels, des moralisch Bösen oder der metaphysischen
Endlichkeit32, nach Grundbedingungen guten Lebens/Überlebens33, nach dem
Verhältnis von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit34, nach Dimensionen der
Gerechtigkeit (Verteilung und/oder Rechtfertigung)35, nach der Rolle religiöser
Normen (z.B. anhand des Versuchs, die „Vaterunser“-Bitten nach Brot und
Schuldvergebung in Relation zu setzen36), nach ethischen Begründungen: um des
Gutgehens willen oder aus Verpflichtung gegenüber menschlicher Würde, etc.
b) Wie und mit welchen Programmen ist Hunger am besten zu bekämpfen und zu
verhüten – der politische und infrastrukturelle Diskurs. – Unter philosophischer
Perspektive sind hier Fragen interessant nach dem Status der moralischen Verantwortung, der juristischen Absicherung und dem Verhältnis beider, nach den entsprechenden moralischen, juristischen, ökonomischen, politischen Voraussetzungen
und Lösungsstrategien zur Wahrung der Menschenrechte, speziell auch nach dem
32
33
34
35
36
Diese Unterteilung geht zurück auf den Abschnitt I.21 der „Théodicée“ von Leibniz (Leibniz
1720). Natürlich ist sie nicht akademisch gemeint. Vielmehr hat eine entsprechende Zuordnung
erhebliche Konsequenzen für die Einschätzung und auch Bekämpfung von Hunger.
Sättigung gehört natürlich zu den Grundbedingungen menschlichen Lebens. Interessant wird diese
Tatsache jedoch, wenn sie politisch in Konkurrenz zu anderen subsistentiellen Ansprüchen oder zu
marktwirtschaftlichen und konsumorientierten Gesichtspunkten (etwa der Vernichtung und auch
schon luxuriösen Verschwendung von Lebensmitteln) diskutiert wird.
Das hat natürlich erhebliche moralische Konsequenzen, aus welcher Motivation heraus ich also zur
Linderung und Bekämpfung von Hunger verpflichtet bin, bis hin zur problematischen Klärung der
Eigentumsfrage.
Unmittelbar einleuchtend ist es etwa, dass die Verteilungsgerechtigkeit kein hinreichendes
Kriterium zur Linderung von Hunger darstellen kann, die Frage andererseits in Situationen
allgemeinen Mangels nicht leicht zu entscheiden ist.
Gemeint ist hier vor allem die Diskussion, warum sich die Einlösung elementarer Ansprüche
gerade an Gott richtet und welche Konsequenzen das hat. Die Verbindung der Bitte um Brot mit
der um Schuldvergebung verbietet eine quietistische Haltung, als sei es quasi Schicksal, satt
werden zu können oder hungern zu müssen, entlastet aber andererseits in dem Problem, in der
Bekämpfung von Hunger auch an sozusagen natürliche Grenzen von Ressourcen oder auch
Machbarkeit zu gelangen.
4-5 Recht und Gerechtigkeit
365
Vergleich mit ähnlichen Diskursen zur Verhinderung von Krankheiten oder auch
sozialer Absicherung, schließlich nach Problemen wie etwa dem Teufelskreis von
Arbeitslosigkeit, Armut, Hunger, Agonie, oder dem Subsidiaritätsproblem der Hilfe
zur Selbsthilfe zwischen notwendiger unmittelbarer Hilfeleistung und durch Hilfe
erzeugter Abhängigkeiten sowie Anspruchshaltungen, oder auch dem Problem des
Ausgleichs zwischen Verteilungsgerechtigkeit nach dem Gleichheitsmaßstab und
Zuteilungsgerechtigkeit nach dem Bedürftigkeitsmaßstab.
2.5
Grenzen in der Bekämpfung von Hunger
Schließlich sind im Sinne der Einbindung in das Rahmenthema „Gerechtigkeit“
Grenzen in der Bekämpfung des Hungers zu erörtern,
a) einerseits politisch-ökonomisch zu bedenkende Grenzen, wie die Frage nach dem
Verhältnis von Verfassungsideal und Verfassungswirklichkeit, nach der Möglichkeit
strafrechtlicher Institutionen und Sanktionen, nach der Möglichkeit bürgerrechtlicher
Bewegungen, nach dem Verhältnis zwischen politischen und ökonomischen
Rahmenbedingungen (Stichwort „Globalisierung“) usw.
b) andererseits anthropologisch-metaphysische Grenzen, wie die Frage nach Perfektibilität und Imperfektibilität der Sicht des Menschen, wie auch die Schwierigkeit der
Benennung elementarer Faktoren für gelingendes Menschsein, einschließlich seiner
Sterblichkeit und der Argumentation mit diesen Faktoren, oder wie die Frage nach
dem Verhältnis von rechtlich-politischen und rechtstranszendenten Gerechtigkeitsund Glücksansprüchen des Menschen (wie z.B. die heikle Definition von Verhältnissen wie Gesundheit oder Glück/Zufriedenheit).
2.6
Zum Verständnis von „Gerechtigkeit“
Im Sinne der Einbindung in das Rahmenthema „Gerechtigkeit“ scheint es darüber
hinaus sinnvoll, das Verständnis von Gerechtigkeit selbst zur Diskussion zu stellen.
a) Auf der kognitiv-begrifflichen Ebene bietet sich dafür eine Zusammenstellung von
Texten mit unterschiedlichen Begriffen von Gerechtigkeit an, also zu religiösen,
naturrechtlichen, vernunftrechtlichen, prozeduralen Gerechtigkeitstheorien, oder zur
Differenz zwischen austeilender, distributiver, und ausgleichender, kommutativer
Gerechtigkeit, auch im Verhältnis zu Gerechtigkeit als Tugend, oder zu verschiedenen Gerechtigkeitsformeln (z.B. “Jedem das Gleiche“ – „Jedem nach seinen
366
4-5 Recht und Gerechtigkeit
Verdiensten“ – „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ etc.). Eine dafür gut gebräuchliche Sammlung findet man bei Bleier-Staudt (1999), Materialien S.10-18.
b) Als Ergänzung bzw. als Alternative (nicht nur für die Sekundarstufe I) ist
wiederum die Arbeit mit Bildern zu empfehlen, wiederum unter den oben unter 2.1.
angegebenen Ebenen. Dazu bietet sich eine Auseinandersetzung mit folgenden
Abbildungen an:
• Plastik einer Iustitia-Figur (zuweilen zu finden vor Justizgebäuden, ansonsten
Abbildungen in entsprechenden Lexika): i.d.R. Frauenfigur mit Waage in der einen,
zuweilen Schwert in der anderen Hand, wobei die Waage meist auf Ausgleich steht,
meist sind die Augen der Iustitia verbunden als Zeichen der Neutralität.
• Der Engel Michael vom Jüngsten
Gericht (z.B. von Rogier v.d.Weyden
auf dem großen Tafelbild des Hospizes
in Beaune): i.d.R. mit offenen den
Betrachter anblickenden Augen, Schwert
in der einen, Waage in der anderen
Hand, die diesmal aber zwischen Guten
und Bösen abwiegt, diesen winkt als
gerechter Lohn der Himmel, jenen droht
als gerechte Strafe die Hölle; Bezug ist
die Rede Jesu vom Weltgericht Mt 25.
Die
erste
Gerechtigkeit
richtet
offensichtlich etwas anderes als die
zweite: Hier geht es um den irdisch zu
fassenden
möglichst
gerechten
Rechtsspruch vor Gericht, dort um die
Idee einer letzten und ewigen
Gerechtigkeit, die allen Menschen je
persönlich zuteil werden soll.
c) Als interessanter Diskussionsimpuls
lohnt die Legende vom Zwölften Kamel:
Sie bringt eine Reihe unterschiedlicher
Gerechtigkeitsbegriffe in kurzer bildhafter Form miteinander ins Spiel: Der
Vater ist gestorben und hat seinen drei
Söhnen 11 Kamele hinterlassen, von denen
4-5 Recht und Gerechtigkeit
367
der Älteste die Hälfte, der Mittlere ein Viertel, der Jüngste ein Sechstel erhalten soll.
Tief traurig finden die drei keine Lösung, um den Willen des Vaters zu erfüllen. Da
kommt ein Händler des Wegs und bietet ihnen sein eigenes einziges Kamel als
zwölftes an. Im Nu ist geteilt: Der erste Sohn erhält 6, der zweite 3, der dritte 2
Kamele. Lächelnd nimmt der Händler das wieder übrig gebliebene 12. Kamel mit
sich, und man verabschiedet sich in Frieden.37
2.7
Dokumentation als Abschluss
Empfehlenswert ist in jedem Falle (u.U. auch nach 2.2.) ein Abschluss der Unterrichtseinheit in wiederum präsentativer Form: die Erarbeitung einer Ausstellung mit
Installationen [neben Texten auch gesammelte oder selbst erstellte Bilder und
Collagen, provokative Anfragen, Betroffenheitsäußerungen, authentische Äußerungen, Filmdokumente, Schemata begrifflicher Differenzierung, Exposés sinnvoller
weiterer Arbeitsaufträge für ältere Mitschüler (zur Differenzierung) wie für jüngere
(zur Orientierung), ein von Schülern vorbereitetes Diskussionsforum, mit Vertretern
z.B. von (betroffenen) Exilanten, Menschenrechtsorganisationen, Juristen, Philosophen, Theologen etc.]. Ziel eines solchen Schritts ist die Einbindung einer unter
philosophischem Anspruch erfolgenden kritisch-differenzierenden Auseinandersetzung mit dem Thema in die persönliche Orientierung, insofern wir nämlich mit
Aristoteles das, was das Gute sei oder das Recht oder die Gerechtigkeit nicht zum
Thema machen, um einen philosophischen Begriff davon zu erlangen, sondern um
gut bzw. in Recht und Gerechtigkeit leben zu können.38
37
38
Vgl. dazu G. Teubner (Hg.): Die Rückgabe des zwölften Kamels. Niklas Luhmann in der
Diskussion über Gerechtigkeit. Stuttgart: Lucius 2000.
Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik 1103b.
V
Religionsunterrichtliche
Konzeptionen
Kapitel
5-1
Einwurzelung.
Religiöse Sensibilisierung und
erfahrungsorientierter Wissenserwerb:
Grundlagen heutigen Religionsunterrichts 1
Keines der klassischen Schulfächer ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten so sehr
Legitimations- und Profilierungsproblemen einerseits wie konzeptionellen Veränderungen andererseits ausgesetzt gewesen wie das Fach "Religion".2 Obgleich in
Deutschland in einzigartiger Weise im Kanon der Schule verfassungsmäßig verankert, gerät es neuerdings3 gerade hierzulande verschärft unter Druck, politisch wie
auch innerkirchlich: In Ostdeutschland bekennen sich kaum 25 % der Bevölkerung
1
Dieses Kapitel ist meine in den „Katechetischen Blättern“ 117.(1992), S.552-567, zum
60.Geburtstag von Hubertus Halbfas erschienene, um einige Anmerkungen ergänzte ausführliche
Auseinandersetzung mit der Religionsbuchreihe, die Hubertus Halbfas mit dem Band 9/10 1991
zum Abschluss gebracht hatte. Der Band zum 1. Schuljahr war 1983 erschienen und bildete den
Start für ein Schulbuchkonzept, das Halbfas im Laufe der Jahre auch durch ausführliche Lehrerbände für jedes Schuljahr (der Bd.1 erschien 1983, der Bd.10 1997) zu einem ohne Zweifel einzigartigen religionspädagogischen Standardwerk gestaltet hat. - Ich selbst darf mir anrechnen, mit
meinem Aufsatz zur verdienten Anerkennung von Halbfas’ Werk beigetragen zu haben. In Fortbildungstagungen des Religionslehrerverbandes der Erzdiözese Freiburg konnte ich mehrmals
durch Arbeitsgruppen für Halbfas’ Konzept werben, so dass seine Religionsbücher sicher nicht
ohne meinen Einsatz ihre Zulassung auch für den Katholischen Religionsunterricht in BadenWürttemberg erhielten, dessen Lehrpläne zunächst mit dem Konzept der Halbfas’schen Religionsbücher nicht überein zu stimmen schienen. Vgl. dazu das folgende Kapitel 5-2.
Inhaltlich habe ich an dem Beitrag nichts verändert, nicht nur weil sich an meiner Einstellung seit
damals nichts wesentlich geändert hat, sondern auch um im Rahmen der durch die vorliegende
Arbeit intendierten Zusammenbindung meiner religionspädagogischen Überlegungen auch die
Genese dieser Überlegungen zu dokumentieren. Der unmittelbare Anlass einer ausführlichen
Rezension stand bereits bei Abfassung des Artikels 1992 zurück hinter der tieferen Zielsetzung
einer grundlegenden Auseinandersetzung mit der Konzeption des Religionsunterrichts, was sich
bereits im Titel ausdrückt, den ich als Überschrift für das vorliegende Kapitel beibehalten habe.
Das wurde auch von Günter Lange als verantwortlichem Schriftleiter der „Katechetischen Blätter“
hervorgehoben, wenn er im Vorwort zum Heft 7/8 meine „ausgiebige Halbfas-Exegese“ zwar als
Zumutung für „Konzentration und Durchhaltekraft“ versteht, sie aber ausdrücklich als willkommene „Hilfe zu sachgerechter Urteilsbildung“ zu dem von religionspädagogischen Kollegen
immer wieder kritisierten Ansatz von Hubertus Halbfas empfiehlt.
2
Zum Zusammenhang dieser Bemerkung vgl. meine Bemerkungen in der Einleitung, insbesondere
in den Erläuterungen zum Teil V dieser Arbeit im Abschnitt 3, sowie im Kapitel 2-1.
3
Gemeint ist die Situation in der Zeit unmittelbar im Anschluss an die Deutsche Wende von 1989,
in der dieses Kapitel entstanden ist.
5-1 Einwurzelung
371
zu einer Religion, und lediglich 14 % der Jugendlichen sind getauft. Diese Zahlen als
regionales und durch sozialistische Ideologie in der ehemaligen DDR verursachtes
historisches Problem zu relativieren, hieße die Lage zu verkennen. Hier wird nur
offenkundig, was auch im Westen unter Stichworten wie "Säkularisation"4,
"verbürgerlichte Religion" oder "zunehmende Tradierungskrise" schon lange
problematisiert wird, aber auch hartes Faktum ist, wenn man etwa an Frankreich
denkt (freilich durch seine zugegebenermaßen extreme Trennung von Staat und
Kirche) mit nicht einmal 30 % (in Städten oft unter 5 %) Teilnahme am Religionsunterricht, aber auch an das vielzitierte Verhältnis von 1:9 für Kirchlichkeit in Westdeutschland (im Kirchenbesuch der Bevölkerung und auch bei den Schülern, die den
Religionsunterricht besuchen). Längst schon nicht mehr kann sich also der
Religionsunterricht auf eine kirchlich sozialisierte Klientel berufen. Das Festhalten
an der kirchlich-konfessionellen Struktur des Religionsunterrichts mit bloßer
Berufung auf die Verfassung verschließt mithin die Augen vor der Realität.5 Aber
auch die Stimmen, die jenem Rückzug aufs Formelle des Rechts Inhalte des
Religionsunterrichts entgegenhalten, laufen nicht selten Gefahr, sich den Gegebenheiten wie Chancen in unserer gern als "postmodern" apostrophierten Gesellschaft zu
verschließen. Der minderheitliche Versuch einer Rekatechetisierung, neuerdings auf
der Welle utopiekritischer Rückwendung zu verlorenen Werten schwimmend, auch
im Gewand der Neu-Evangelisierung Europas auftretend6, ist dabei nur die anachronistische Kehrseite der sich zeitgemäß dünkenden Forderung nach Auszug des
Religionsunterrichts aus der öffentlichen Schule.7 So oder so wird der herausfordernde, zuweilen auch sperrige Anspruch des Evangeliums verwechselt mit Rückzug auf Unzeitgemäßes, das auf aktuelle Fragen sich einzulassen glaubt nicht nötig
zu haben. Ghettoisierung bzw. Bedeutungsverlust der Kirche wären die sichere Folge
solcher Strategien.
Die einzige Chance für Religionsunterricht heute scheint mir demgegenüber zu
sein, die Abkehr von überlieferter Religiosität und Kirchlichkeit nicht so sehr als
postmodernen Atheismus zu interpretieren, sondern als zunehmende Unfähigkeit
religiöser Artikulation, als religiösen Analphabetismus; der Religionsunterricht hätte
4
Genaueres dazu s.o. im Kapitel 1-1.
5
Vgl. dazu auch meine Argumente im Teil 2.1 des Kapitels 5-3.
6
Mit diesen zugegebenermaßen polemischen Äußerungen wird kritisch Bezug genommen auf Einlassungen wie etwa die von Ratzinger 1983, vor allem aber die Reihe römischer Verlautbarungen
zu Fragen der Glaubensverkündigung nach 1989, die sich allesamt durch Konzentration auf das
römisch-katholische depositum fidei auszeichnen sowie die in meinen Augen gefährliche Tendenz
der Vorordnung moralischer Normen vor Glaubenseinsichten. Diese Tendenz äußerte sich etwa in
der Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre über die kirchliche Berufung des Theologen von 1990. Vgl. dazu Petermann 1990.
7
Vgl. dazu die Kontroverse um einen Artikel von Josef Brechtken (1988).
372
5-1 Einwurzelung
dann zuerst die Aufgabe der religiösen Sensibilisierung und müsste von daher
diakonisch-evangelisatorisch ausgerichtet sein (im Sinne der Öffnung für Heilserfahrungen durch den Dienst am Menschen im Hinblick auf sinnvolle Lebensfindung und -gestaltung). Die Voten dazu häufen sich in letzter Zeit8, liefern aber
(vorerst noch) eher Denkanstöße als praktikable Konzeptionen.
Offenkundig und für den Religionsunterricht unmittelbar folgenreicher wird dieser
Mangel und die ihm zugrundeliegende Krise auf dem Markt der Religionsbücher.
Das im Vergleich zu anderen Fächern ungewöhnlich breite Angebot an Büchern und
Medien steht in einem merkwürdigen Missverhältnis zu der konkreten Umsetzung
und den unterrichtlichen Realitäten vor Ort; die Kopier- und Arbeitsblätter-Flut vor
allem im Religionsunterricht ist dafür offenkundiger Beleg. - Vor allem aber halte
man sich einmal so divergierende Konzepte weithin eingeführter Werke wie die
Trutwin-Reihe beim Patmos-Verlag9, die Zielfelder-Bände des Kösel-Verlags10 oder
die "Wege der Freiheit" des Katholischen Bibelwerks (für Baden-Württemberg)11 vor
8
In diesem Zusammenhang ist zu verweisen auf Artikel wie Fuchs (1989) oder Nastainczyk (1991).
9
Gemeint ist das im katholischen Religionsunterricht der 80er- und 90er Jahre mit Sicherheit am
stärksten verbreitete und den Unterricht prägende Werk von Werner Trutwin, Klaus Breuning und
Roman Mensing mit den Bänden:
• Zeit der Freude. Unterrichtswerk für den katholischen Religionsunterricht der Jahrgangsstufen
5/6. Düsseldorf: Patmos 1980. Neuausgabe 1987,
• Wege des Glaubens. Unterrichtswerk für den katholischen Religionsunterricht der Jahrgangsstufen 7/8. Düsseldorf: Patmos 1979. Neuausgabe 1989,
• Zeichen der Hoffnung. Unterrichtswerk für den katholischen Religionsunterricht der
Jahrgangsstufen 9/10. Düsseldorf: Patmos 1978. Neuausgabe 1989.
Diese Bände sind bis heute (2001) lieferbar und auch weitestgehend zugelassen, auch in BadenWürttemberg trotz zwischenzeitlich zweimal veränderter Lehrpläne.
10
In der in den Jahren nach 1973, also noch vor der Synode der Deutschen Bistümer erfolgten Einführung des sog. „Zielfelderplans“ (für den katholischen Religionsunterricht der Schuljahre 5-10
(Sekundarstufe I). Erarbeitet von einer Kommission des Deutschen Katecheten-Vereins e.V. in
Zusammenarbeit mit der Bischöflichen Hauptstelle für Schule und Erziehung. München 1973)
galten die folgenden Bände als Standardwerk für den katholischen Religionsunterricht ab Mitte der
70er-Jahre bis weit in die 80er-Jahre hinein:
• Zielfelder ru 5/6. Religionsunterricht 5./6. Schuljahr. Hg. v. Deutschen Katecheten-Verein.
München: Kösel 1975. Neuausgabe 1982,
• Zielfelder ru 7/8. Religionsunterricht 7./8. Schuljahr. Hg. v. Deutschen Katecheten-Verein.
München: Kösel 1977,
• Zielfelder ru 9/10. Religionsunterricht 9-/10. Schuljahr. Hg. v. Deutschen Katecheten-Verein.
München: Kösel 1980.
Bis auf den Band 5/6 ist dieses Werk bis heute (2001) lieferbar, wenn auch für BadenWürttemberg nicht mehr zugelassen.
11
Bereits 1979 hatte die Kommission für Erziehung und Bildung der Deutschen Bischofskonferenz
eine Revision der Zielfelderpläne angeregt. Heraus kam 1984 der sog. „Grundlagenplan“; er trägt,
so die Einleitung, „der theologischen und religionspädagogischen Diskussion nach dem
Erscheinen des Zielfelderplans von 1973 Rechung: Grundlagenplan für den katholischen Religionsunterricht im 5.–10. Schuljahr. Hg. v.d. Zentralstelle Bildung der Deutschen Bischofskonferenz. Auslieferung: Deutscher Katecheten-Verein e.V., München 1984. - Die Diözesen
5-1 Einwurzelung
373
Augen: Angesichts der Unterschiede drängt sich eine gewisse Beliebigkeit nicht nur
für die didaktische Anlage, sondern auch für die inhaltliche Gestaltung des
Religionsunterrichts auf.12
Wenn in dieser Situation ein Unterrichtswerk mit dem vollmundigen Versprechen
angekündigt wird, hier würden "dem Religionsunterricht neue Maßstäbe und
Perspektiven" gesetzt, so lässt dies aufmerken; die Rede ist von einer Reihe, die in
die Hand eines jeden gehört, der um glaubwürdigen und heute angemessenen
Religionsunterricht sich bemüht, die "Religionsbücher", die Hubertus Halbfas beim
Patmos-Verlag in Fortsetzung seiner vielbeachteten Grundschulreihe jetzt mit dem
letzten Band vollständig für die Sekundarstufe I vorgelegt hat.13 Um es vorwegzunehmen: Ich glaube, das Halbfas-Werk wird dem zitierten Anspruch voll gerecht, so
sehr, dass anders als in Fortschreibung dieses Weges Religionsunterricht heute kaum
sinnvoll und chancenreich ist. Erstmals seit den "Zielfelder"-Bänden werden wieder
religionspädagogische Praxis und Theorie zugleich vorgelegt; vor allem dies hebt das
Werk von vorneherein aus der Menge um Aktualisierung bemühter Schulbücher
heraus und fordert über eine bloße Rezension hinaus eine tiefere Auseinandersetzung
um Anspruch und Ausführung.14
Freiburg und Rottenburg-Stuttgart beschritten im Zuge der Lehrplanrevision in Baden-Württemberg 1984 einen Sonderweg und brachten einen eigenen „Lehrplan für das Fach Katholische
Religionslehre“ für die Schulen in Baden-Württemberg heraus, der nur in Teilen den Vorgaben des
Grundlagenplans entspricht. Die Veränderungen und strengeren Vorgaben gegenüber dem bis
dahin auch in Baden-Württemberg geltenden Zielfelderplan führten zu Schwierigkeiten der
Lehrplankompatibilität der bis dahin fest eingeführten Trutwin- oder Zielfelder-Reihe. Aus dieser
Not entstanden in mehreren Jahren mühsamer Arbeit, im Auftrag des Bischöflichen Schulamtes
der Diözese Rottenburg-Stuttgart die Bände: Wege der Freiheit. Bde. 5ff. Hg. v. Heinrich
Böckerstette. Stuttgart: kbw 1986 ff.
Ich persönlich gebe zu, dass ich vor allem aufgrund der im folgenden an den Halbfas-Bänden
erläuterten Kriterien von Anfang an zu den entschiedenen Kritikern dieses Unterrichtswerks gehört
habe: Die Lehrplankonformität führt als Schere im Kopf m.E. latent, zuweilen auch offenkundig
zur Aufgabe, zumindest aber Aushöhlung und formalen Reduktion aller seit dem durch den
Synodenbeschluss von 1974 gewonnenen religionspädagogischen Prinzipien, insbesondere dem
sog. Korrelationsprinzip.
12
Gegen diese Gefahr der Beliebigkeit setzt sich der vorliegende Beitrag zur Wehr und sieht in den
Büchern von Halbfas eine elementare Stütze dieser eigenen Intention.
13
Hubertus Halbfas, Unterrichtswerk für die Sekundarstufe I:
-Religionsbuch für das 5./6. Schuljahr, Düsseldorf (Patmos) 1989,
-Religionsbuch für das 7./8. Schuljahr, 1990,
-Religionsbuch für das 9./10. Schuljahr, 1991.
14
Zur Frage der Konzeption und Gestaltung von Religionsbüchern hat Halbfas auch theoretisch
Stellung bezogen, vgl. insbesondere: Einführung in die Arbeit mit den Religionsbüchern für das
fünfte bis zehnte Schuljahr. – In: Halbfas: Religionsunterricht in Sekundarschulen. Lehrerband 5.
Düsseldorf: Patmos 1992, S.17-35.
374
1
5-1 Einwurzelung
Das Anliegen
Das Anliegen von Halbfas wird mit dem ersten Blick auf die Bücher klar: Die
Mandalas auf den Einbänden sind ins Bild gebrachter Ausdruck für einen
ganzheitlich konzipierten Religionsunterricht, "ganzheitlich" nicht im modischen
Verständnis, sondern als Prädikat für ein
differenziertes, da vielfältige
Zugangsformen aufnehmendes,
Themen
in
verschiedenartigen
zugleich organisch angelegtes, Glaubensbildung als kontinuierlichen
Prozess begreifendes,
und schließlich ein reflektiertes, ein einheitliches Konzept ausstrahlendes
Vorgehen.
Die Übersicht (Abb. Folgeseite)15 verdeutlicht diese These:
Auf der horizontalen Ebene baut sich Glaubenswissen von Jahrgang zu Jahrgang
durch alle Lernfelder fortschreitend auf. Neu ist auch die hier nicht näher auszuführende Anbindung an den Plan der Primarstufe16. Die häufig gegen den Zielfelderplan vorgebrachte Kritik, durch zu große Vielfalt und Möglichkeit von Themen und
Themenzusammenstellungen verlören sich die zentralen Ziele des Religionsunterrichts ins Unverbindliche, scheint mir mit dem Entwurf von Halbfas endgültig
überwunden, ohne dass das konzeptionelle Anliegen des Zielfelderplans aufgegeben
wäre, die Weitergabe des Glaubens in verschiedene Lernfelder, theologische wie
anthropologische, aufzufächern und so den Glauben "im Kontext des Lebens vollziehbar und das Leben im Licht des Glaubens verstehbar" werden zu lassen, wie es
als unverzichtbare Aufgabe der Synodenbeschluss 1974 formuliert hat. Keinem
Entwurf, auch nicht dem die Schwächen des Zielfelderplans mildernden Grundlagenplan von 1984 ist es bislang in so einleuchtender, anspruchsvoller, wie auch
einfacher Weise gelungen, ein religionspädagogisches Konzept vorzulegen, wonach
im Religionsunterricht stets Ein Thema im Zentrum steht, ohne dass wir immer
dasselbe behandeln müssten.
15
Kopie aus: Halbfas: Religionsunterricht in Sekundarschulen. Lehrerhandbuch 5. Düsseldorf:
Patmos 1992, S. 24f.
16
Eine gesamte Übersicht für Primarstufe und Sekundarstufe I und zugleich eine grundsätzliche
Auseinandersetzung um Lehrpläne und Religionsbücher hat Halbfas vorgelegt in seinen Aufsätzen
"Lehrpläne und Religionsbücher" (in: rhs 4/1990, S. 228-244) sowie „Prinzipien zur
Lehrplanentwicklung“ (in: Das dritte Auge. 1987, S. 39-50).
5-1 Einwurzelung
375
376
5-1 Einwurzelung
Halbfas löst damit den von ihm selbst wiederholt engagiert vorgetragenen und
trotzdem wenig gehörten Anspruch nach "aufbauendem Lernen" im RU ein, endlich
den Religionsunterricht in ein weiteres Konzept von Katechese einzubinden, dass
nämlich Glaube nur als wachsender, und das heißt nicht zuletzt auch erwachsen
werdender, lebendig werden und sich lebendig erhalten kann. Halbfas legt es darauf
an, ausgehend von vorschulischer Prägung, in Grundschule und Sekundarstufe eine
religiöse Bildung zu ermöglichen, die über den schulischen Rahmen hinaus religiöse
Erfahrung und Lebensgestaltung zu eröffnen imstande ist, auch für die Weiterbildung
im Erwachsenenalter. Damit würde der schulische Religionsunterricht auch von dem
in Deutschland faktisch bestehenden Stiefkindcharakter befreit, zwar allgemein
akzeptiert, sogar gewünscht, aber weder im schulischen Kontext wirklich ernstgenommen, noch von kirchlicher Seite in seiner Bildungschance wirklich genutzt zu
werden.
Besonders einleuchtend für die Idee aufbauenden Lernens im Glauben ist in
Entwurf wie Ausführung etwa das Lernfeld "Religionen": Halbfas geht, nach eher
symbolischer Erschließung in der Grundschule (Sonne, Weltmitte, Welthaus) von
dem uns Nächstliegenden aus, dem Judentum (Klasse 5), um in Klasse 6 mit dem
Islam als dritter abrahamitischer Religion vertraut zu machen; in den folgenden Jahrgängen kommt er zu ferneren Religionen in historisch motivierter Reihenfolge,
wobei sich mit den "Archaischen Religionen" in Klasse 7 eine überraschende, und
doch höchst aktuelle Neuerung findet. In Klasse 10 findet dieser Kurs seinen
Abschluss durch einen in die Zukunft weisenden Blick auf das Gespräch zwischen
den Religionen.
Natürlich zieht sich ein solch entwickelnder Aufbau auch durch die anderen Lernfelder. Beeindruckend ist dabei, wie es Halbfas gelingt, eine theologische und sachliche Logik mit altersgemäßen Akzentsetzungen zu verschmelzen.
Ohne überflüssige Doppelungen (auch hier wird ein erheblicher Mangel des
heutigen Religionsunterrichts behoben!) schneidet Halbfas so im Laufe der S I alle
zu einem mündigen Christsein notwendigen Wissens-Voraussetzungen an. Dabei
fällt eine Straffung bei gemeinhin eher anthropologischen Themen auf, bei denen
sich freilich auch Überraschungen finden wie etwa für Klasse 8 (anders als im Überblick geplant) "Wege der Selbsterziehung" im Lernfeld "Das eigene Leben" oder das
großartige Kapitel "Die innere Mitte" in Klasse 10. Das Übergewicht eher theologischer Themen relativiert sich jedoch, wenn man auf ihre meist konsequent lebensweltliche und erfahrungs-bezogene Durchführung schaut: Endlich haben wir nicht
mehr peinliche Karikaturen von Korrelation vor uns, die Glauben als eine Sonderwelt gegenüber Alltagserfahrungen fehl verstehen.
5-1 Einwurzelung
377
Mit Recht beansprucht Halbfas somit, dass sein Unterrichtswerk "in breiter,
reflektierter Systematik ... solides religiöses Wissen" vermittle.17 Freilich zeigt sich
in der konzentrierten Systematik auch ein gewisser hermetischer Zug, der sich noch
deutlicher in der vertikalen Durchführung der einzelnen Jahrgänge aufdrängt:
2
Innere Ordnung
In der Vertikalen strebt Halbfas nämlich im Unterschied zu allen sonst vorliegenden
Unterrichtswerken eine innere Ordnung an, nach der spätere Kapitel auf vorangegangene aufbauen. Ein solcher Sinnzusammenhang ist den einzelnen Bänden18 auch
ohne Lehrerkommentar unschwer zu entnehmen:
• Für die 5. Klasse etwa wirft Halbfas nach der grundlegenden Erschließung
metaphorischer Sprache (2) von der Transzendenzerfahrung im Alltag her ("Mehr als
alles") die Gottesfrage auf (3) und fundiert diese allgemein-religiöse Ebene in der
Abrahams-Geschichte als Urerfahrung biblischen Gottesglaubens (4). Die Bibel,
diesem Gedanken gilt das 5. Kapitel, fixiert eben solche Erfahrungen wie die der
Väter zu stets lebendiger Verkündigung; und so kommt Halbfas folgerichtig zum
Judentum (6) als erster schriftlich fixierter Offenbarungsreligion. Jesus wird im
7. Kapitel ganz organisch als Jude eingeführt; und aus der zentralen Form seiner
Verkündigung, dem Gleichnis (8), entwickelt Halbfas den Parameter christlichen
In-der-Welt-Seins (9) für die folgenden Kapitel (Vater und Mutter - Gemeinde frühe Kirchengeschichte). Das 12. Kapitel "Das Jahr hindurch" vermittelt dann am
anschaulichsten den thematischen roten Faden der 5. Klasse: "Unterwegs - von Gott
geführt" ist im Grundlagenplan vorgegeben und wird als Jahrgangsthema von
Halbfas unausdrücklich eingelöst.
• Der Aufbau der 8. Klasse ist ähnlich eindrucksvoll: Ausgehend vom Gedanken
des Mythos (1) wird mit dem Hinduismus (2) die älteste und zugleich eine wesentlich mythologisch geprägte Weltreligion vorgestellt. Über die Frage, ob auch die
Bibel Mythen kennt (3), werden die Schöpfungsgeschichten (4) als "Wahrheit des
Mythos" herausgearbeitet. Ob Gott ein Mythos ist, diese Frage ist einer der Grundzweifel an Gott (5); und dass der biblische Gott eben nicht Mythos ist, sondern
hautnah ins menschliche Leben eingreift, verdeutlichen die Passionsgeschichten (6)
als bleibendes Sinnbild realer Identifikation Gottes mit der leidenden Kreatur. Dieses
soteriologische Spezifikum christlichen Glaubens führt Halbfas fort mit Verweis auf
17
So der Prospekt des Patmos-Verlags zu dem neuen Unterrichtswerk.
18
Auf genaueren Nachweis von Zitaten aus den Religionsbüchern verzichte ich nachfolgend, weil
aus dem jeweiligen Kontext sich die entsprechenden Stellen schnell finden lassen.
378
5-1 Einwurzelung
die erlösende Kraft in Jesus Christus (7); sie findet ihr reales Zeichen wiederum in
der Eucharistie, Symbol und faktisches Geschehen zugleich (8). Die Kirche als
feiernde Gemeinschaft ist daher reales Zeichen in der Welt (9) und übt Verantwortung etwa in Fragen der Ökologie (10). Weltbezogenheit von Kirche wurde
stilbestimmend in der Renaissance (11), und auch die Reformation wird von Halbfas
weniger als Zug zur Innerlichkeit denn als Streben um Glaubwürdigkeit gedeutet
(12) - konsequent endet dieses Kapitel mit dem Hinweis auf den "weltlichen" Orden
der katholischen Kirche, die Jesuiten. Tomas Morus schließlich (13), wird, übrigens
als Freund des Erasmus, als Beleg angeführt, dass Weltlichkeit nicht Verweltlichung
bedeutet, sondern entschiedener Dienst an der Welt. Das Jahrgangsthema
"Wirklichkeit verstehen - Welt aus dem Glauben deuten" ist mit dieser Anlage m.E.
noch konsistenter durchgeführt als in den Themenangaben des Grundlagenplans.
• "Eine einseitig und verengt gedeutete Welt" schadet allen, heißt es programmatisch zu Beginn des Bandes zum 10.Schuljahr. "Christsein in der Welt von heute"
(das vom Grundlagenplan her vorgegebene Jahrgangsthema) wird von Halbfas durch
das erste Kapitel "Frauen in der Bibel" auf heutige Aktualität wie Traditionsbezug
hin entfaltet: Die Sache, die verengt wird, wenn sie, die Frauen verdrängt werden, ist
nämlich Gott selbst. Das Thema ist mithin keine oberflächlich modische Attitüde,
sondern konfrontiert uns am Gottesgedanken selbst damit, dass "die religiöse
Sprache nicht am Ende" ist, sondern "in heutige Verhältnisse hineingezogen" werden
muss, um lebendig zu bleiben (2). Die Geschichte einer Frau verdeutlicht uns, wie
wir "gegen die Umklammerung" der uns beherrschenden Denkgesetze wieder "die
Welt mit den Augen Jesu sehen" können (164). Die Unmittelbarkeit des Weges zu
Jesus, durch das Sprachkapitel geöffnet, wird durch das 3. Kapitel wieder gebrochen:
"Nur das Echo seiner Worte", der "Widerschein seiner Person" ist uns gegeben, so
dass er aktuell wird nur im Spiegel unserer Gegenwartsfrage: Was wäre "wenn er
wiederkäme", fragt Halbfas mit Dostojewski. Neben der Literatur wird Jesus
lebendig aber natürlich durch gelebtes Leben selbst: Simone Weil und Oscar Romero
geben dafür ein Beispiel(4). "Wer Gott sagt, findet sich nicht ab" - dieser Satz ist der
organische Anschluss zum vielleicht eindrucksvollsten, da phantasievollen und doch
informationsreichen Kapitel 5 "Gott Jenseits des Denkens". Die Auseinandersetzung
mit Gott führt den Menschen nicht von sich selbst weg, sondern zu sich hin: Zur
inneren Mitte des eigenen Lebens (6). Die Tiefe, in der wir uns selbst finden,
bekommt bei Halbfas aber nie den Geschmack des Esoterischen, die "Gelassenheit"
schlägt um zum "bittenden Gebet", das als "sich der Not stellen" verantwortetes
Leben ist (200). In der Auseinandersetzung mit "Krankheit und Tod"(7) kann sich
diese Einsicht bewähren.: Gegen den Alltagsbetrieb, der sich heute vom Tod des
einzelnen nicht mehr unterbrechen lässt, plädiert Halbfas für das Zuhören-Können
zur Überwindung der Einsamkeit. - Einen weiteren Weg zum Christsein im Hier und
5-1 Einwurzelung
379
Jetzt geht Halbfas über die Tradition: Die Geschichte der Bibelüberlieferung (8)
leitet über zur Apostelgeschichte (9), dem Lebenszeugnis der ersten Christen. Was
dort als Programm des Christseins galt, in alle Welt zu gehen, gewinnt heute in der
Ökumene Gestalt, in der Vielfalt der christlichen Kirchen (11) wie im Weltgespräch
der Religionen (12). Das Kirchengeschichtskapitel zur Moderne (13) liefert die
Notwendigkeit dieser Einheit im Dialog der Vielfalt, welche im Kirchenbau der
Gegenwart (14) sichtbar wird. Der mehrfach genutzte Kirchenraum ist dabei
vielleicht das sinnfälligste Merkmal, dass Kirche nur ist, was sie ist, wenn sie nicht in
sich selbst verharrt, sondern auf die drängenden Fragen der Zeit und Welt einläßt,
das gilt heute besonders für die Frage nach Krieg und Frieden (15).
Das Baustein-Prinzip des problemorientierten Religionsunterrichts und der "Zielfelder"-Zeit ist von Halbfas verabschiedet. Aber auch gegenüber Büchern, die jeweils
geschlossene Themen anbieten, geht Halbfas einen neuen Weg: Statt die Themen
eher zufällig oder nach äußerlichen Kriterien anzuordnen, legt Halbfas ein richtiges
Lehrbuch vor, dessen Themenfolge ein der internen Systematik der Inhalte entsprechendes Verlaufskonzept zugrunde liegt, wonach sich das folgende Thema, wie
beispielhaft erläutert, stets aus dem vorangegangenen ergibt, sei es als Folge,
Konkretion, Erweiterung, Konzentration, Vertiefung oder Transfer. Offenkundig
wird die gemeinhin der individuellen Planung überlassene Themenfolge für ein
Schuljahr durch eine bewusste und wohl begründete Geschlossenheit vorgegeben.
Der Gefahr des Dogmatischen entgehen die Bücher durch häufigen methodischen
Wechsel und den mit dem Mut zur Beschränkung in sich durchsichtig durchgeführten einzelnen Kapiteln, die mithin durchaus hier und da für sich behandelt
werden können. Die Bücher haben somit den großen Vorteil der Transparenz und
Orientierung für Lehrer und auch für die Schüler.
3
Religiöse Sprachlehre
Schon die verblüffend einfache, da bedachte und insofern stimmige Anordnung
"traditioneller" Themen beeindruckt bei dem neuen Unterrichtswerk. Das entscheidend Neue ist jedoch der Versuch, den "Stoff" einzubinden in Erfahrungslernen, d.h.
jedes religiöse "Lernen" als Anstoß zur Deutung und Gestaltung des eigenen Lebens
anzulegen.
Dieser Ebene dienen vor allem die für jeden Jahrgang zentral postierten Kapitel zu
einer religiösen Sprachlehre. Sie bereiten in auch ein-drucksvoll gelungener Weise
die Verständniswege für alle anderen Kapitel. Und mehr noch: Halbfas wehrt mit
380
5-1 Einwurzelung
ihnen allen Versuchen eines vorschnellen positiven Missverständnisses christlichen
Glaubens, d.h. seine Reduktion auf Lehr- und Bekenntnisformeln, die in Wahrheit
eben symbolisch geronnene Glaubenserfahrung darstellen. Eine religiöse Sprachlehre
öffnet den für Glaubensverkündigung unabdingbaren Blick auf jene hinter Glaubensformeln stehende und nicht anders als durch sie zu formulierende Widerfahrnisse.
Glauben, auch in seiner katechetischen Weitergabe im Religionsunterricht, hat nur
auf dieser Grundlage die Chance, Zusage und Herausforderung der befreienden
Botschaft zu sein; zur Behauptung und Forderung einer Doktrin verkommt er nur
aufgrund einer zur Ängstlichkeit verkümmerten Sprachlosigkeit. Diese aufzubrechen,
ist notwendig nicht nur, um Glauben glaubwürdig zu vertreten, sondern aufgrund der
inneren Struktur der biblischen Botschaft von Gott und seiner Heilsoffenbarung.
Offenheit gewinnt der Religionsunterricht mithin nicht in der Auswahl oder Anordnung seiner Themen, sondern vielmehr durch die hermeneutische Anlage der
Themen selbst; diese Einsicht ist von Halbfas zu lernen. Die Fragestruktur, die durch
die Sprachkapitel erarbeitet wird, setzt mithin Glaubwürdigkeit und Lebendigkeit für
den Religionsunterricht überhaupt frei.
Ein konkreter Einblick mag die unverzichtbare Bedeutung einer Sprachlehre als
hermeneutischen Nährboden erklären: Für die 5. Klasse steht am Anfang das Kapitel
"Metapher". In wenigen Sätzen vermag Halbfas das Ziel dieser Kurzeinheit zu
formulieren: "Metaphern stellen sich vor allem ein, wenn es an Worten für hintergründige Erfahrung mangelt. In solchen Fällen muss die Sprache >übertragen<
(meta-pherein). Andernfalls könnten wir nur von >Dingen<, nicht von der Wirklichkeit hinter den Dingen sprechen ... Darum ist auch die Sprache des Glaubens metaphorisch ... Könnten wir nicht in diesem übertragenen Sinne sprechen, gäbe es keine
Rede von Gott. Nur die Metapher rettet vor dem Verstummen."
Das Kapitel "Bibelverständnis" für Klasse 5 veranschaulicht, inwieweit diese
sprachliche Sensibilisierung Früchte trägt, damit das Gesamtkonzept der lebensweltlichen Einwurzelung religiöser Erziehung stimmig wird:
Halbfas erliegt auch nicht im Ansatz der Versuchung einer langweiligen oder
bieder aufgepeppten Vermittlung technischer Details. Keineswegs verzichtet er auf
Kenntnisvermittlung, im Gegenteil wird mit den Stichworten "Schriftwerdung",
"Literarkritik", "Kanon", "Handschriften", "Sprache" eher Anspruchsvolles geboten.
Aber alle Details werden eher en passant eingeflochten, eingebettet in die entscheidende Frage: Was heißt hier "Wort Gottes"? Halbfas geht aus vom Ansatz
mündlicher Überlieferung, aber fragt von vorneherein in die Tiefe; Sätze wie "Die
Bibel ist Wort als gesprochenes, nicht als gedachtes Wort" lassen aufhorchen und
provozieren zu Nachfragen. Das setzt einen Lesesinn in Gang, der ganz natürlich zu
der Zusammenfassung führt: "Die Bibel ist eine Lebensschule, in der niemand aus-
5-1 Einwurzelung
381
lernen kann ... im Bedenken dieser Geschichte sollen wir selbst zu Glaubenserfahrungen kommen." - Das Bild am Anfang des Kapitels "Bibelverständnis"
symbolisiert den Menschen, der mittels der Sprache aus seiner Welt herauszubrechen
vermag, hinter die Wirklichkeit zu schauen; das Kapitel endet mit einer Skizze eines
halb entrollten Papyrus und stellt so sinnfällig in den Raum: Was mag im restlichen
Teil dieser Rolle stehen...?
Das Jahrgangsthema für Klasse 5 "Unterwegs - von Gott geführt" kann besser gar
nicht eingelöst werden als es die Präsentation dieser kleinen Einheit versucht. Mehr
kann nicht erreicht werden, als wenn eine Unterrichtseinheit Anlass gibt, im Gespür
einer Tiefendimension weiterzumachen, nachzublättern, auch außerhalb des Unterrichts, das Geheimnis des Glaubens in Lebensprozesse einwurzelnd. Es ist hier nicht
die Frage, ob Halbfas dies erreicht, aber wenn es erreicht werden kann, dann nur auf
dem von ihm eingeschlagenen Weg.
4
Die Bilder
In besonderer Weise verweisen Bilder auf den Geheimnischarakter des Glaubens:
Obgleich etwas ausdrückend, also auf der Ebene von Artikulation sich bewegend,
bilden sie doch als artikulativ wiederum nie völlig einholbare Ausdrücke die
Möglichkeit bzw. die Ebene des Transzendenten, wenn auch nicht das Transzendente
selbst, ab.
Mit Grund widmet Halbfas ihnen daher breiten Raum. Eine Reihe von Religionsbüchern bietet schon länger gutes und anschauliches Bildwerk (vgl. insbesondere die
Trutwin-Reihe19); aber ohne Übertreibung muss gesagt werden: Noch kein Werk ist
in so vollendeter Ausgestaltung vorgelegt worden wie das von Halbfas. Das gilt
bereits für die ganz äußerliche Ebene: Seine Bücher machen Lust zum Durchblättern
wie zum betrachtendem Verweilen. Neben bekannten Bildern - vor allem auf Chagall
greift auch Halbfas wegen der offensichtlich symbolisch-narrativen Kraft des
Künstlers häufig zurück - finden sich auch ungewöhnliche, z.B. von M.Sendak,
F.Hodler oder R.Magritte, deren religiösen Gehalt man erst beim zweiten oder dritten
Zusehen erfasst, dann umso erhellender. Auch die Schwarz-Weiß-Skizzen zu Sachthemen kann man nur als ungewöhnlich ansprechend bezeichnen. Und nicht zuletzt
gebührt dem Verlag für die bei einem Schulbuch herausragende Qualität der Reproduktionen bzw. fotographischen Auszüge (vgl. etwa das Islam-Kapitel!) ein besonderes Lob.
19
S.o. Anm.9.
382
5-1 Einwurzelung
Entscheidend aber ist der inhaltliche Anspruch des Bildmaterials: Nie illustriert
selbst die kleinste Skizze bloß das Thema, stets verlangt ein Bild nach einer den Text
komplementierenden oder auch kontrastierenden eigenständigen Auseinandersetzung. Die Bilder schärfen die sensuellen Rezeptionsebenen für eine Frage oder
eine Sache. Eindrucksvoller Beleg: Jeder Einheit ist gleichsam leitmotivisch zur
ersten Annäherung ein Bild vorangestellt, das zur Entschlüsselung provoziert, bevor
man sich auf den Text einlassen kann.20
5
Lebensweltliche Einbettung biblischer Geschichten
Der Verlagsprospekt warnt: "Verschiedene Kapitel verlangen eine hohe Eigentätigkeit der Schüler und Wechsel der Arbeitsformen". - Selbstverständlich leuchtet ein
hoher Anspruch für ein so umfassendes religionsunterrichtsliches Konzept wie das
von Halbfas grundsätzlich ein; hohe Qualität macht den Unterricht ja nicht unbedingt
schwerer, sondern zunächst einmal spannender.
Leider finden sich bei Halbfas aber auch Einheiten, die die Schüler m.E. (zumindest unter den gegebenen schulischen Verhältnissen) überfordern oder auch bereits
dem Anspruch lebensweltlicher Einbettung religiöser Stoffe sehr viel weniger
gerecht werden als eben anhand der Einheit "Bibelverständnis" in Klasse 5 vorgestellt. Religiöse Sensibilisierung, auf die Halbfas es anlegt, ist aber eben nicht nur
für eher allgemeine Verstehensprozesse zu leisten, sondern auch für Inhalte, deren
religiöser Gehalt vermeintlich in sich klar ist, etwa die biblischen Geschichten.
Gerade im katholischen Bereich fungieren sie leider immer noch allzu häufig bloß
als Illustration oder Nachweis eines Glaubenssatzes oder werden abstrakt historisierend dargestellt, statt dass man die in ihnen geronnene Lebens- und Glaubenserfahrung zum Sprechen bringt.
Das Kapitel "Vätergeschichten" in Klasse 5 intendiert zwar, das Motiv des
"mitlaufenden Anfangs" zu vermitteln (dass "frühere" Geschichten ihren Wert nur
behalten als auch heute lebendige und aktuelle Widerfahrnisse); doch die Einführung
dieses Motivs erfolgt erstens viel zu abstrakt, nämlich abgezogen von lebendiger
Erfahrung in einer rein intellektuellen Erklärung. Damit wird zweitens die Chance
vergeben, das Motiv an die "Historie" der Stammväterzeit anzubinden, nämlich als
hermeneutischen Schlüssel zu Verständnis der (so bloß informativ bleibenden,
wenngleich sachlich anschaulich und gut beschriebenen) Geschichte selbst. Drittens
aber bleibt die Einlösung des Motivs in der Deutung etwa der Abrahams-Geschichte
20
Vgl. dazu als Hintergrund den Aufsatz „Bilder in Religionsbüchern“ in: Halbfas: Das dritte Auge.
Düsseldorf: Patmos 1987, S. 51ff.
5-1 Einwurzelung
383
wirklich dürftig: Auf kurzem Raum werden eher plakativ Thesen aufgestellt ("Es ist
eine große Sache, dass die Glaubensgeschichte Israels mit Wanderhirten beginnt."),
oder viel zu ungenaue Arbeitsanweisungen werden erteilt; gezieltere Fragen, die
Deutung dennoch offen lassen, fehlen, etwa nach dem Namen Abrahams, dem
Bedenken der Heimatlosigkeit oder der Frage nach Lebensbesitz in der IsaakGeschichte. Da ich Ausführungen von Halbfas zum detaillierten Nachvollzug der
Abrahams-Geschichten kennen gelernt habe21, bleiben hier wenigstens Anregungen
im Lehrerhandbuch zu erhoffen.
Eine mangelhafte Reflexion auf die Ebene religiöser Erfahrung ist m.E. leider auch
für das zweite alttestamentliche Kapitel "Königsgeschichten" in Klasse 6 zu
beklagen. Nur am Schluss wird anlässlich des salomonischen Tempels auf den theologischen Gehalt der Königsgeschichten verwiesen. Ansonsten verharrt das Kapitel
im Narrativen, freilich nicht, wie angestrebt, um Defizite religiöser Erfahrung durch
Anstiftung zur Eigenlektüre auszugleichen; vielmehr bietet der Text eine äußerliche,
den Historiker interessierende, im Gegensatz zum Abrahams-Kapitel auch viel zu
ausgreifende und eher verkomplizierende Zusammenfassung historischer Vorgänge
einschließlich der Rekonstruktion verschiedener Überlieferungsstränge (z.B. zu Aufstieg und Fall Sauls). Das übersteigt die Kompetenz von 12-Jährigen und trägt für
das Jahrgangsthema "Miteinander leben - Gemeinde werden" kaum etwas bei.
Ebenso wenig vermag mich das Bibelthema in Klasse 7 zu überzeugen. Die Einheit "Entstehung der Evangelien" versäumt es, zumindest ansatzweise die
theologische Eigenart der Evangelien (und damit ihren Charakter und Anlass als
Frohbotschaft) zur Sprache zu bringen, was die informative Zielsetzung keineswegs
aufblähen, sondern klären würde. Das ist insofern schade, weil zugleich der hermeneutische Gewinn zum Verständnis der bei Halbfas folgenden Einheit zu den Kindheitsgeschichten im NT (die durchaus auf ihre symbolisch formulierte theologische
Absicht hin interpretiert werden) verspielt worden ist.
Im neuesten Band für die Klassen 9 und 10 habe ich solche Mängel nicht entdecken können. Das mag an der mit der Herausgabe der einzelnen Bände fortgeschrittenen Reflexion liegen; ich habe jedoch den Eindruck, dass es auch mit der
ungeheuren Schwierigkeit zusammenhängt, jüngeren Menschen den Lebensbezug
biblischer "Geschichten", besonders den zur Zeit ihrer Entstehung gegebenen, zu
vermitteln. Vielleicht geht das grundsätzlich gar nicht anders als über eine bildlichmythologische bzw. symbolische Ebene, weil allein sie neugierig macht, ohne
Gefahr zu laufen, dass ihre Wahrheit durch spätere historisch-kritische Dechiffrie21
Vgl. dazu grundlegend bereits die Erläuterung „Kleine Bibeldidaktik“ in: Halbfas: Rel’U i.d.
Grundschule. Lehrerhandbuch 3 (1985), S. 199ff; sowie jetzt: Halbfas: Die Bibel – erschlossen
und kommentiert von Hubertus Halbfas. Düsseldorf: Patmos 2001.
384
5-1 Einwurzelung
rung zerstört würde. Zumindest 10- bis 13 -jährigen Schülern ist ein solches Vorgehen durchaus einsichtig zu machen, in der Behandlung biblischer Geschichten
sich "nur" auf mythologisch-symbolischer Ebene zu bewegen. In der Primarstufe und
mehr noch im vorschulischen Bereich verbietet sich sogar ein anderer als ein bildhafter Zugang zu Dimensionen des Religiösen, was etwa im Bereich des Bilderbuchs
gut zu belegen wäre: Alle biblische Geschichten bloß illustrierenden Bücher enthalten die Gefahr, dass es später zu einer negativen Enttäuschung ("Das ist ja alles
gar nicht wahr") kommt, weil sie es versäumen, für die jenseits des Illustrativen
liegende Tiefendimension des religiösen Erlebnisses durch bewusst symbolische und
metaphorische Sprache und Bilder sensibel zu machen.
6
Die Textgestaltung
Die Kritik an der didaktischen Durchführung einiger biblischer Einheiten gibt
Anlass, auf die die textliche Gestaltung der Schulbücher einzugehen. Was für den
technisch hervorragend präsentierten Bildteil zu loben ist, dass nämlich wohltuend
auf überflüssige, da verstellende oder zumindest unmittelbar steuernde Erklärungen
verzichtet wird, muss für den Text differenziert werden. Nur selten wird man heute
noch ein Schulbuch finden mit so viel Text und so wenigen Überschriften und
Absätzen. Halbfas spart sich Heraushebungen, unterschiedliche Schrifttypen, Einrückungen, Rahmen, farbliche Absetzungen fast völlig. Auch Verständigungsfragen
und Aufgabenstellungen wie etwa in den Trutwin-Bänden fehlen; hingegen finden
sich eher verstreut sehr offene Arbeitsanweisungen - im letzten Band häufiger und
spezifizierter. - Das Bestreben scheint mir offenkundig: Halbfas will der Tendenz
zur Verschulung im Religionsunterricht Einhalt gebieten und es der konkreten Unterrichtsgestaltung überlassen, wie und in welcher Intensität die einzelnen Einheiten
erarbeitet werden, bzw. im Umgang mit einem Thema sowohl für die persönliche
Prägung des Lehrers als auch für die schülerische Eigenarbeit genügend Raum
lassen.
So unterstützenswert es ist, Qualitätsverbesserungen durch ein höheres Anspruchsniveau zu erzielen, habe ich jedoch den Eindruck, dass Halbfas zuweilen übertreibt:
Das Bestreben nach unmanipulierter Textgestalt geht etwa dann zu weit, wenn Zitate
durch Verzicht auf Anführungsstriche und optisch nur sehr undeutlich durch
Aufhebung der Rechtsbündigkeit erst auf den zweiten Blick erkennbar werden. Auch
die Eindimensionalität der Schrifttype wirkt eher puritanisch als zur Lektüre
einladend. Dieser Eindruck gilt vor allem für den ersten Band - leider, da jüngere
Schüler eine klare Übersicht noch nötiger haben.
5-1 Einwurzelung
385
Auch im sprachlichen Niveau hat Halbfas nicht selten das Maß des für Schüler
Nachvollziehbaren überstiegen (s.o.). Diese Kritik gilt nicht so sehr, wenn er in auch
für mein Verständnis angemessener Weise philosophisch-theologische Probleme
sprachlich so nachempfindet, dass ihr Geheimnischarakter bestehen bleibt und nicht
durch profane Formulierungen banalisiert wird - die Kapitel zu dieser Thematik
gehören deshalb zu den m.E. am besten gelungenen. Aber auch bei historischen
Erklärungen, Sachinformationen, Nacherzählungen und Arbeitsanweisungen greift
Halbfas oft zu einer abgehobenen Sprache, die eher für einen Lehrerkommentar
geeignet ist, als dass sie Schüler, die heute religiös kaum sprachfähig vorgebildet
sind, zu weiterem Interesse motivieren könnte. Auch diese Kritik gilt, wie oben
erläutert (Punkt 5.) vor allem für den ersten Band, obwohl auch für die 9./10. Klasse
eine hohe Anforderung zu konzentrierter Auseinandersetzung verlangt wird, die in
der Praxis heute nur selten noch anzutreffen sein wird.
Die Kritik verdeutlicht aber auch einen Anspruch der Bücher: Für den Lehrer
bleibt im konkreten Unterrichtsverlauf unabdingbar die Forderung bestehen, über die
Arbeit mit dem Buch hinaus zur je eigenen Rede und Stellungnahme zu motivieren,
d.h. den Unterricht nicht nur methodisch, sondern auch auf der Inhaltsebene wesentlich dialogisch anzulegen.
7
Einwurzelung religiöser Erfahrung
So wie die äußere textliche Präsentation und nicht selten auch das sprachliche
Niveau der Einheiten nach konkreten Unterrichtsvorschlägen und Ergänzungen in
den Lehrerbänden verlangt, so bleibt auch die Umsetzung der von Halbfas insinuierten "Didaktik der Innenseite", die eigene Erfahrungswege anbahnt und es damit auf
längerfristige Einwurzelung von Religiosität anlegt, der konkreten Unterrichtsgestaltung, besser -atmosphäre und der emotionalen Weiterführung durch Schüler
und Lehrer überlassen. Halbfas wird sich damit wie die Zielfelderbände auch den
Vorwurf zuziehen, der Vorbereitung des einzelnen Kollegen zu viel zu überlassen
bzw. aufzubürden. Ich vermute, dies geschieht bewusst und beabsichtigt, und denke,
für jene Innenseite des Religionsunterrichts auch völlig zu Recht. Denn der
Religionslehrer ist als Zeuge gefordert wie seine Kollegen nicht, und sein Unterrichtserfolg hängt, da religiöse Sensibilisierung sich ohnehin nicht messen lässt,
allein an der Glaubwürdigkeit der Botschaft und ihrer persönlichen Bezeugung. Die
Gefahr einer bloß internalisierten Glaubwürdigkeit hat Jürgen Werbick mit den
Termini "Überich-Botschaft" bzw. "Überich-Glaube" hart, aber notwendig markiert
(nach dem Muster: "Das, was ich hier vertrete, ist meine innerste Überzeugung, die
386
5-1 Einwurzelung
ich haben muss ..., damit ich vor euch überzeugend rede").22 Wenn Werbick dagegen
die befreiende Tragfähigkeit des Glaubens als Fundament seiner Verkündigung stark
macht, so trifft er sich genau mit Halbfas' Intention nach Einwurzelung religiöser
Erfahrung.
Wie weit sie gelingen kann, muss sich aber nicht zuletzt an jenen (eher theologischen) Themen zeigen, die aufgrund ihrer in langen kirchlichen Sozialisationsprozessen hervorgerufenen Sensibilität zur zitierten falschen, bloß internalisierten
Glaubwürdigkeit verführen. Dazu zählt zweifelsohne das Bußsakrament:
Halbfas nimmt die Herausforderung an, es nicht beim bloßen Referat kirchlicher
Versöhnungspraxis zu belassen, sondern von der anthropologischen Basis des
Themas "Schuld" auszugehen. Schon der Titel "Das Sakrament der Versöhnung"
(Klasse 7) legt zugleich die theologischen Akzente offen: Es geht bei der Buße nicht
um das Erzeugen von Schuldgefühlen, sondern um die Erfahrung von Heil als der
Basis der Lösung von Angst, Schuld und Sünde. Dieser Ansatz könnte dazu verführen, Schuld wegzuerklären und ihr Bewusstwerden zu verdrängen gegenüber dem
"angenehmen" Gefühl der Vergebung. Halbfas verfällt dieser Gefahr trotz des Titels
der Einheit nicht, sondern zielt in die Mitte, nämlich auf den auch in Psychoanalyse
und therapeutischer Praxis als notwendig erkannten Durchgang ins Innere von
Sünde, Schuld und Angst. Halbfas tut dies allerdings so einfühlsam, dass er die
Angst vor der Konfrontation mit den eigenen Schattenseiten nimmt. Das gelingt ihm
durch das Zeichen des Spiegels, vor allem in seiner metaphorischen Bedeutung: "Auf
dem Lebensweg eines Menschen versperrt bisweilen ein eigenartiges Tor das Fortkommen." In ihm, dem Spiegeltor, "steht der Mensch seinem wahren Bild gegenüber, sieht sich gewissermaßen von innen her ... Wer nun seinen Weg fortsetzen will,
muß durch dieses Spiegeltor hindurch ... "
Halbfas umschifft bei diesem ungewöhnlichen Ansatz die Klippe, den Religionsunterricht zur Psychostunde entgleiten zu lassen: Die Konfrontation mit mir selbst
wird "nur" auf der symbolischen Ebene der verschiedenen Spiegelbilder thematisiert;
ihre Auflösung bleibt jedem einzelnen überlassen (und aufgrund der Würde des
persönlichen Gewissens muss dies so sein), ohne dass er allein gelassen wird, da nun
stärker geworden um "Techniken" der Selbsterkenntnis. So bereitet Halbfas auf der
symbolischen Ebene ganz unproblematisch den Weg zur Behandlung jetzt nur mehr
vorgeblich traditioneller Gesichtspunkte wie "Gewissensspiegel" und konfrontiert
unter dem Stichwort "Zerrspiegel" ebenso scharf wie klärend mit Schuldverdrängung
und -vergrößerung und damit zusammenhängenden falschen Gottesbildern.
22
Jürgen Werbick: Zurück zu den Inhalten?, in: KatBl 1/1991, S. 7ff.
5-1 Einwurzelung
387
Ganz organisch ergeben sich so über den Kulminationspunkt von Schuldkonfrontation und Vergebung zugleich im Gleichnis vom verlorenen Sohn Ebenen der
Versöhnung, die bei der Er-Innerung beginnen und im Bußsakrament ihre zeichenhafte Verdichtung erfahren.
"Ohne Erinnerung ist Identität nicht möglich." - so hatte es Halbfas in seinem
Buch "Wurzelwerk" gefordert.23 Was dort, von Paulus (Röm 11) entlehnt, als Motiv
der Auseinandersetzung mit dem Judentum insbesondere und der Kirchengeschichte
allgemein eingeführt wird, dient in nochmals übertragenem Sinn durchaus auch als
Ansatz konsequent korrelativ vorgehender Religionspädagogik schlechthin:
Einwurzelung ist, denke ich, ein geeigneter Begriff auch für jene Gestaltung des
Religionsunterrichts, der seine theologische Dimension nur anthropologisch zu
entfalten vermag und umgekehrt. Denn es geht in der Korrelation nicht um zwei
irgendwie sich bloß ergänzende Ebenen, so dass ein Thema sowohl unter theologischen wie auch anthropologischen Gesichtspunkten zu behandeln wäre; vielmehr
handelt es sich um ein integratives Verhältnis derart, dass die Anthropologie als
Erfüllung der Theologie und die Theologie als Schlüssel der Anthropologie sich
erweisen bzw. der Mensch als offenbares Ebenbild Gottes und Gott als tiefstes
Wesen des Menschen. Eine Didaktik der Einwurzelung zielt mithin darauf ab, die
Heilsbotschaft des Glaubens als konkrete Lebenshilfe aufzuzeigen bzw. unser Leben
selbst in seiner Tiefendimension durch das Licht des Glaubens zu erschließen. Mit
der vorgestellten Einheit zum Bußsakrament hat Halbfas eine konkrete Möglichkeit
zur Realisierung dieses Prinzips für sog. theologische Einheiten angeboten.
8
Anthropologische Themen
Wie steht es umgekehrt mit gemeinhin eher lebensweltlichen und anthropologischen
Themen? Vermag Halbfas in ihnen, wie gefordert, unser Leben im Lichte des
Glaubens als seiner Tiefendimension durchsichtig und verstehbar zu machen ?
Als positives Beispiel soll kurz das Kapitel "Freundschaft und Liebe" (Klasse 7)
vorgestellt werden. Methodisch wählt Halbfas einen dreifachen Zugang: Der erste
ergibt sich (wie für jedes Kapitel) über das vorangestellte Bild, hier ist eine der
bekannten Chagall-Variationen zum Thema gewählt. Der zweite Zugang: Halbfas
arbeitet mit einem Text der bekannten Jugendbuchautorin Christine Nöstlinger, dem
er zur Entfaltung drei Märchenausschnitte mit jeweiligen interpretativen Fragestellungen unterlegt sowie einige ironische Skizzen von R.Peynet. Der dritte Zugang
23
Hubertus Halbfas: Wurzelwerk, Düsseldorf(Patmos),1989, S. 77ff.
388
5-1 Einwurzelung
aber ist die dem Text vorangestellte Arbeitsanweisung: "Die folgenden Seiten
möchten ein Gespräch ermöglichen...", dessen persönlichen Charakter Halbfas
heraushebt, damit jeder "einen eigenen Standpunkt" gewinne. - Das intendierte
Gespräch ist mithin wie das Chagall-Bild, der Nöstlinger-Text und die Märchen eine
Folie, auf der quasi inszeniert die jeden persönlich, ja intim betreffenden "Liebessachen"(Halbfas) angesprochen werden. Damit will Halbfas sich keineswegs der
Schwierigkeit entziehen, konkrete Fragen, auch Verhaltensweisen von Freundschaft,
Verliebtheit, Sexualität, Liebe, Partnerschaft anzusprechen; vielmehr bieten sich so
diskret, aber vielfältig Möglichkeiten für eine differenzierte Auseinandersetzung.
Der Hauptgewinn der eher folienhaften Behandlung des Themas aber liegt darin,
in allem konkreten Fragen jene Tiefendimension zur Sprache kommen zu lassen, die
Liebe letztlich zum Geheimnis macht, womit Halbfas leise, aber vernehmlich auch
die religiöse Ebene der Liebe anspricht, die sie allererst zu dem Erlebnis werden
lässt, das unser Herz zu berühren vermag.
Für die Themen des Lernfeldes "Diese Welt" ist mir der religionsunterrichtliche
Charakter nicht in gleicher Weise deutlich geworden. So verdienstvoll etwa die ausführliche Berücksichtigung der ökologischen Thematik in den Klassen 7 und 8 ist, so
fehlt doch m.E. die Begründung durch die eigentlich naheliegende theologische Aufklärung von Begriffen wie "oikos", "Heimat", "Ressourcen", "Natur", die übrigens in
den Themen "Naturreligionen" oder "Schöpfungsgeschichten" durchaus geliefert
werden - der Bezug ist der konkreten Unterrichtsgestaltung aufgetragen.
9
Korrelation
Korrelation zwischen der theologischen und der anthropologischen Ebene ist der
didaktische aber auch inhaltliche Maßstab für jedes einzelne Thema, soll sein
religionsunterrichtlicher Charakter nicht verfehlt werden. Insofern könnte man die
Rede von eher theologischen Themen einerseits und eher anthropologischen Themen
andererseits für verfehlt halten. Dennoch gibt es natürlich Themen, die vom Ansatz
her eher theologisch bzw. eher anthropologisch bedacht sein wollen. Denn Korrelation bedeutet nicht nur integrativen Bezug beider Ebenen aufeinander, sondern auch
die Herausstellung der beiden Pole für sich in ihrer je eigenen Bedeutung; erst damit
gewinnt der Satz seine Schärfe, dass die Theologie in ihrem Innersten Anthropologie
ist und die Anthropologie in ihrem Innersten Theologie. An zwei Fragen kommt
diese Dialektik besonders zum Tragen: Die Themen "Gott" und "Selbst" scheinen auf
den ersten Blick konträr zu sein, so dass das eine am anderen seine Brechung erfährt.
5-1 Einwurzelung
389
In Wahrheit jedoch laufen gerade sie in einer Weise zusammen, dass sich als Tiefe
Gottes der Mensch offenbart, als Tiefe des Selbst Gott sich erweist.
Gerade diese sensible Balance aber stellt die korrelative Durchführung vor besondere Schwierigkeiten. In unübertrefflicher Weise verwirklicht Halbfas das Ineinandergreifen der verschiedenen Ebenen bei den Themen "Gott - Jenseits des
Denkens" und "Das eigene Leben: Die innere Mitte" der Klasse 10.
Verblüffend ist bereits eine möglicherweise ganz zufällige Äußerlichkeit: Die Einheit "Gott: Jenseits des Denkens" beginnt mit dem Wort "Ich" - die folgende Einheit
"Das eigene Leben" schließt mit dem Wort "Gott". In der Gotteseinheit führt Halbfas den Leser von der Destruktion bloßer Glaubensformeln, über die Gott letztlich verloren geht, zur Erfahrung Gottes, die dem Denken
überlegen ist, aber nicht benannt, schon gar nicht verallgemeinert werden kann; als
bloße Erfahrung aber gerinnt sie zur Erfahrung bzw. dann zum Denken des Nichts.
Die Aporie dieser "Lösung" gewinnt aber kathartisch-provokativen Charakter, so
dass das Kapitel mit der faszinierenden Aufforderung "endet": "Wer Gott sagt, findet
sich nicht ab." - Gelungen ist dieser Diskurs vor allem dadurch, dass Halbfas ihn
durch ein inszeniertes Gespräch zwischen wichtigen Personen der Geistesgeschichte
spannungsvoll gestaltet (an zentraler Stelle, jedoch ohne modische Mystik, Meister
Eckharts Dikten "Ich bin Gottes inne geworden" und "Gott ist dem Menschen näher
als dieser sich selber"). "Metaphysische" Bilder von Magritte, Beuys, Noland und
anderen ergänzen die intellektuelle durch sensuelle Anregungen.
Die Auseinandersetzung mit Gott führte in die Tiefe des Selbst - diesen Gedanken
nimmt Halbfas durch das Bild des Sprungs in den Brunnen zum Anlass einer
Konfrontation mit uns selbst, der eigenen Mitte, erneut wie im Gotteskapitel nirgends
platt psychologisierend, sondern auf einer anspruchsvollen philosophisch-mystagogischen Ebene: Wie von der die Einheit einleitende Matisse-Grafik ins Bild gebracht,
scheint dieser Sprung zunächst "Jazz", improvisierte Vielfalt zu sein, führt aber wie
im Jazz zu einem Angelpunkt: Durch Meditationsbilder und -parabeln aus dem Zen
(die jeweils das im Einzelnen enthaltene Ganze widerzuspiegeln bzw. das zum
Ganzen ausgreifende Einzelne zu entwerfen vermögen) leitet uns Halbfas einfühlsam
zur inneren Haltung der Aufmerksamkeit, zunächst sich selbst gegenüber, dann als
Gelassenheit offen für das Gebet, dessen Wahrheit im Herzen liegt und darum in der
Liebe zur verantwortlichen Lebenshaltung befreit sich findet. Diese Befreiung aber
ist wiederum Gotteserfahrung, denn wer zur ihr findet, ist "nie allein", denn durch
uns "selbst wirkt Gott".
390
10
5-1 Einwurzelung
Das Religiöse vor dem Ethischen
Der Einblick in die integrative Anlage der zuletzt vorgestellten Kapitel verdeutlichte,
dass in der Entfaltung urreligiöser Ebenen von Gotteserfahrung, Selbsterfahrung und
ihrer Gestaltung in den Religionen der Menschheit ein deutlicher Schwerpunkt der
Halbfas'schen Unterrichtswerke liegt. Auch der vielfältige Einbezug kirchengeschichtlicher Themen (durch die drei Bereiche "Kirchengeschichte", "Kirchenbau"
und "Menschen der Kirche") ist dieser Konzentration zugeordnet.
Was demgegenüber auf den ersten Blick zu kurz geraten scheint, ist der Bereich
von Ethik und Moral. So fehlt vor allem das für Klasse 9 in den Lehrplänen verbindlich vorgegebene Thema "Gewissen" als ein eigenes Kapitel. Auch der Dekalog wird
nicht eigens zum Thema gemacht. Hier scheint ein schweres Versäumnis vorzuliegen, doch nur vordergründig: Wie Eugen Drewermann in einer Vielzahl von
Publikationen herausgestellt hat, ist die Frage "Was soll ich tun?" einer anderen
nachgeordnet, ja hat diese zu ihrer Voraussetzung: "Wer darf ich sein?". Ich denke,
diese Vorordnung des Religiösen vor dem Ethischen ist der Hintergrund auch für den
"Mangel" bei Halbfas: Vielleicht ist es tatsächlich das Missverständnis des christlichen Glaubens heute, ihn auf eine Ethik reduzieren zu wollen. Seine Kraft jedenfalls (und nicht zuletzt seine ethische Kraft!) gewinnt er zuallererst aus seiner religiösen, also auf Letztdeutung unser selbst bezogenen Erfahrung Gottes als des Heils
und der Befreiung für das Leben.
Halbfas verdeutlicht dies kurz und bündig im Kapitel "Judentum" der 5. Klasse:
"Warum beginnt die Tora nicht mit den 10 Geboten? ... Die Tora wurzelt in der
rettenden und weisenden Tat Gottes." Und "Jesus wollte nicht, daß die Weisung
erstarre, sondern lebendig sei und dem Leben diene" heißt es weiter im folgenden
Jesuskapitel. Aus dieser Einstellung heraus entwickelt Halbfas dann später
Abschnitte zu Jesus als Lehrer (Klasse 6), zum "gebietenden Gott" und auch zum
Gewissen als Spiegel meines Innersten (Klasse 7). Vor allem aber schafft er sich so
den Freiraum, die Fragen nach Moral, Verantwortung und Gewissen nicht abstrakt
kasuistisch, sondern konkret im Horizont der Erfahrung des eigenen Lebens, der
Verantwortung gegenüber dieses Welt oder anhand vorbildhafter Menschen der
Kirche zu entwickeln. Auch die 10 Gebote werden somit, wenngleich nur indirekt,
ganz biblisch im Kontext lebendiger Erfahrungen aufgeworfen.
5-1 Einwurzelung
11
391
Fazit
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Das neue Unterrichtswerk von Halbfas, mit
dem Band für die 9./10.Klasse jetzt geschlossen für die Sekundarstufe I vorliegend,
zeigt zwar Mängel, vor allem bei der konsequenten Durchführung der Grundintention und im zuweilen überfordernden Anspruchsniveau. Doch wird nirgends
etwas verstellt, so dass es sich vielleicht eher um Unvollständigkeiten handelt, die
aufgefangen bzw. ergänzt werden können durch die Praxis, welcher so trotz der stark
konzeptionell vorgeprägten Büchern genügend Raum bleibt. Die außerordentliche
Ausstattung aber, die theologisch, anthropologisch und pädagogisch überzeugende
Systematik, die Vielfalt der methodischen Ebenen, die überraschenden und doch
stimmigen Zugänge zu "schwierigen" Themen, die Risikobereitschaft für Neues, das,
da nicht modisch verzerrt, sogleich klassisches Profil erlangt, und vor allem die
vielen detaillierten wie in der Gesamtanlage sich ausdrückenden Anregungen zu
einer lebendigen, d.h. ins Leben eingreifenden, es zur Sprache bringenden, dialogisch
verfassten und darum zugleich über sich selbst hinausweisenden Glaubensvermittlung machen die Bücher zu den besten auf dem Markt erhältlichen. Gerade aufgrund
des zuweilen hohen Anspruchs, der wohl nicht selten an den schulischen Gegebenheiten Brechungen wird hinnehmen müssen gehören sie als Herausforderung für
einen gelungenen, glaubwürdigen und sachlich wie katechetisch verantwortlichen
Religionsunterricht in die Hand eines jeden Religionslehrers, zumindest als zusätzliche Quelle, und sollten im Sinne einer Lehrplanfortschreibung durch die Praxis
erste Kandidaten der Lehrbuchanerkennung in allen Bundesländern sein.24
24
Ich kann mir zugute halten, durch mein auch auf Fortbildungen vorgetragenes Votum einiges zur
Verbreitung der Religionsbücher beigetragen zu haben. In Baden-Württemberg etwa wurden nicht
zuletzt deswegen die Bücher, obgleich nicht ganz lehrplankompatibel, als zusätzlich anschaffbare
Klassensätze für den Einsatz im Unterricht genehmigt (vgl. dazu das folgende Kapitel 5-2).
Kapitel
5-2
"...da muß man selbst sich wagen..."
Hubertus Halbfas' neue Religionsbücher
und seine Option für einen anspruchsvollen
Religionsunterricht in heutiger Zeit 1
Der Religionsunterricht hat, denke ich, drei Quellen, aus denen er Nahrung beziehen
kann für eine gute Qualität:
Die erste ist der Lehrplan, der eine Rahmenbedingung für Verlässlichkeit
abgibt.
Auch der beste Lehrplan ist freilich nicht mehr als eine Basis, vielleicht eine
Stütze für den Unterricht, sein Leben aber erhält der Unterricht in der konkreten
1
Dieses Kapitel beruht auf einem unter dem gleichen Titel in den IRP-Mitteilungen 1/93, Freiburg
1993, S. 23-34, veröffentlichten Artikel, in dem ich meine grundlegende Auseinandersetzung mit
dem neuen Unterrichtswerk von Hubertus Halbfas (s. Kap. 5-1) speziell für den baden-württembergischen Kontext thesenartig zusammengefasst habe, vor allem aber eine Synopse erstellt habe,
in welchem Umfang die Halbfas-Bücher im Rahmen des damals geltenden Lehrplans von 1985
zum Einsatz kommen konnten. Dieser Artikel ist hier erheblich gekürzt, vor allem um einige
Anmerkungen, die zur Begründung ausführlicher aus meinem Artikel in KatBl 1992 (siehe Kap.
5-1) zitieren; einige Anmerkungen zum Kontext und zur kritischen Rezeption sind ergänzt, insbes.
Anm. 26.
Ich darf mir zugute halten, dass trotz der damals geäußerten Kritik an meiner Einlassung (vor allem
der kritischen Töne bezüglich der Lehrplanreform von 1984) nicht zuletzt aufgrund dieser Arbeit
die Halbfas-Bücher auch in Baden-Württemberg als ergänzendes Unterrichtswerk für den Einsatz
im Religionsunterricht zugelassen wurden.
Das Motto des Obertitels ist ein Zitat aus dem Eingangsgedicht zum „Religionsbuch für das 5./6.
Schuljahr“ (S.5) und darf als Motto auch für die Zielsetzung der gesamten Reihe verstanden
werden. Darum sei es nachfolgend zitiert:
Wie lernt man, wie man lernen kann ?
Wie fängt man nur zu lernen an,
Vokabeln lernen, Formeln, Sachen ?
mit Mut und ohne Unterlaß
Nein, das ist das Ganze nicht!
nach Gott und Welt zu fragen ?
Es geht um mehr als Wissen.
Da geht es nicht um dies und das,
Was heute wir vermissen,
da muss man selbst sich wagen
ist eignes Denken, eignes Fragen,
und keinen Lehrer schonen;
ist eignes, freies Wort zu sagen,
das Lernen muß sich lohnen.
ist Offenheit und gerader Sinn.
Doch welcher Weg führt nur dorthin ?
5-2 Das muss man selbst sich wagen
393
Praxis; und hier geht es zuallererst um die Ebene persönlicher Erfahrungen, die
in der Person des Religionslehrers als Zeugen ihre notwendige Voraussetzung
hat und im Erfahrungsdialog mit den Schülern Konkretion erlangt.
Zwischen diesen beiden Quellen, dem Lehrplan und der persönlichen
Erfahrungsebene sind als dritte Quelle die Materialien von Bedeutung. Durch
sie gewinnt der Religionsunterricht sein eigentlich schulspezifisches Niveau;
denn sie erst bieten Wege, herauszuführen aus der Gefahr der Verschulung
durch einseitiges Abspulen eines Lehrplans einerseits und andererseits aus der
Gefahr der Verflüchtigung in subjektiv bleibenden bloßen Erfahrungsaustausch.
Wichtigstes "Arbeitsmittel" im Religionsunterricht ist und bleibt als das stets zu
Lesende die Bibel als Ur-Kunde des Glaubens. Das von Schülern geführte Heft bietet
dagegen die unerlässliche Möglichkeit der je eigenen Auseinandersetzung und ihrer
schriftlichen Fixierung. Daneben werden immer wieder Zeitungsberichte, Dokumentationsfilme u.ä. den Unterricht um aktuelle Zeugnisse bereichern. Unverzichtbar, ja
immer notwendiger wird das Religionsbuch; bei nachlassender religiöser Bildung in
der familiären Primärsozialisation und angesichts eines zunehmenden religiösen
Analphabetismus und insofern Unwissens bzw. einer Unbeholfenheit in religiösen
Dingen sieht sich das Religionsbuch heute vor allem vor drei Anforderung:
Fragen anzuregen, die es im Unterricht zur Sprache zu bringen gilt, mithin eine
grundlegende Bildung religiösen Sprechens;
eine fundierte Wissensgrundlage, also Informationen zu liefern zur Tradition
der Bibel, des Glaubens und der menschlichen Religiosität überhaupt;
schließlich Wege der Orientierung zu einer verantwortlichen Lebensgestaltung
zu eröffnen.
Mit den "Religionsbüchern" von Hubertus Halbfas nun2 eröffnet sich durch ihre
herausragende Konzeption und ihren auf dem Buchmarkt einzigartigen religionspädagogischen Anspruch die Chance, dem Religionsunterricht eine fundierte, für
Konkretionen offene und auf längere Zeit hin gültige Basis zu liefern, die die
skizzierten Anforderungen voll erfüllt.
Die folgenden Überlegungen wollen in einem ersten Teil (I) mit dem Anspruch und
der Konzeption der Halbfas'schen Religionsbücher bekannt machen, dies in Kürze
und mit Verweis auf meine ausführliche Würdigung in den "Katechetischen
2
Gemeint ist das im Kapitel 5-1 ausführlicher kommentierte dreibändige Religionsbuch für das 5./6.,
7./8., 9./10. Schuljahr, Düsseldorf: Patmos 1989ff.
394
5-2 Das muss man selbst sich wagen
Blättern"3. - Der zweite Teil (II) hebt auf die Situation in Baden-Württemberg
speziell ab: Es geht mir zunächst um den Nachweis, dass die Halbfas-Bücher schon
unter ganz äußerlichen Kriterien der Lehrplanbezogenheit auch hierzulande die
offizielle Lehrbuchzulassung verdienen.4 - Darüber hinaus aber trägt die
Auseinandersetzung mit den Halbfas-Büchern Wesentliches zur konzeptionellen
Debatte um einen anspruchsvollen und glaubwürdigen Religionsunterricht heute bei.
Meine Bemerkungen möchte ich insofern verstehen als Anregungen, diese, denke ich,
notwendige, ja für die Zukunft unabdingbare Debatte fortzusetzen.5
3
Hans-Bernhard Petermann: Einwurzelung. Religiöse Sensibilisierung und erfahrungsorientierter
Wissenserwerb als Grundlagen heutigen Religionsunterrichts - zugleich eine Auseinandersetzung
mit den neuen Religionsbüchern von Hubertus Halbfas. KatBl 7/8 1992, S. 552-567. In den
Kontext der vorliegenden Arbeit aufgenommen als Kap. 5-1.
4
Diese Option ist angesichts der aktuellen Lehrplanfortschreibung von besonderem Gewicht:
Gewiss ist es mehr als eine Zumutung, unter einem Zeitdruck, für den ich im übrigen sachlich
keine Gründe sehe, eine Fortschreibung des Lehrplans zu erstellen. Wenn sich die entsprechenden
Kommissionen dankenswerterweise trotzdem dieser Mühe unterziehen, so sei dennoch dringend
auf die Chance verwiesen, mit der Fortschreibung, (die faktisch ja auch eine Revision bedeutet und
den RU sicher für die kommenden zehn Jahre festschreibt), angesichts bereits vorliegender
fundierter und zukunftsweisender religionspädagogischer Konzepte und auch praktischer Unterrichtsvorlagen - und beides ist bei Halbfas gegeben - mit einem niveauvollen Rückgrat auszustatten, und das heißt konkret den Einsatz guter vorhandener Bücher von der Lehrplangestaltung
her zu ermöglichen.
Auf der Tagung des Freiburger Religionslehrerverbands Nov. 1992 in Hohritt hat übrigens Herr
Domkapitular Ruf die Option des von mir angebotenen Arbeitskreises zum Ansatz der HalbfasBücher wohlwollend aufgenommen, die Halbfas-Büchern auch in die Liste der lernmittelfrei
erhältlichen Religionsbücher aufzunehmen. (vgl. Andrea Ruschitzka: Protokoll des Arbeitskreises
„Glauben und Glaubenserfahrung“ [Relator/Leiter: H.B.Petermann]. In: IRP-Mitt.1/93, S. 45f.)
Der Einsatz der Halbfas-Bücher ist freilich schon jetzt möglich: Da sich aufgrund der Konzeption
des aufbauenden Lernens und auch praktisch häufiger Rückverweise die private Anschaffung der
Bücher durch die Eltern ohnehin empfiehlt, sollte auf die Möglichkeit eigens verwiesen werden,
dass die Halbfas-Bücher aufgrund der allgemeinen Zulassung durch die Lehrbuchkommission der
Deutschen Bischofskonferenz auch heute schon in Baden-Württemberg zum Einsatz kommen
können, wenngleich auch nicht lernmittelfrei.
5 In diesem Zusammenhang sollte auf das Papier des DKV "Religionsunterricht in der Schule"
verwiesen werden (Vgl. KatBl 10/1992), das sich engagiert für einen glaubwürdigen und konsistenten Religionsunterricht für die Zukunft stark macht und eine ausführliche Diskussion verdient
in Richtung auf eine notwendige Neugestaltung des Religionsunterrichts. Auch wenn das Papier
sich darauf beschränkt, Positionen anzugeben, und um eine umfassende Analyse der gegenwärtigen
politischen, sozialen und kulturellen Situation ergänzt werden muss, scheint es mir dringend erforderlich, schnell und doch engagiert und fundiert tragfähige Konzepte für die Zukunft vorzulegen,
um nicht Gefahr zu laufen, im Verharren auf dem bequemen status quo plötzlich im Abseits sich
wiederzufinden. Die Dringlichkeit eines solchen Konzepts ergibt sich, das sei wenigstens vermerkt,
schon aus der veränderten Lage in Europa, sodann aus dem zunehmenden Druck, aus dem verengten europäischen Blickwinkel herauszutreten, weiter der zunehmenden religiösen Sprachlosigkeit
und schließlich der ihr (eigenartigerweise ?) korrelierenden wachsenden religiösen Bedürfnisse.
Vgl. dazu das unten folgende Kapitel 5-4.
5-2 Das muss man selbst sich wagen
1
395
Zur Konzeption der Religionsbücher von H. Halbfas
"Auch wenn unsere Schüler keine christliche Sozialisation mehr erfahren, sollen sie
doch verstehende - und wenn möglich, erfahrungsbezogene - Zugänge zum
Christentum und darüber hinaus zur Welt der Religionen gewinnen können." So
beschreibt Halbfas in seinen "Lehrerhandbuch 5" das, was er den "verstehenden
Ansatz" seiner Bücher nennt.6
Aus diesem Ansatz ergeben sich alle Schwerpunkte, die die Eigenart der
Halbfas'schen Bücher ausmachen. Thesenartig sollen sie vorgestellt werden:
1.1
Aufbauendes Lernen
Glaube kann lebendig werden nur als stetig wachsender, also auch erwachsen
werdender. Für den RU bedeutet dies, eine religiöse Bildung zu ermöglichen, die
ausgehend von vorschulischen und grundschulischen Erfahrungen in der Sekundarstufe religiöses "Wissen" erarbeitet, das über den schulischen Rahmen hinaus religiöse Erfahrung und Lebensorientierung zu eröffnen imstande ist. Halbfas löst diesen
Anspruch ein durch sein Konzept des aufbauenden Lernens.7
a) In der Horizontale zieht sich in 15 Lernfeldern die Vermittlung grundlegender
religiöser Erfahrung und fundierten Glaubenswissens durch alle Schuljahre hindurch,
und zwar so, dass nicht nur überflüssige Doppelungen vermieden werden und
Konzentration auf Exemplarisches ohne den Anspruch der Vollständigkeit geleistet
wird, sondern auch so, dass der Aufbau von Jahr zu Jahr einer inneren Sachlogik folgt
wie altersspezifischen Gewichtungen.
b) In der Vertikalen strebt Halbfas im Unterschied zu allen sonst vorliegenden Unterrichtswerken eine innere Ordnung an, nach der spätere Kapitel auf vorangegangene
aufbauen. In Verabschiedung des im RU nicht unbeliebten Steinbruch-Buchs legt
Halbfas also ein richtiges "Lehrbuch" vor, dessen Themen durch eine interne
Systematik der Inhalte angeordnet sind.8
6
Hubertus Halbfas, Religionsunterricht in Sekundarschulen. Lehrerhandbuch 5. Düsseldorf: Patmos
1992, S.23. - Seinem Lehrerhandbuch 5 hat Halbfas eine allgemeine "Einführung in die Arbeit mit
den Religionsbüchern für das fünfte bis zehnte Schuljahr" vorangestellt (S.17-40).
7
Vgl. dazu das oben im Abschnitt 1 des Kap. 5-1 abgedruckte Übersichts-Schema.
8
Dies wurde oben unter Punkt 2 des Kapitels 5-1 ausführlich erläutert.
396
1.2
5-2 Das muss man selbst sich wagen
Sprachlehre
Angelpunkt der Halbfas-Bücher sind die für jeden Jahrgang vorgesehenen Sprachkapitel. Die Begründung des RU in einer Sprachlehre fängt aber nicht nur die Anforderungen an religiöse Bildung in säkularer und religiös verkümmerter Lebenswelt
auf, sondern eröffnet hermeneutisch zugleich die entscheidende "dogmatische"
Grundlage des biblisch-christlichen Glaubens: Hinter heute oft nur noch in Formeln
überliefertem Glauben stehen Erfahrungen, Widerfahrnisse, Zusagen und Herausforderungen, die in jenen Formeln "lediglich" symbolisch geronnen sind, jedoch
damit sie stets neu wieder als Erfahrung ins Leben aufgelöst werden.
Sätze wie "Nur die Metapher rettet vor dem Verstummen"9 oder "Symbole sind
also stets etwas Leibhaftiges, Sinnenhaftes und zugleich etwas verborgen Innerliches,
das sich seinen Leib, seine wahrnehmbare Gestalt sucht"10 oder "Dogmatische Rede
fasst oft in ein
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