Religion zur Erfahrung bringen Bausteine einer Didaktik des Religiösen Von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg zur Erlangung des Grades eines Doktors der Erziehungswissenschaft (Dr. paed.) genehmigte Dissertation von Hans-Bernhard Petermann aus Berlin Heidelberg, den 1. Juni 2002 ( am Tag Justins, des Märtyrers, des Patrons der Religionsphilosophen ) Erstgutachter: Prof. Dr. Joachim Maier (Katholische Theologie / Religionspädagogik) Zweitgutachter: Prof. Dr. Jörg Thierfelder (Evangelische Theologie / Religionspädagogik) Fach: Katholische Theologie / Religionspädagogik Tag der mündlichen Prüfung: 06.11.2002 Inhaltsverzeichnis Vorwort 6 Einleitung zur Themenstellung der Arbeit 1 Die Wiederkehr des Religiösen - ein systematischer Horizont der Arbeit 11 15 Religiöse Intuitionen eines „religiös Unmusikalischen“ (15) - Drei Wege einer Rückkehr zu Religion (17) - Transzendenz als originäres Erbe der Religion (24) - Konsequenzen für die Frage nach religiöser Bildung (17) 2 Religion zur Erfahrung bringen: Zur Perspektive der Arbeit 32 Zur Vorgeschichte (32) - Differenzierungen in der Kategorie der Erfahrung (34): Erfahrung als Unmittelbarkeit, als Ebene des Sinnlichen, als Ebene des Subjektiven, als Prozess der Er-Fahrung, als Erfahrung von Tiefe 3 Teil I Bausteine einer Didaktik des Religiösen. Überblick über den Aufbau der Arbeit 46 Religionsphilosophische Grundlegung Kapitel 1-1 1 2 3 4 Kapitel 1-2 1 2 3 Kapitel 1-3 1 2 3 4 5 Kapitel 1-4 1 2 3 4 Abgrenzungen und Fragestellung 70 Religionssoziologische Eckdaten 76 Der Prozess der Säkularisation Differenzierungen in der Pluralismus-These Kontextualisierung Unabgeschlossene Säkularisation 76 80 82 85 Welchen Sinn macht die Rede von Religion als „Bildungsgut“? 88 Religion als Kulturgut Werteorientierung und Ethik Orientierung im Denken? 90 95 99 Religion in philosophischer Auseinandersetzung 104 Schwierigkeiten in der Bezeichnung „Religion“ Wie fragt die Philosophie nach Religion ? Möglichkeiten einer Philosophie der Religion Ein philosophischer Begriff von „Religion“ Ebenen des Religiösen 104 107 111 115 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen 126 Religiöse Propädeutik Religiöse Sprachlehre Religionskunde Religiöse Orientierung 128 139 141 144 122 4 Inhaltsverzeichnis Teil II Religiöse Sprache Kapitel 2-1 1 2 3 4 Kapitel 2-2 1 2 3 4 5 6 Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung 150 Ärger mit dem Gott der Philosophen ? Das Gebet als Aufklärung ? fides quae oder fides qua ? Mit Vernunft Religion unterrichten 152 154 158 162 “…was werde ich euch nützen, wenn ich nicht mit einer Erkenntnis zu euch rede…“ - Religiöse Sprache verstehen 166 Problemaufriss Welche Sprache ist überhaupt gemeint … Die Tradition der Hermeneutik Intensionalität und Verdichtung als Formen religiöser Sprache Religiöse Sprache als Sprachtranszendierung Differenzierung religiöser Sprachebenen 166 170 172 175 178 180 Teil III Gesprächsführung Kapitel 3 Theologisieren mit Kindern? Bemerkungen aus philosophischer Perspektive 188 Was heißt „Theologisieren mit Kindern“ ? Kinder als Philosophen ? Kinder als Theologen ? Deutung konkreter Unterrichtsgespräche 191 197 207 212 1 2 3 4 Die Theodizeefrage (213) - Der Kampf zwischen Gut und Böse (219) Das Problem des freien Willens (226) 5 Schlussfolgerungen 243 Teil IV Unterrichtsmodelle Kapitel 4-1 „Kannst Du nicht schlafen?" Die Frage nach Gott im Bilderbuch 248 Religiöse Urerfahrungen Glaubenserfahrung Wer ist Gott ? 250 256 263 „…hinaus in die Tiefe…“ Ein Modell erfahrungsorientierter Bibelerkundung 276 Duccios Berufungsbild Die Berufungsgeschichten der neutestamentlichen Evangelien Duccio als Theologe Konsequenzen: Erfahrungsdimensionierte Erkundung von Religiosität Zum Rahmen der schulischen Umsetzung 278 284 288 290 291 1 2 3 Kapitel 4-2 1 2 3 4 5 Inhaltsverzeichnis Kapitel 4-3 1 2 Kapitel 4-4 1 2 Kapitel 4-5 1 2 5 „Meine Wege erzählte ich und du antwortetest mir … lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ Ein Unterrichtsvorschlag zum Thema „Religiöse Sprache“ 302 Ein Gebet als Unterrichtsgegenstand? Der Unterrichtsvorschlag 302 305 Was sollen wir tun? Philosophische Orientierungen zu Fragen moralischer Wertentscheidungen 324 Die Frage nach ethischen Prinzipien Welche Verfahren gibt es, um zu einer verantwortlichen Wertentscheidung zu gelangen ? Recht und Gerechtigkeit und die Frage der Menschenrechte. Eine Grundfrage der politischen Dimension praktischer Philosophie Fachliche Grundlegung: Menschenrechte zwischen Recht und Gerechtigkeit Unterrichtspraktischer Teil: Unser tägliches Brot gib uns heute. Zum Problem der rechtlichen Einlösung fundamentaler Lebensansprüche Teil V Religionsunterrichtliche Konzeptionen Kapitel 5-1 Einwurzelung. Religiöse Sensibilisierung und erfahrungsorientierter Wissenserwerb: Grundlagen heutigen Religionsunterrichts 325 333 344 345 357 370 Das Anliegen (374) - Innere Ordnung (377) - Religiöse Sprachlehre (379) Die Bilder (381) - Lebensweltliche Einbettung biblischer Geschichten (382) Die Textgestaltung (384) - Einwurzelung religiöser Erfahrung (385) Anthropologische Themen (387) - Korrelation (388) Das Religiöse vor dem Ethischen (390) - Fazit (391) Kapitel 5-2 1 2 Kapitel 5-3 1 2 3 Kapitel 5-4 1 „Da muss man selbst sich wagen“ 392 Zur Konzeption der Religionsbücher von H. Halbfas Ein Vergleich 395 401 LER - eine Herausforderung für den Religionsunterricht der Zukunft 410 LER - eine kurze Geschichte der Religion Staat - Werte - Kirche - Religion: unvereinbare Größen ? Religion im Religionsunterricht ? – 13 Thesen 412 414 422 Unterricht in Religion für alle – ein Vorschlag 428 Konfessionalität als Bedingung des schulischen Religionsunterrichts 430 Verfassungsrechtliche Überlegungen (430) - Dogmatisch-theologische Überlegungen (437) - Philosophisch-begriffliche Überlegungen (444) Konsequenzen (448) 2 3 Modelle eines integrativen Religionsunterrichts für alle Unterricht in Religion für alle – ein Vorschlag Literaturverzeichnis 456 468 477 Vorwort Zu Beginn seiner Metaphysik konfrontiert uns Aristoteles mit der These, dass sich Wissen und Erkenntnis in vielerlei Ebenen findet, von denen jede ihren besonderen Wert hat, so dass die höchste Erkenntnis nicht nur eine von anderen Wissensformen unterschiedene ist, sondern sich aus ihnen heraus überhaupt erst aufbaut. Hinsichtlich der besonderen Wissensform der Erfahrung meint er in diesem Kontext: „Es entsteht aber den Menschen aus der Erinnerung die Erfahrung; denn viele Erinnerungen an ein und denselben Sachverhalt bewirken das Vermögen einer Erfahrung.“ Das Eine der Erfahrung charakterisiert Aristoteles in der Folge als Gegenprinzip gegen den Zufall und spricht der Erfahrung daher das Vermögen zu, „eine allgemeine Auffassung von ähnlichen Sachverhalten [zu] entwickeln“.1 Die Frage, was Religion ist, stellt nicht nur einen roten Faden meiner bisherigen Tätigkeiten dar, sondern ist für mich auch zur Erfahrung geworden, das dokumentiert die vorliegende Arbeit. Der Titel Religion zur Erfahrung bringen beinhaltet insofern nicht nur einen religionsdidaktischen Anspruch, sondern hat auch eine biografische Perspektive: Vielfältige Erfahrungen in der Auseinandersetzung und Vermittlung von Religion werden hier gewissermaßen zu einer im aristotelischen Sinne allgemeinen Auffassung zusammen gefügt. Der Kontext, aus dem die Arbeit bzw. ihre einzelnen Teile entstanden sind, ist äußerlich bezeichnet durch meine inzwischen gut 25-jährige religionspädagogische Tätigkeit, über 20 Jahre im katholischen Religionsunterricht in allen Jahrgangsstufen an verschiedenen Gymnasien, bedingt aber auch während der letzten Jahre im Rahmen meiner Tätigkeit als Hochschullehrer für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Der Satz des Aristoteles gilt natürlich nicht nur für meinen subjektiven Bezug zum Thema „Religion“, sondern vor allem für das inhaltliche Profil der Arbeit: Religion zur Erfahrung zu bringen, dafür genügt es nicht, bestimmte Inhalte eher zufällig zur Kenntnis zu nehmen oder zu bringen, das setzt vielmehr Auseinandersetzung mit dem voraus, was das eigentlich ist, Religion. Dieser eher philosophische Blick auf Religion hat mich bereits im Theologie-Studium bestimmt. Als ich mit dieser (nur vordergründig) spekulativen und theoretischen Perspektive dann eher durch Zufall an den Religionsunterricht geriet, stellte sich gleich mit den ersten unterrichtlichen Erfahrungen die reflexive (und so in einem ganz wörtlichen Sinne theoretische) Auseinandersetzung mit Thema und Gegenständen des Religiösen als spannende 1 Aristoteles: Metaphysik 980 b / 981a. Vorwort 7 Herausforderung wie eigentliche Zielsetzung meiner Tätigkeit heraus. Junge Menschen herauszufordern, Religion nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern zur je eigenen Erfahrung zu bringen, nicht nur zu lernen, sondern auch dialogisch auszuloten, nicht nur zu thematisieren, sondern auch als möglichen Weg eigener Lebensführung zu erfassen, diese Verwicklungen hatten den Anspruch, etwas zunächst nur zufällig auf der Stundentafel Stehendes auch für die Schülerinnen und Schüler zu einer einheitlichen Erfahrung zu bringen. Mit solchen Ansprüchen stellt sich unmittelbar das Interesse ein an grundsätzlichen Auseinandersetzungen mit Konzeption, Zielsetzung und Organisation einer öffentlich verantworteten religiösen Bildung. In den ersten Jahren meiner religionsunterrichtlichen Tätigkeit geschah dies im Versuch der konkreten Umsetzung des Korrelationsprinzips, das nicht nur äußerliche Vorgabe, sondern inneres Leitbild eigenen Unterrichtens bedeutete: „Der Glaube soll im Kontext des Lebens vollziehbar, und das Leben soll im Licht des Glaubens verstehbar werden.“ Der Kernsatz des sog. Synodenbeschlusses2 zeigte sich als Schlüssel zu einer tragfähigen Konzeption und problemorientierten Planung jedes einzelnen Unterrichtsthemas. Denn wenn es irgendwie Sinn machen soll, Religion zur Erfahrung zu bringen, dann kann es nicht bei einer bloß additiven Berücksichtigung sowohl theologischer wie anthropologischer Aspekte eines Themas bleiben, dann muss die Frage nach Religion und Glaube als eine existentielle Beanspruchung deutlich werden und die Frage nach Sinn und Gestaltung des eigenen Lebens sich in der Frage nach Religiosität erschließen lassen.3 Ein solchermaßen vernetzter Religionsunterricht war im übrigen durchaus einzubinden in eher systematisch-theologische Studienschwerpunkte: Das Christusdogma meint religionsphilosophisch nichts anderes als eben jene Erschließung von Menschsein aus dem Horizont eines den Menschen zugewandten Gottes und umgekehrt die Vermittlung einer Erfahrung Gottes aus existentiellen menschlichen Erfahrungen heraus.4 – Im Vorstand des Religionslehrerverbandes der Erzdiözese Freiburg war ich später mit der Aufgabe der Koordination der Diskussionen zur Konzeption des Religionsunterrichts betraut. In diesem Zusammenhang habe ich wiederholt nicht nur für eine Konzentration des Religionsunterrichts auf die Auseinandersetzung mit dem eigentümlich Religiösen geworben, sondern daraus abgeleitet auch für einen „zunehmend von den Kirchen gemeinsam verantwortet(en)“ 2 Synode (1974), Nr. 2.4.2. 3 Vgl. dazu meine frühe Auseinandersetzung: Petermann (1984b): Glaubensvermittlung? Zur Zielsetzung des Religionsunterrichts heute. 4 Elemente dieses christologischen Studienschwerpunktes kamen zur Geltung nicht nur in meiner Arbeit für die Pädagogische Prüfung unter dem Titel „Das Christuskerygma“ (Petermann 1984a), sondern bildeten bereits den theologischen Horizont meiner theologischen Diplomarbeit (Petermann 1974), verfasst bei Prof. Walter Kasper in Tübingen. 8 Vorwort Religionsunterricht.5 Dieses Votum bildet ein wichtiges Rückgrat der vorliegenden Arbeit. – Aber auch in meiner jetzigen Tätigkeit im Rahmen der Philosophie ist die Auseinandersetzung mit einer allgemeinen Didaktik des Religiösen ein tragendes Element in Forschung und Lehre geblieben.6 Dass ich den Anspruch, Religion zur Erfahrung zu bringen, auch für einen heute tragfähigen Ethikunterricht fordere, liegt auf der Hand und bildet die besondere Pointe der vorliegenden Arbeit, nicht zuletzt in interdisziplinärer Perspektive, insofern ich glaube, ein vernünftiges, gut begründetes und auch konkret umsetzungsfähiges Konzept für ein Fächerkonsortium Philosophie – Religion – Ethik vorlegen zu können. Ich danke an dieser Stelle Herrn Professor Dr. Joachim Maier für seine spontane und sympathetische Bereitschaft, die Erstbetreuung für die als Dissertation im Fach Katholische Theologie / Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg eingereichte Arbeit zu übernehmen. Wiederholt habe ich von ihm eine Forderung gehört und gelesen, mit der ich selbst mich voll identifizieren kann, dass nämlich Religion elementar zum Bildungsauftrag der öffentlichen Schule gehöre, eben weil sie wesentlich „eine Sache der Menschen“ sei, und dass der Religionsunterricht deshalb auch in einem weiten Sinne ökumenisches Profil zu tragen habe.7 Mein Dank gilt weiterhin meinem philosophischen Kollegen Professor Dr. Martin Bartels, der mich immer wieder ermutigt hat, diesen Schritt einer Promotion zu tun, nicht zuletzt durch die kritische Lektüre von Teilen der Arbeit, sowie dem früheren Kollegen Professor Dr. Gerhard Büttner, der mich theologisch wie institutionell in diesem Vorhaben ermutigt hat. Einen ganz besonderen Dank aber will ich sagen Herrn Professor Dr. Jörg Thierfelder, nicht nur als dem Co-Referenten und -Prüfer für die Arbeit, sondern weil er es war, mit dem in fruchtbaren Gesprächen und aus der Erfahrung gemeinsamer Lehrveranstaltungen die Idee zu eben dieser Arbeit geboren worden ist, und der mich mit der auch nötigen Unterstützung auf den Weg zur Fertigstellung dieses Projekts gebracht hat. Auch wenn der historische Schwerpunkt seiner Arbeiten bei mir nur wenig Berücksichtigung findet, lässt sich das 5 Dieser Ausdruck ist vor allem bekannt geworden durch das heftig diskutierte Plädoyer des Deutschen Katecheten-Vereins (1992): Religionsunterricht in der Schule. - Vgl. dazu auch Petermann (1991), (1996a), (1997a), (1997b). Die Thesen des Arbeitskreises der Religionslehrerverbände (1998), die dieses Votum explizit aufgreifen, sind in wichtigen Elementen ebenfalls aus Eingaben meinerseits hervorgegangen. 6 Vgl. vor allem meine Abhandlung Petermann (2000c), die den Grundstein für die vorliegende Arbeit bildet, sowie die in Teilen im Kapitel 1-4 dokumentierte und kommentierte Mitarbeit an dem Ethik-Buch „Ich bin gefragt“ (Petermann 2000b). Auch einige Lehrveranstaltungen setzen sich immer wieder Bezug auseinander mit Religion in philosophischer und philosophiedidaktischer Perspektive. 7 So zentrale Aussagen in: Maier (1995): Was will der Religionsunterricht in der Schule? Vorwort 9 Prinzip der Vergegenwärtigung von Gewesenem, das Jörg Thierfelder vor allem an der verlebendigenden Auseinandersetzung mit Vorbildern aus der diakonischen Arbeit der Kirchen entwickelt hat8, leicht übertragen als Leitprinzip auch für den Umgang mit sprachlich fixierten Traditionen, die stärker im Blickpunkt meiner Arbeiten liegen. Wenn ich heute in den von ihm mit verfassten „Brennpunkten der Kirchengeschichte“9, die mir von Beginn meiner religionsunterrichtlichen Tätigkeit an, lange bevor wir uns kennen gelernt hatten, ein wichtiger Begleiter waren, nachlese, dass es den Autoren darauf ankomme, „von Frauen und Männern“ zu erzählen, welche prägenden Erfahrungen sie mit ihrem Glauben gemacht haben, so sehr prägend, dass in ihnen die Vergangenheit „direkt zu uns“ spricht und uns herausfordert, dann entdecke ich auch hier jene von mir favorisierte Kategorie der Erfahrung als entscheidendes Prinzip der Vermittlung von Religion. In dieser Perspektive wird es im übrigen obsolet, noch irgendeinen Grund dafür zu suchen, eher ängstlich an der konfessionellen Trennung von Religionsunterricht festzuhalten. Wenn nämlich konkrete Erfahrungen „direkt zu uns“ sprechen, wird die konfessionelle, je subjektive Prägung von Religion gerade festgehalten, zugleich kommt hier aber jenseits bzw. diesseits der historisch gewachsenen Konfessionen etwas zur Erfahrung, das uns alle in Anspruch nimmt. 8 Vgl. etwa Thierfelder (2000): Diakonisches Lernen und Lebensbilder. 9 Gutschera, Herbert / Thierfelder, Jörg (1976): Brennpunkte der Kirchengeschichte Einleitung zur Themenstellung der Arbeit Einleitung Dass eine wissenschaftliche Arbeit von aktuellem Interesse sein könnte, darum mag zwar jeder, der eine solche Arbeit verfasst, sich bemühen, planen lässt sich das aber nur bedingt. Gerade aus Perspektive der Philosophie, die in der vorliegenden Arbeit innerhalb des religionspädagogischen Rahmens im Zentrum steht, würde eine solche Zielsetzung sogar geschmäcklerisch wirken, lebt doch jede philosophische Einlassung von der kritischen Distanz gegenüber ihrem Thema. Insbesondere die damit notwendig einhergehende Reflexion auf die eigene Methode führt zu einer eher retardierenden Darstellung des jeweiligen Inhalts. Insofern kommt Philosophie schon von ihrem Selbstverständnis her immer zu spät, nachdem nämlich, wie Hegel sagte, „die Wirklichkeit ihren Bildungsprozess vollendet und sich fertig gemacht hat“; poetisch ausgedrückt: „…die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“.1 Aktualität kann mithin nicht im unmittelbaren Horizont einer philosophischen Arbeit stehen. Bekanntlich hat Hegel gleichwohl (oder gerade deshalb) mit dem Anspruch philosophiert, dass die Philosophie „ihre Zeit in Gedanken erfass[e]“, also die Aufgabe habe, „das was ist zu begreifen“, denn das was ist, sei die Vernunft, woraus Hegel jenen viel diskutierten und kritisierten Satz ableitet: „Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig.“2 Kritisches Potential birgt dieser Satz, insofern Wirklichkeit damit dem Kriterium der Vernunft ausgesetzt wird. Damit steht zur Debatte die mögliche Orientierung von Wirklichkeit an Vernunft, sei es wegen der Kritik an vorfindlicher Wirklichkeit, sei es mit dem Ziel einer Veränderung von Wirklichkeit hin auf Vernünftigkeit. Aktualität hat eine philosophische Einlassung mithin sehr wohl, wenngleich eher im Blick auf die Tiefenstruktur in der zu diagnostizierenden Wirklichkeit. Es wäre nun überzogen, an dieser Stelle die Pointen des Hegelschen Verständnisses von Philosophie weiter zu diskutieren, gar meine Überlegungen an seinen Ansprüchen zu orientieren.3 Gleichwohl ist die eigentümliche Aktualität nicht zu 1 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), Vorrede. 2 Ebd. 3 Mit ihnen habe ich mich anderer Stelle ausführlicher beschäftigt: Eine lange vor dieser Arbeit begonnene und aus pragmatischen Gründen unterbrochene philosophische Dissertation zur Sittlichkeitstheorie des jungen Hegel nimmt ihren Ausgangspunkt an eben diesem in dem zitierten Satz zugrundeliegenden Anspruch, genauer an der Differenzierung der in ihm enthaltenen Ebenen (a) eines systematischen Philosophierens, (b) des Absolutheitsanspruchs philosophischer Theorie von Wirklichkeit, insbesondere des Sittlichen, und (c) der Einsicht in die Begrenztheit rechtlich- Einleitung 13 übersehen, die einer zum Ende des Jahres 2001 fertiggestellten Arbeit zu einer Didaktik des Religiösen zukommt, häufen sich doch nach den Ereignissen um den 11. September 20014 die Stimmen, die für die Rehabilitierung, ja Wiederkehr oder Rückkehr des Religiösen plädieren. Mit wenigen Worten ist in diesem Kontext auch der deutsche Bundespräsident Johannes Rau in einem Interview zum Jahreswechsel 2001/2002 für einen Weg religiöser Selbstvergewisserung eingetreten, einer Selbstvergewisserung, bei der wir freilich ein gutes Stück Selbstsicherheit aufzugeben hätten.5 Mit Raus Gedanken lassen sich gut Rahmen wie Zielsetzung auch der vorliegenden Arbeit umreißen: Ich plädiere für eine Didaktik des Religiösen, die sich zum einen der Eigenart des Religiösen zu vergewissern in der Lage ist und damit das Religiöse als eine eigentümliche und unverzichtbare Dimension von Menschsein ernstnimmt, insofern kann auch ich von einer Art religiöser Selbstvergewisserung sprechen. Zugleich aber plädiere ich für eine Didaktik, die mit kritischem Blick auf die realen Verhältnisse gelebter bzw. nicht (mehr) gelebter Religiosität die zuweilen unterstellte Selbstverständlichkeit religiöser Beheimatung in Zweifel zieht und deshalb auch für eine Öffnung des bisherigen Verständnisses von Religionsunterricht eintritt. Hinsichtlich der skeptischen Perspektive meine ich zwar nicht wie manche Kritiker, dass der konfessionelle Religionsunterricht aus ideologischen Gründen abgeschafft werden müsse, aber ich glaube, dass er in weiten Teilen eines Landes wie Deutschland faktisch anachronistisch geworden ist. Ja, ich denke, dass er sogar sein urtümliches Anliegen viel besser zum Tragen bringen könnte, wenn er auf einen ausschließenden Konfessionalitätsanspruch verzichtete und stattdessen die grundsätzliche Frage nach dem Religiösen zu seinem zentralen Anliegen machen würde. Darin käme er überein mit einer Zielsetzung, die sich nach meiner Überzeugung auch ein vernünftiger Ethik-Unterricht zu eigen machen muss. Aus diesen Andeutungen wird bereits klarer, warum ich von einer Didaktik des Religiösen rede und nicht von einer religionsunterrichtlichen Didaktik. Ich plädiere mithin nicht für einen allgemeinen und dann allgemeinverbindlichen und insofern überflüssigen Religionsunterricht, sondern für einen allgemeinen, alle Schülerinnen und Schüler einbe- sittlicher Lebensverhältnisse. Dass Gedanken aus diesem Umfeld sich zuweilen auch in der vorliegenden Arbeit wiederfinden, wird daher nicht überraschen. 4 Gemeint ist, dies nur zur Klärung nicht andauernder Aktualität, die Zerstörung der beiden Türme des World-Trade-Center in Manhattan durch zwei Passagierflugzeuge, voll besetzt gekapert und gesteuert durch terroristische Attentäter, und die danach erfolgte politische wie militärische Auseinandersetzung mit einem irgendwie religiös sich definierenden Terrorismus. 5 „Es gibt keinen gerechten Krieg“ – Die Rückkehr des Religiösen und der Dialog der Kulturen. Ein Gespräch mit Bundespräsident Johannes Rau. In: Die Zeit v. 27.12.2001 [Auszüge eines Gesprächs mit Matthias Naß und Dieter Jepsen-Föge im Deutschland-Radio Berlin]. 14 Einleitung ziehenden Unterricht in Religion, der im Religions- wie im Ethik-Unterricht seinen Platz haben sollte, mit kooperativem wie auch differenzierendem Anspruch. Ein solcher Unterricht kann aber nur gelingen, und damit komme ich auf die erste Perspektive meines Plädoyers zurück, wenn er mit einem reflektierten Verständnis von Religion und Religiosität arbeitet. Damit wird der bereits angedeutete eher philosophische Blick auf das vorderhand religionspädagogische Thema offen ausgesprochen. Ein solcher Blick ist notwendig (wenngleich nicht für alle religionspädagogischen Zielsetzungen hinreichend), so meine Behauptung, um junge Menschen überhaupt erst mit dem vertraut zu machen, was Religiosität ist und was dann Glaube und Religion sein können. Diese Aussage setzt zwar voraus, dass nicht nur Glaube, sondern auch Religiosität heute keineswegs mehr vertraute, gar selbstverständliche Dimensionen von Leben sind, betrachtet eine solche Vertrautheit jedoch als fundamental für gelingendes Menschsein und insofern als elementaren Anteil an Bildung. In dieser Option teile ich Raus Plädoyer für religiöse Selbstvergewisserung. Wenn insofern der Anspruch meiner Arbeit sich einbindet in eine aktuelle und auf den ersten Blick vielleicht eher politische Debatte, lädt er sich einiges auf. Das aber geschieht bewusst, weil sich hinter dieser Debatte Auseinandersetzungen verbergen, die ich für elementar halte für ein heutiges Verständnis von Religion und die insofern geeignet sind, für mein auf den ersten Blick möglicherweise bloß didaktisches Votum eine sachlich profilierte Begründung zu liefern. Das ist Grund genug, die Einleitung zu meiner Arbeit mit einem etwas länger geratenen, da systematisierenden Blick auf die aktuelle Diskussion zur Wiederkehr des Religiösen zu beginnen (1), um in diesem Horizont das pointierte Interesse meiner Arbeit zu skizzieren (2) und schließlich einen Überblick über Genese und Zusammenhang der einzelnen Kapitel zu geben (3). Einleitung 1 Die Wiederkehr des Religiösen - ein systematischer Horizont der Arbeit 1.1 Religiöse Intuitionen eines „religiös Unmusikalischen“ 15 Bundespräsident Rau bezieht sich mit seinem oben zitierten Gedanken für einen Weg religiöser Selbstvergewisserung auf die Dankesrede von Jürgen Habermas zum Erhalt des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 15. Oktober 2001.6 Darin hatte Habermas zwar nicht explizit für die Wiederkehr des Religiösen plädiert, jedoch für die „vernünftige Einstellung“, sich heute und als Philosoph der „Perspektive“ der Religion nicht zu verschließen (28), ja sogar inhaltlich für eine „kritische Anverwandlung“ religiöser Gehalte (24). Der Zusammenhang, aus dem diese These entwickelt wird, und die Erläuterungen, mit denen Habermas sie ausstattet, lohnen sich nachzuvollziehen für den Kontext meiner Arbeit: Am 11. September 2001, meint Habermas unter dem Eindruck der damaligen Ereignisse, sei „die Spannung zwischen säkularer Gesellschaft und Religion ... explodiert“ (9), und zwar in einer qualitativ „ganz anderen Weise“ als bei Problemen der Wissenschafts- und Technologie-Gesellschaft, an denen üblicherweise diese Spannung belegt wird. In den aktuellen politischen Ereignissen artikuliert sich für Habermas ein „verhängnisvoll-sprachlose(r) Zusammenstoß von Welten“ (11). Dieser „Riss der Sprachlosigkeit“ veranlasst ihn, sich genauer darüber klar zu werden, „was Säkularisierung in unseren postsäkularen Gesellschaften bedeutet“, nicht aus diagnostischen Motiven, sondern um „den Risiken einer ... entgleisenden Säkularisierung ... mit Augenmaß begegnen“ zu können (12). Damit macht Habermas das Religiöse nicht nur als einen wichtigen Hintergrund aus für gegenwärtige kulturelle und politische Spannungen, sondern scheint in der Begegnung mit dem Religiösen eine notwendige Bedingung zu sehen, diesen Spannungen auch begegnen zu können. Interessant ist zunächst die Benennung unserer Gesellschaften als postsäkular (12ff)7 und die Rede von den Risiken einer entgleisenden Säkularisierung. Ich ent6 Von einigen überregionalen Zeitungen wurde diese Rede unmittelbar im Anschluss veröffentlicht, so unter dem Titel „Der Riss der Sprachlosigkeit“ in der Frankfurter Rundschau vom 16.10.2001. Als Sonderdruck der „edition suhrkamp“ (Frankfurt/M. 2001) erschien sie dann in Buchform unter dem Titel: „Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001.“ Nach dieser Ausgabe zitiere ich nachfolgend. 7 Eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Kennzeichnung hat kürzlich vorgelegt Hans Joas unter dem Titel: Eine Rose im Kreuz der Vernunft. In: Die Zeit Nr. 7 vom 07.02.2002. 16 Einleitung decke darin jene Diagnose, die auch ich im Kapitel 1-1 der vorliegenden Arbeit zu entfalten versuche, dass eine Gesellschaft, die den Prozess der Säkularisierung inkonsequent verfolgt hat, nämlich nicht zuende und nicht über sich selbst aufgeklärt, Risiken produziert, Risiken, die zuerst und grundsätzlich unter dem Stichwort der Dialektik der Aufklärung von Adorno und Horkheimer herausgearbeitet worden sind.8 Risikoreich ist säkularisierende Auflärung vor allem, wenn sie den Gegenstand, über den aufgeklärt wurde, mit der Aufklärung zugleich auch abzuschaffen droht, damit aber auch ein Kriterium ihrer Kritik verlöre, warum eine solche Gesellschaft eben postsäkular und nicht säkularisiert genannt werden muss. Im weiteren Verlauf seiner Rede skizziert Habermas einige Verhältnisse, die Anlass geben, die Diagnose einer nicht abgeschlossenen Säkularisierung gerade heute aufrecht zu halten: • Zunächst einmal arbeitet er heraus, dass auch nach vollzogener Säkularisierung kirchlicher Macht9 Religion weder fortschrittsoptimistisch durch die Wissenschaft verdrängt worden wäre, noch verfallstheoretisch religiöse Sinninstanzen schlicht überflüssig geworden wären (13). Vielmehr sei die moderne Gesellschaft sogar verfassungsmäßig aufgebaut auf Prozesse der Entscheidungsfindung und einen auch religiöse Meinungen einbeziehenden Streit um die angemessene Entscheidung (15). Und dieses egalitäre Vernunftrecht habe durchaus religiöse Wurzeln (21). • Das hält Habermas fest als elementaren Faktor auch gegen einen von den Naturwissenschaften stetig voran getriebenen Szientismus: Gegen eine darin sich vollziehende Naturalisierung des Geistes (17) klagt er das Recht einer „eigensinnigen Perspektivenstruktur“ der beteiligten Personen ein (20), dessen Begründung wiederum im Erbe der Religionen gegeben ist. • Schließlich markiert Habermas andeutungsweise eine Tendenz zur Generalisierung und insofern Totalisierung einer szientistisch begründeten Sprache des Marktes einerseits (20, 23) und einer religiös sich gebenden Sprache des Fundamentalismus andererseits (9): Globalisierung hier, Terrorismus dort, in gewisser Hinsicht beides Indizien nicht überwundener Religion. Habermas hütet sich davor, angesichts solcher auseinander laufender Verhältnisse von einer Orientierungskrise oder gar einem nun neuen Bedürfnis nach Orientierung zu sprechen. Doch er redet von Sinn-Entropie, der es etwas entgegenzusetzen 8 Damit ist nicht nur das berühmte Buch von Adorno/Horkheimer gemeint (1949), sondern auch weitere, von beiden Autoren verschieden akzentuierten Einlassungen; vgl. dazu unten Punkt (3). 9 Hier ist an den ursprünglichen Sinn von Säkularisierung zu erinnern, die Übertragung kirchlicher (Macht-)Befugnisse an staatliche Instanzen. Habermas bezieht sich auf den im 19. Jahrhundert vollzogenen historischen Prozess der „Übereignung von Kirchengütern an die säkulare Staatsgewalt“ (12). Einleitung 17 gelte (29). Zunächst appelliert er noch vorsichtig für ein Offenhalten von Optionen, im Sinne einer „kooperativen Aufgabe“ zwischen säkularen und religiösen Begründungen, um sich „einen Sinn für die Artikulationskraft religiöser Sprachen“ zu bewahren (22). Dann aber führt ihn die Frage, wodurch denn religiöse Sprachen eine die skizzierte Diversifikation eindämmende Artikulationskraft besitzen, zu der überraschenden und entscheidenden These, gerade die Perspektive der Religion berge die Kraft, „im eigenen Haus [gemeint ist wohl im Haus postsäkularer Gesellschaften (H.B.P.)] der schleichenden Entropie der knappen Ressource Sinn entgegenzuwirken“ (29). Als Beispiel dafür nennt er das in Gen 1, 28 überlieferte Theologumenon von der Geschöpflichkeit und Gottebenbildlichkeit des Menschen. Die Intuition dieses Menschenbildes habe in unseren postsäkularen Verhältnissen auch für den „religiös Unmusikalischen“ bleibende Bedeutung, nämlich eine „absolute Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf“ festzuhalten gegen die Freiheit zerstörende Gefahr völliger „Selbstbestimmung des Menschen“ (30). 1.2 Drei Wege einer Rückkehr zu Religion Habermas’ Versuch ist zu sehen in einer ganzen Reihe von philosophischen Voten aus religionsskeptischer, religionskritischer oder gar areligiöser Perspektive zur Frage der Religion in postmodernen bzw. postsäkularen Zeiten. Ich erkenne darin drei sehr unterschiedliche Motive, von denen aus Religion und das Religiöse heute wieder von Interesse sein könnte: (1) Ein erstes Motiv ist in dem Zusammenhang von Religion und Moral zu sehen; im Rückgriff auf Religion scheinen sich moralisch, möglicherweise auch politisch relevante Orientierungen freilegen zu lassen. (2) Eine entgegengesetzte Perspektive wird eingenommen, wenn Religion auf der Ebene individueller Erfahrungen als eine besondere Dimension von Selbstsein und Eigensinn behauptet wird. (3) Schließlich wird Religion als ein Raum ausgemacht, der einen unverzichtbaren Anspruch auf Wahrheit bewahre, kritisch gegen jede Angleichung an reale Lebensverhältnisse. Diese Wege sind durch einige beispielhaft ausgewählte Denkfiguren genauer zu erläutern: 18 Einleitung ad (1) Moral beerbt Religion Jürgen Habermas’ eigene Einlassung kann vordergründig als Prototyp des ersten Wegs gelten. Das lässt sich nicht zuletzt ablesen an den zum Teil heftigen Reaktionen, sofern sie in Habermas’ religiöser Sinnsuche den Versuch moralischer Orientierung ausmachen. So hat der Bundespräsident Rau nach eigenem Bekunden Habermas nicht nur „mit großem Interesse gehört“, sondern stimmt ihm auch explizit darin zu, dass heute wieder „die Frage nach religiösen Fundamenten“ gestellt werden müsse.10 Martin Altmeyer entdeckt in Habermas’ behutsamer Rehabilitierung der „Religion unter dem Stichwort der Sinnvermittlung“ eine „Mahnung zur kulturellen Selbstreflexion im schlingernden Projekt der Moderne“ entdeckt.11 Besonders interessant sind die mehrheitlich kritisch ablehnenden Reaktionen: So findet Jörg Lau Habermas’ Einlassung schlicht „peinlich“, angesichts des „Einknicken(s) des großen Theoretikers“ und solcher „umstandslose(r) Instrumentalisierung der Religion“12; und Michael Rutschky fragt sich gar, „welcher Teufel den Professor Habermas ritt“.13 Lau erinnert in seiner Kritik an Habermas’ Hauptwerk und zitiert daraus den epochalen wie bedenkenswerten Satz: „Diese großartigen Vereinseitigungen, die die Signatur der Moderne ausmachen [gemeint ist das Hervortreiben von Rationalitätsstrukturen unter Befreiung von den Zwängen zu Interpretation, Weltbildkonstruktionen, heteronomer Moral und Konventionen (H.B.P.)], bedürfen keiner Fundierung und keiner Rechtfertigung im Sinne transzendentaler Begründungen…“14 Demnach hätte Religion in der Moderne abgedankt. Warum aber würde Habermas sie nun, 20 Jahre später, gleichwohl rehabilitieren wollen? Oder hat Habermas das damals tragende Motiv nur verändert wieder aufgenommen? Als Anwalt für die skizzierte „säkularisierende und zugleich rettende Dekonstruktion von Glaubenswahrheiten“ benennt Habermas zunächst Kant (23). Mit Verweis auf Kants Religionsschrift15 glaubt Habermas, in Kant einen Vertreter einer auch von ihm selbst favorisierten „kritische(n) Anverwandlung des religiösen Gehaltes“ (24) auszumachen. In der Tat schreibt Kant: „Die Moral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen, als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch 10 Rau (2001), a.a.O. 11 Martin Altmeyer: Innehalten im Kriegslärm. Zum Glück haben wir die Grünen und Jürgen Habermas. – In: FR v. 25.10.2001. 12 Jörg Lau: Nachrichten aus der Paulskirche. – In: Die Zeit v. 27.12.2001. 13 Michael Rutschky: Die Wiederkehr. – In: FR v. 3.11.2001. 14 Habermas (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2, S. 584f. 15 Kant: Die Religion (1793) A III. Einleitung 19 seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens, gegründet ist, bedarf weder der Idee eines anderen Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer anderen Triebfeder als des Gesetzes selbst.“ Das liest Habermas offenkundig als Begründung für eine Übersetzung ehemals göttlich autorisierter Gebote in nunmehr autonom begründete unbedingte Geltung von Moral. Und für eben solche Übersetzung tritt Habermas ausdrücklich ein, wenn er in Bezug auf den Umgang mit Gen 1,27 meint: „Moralische Empfindungen, die bisher nur in religiöser Sprache einen hinreichend differenzierten Ausdruck besitzen, können allgemeine Resonanz finden, sobald sich für ein fast schon Vergessenes, aber implizit Vermisstes eine rettende Formulierung einstellt. Eine Säkularisierung, die nicht vernichtet, vollzieht sich im Modus der Übersetzung.“ Dieser Satz ist jedoch nicht so neu, wie manche Kritiker meinen, sondern greift einen von Habermas schon früher geäußerten Gedanken auf. Bereits 1988 hielt er Religion für „unersetzlich“, „solange die religiöse Sprache inspirierende, ja unaufgebbare semantische Gehalte mit sich führt, die sich der Ausdruckskraft einer philosophischen Sprache (vorerst?) entziehen und der Übersetzung in begründete Diskurse noch harren.“16 Aufgrund des ausdrücklich in Klammern gesetzten „vorerst“ kann man zwar nicht davon reden, dass es schlicht um eine Ersetzung des Religiösen durch das Moralische ginge.17 Doch deuten die Schlussworte des Zitats darauf hin, dass die von Habermas insinuierte Übersetzung des Religiösen ins Moralische eine Übersetzung ist, die für Religion nichts mehr übrig lässt, auch wenn sie bislang noch unabgeschlossen ist. Rückkehr zum Religiösen würde demnach bedeuten, sich des noch nicht übersetzten Erbes der Religion zu erinnern und alles in die ihre Sinngehalte rettende Übersetzung zu investieren, rettend gegen jene Moderne, die szientistisch und naturalistisch das Bewusstsein über die von ihr selbst produzierten Risken zu verlieren droht. ad (2) Verflüchtigung ins Individuelle Gegen Habermas’ Versuch, in der Religion philosophisch und politisch relevante Intuitionen aufzuspüren, entdeckt Richard Rorty in jedem Versuch einer Rückkehr zu Religiosität aus politischen Gründen eine fundamentalistische Gefahr.18 Darum will 16 Habermas: Nachmetaphysisches Denken (1988), S. 60. 17 Ausdrücklich dazu befragt, gab Habermas zehn Jahre später vor, nicht genau zu wissen, ob eine Übersetzung je vollständig gelingen könne oder auch zu gelingen habe: Habermas (1998), S. 190f. 18 Richard Rorty: Wahrheit und Wissen sind eine Frage der sozialen Kooperation. (Dankesrede zum Erhalt des Meister-Eckhart-Preises am 3.12.2001). – In: Süddt.Ztg. v. 4.12.2001, S. 14. 20 Einleitung er seinerseits Religion ganz auf die Ebene einer nur noch im privaten Raum möglichen Meinung zurechtstutzen. Denn wer öffentlich auf Religion setze, setze auf eine der intersubjektiven Austragung entzogene Wahrheit. Für Rorty ist demgegenüber „die Suche nach Wahrheit und Wissen nicht mehr und nicht weniger … als das Streben nach intersubjektiver Übereinstimmung.“ Das ist weniger eine erkenntnistheoretische19, vielmehr eine politische These. Denn der „epistemische Schauplatz ist ein öffentlicher Raum“; und aus ihm, meint Rorty, solle „die Religion sich zurückziehen“; insbesondere „die institutionalisierte Religion [müsse] endlich von der Bildfläche verschwinde(n).“ Es ist nicht ganz klar, wie ein Denker mit solchen Thesen zu der Ehre gerade eines Meister-Eckhart-Preises kommt. Für den großen Mystiker kommt zwar die Suche nach dem Innersten und Tiefsten unserer selbst mit der Suche nach Gott überein. Doch während Eckhart dabei in Gott die letzte Möglichkeitsbedingung und den Horizont unseres Selbst entdeckt, ist es für Rorty umgekehrt: Nach Religion zu suchen, sei „womöglich genau das Richtige für die eigene Einsamkeit“; hier ist das private Selbst das Ziel. Und so macht Rorty aus der pragmatistischen Diagnose der Verflüchtigung des Religiösen ins Individuelle20, verbunden mit einer entsprechenden kulturellen Relativierung des Religiösen eine pragmatistische Forderung: „Wenn man jedoch die Idee aufgibt, dass die Suche nach Wahrheit oder die Suche nach Gott allen menschlichen Organismen fest einmontiert sei, und wenn man statt dessen für möglich hält, dass beide auf kulturelle Prägung zurückgehen, dann wird eine solche Privatisierung ganz natürlich und richtig erscheinen.“ Dass Rorty damit einen ernst zu nehmenden Versuch zur Ehrenrettung des Religiösen in säkularen und agnostischen Zeiten unternommen hätte, leuchtet kaum ein, selbst dann nicht, wenn man sich auf seinen Vorschlag einlässt, das Kriegsbeil um die Wahrheit zwischen Atheismus und Theismus zu begraben. Nun hat Rorty selbst diesen Rettungsversuch gar nicht unternehmen wollen, im Gegenteil hält er in seiner Rede fest daran, „sich gelegentlich selbst als einen Atheisten beschrieben“ zu haben. Ein Atheist zu sein, meint natürlich etwas anderes als sich, wie Habermas, religiös unmusikalisch zu finden. Und so wird Rorty auch nichts von Habermas’ Sympathie für den Sinngehalt der religiösen Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf halten, wenn er selbst „meint, Menschen sollten sich Selbsterschaffung zum Ziel setzen.“ 19 Eine erkenntnistheoretische Pointe hat diese These natürlich auch, insofern diese Auffassung von Wahrheit als Adäquation nach einer irgendwie letzten oder vorgängigen Wahrheit im Sinne der griechischen aletheia ohnehin nicht mehr fragt, aber auch nicht mehr nach einem möglichen Gegenstand der Wahrheit, sondern die adaequatio rei et intellectus reduziert auf einer nur noch pragmatisch zu verstehende adaequatio der beteiligten Erkenntnissubjekte. 20 Gemeint ist der mit William James im Grenzgebiet zwischen Philosophie, Theologie und Soziologie bekannt gewordene Blick auf religiöse Phänomene aus der Sicht des philosophischen Pragmatismus. Einleitung 21 Rorty rechnet in seiner Rede auch Gianni Vattimo einer pragmatistisch zu lesenden Position zu. In der Tat greift Vattimo das Thema des Religiösen aus dem eher „vage(n) Grund“ auf, „daß ich im kulturellen Klima, in dem ich mich bewege, insgesamt ein Wiedererwachen des religiösen Interesses verspüre.“21 Entsprechend votiert er für eine eher laue, nichtsdestotrotz (und das unterscheidet ihn von Rorty) explizite Rückkehr zum Religiösen, und zwar in doppelter Hinsicht: Einerseits ist Vattimo, geschlagen durch persönliche Erfahrungen moralischer Verachtung und Normierung im Namen der Religion, kritisch geworden gegenüber Ansprüchen einer ganzen Wahrheit. Und so steht er pragmatisch für ein reduziertes, halbgläubiges Glauben, für den Versuch, Glauben auf das zu reduzieren, als dessen „Adressat ich mich selbst fühle“22: „das Wesen der Offenbarung reduziert auf die christliche Liebe, und der ganze Rest anheimgegeben der Unbestimmtheit der verschiedenen geschichtlichen Erfahrungen, auch der Mythologien, die den einzelnen geschichtlichen Menschheiten jeweils als ‚bindend’ erschienen sind.“23 Dem steht andererseits jedoch nicht der Rückzug ins letztlich unverbindlich Private (wie bei Rorty) gegenüber, sondern ein positives Korrelat: Vattimo will dekonstruktiv24 Gehalte insbesondere des christlichen Glaubens in ihrer Positivität25 aufgreifen: Auf der Suche nach solchen Positivitäten, die eine „radikale Möglichkeit des Seins“ in Befreiung „vom Zwang des Einfach-Daseienden“ enthalten, wird Vattimo fündig „in der christlichen Lehre von der Menschwerdung des Gottessohnes“.26 Die Kenosis-Lehre liefert für ihn „ein hinreichend klares kritisches Prinzip für die Orientierung, sei es gegenüber der Welt, sei es vor allem gegenüber der Kirche, sei es schließlich gegenüber dem Prozeß der Säkularisierung selbst“.27 In einer (metaphysische Deutungen) dekonstruierenden Lesart meint Kenosis die durch die Liebe Gottes erfahrene Sinnhaftigkeit der Caritas als „Prinzip der christlichen Liebe gegenüber den anderen“,28 frei von Ansprüchen, damit letzte Ordnungen herstellen zu wollen oder zu müssen, gewiss aber in der Hoffnung, dass sich solches Leben lohnt. 21 Gianni Vattimo: Glauben – Philosophieren. Stuttgart 1997, S. 8. 22 Ebd., S. 106. 23 Ebd., S. 86. 24 Ebd., S. 104: „Statt sich als Anwalt der Heiligkeit und Unberührbarkeit der ‚Werte’ zu präsentieren, sollte der Christ vielmehr wie ein gewaltloser Anarchist agieren, wie ein ironischer Dekonstrukteur…“ 25 Zur Entwicklung seines an Schelling orientierten Begriffs von Positivität vgl. Vattimo: Die Spur der Spur; in: Derrida/Vattimo (2001), S. 107ff, insbesondere S. 113ff. 26 Ebd., S. 122. 27 Vattimo (1997), S. 66. 28 Ebd., S. 104. 22 Einleitung Es wäre ungerecht, in Vattimos Rückkehr zum Religiösen bloß das oben skizzierte individualistische Motiv wiederzuerkennen, von einer Privatisierung des Religiösen wie bei Rorty kann hier erst recht nicht die Rede sein. Doch auch einer Moralisierung des Religiösen redet Vattimo trotz seines Caritas-Prinzips nicht das Wort. Zu sehr wird dieses Prinzip im Schatten des Nihilismus, eines „jenseits der Gewalt der Metaphysik“29 sich verortenden Denkens vertreten. Ihm bleibt nur die Möglichkeit eines „credere di credere“, so der Originaltitel des Büchleins, eines im Sinne der Pascalschen Wette hoffnungsvollen Glaubensversuchs. Insofern erhält sein Versuch wirklich einen pragmatistischen Geschmack. Verzichten muss ein derart wiederkehrendes Religiöses darum auch auf den Anspruch, vorfindliche Wirklichkeit kritisch durchleuchten zu können, muss sich stattdessen begnügen mit einem reduzierten, etwas unverbindlich-lauen Halbglauben. ad (3) Zurück zu vorreligiösen Strukturen Frei von solch kompromisshafter Zuwendung zur Religion scheint demgegenüber das Anliegen von Jacques Derrida30 zu sein: Ihn interessiert nicht, was bloß „im Namen“ von Religion(en) gesagt wird. Vielmehr müsste man versuchen, die Religion „selbst zu denken“, „sie zum Ausdruck zu bringen, … mit der nötigen Strenge, … den Skrupeln (religio), die jenes erfordert, was in seinem Wesen Religion ist oder zu sein beansprucht.“ Denn „einzig auf solche Weise würde man vermeiden, etwas Fremdes in die Religion einzuführen; einzig auf solche Weise würde man sie jenes sein lassen, was sie ist: … Heil in der Erfahrung des Heilen“.31 Derrida sieht solche Erfahrungen aber nicht wie Vattimo in positiven Gehalten wie der caritas, sondern in Strukturen, vor allem in der Kraft zur radikalen Abstraktion, wie er sie motivisch ausmacht im Wüstenbild des biblischen Glaubens, dem Messianismus als allgemeiner Erfahrungsstruktur und im Versuch eines Denkens des Unvordenklichen jenseits des Denkens im Sinne der platonischen Chora.32 29 Ebd., S. 24ff und S. 40. 30 Jacques Derrida / Gianni Vattimo: Die Religion. Frankfurt 2001. 31 Ebd., S. 40. – Ich entdecke in diesem Gedanken zumindest eine wichtige Übereinstimmung mit auch meinem Votum im Kapitel 1-3, als Spezifikum des Religiösen an dem Anspruch der Erfahrung „heiliger Wirklichkeit“ festzuhalten. 32 Vgl. ebd., S. 10 als Grundmotiv und S. 30ff als Entfaltung des Abstraktionsmotivs. – Der Wüstenzug Israels wird von D. als Bild einer Wüste in der Wüste gesehen, als Möglichkeit völliger Reduktion auf „abhaltende Skrupel (religio), zurückhaltende Scheu, Verhaltenheit“ (S.30). – Auch das Messianische wird wie in Walter Benjamins erster geschichtsphilosophischer These reduziert auf „das ganz und gar kärgliche Messianistische, das von allem entkleidet sein muß, der Glaube ohne Dogma, der sich in die Gefahr einer vollkommenen Nacht vorwagt“ (S. 33). Reduziert auf die Struktur „der absoluten Überraschung“ wird er zu einer „allgemeine(n) Struktur der Einleitung 23 Die von ihm avisierte Religion gewinnt damit (übrigens unter explizitem Bezug auf Heidegger33) proto-religiösen Charakter. Und so fragt Derrida in seiner Suche nach vor-ursprünglicher Religiosität nach einer „Theio-logie“, einem „Diskurs über das Sein des Göttlichen“ überhaupt und nicht nach einer Theo-logie als Rede über Gott, und er fragt nach einer gegenüber der Offenbarung ursprünglicheren „Offenbarkeit“ als „Möglichkeit des Offenbarens…von allen Religionen unabhängig“, und er fragt: „Kann man diese Unabhängigkeit an den Strukturen ihrer Erfahrung …ablesen? Rührt man mit einer solchen Offenbarkeit an den Ursprung … des Glaubens selbst? Oder besteht umgekehrt das Ereignis der Offenbarung darin, dass es die Offenbarkeit offenbart hat...?“34 Die Gefahr eines solchen Denkens hat seinerseits Habermas in polemisch zugespitzter Weise markiert: „Wenn sich der Posthumanismus in der Rückkehr zu den archaischen Anfängen vor Christus und vor Sokrates erfüllen soll, schlägt die Stunde des religiösen Kitsches. Dann öffnen die Warenhäuser der Kunst ihre Pforten für die Altäre aus aller Welt, für die aus allen Himmelrichtungen zur Vernissage eingeflogenen Priester und Schamanen.“35 Mit dieser Einlassung ist zwar explizit nicht Derrida gemeint, sondern Heidegger und seine Jünger. Doch Derrida beruft sich mit seiner Idee einer Proto-Religiosität ja gerade auf Heidegger. Eine heideggerisch gewendete Rückkehr zu metaphysischem Denken kann man Derrida gleichwohl nicht vorwerfen, da er nicht nur explizit, sondern auch argumentativ eine Wiederentdeckung des Religiösen ganz „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ vollzieht36 und so zu einem Satz kommt, der ganz im Modus moderner Vernunft geschrieben ist und so fast ein Beispiel für den unter (1) skizzierten Weg zur Religion bietet: „Die Chance dieser Wüste in der Wüste … liegt in dem Umstand, dass man nur die Überlieferung zu entwurzeln und zu enttheologisieren braucht, die jene Wüste in sich trägt, damit die Abstraktion, ohne den Glauben zu verleugnen, eine universale Rationalität und eine von ihr untrennbare politische Demokratie freilegt.“37 Erfahrung“ (S. 32). – Chora schließlich interpretiert Derrida als „den Ort einer abstrakten Verräumlichung“, einen Ort absoluter Äußerlichkeit, an dem ein Denken dessen, was jenseits des Seins ist, möglich ist. (S. 35). 33 Ebd., S. 24. 34 Ebd.; S. 28 u. 29f. 35 Habermas (2001c), S. 28. 36 Derrida (2001), S. 19, 27. 37 Ebd., S. 34. 24 Einleitung 1.3 Transzendenz als originäres Erbe der Religion Derridas Fragen nach einer den Religionen vorausliegenden Struktur des Religiösen werfen ein neues Licht auch auf Habermas’ Einlassungen. Nicht nur an der Oberfläche des faktisch Gesagten tauchen nun Parallelen auf. So wartet auch Habermas in seinem zeitgleich mit der Friedenspreisrede wieder veröffentlichten „Gespräch über Gott und die Welt“ mit der These auf, mit dem Gedanken „des einen und verborgenen Schöpfer- und Erlösergottes“ habe „der endliche Geist einen alles Innerweltliche transzendierenden Standpunkt gewonnen“38 Dies deutet er als Abstraktionsleistung, die „das Tor zu einer vernünftigen Durchdringung der opaken Welt aufgestoßen“ habe, ähnlich wie die „fortschreitende Negation“ im Buddhismus oder das Schwarze Quadrat von Malewitsch.39 In diesem Licht gewinnt auch die von ihm geforderte Übersetzung des Religiösen ins Moralische neue Bedeutung. Wenn Jörg Lau dazu meint, Habermas räume mit seiner Rede der Religion „den Primat vor der Moralphilosophie ein“40, hat er damit möglicherweise eine Tiefendimension in Habermas’ Gedanken zur Sprache gebracht. Warum? Wie skizziert, hatte Lau an Habermas’ These aus der „Theorie des kommunikativen Handelns“ erinnert, die Moderne bedürfe „keiner Fundierung und keiner Rechtfertigung im Sinne transzendentaler Begründungen“.41 Doch dass damit Religion prinzipiell ausgedient habe, ist nur die halbe Wahrheit. Zwar hatte Habermas in seinem Großwerk eine „Entzauberung und Entmächtigung des sakralen Bereichs“ hin zu „einer Versprachlichung des rituell gesicherten normativen Grundeinverständnisses“ nicht nur diagnostiziert, sondern auch begrüßt, weil damit „die Entbindung des im kommunikativen Handeln angelegten Rationalitätspotentials einher“ gehe.42 Doch muss man bereits hier genau lesen: Behauptet wird (lediglich) die Entbindung von Rationalität aus religiösen Begründungen, insofern diese transzendentalen Charakter tragen, also als Bedingungen der Möglichkeit von Rationalität gesehen werden. Damit ist aber noch nichts darüber gesagt, dass die Rationalität der Moderne auch an ihre Grenzen, ja in Krisen geraten kann, und dass die Religion demgegenüber zumindest einen Raum des nicht rational Instrumentalisierbaren offen zu halten in der Lage wäre. Ein paralleler Einwand ist zu formulieren gegen eine vorschnelle Inanspruchnahme Kants für die Übersetzung ehemals göttlich autorisierter Gebote in nunmehr 38 Habermas (1999c), S. 173. 39 Ebd., S. 174. 40 Jörg Lau: Nachrichten aus der Paulskirche. – In: Die Zeit v. 27.12.2001. 41 Habermas (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. Bd.2, S. 584. 42 Ebd., S. 119. Einleitung 25 autonom begründete unbedingte Geltung von Moral. Die Lösung der Moral von göttlicher Autorität betrifft nur die Unbedingtheit ihrer Geltung, nicht aber notwendig auch die Frage nach Möglichkeit und Grenzen von Moral überhaupt.43 Religion behielte demnach einen Sinn auch dann noch gegenüber Moral, wenn vormals religiös begründete Normen sich nun säkular autonom begründen lassen; anders: auch bei Kant geht Religion nicht völlig in autonomer Moral auf. Diese Überlegung ist nicht philologisch-spekulativer Kleingeist, sondern markiert einen wichtigen von Habermas angedachten, dann aber wohl wieder verworfenen Gedanken: Seine inzwischen vielzitierte Maxime, man könne (müsse vielleicht gar) „von der Religion Abstand halten, ohne sich deren Perspektive zu verschließen“ (29) wird in der Druckfassung der Friedenspreisrede durch einen interessanten Einschub zum „Erbstreit zwischen Philosophie und Religion“ (25-29) kommentiert, der in der Rede selbst ausgespart blieb. Dieser Kommentar begründet genau gelesen den Abstand, nicht die Nähe zur Religion. Denn Heideggers Annäherungen an das Sakrale werden hier als „religiöser Kitsch“ abgewiesen, Hegels Versuch einer Philosophie der Religion als Opfer vor „einem in sich kreisenden Weltprozess“. Und der Messianismus des Sympathieträgers Adorno wird als nur noch methodisch mögliche Rettung vor der Verzweiflung eingeordnet. Die Frage ist freilich, ob das alles ist. Denn das eindrücklich betonte Abstandhalten ist auch als (vielleicht unbewusste) Camouflage einer eigentlich intendierten Nähe zu lesen. Warum? In den frühen 80er Jahren hatte Habermas noch an eine den herrschaftsfreien Diskurs ermöglichende Rationalität geglaubt; doch schon Ende der 80er plädiert er für eine nicht nur methodische, sondern auch politische Skepsis gegen die Hypostasierung der „idealisierenden Voraussetzungen kommunikativen Handelns … zum Ideal eines künftigen Zustandes definitiven Verständigtseins“44, denn „das Moment der Unbedingtheit, das in den Diskursbegriffen der fehlbaren Wahrheit und Moralität aufbewahrt ist, ist kein Absolutes“. Deutlich artikuliert sich hier ein Einspruch gegen den Ersatz von Religion durch eine absolut gesetzte Moral. Und noch mehr: Zumindest Religion, vielleicht gar sie allein, scheint auch das Potential gegen solche Verabsolutierung von Rationalität und Moral aufbieten zu können. Denn „noch der Begriff der kommunikativen Vernunft wird vom Schatten eines transzendentalen Scheins begleitet … Nur mit diesem Rest von Metaphysik kommen wir gegen die Verklärung der Welt durch metaphysische Wahrheiten an – letzte Spur eines Nihil 43 Das ist zu sagen, auch wenn Kant selbst hier anderer Meinung war: Er vertrat zwar bekanntlich die Meinung, Moral führe „unumgänglich zur Religion“ (ebd. A IX), doch ausdrücklich auf der Basis, dass die „Idee eines höchsten Guts“ „aus der Moral hervor“ gehe, als ihr „Endzweck“, doch keineswegs „die Grundlage derselben“ sei (ebd. A VIII). Nichtsdestotrotz ist auch daraus nicht der Schluss zu ziehen, Moral biete einen vollständigen Ersatz für Religion. 44 Habermas (1988): Nachmetaphysisches Denken, S. 184. 26 Einleitung contra Deum nisi Deus ipse.“45 In solcherart bewahrendem und nicht aufhebendem Horizont hatte Habermas damals, wie bereits zitiert, die Religion in ihren „inspirierende(n), ja unaufgebbare(n) semantische(n) Gehalte(n) …, die sich der Ausdruckskraft einer philosophischen Sprache (vorerst?) entziehen und der Übersetzung in begründende Diskurse noch harren“, für „unersetzlich“ gehalten.46 Damit scheint Habermas in der Tradition der Religion jedoch nicht nur etwas zu sehen, das als bewahrenswertes Erbe völlig in die säkulare Sprache von heute übersetzt werden sollte. Vielmehr deutet sich hier ein Gefühl für etwas Originäres an, das sich schlicht nicht übersetzen lässt. Denn warum spricht er jetzt in der Friedenspreisrede von den „ungläubigen Söhne(n) und Töchter(n) der Moderne“, die die „semantischen Potentiale [sc. der religiösen Tradition] noch nicht ausgeschöpft“ hätten?47 Und warum spricht er von dem Respekt der Vernunft „vor dem Glutkern“ der Religion, der zu groß sei, „als dass sie der Religion zu nahe treten würde“?48 Mit einer solchen respektvollen Annäherung an die Religion stellt sich Habermas explizit in die Nähe zu Derridas Versuch, das der Religion Ureigne aufzuspüren. Vor allem denkt er offenkundig im Horizont seiner Väter Horkheimer, Adorno und Benjamin, die nicht ohne Zufall an eben dieser Stelle seiner Rede zitiert werden.49 Dem nachzugehen, verspricht weiteren Aufschluss. Zunächst einmal gibt es nichts zu deuteln an jenem Satz, den Habermas als ersten von Adorno zitiert: „Nichts an theologischem Gehalt wird unverwandelt fortbestehen; ein jeglicher wird der Probe sich stellen müssen, ins Säkulare, Profane einzuwandern.“50 Zu deuteln gibt es hieran insofern nichts, als dass weder die Theologie, noch erst recht die Philosophie in ihren Versuchen der Rehabilitierung von Religion so tun können, als wäre eine Rückkehr hinter die metaphysikkritische Abkehr von „ewig unabänderliche(n) Seinsbestände(n) einer philosophia oder religio perennis“51, die uns Orientierung für unsere vorfindliche Wirklichkeit böten, möglich. Wenn wir aber einmal den Versuch unternehmen, unter Rückgriff auf die beiden ersten Wege einer Wiederkehr des Religiösen und unter Vorgriff auf in den Kapiteln 1-1 und 1-2 zu erläuternde Hinweise, jene von Adorno insinuierte 45 Ebd. 46 Ebd., S. 60. 47 Habermas (2001b), S. 25. 48 Ebd., S. 28. 49 Ebd., S. 27. - Alle genannten Namen tauchen auf dieser Seite als Referenzpunkte der eigenen Auseinandersetzung mit Religion auf. 50 Adorno: Vernunft und Offenbarung (1957), S. 20. 51 Ebd. Einleitung 27 Verwandlung als Moralisierung und auch Individualisierung des Religiösen zu verstehen (wofür heute diagnostisch vieles spricht), bleibt doch die Frage, ob mit einer solchen Verwandlung theologische Gehalte, Religion und Glaube gar nichts Eigenes mehr zurückbehalten. Adorno selbst hat ausdrücklich gewarnt vor jeglicher modischer Anverwandlung möglicherweise gebrauchsfähiger religiöser Gehalte. Wenn er gleichwohl auf den der Religion ureigenen Wahrheitsgehalt als unverzichtbar pocht, scheint er mir den Anspruch auf Wahrheit überhaupt bzw. auf Wahrheit in einem kategorialen Sinn zu meinen. Dieser Anspruch gewinnt kritische Konturen in der Skepsis gegen die Rationalität einer die Religion nur vordergründig vollständig beerbenden Vernunft: „Vernunft muß versuchen, die Rationalität selber, anstatt als Absolutes sie sei es zu setzen, sei es zu verneinen, als ein Moment innerhalb des Ganzen zu bestimmen…“ Das klingt gut dialektisch, doch Adorno weiß, dass die Vernunft ihr absolutheitskritisches Potential nicht völlig aus sich selber schöpfen kann, und darum fährt er fort, auf die Frage zu antworten, wie die Vernunft „ihres eigenen naturhaften Wesens innewerden“ könne: „Dies Motiv ist den großen Religionen nicht fremd.“ Eben dieses Motiv der Relativierung des Absolutheitsanspruchs gilt es von der Religion zu übernehmen und zu säkularisieren.52 Ich meine, dieses Motiv durchzieht das Denken Adornos wie ein roter Faden. In seinem frühen Programmaufsatz zur „Aktualität der Philosophie“ von 1931 insistiert er gerade angesichts der Einsicht in „die prinzipielle Unbeantwortbarkeit der philosophischen Kardinalfragen“53 darauf, die Wahrheitsfrage festzuhalten, nicht als Frage nach übergeschichtlicher Wahrheit und nicht bloß als Frage nach der Wahrheit der schlicht zuhandenen Wirklichkeit, sondern als Anspruch des auf sich selbst zurückgeworfenen Denkens, dem die Aufgabe verbleibt, „die intentionslose Wirklichkeit zu deuten“ durch Eindringen in die Totalität des Seienden, um „im kleinen die Maße des bloß Seienden zu sprengen.“54 Nur in begrifflich geklärterer, nicht aber in gewendeter Form verpflichtet Adorno auch in der „Negativen Dialektik“ die Philosophie auf ein Denken, das „solidarisch mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes“ ist, so der letzte Satz.55 Fast peinlich genau vermeidet es Adorno, diese Frage Wahrheitsfrage zu nennen. Doch gegen szientistische Verkürzungen wie natürlich gegen Totalitätsansprüche, aber auch gegen die Anfeindung zu purer Verzweiflung kann das Denken nicht abdanken und sucht so nach metaphysischer Erfahrung. „Daß es der Philosophie doch möglich sei, 52 Ebd., S. 23. 53 Adorno (1931), S. 331. 54 Ebd., S. 335, 344. 55 Adorno: Negative Dialektik (1961), S. 398. 28 Einleitung daß der Begriff den Begriff, das Zurüstende und Abschneidende übersteigen und dadurch ans Begriffslose heranreichen könne, ist der Philosophie unabdingbar.“56 Und obwohl aller Positivität und insofern auch aller Religiösität aus prinzipiellen Gründen abhold, kann Adorno dann doch den Satz aussprechen: „Kein Licht ist auf den Menschen und Dingen, in dem nicht Transzendenz widerschiene.“57 Das ist ernst zu nehmen. Und ich denke darum nicht, dass es, wie Habermas unterstellt58, eine rein „methodische Absicht“ wäre, aus der heraus sich Adorno im berühmten Schluss-Abschnitt der „Minima Moralia“ „des messianischen Standpunktes versichert“. Gewiss ist es ganz unmöglich, den Ort einzunehmen, von dem aus die Dinge so zu betrachten wären, „wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellen.“59 Und doch ist ein solcher Standpunkt der, der „einzig noch zu verantworten ist.“ Mit dieser Einsicht erscheint zwar jede Bemühung, die Wirklichkeit von Erlösung positiv zu füllen als „fast gleichgültig“, aber eben nur „fast“: Zumindest ihre „Perspektiven“, so Adorno, muss das Denken sich zu eigen machen, will es sich nicht erschöpfen in bloßer Nachkonstruktion und stückhafter Technik. Das beinhaltet aber, jene Perspektive der Erlösung und der Transzendenz als Licht auf Menschen und Dingen auch je neu herauszustellen. 1.4 Konsequenzen für die Frage nach religiöser Bildung Wie Habermas in seiner Rede mit Recht erinnert, birgt ein Rückbezug der Philosophie auf Religion Gefahren, auch wenn man sich vielleicht nicht gleich auf „vermintes Gebiet“ (28) begibt. Von den drei kurz erläuterten Wegen wie auch der zuletzt skizzierten Dimension bei Adorno lässt sich mithin lernen, wenn man sich, so mein Vorhaben, heute für eine philosophisch begründete Didaktik des Religiösen einsetzt. Eine quasi fundamentalistische Wendung zu einem längst verlorenengegangenen Zugang zu Religion scheidet als Leitweg ohnehin aus. So ist eine Rückkehr zur Koalition zwischen antiker Metaphysik und Religion ebenso wenig möglich wie eine unreflektierte Wiederbelebung mittelalterlicher und frühneuzeitlicher natürlicher Theologie. Aber auch die drei skizzierten nach vorn gewandten Wege bergen Gefahren, erweisen sich letztlich gar als Irrwege, vielleicht weil auch bestimmte 56 Ebd., S. 19. 57 Ebd., S. 394. 58 Habermas (2001b), S. 27. 59 Adorno: Minima Moralia (1951), Nr. 153 “Zum Ende”. Einleitung 29 damit bezeichnete historische Positionen noch nicht ganz überwunden sind und sich neu Gehör zu verschaffen scheinen: (1) Der erste Weg tendiert erkennbar zu einer Ersetzung des Religiösen durch das Moralische und einer entsprechenden Moralisierung des Religiösen. In unguter Weise Geltung erlangt hat solch eine Position im Laufe der Geschichte immer wieder in manchen Facetten politischer Theologie60, zumindest sehr problematisch geworden ist sie in den Versuchen einer Zivilreligion Rousseauschen oder Durkheimschen Zuschnitts. (2) Der zweite Weg tendiert umgekehrt ganz zu einer Ästhetisierung des Religiösen. Wenn Religion ihren Ort nur noch im individuellen Empfinden des Einzelnen hat, verflüchtigt sie sich tendenziell zu einer bloßen Frage des Lebensstils. Nicht die Moral, sondern der Kultus gewinnt dann Überhand im Ausdruck des Religiösen. Viele Formen postmoderner Religiosität erinnern an diesen Typos, der nicht von ungefähr bei Figuren wie Nietzsche oder Wagner, der explizit für eine Ersetzung des Religiösen durch die Kunst eintrat, Leitmotive entlehnt. (3) Und auch die dritte Position birgt Gefahren, nämlich in einer durch die Koppelung des Religiösen an die Wahrheitsfrage fast unumgänglichen Koalition mit den Denkformen der vom Glauben ungeliebten Metaphysik. Das eigentümlich Religiöse gerät dabei tendenziell so sehr in den Sog der philosophischen Vernunft, dass es von ihr vereinnahmt und in ihrem innersten Anspruch ausgehöhlt werden könnte, was der Philosophie insbesondere Hegelscher Couleur immer wieder vorgeworfen wird. Dieser Gefahren sind sich die unterschiedlichen Skizzen zu einer philosophisch begründeten Didaktik des Religiösen, wie ich sie in der vorliegenden Arbeit vorlege, durchaus bewusst. Zuweilen werden sie darum explizit thematisiert und zurückgewiesen. Das gilt insbesondere für die Möglichkeit, das Religiöse als moralisches Erbe wiederzubeleben und so zu moralisieren. So weist das Kapitel 4-4 jeden Versuch ab, im Bereich ethischer Bildung auf eine jenseitige, menschlicher Entscheidung vorgeordnete Moral als Orientierungsinstanz zu setzen und den Religionsunterricht als Instanz der Vermittlung moralischer Werte zu instrumentalisieren. Das ist natürlich auch für den Philosophie- und Ethik-Unterricht abzulehnen (vgl. dazu Kapitel 1-2). Damit ist auch das vorderhand verführerische, da in Zeiten eines 60 Dieser Ausdruck ist hier in dem traditionellen Sinne von Politischer Theologie gemeint, also in dem Sinne einer religiösen Aufladung bzw. Legitimation des Politischen, nicht im Sinne der letztlich politik-kritischen Bewegung einer politisch sich verstehenden Theologie der Befreiung wie etwa von Moltmann, Metz oder Boff. 30 Einleitung freundlich-toleranten Pluralismus attraktiv erscheinende Konzept vom Tisch, Religions- und Ethik-Unterricht in einem Fächerverbund unter das Rahmenthema „Wertevermittlung“ zu vereinen. Das (theologisch gesehen) In-Anspruch-Nehmende bzw. die (philosophisch gesehen) unverzichtbare Frage nach Wahrheit wären damit einer Erziehung zu einer moral correctness geopfert. Formen der Individualisierung des Religiösen werden angesprochen in einigen Bemerkungen im Kapitel 1-1, als kritische Folie, auf der nachfolgend ein tragfähiger Begriff von Religion erarbeitet wird. Wenn im Verlauf weiterer Kapitel gleichwohl immer wieder für eine erfahrungsorientierte Didaktik plädiert wird, geschieht dies nicht aus modischen Anfällen, sondern im Wissen um die Gefahr der Verflüchtigung des Religiösen ins sog. subjektive Interesse. Die Verortung des Religiösen in der Erfahrung des je einzelnen ist, wie im anschließenden Abschnitt zu zeigen ist, daher auf reflektiertem Niveau zu lesen, ebenso wie die wiederholten Anregungen zu präsentativen, das Affektive betonende Unterrichtsformen nicht eine Angleichung an den modischen Trend zur Ästhetisierung ist. Wenn ich freilich ausdrücklich für eine propädeutisch sich verstehende Didaktik des Religiösen eintrete (so mit Erläuterungen in den Kapitel 1-4 sowie 5-4), schließe ich mich scheinbar dem dritten Weg an, dem Verständnis von Religion in protoreligiöser Dimension. Den aufmerksamen Lesern wird nicht entgehen, dass dies jedoch in anderer Absicht erfolgt, nicht, um Religion auf das Protoreligiöse zu reduzieren, sondern um in Konzentration auf das wesentlich Religiöse gerade Wege zu öffnen bzw. bewusst zu machen für eine konfessionell geprägte Gestaltung des Religiösen. Darum ist auch die Gefahr des dritten Weges in den nachfolgenden Überlegungen präsent. Fast wie ein Kommentar zu diesen Wegen liest sich der letzte Abschnitt von Adornos Aufsatz „Vernunft und Offenbarung“: Eine erste „schlechte Alternative“ wäre eine mit dem Offenbarungsanspruch von Religion nicht vereinbare Anpassung an die „veränderten Zeitläufe“; eben das nimmt Gestalt an im Versuch der Moralisierung des Religiösen. Die zweite wäre die Konfrontation mit unerfüllbaren Forderungen, die aber abstrakt bleiben gegenüber konkreter Wirklichkeit; das wäre eine an metaphysischer Gestalt hängende Religion. Und die „schlechterdings von allen jenen konkreten, gesellschaftlich-historisch vermittelten Bestimmungen“ absehende Wendung zur unmittelbaren Nähe zur Offenbarung karikiert Adorno als Verklärung der religiösen Kategorie, entlarvt er als „Trick des eingesperrten Bewußtseins“ – die unbestimmte und daher belanglose Verflüchtigung ins Individuelle. Diesen Wegen gegenüber beharrt Adorno auf „äußerste(r) Askese jeglichem Offenbarungsglauben gegenüber, äußerste(r) Treue zum Bilderverbot“.61 61 Adorno (1957), S. 28. Einleitung 31 Auch wenn ich diesem Ausweg einer negativen Theologie bzw. negativen Religionsphilosophie mit besonderer Sympathie begegne, warnt Adornos Einlassung vor vorschneller Vereinnahmung etwa des Symbolischen und Chiffrenförmigen im Religiösen zu didaktischen Zwecken. Wenn ich gleichwohl mehrfach (vor allem in den Kapiteln 2-2 und 4-3) für die Arbeit mit religiöser, die Wirklichkeit nicht schlicht widerspiegelnder, sondern sie kritisch durchleuchtender Sprache plädiere, so sollten die dort herausgestellten Abstraktionsleistungen stets auch als Möglichkeiten und Chancen zur Erhellung von Existenz führen, also öffnen und nicht verschließen. Das gilt auch für die geschichtsphilosophischen Andeutungen im Kapitel 4-5 sowie die Betonung der letztlichen Uneinholbarkeit religiöser Sprache im Kapitel 2-2. Theologisch artikuliert sich darin der Gedanke des eschatologischen Vorbehalts, der gegen jede Hypertrophie religiöser Bildung einzubringen ist, philosophisch das Gespür für die Grenze des Denkens gegenüber der Unvordenklichkeit des Glaubensaktes, den es zwar zu vernehmen und zu begreifen gilt, der aber letztlich einen Überschuss gegen jeden Versuch einer rationalen Erschließung zurückbehält. 32 Einleitung 2 Religion zur Erfahrung bringen: Zur Perspektive der Arbeit 2.1 Zur Vorgeschichte Im Winter 1999 wurde ich gebeten, einen längeren Beitrag zur Rolle der Religion in der Hochschullehre zu verfassen. Dabei hatte ich, parallel zu anderen an Hochschulen und Universitäten gelehrten Fächern, die Sicht der Philosophie auf Religion zu reflektieren. Dieser Beitrag stellt den Grundstock der vorliegenden Arbeit dar.62 Er gab mir Gelegenheit, konzentriert elementare Einsichten aus meiner langjährigen religionspädagogischen Tätigkeit in Unterricht und Fortbildung zusammenzubinden und zugleich positionell in der eigenen Auffassung von Philosophie festzumachen. Der ursprüngliche Titel für diesen Beitrag lautete „Religion zur Erfahrung bringen“.63 Damit verband ich die Ansicht, dass religiöses Lernen wesentlich Erfahrungslernen sein müsse. Diese Ansicht gründete sich nicht nur auf theologische Prämissen, nämlich eine anthropologisch dimensionierte Theologie, sowie daraus abgeleitete religionspädagogische Optionen, die ich in meiner vieljährigen religionsunterrichtlichen Tätigkeit geteilt habe.64 Auch in philosophiedidaktischer Perspektive lag mir daran, jegliches Missverständnis einer auf Kenntnisnahme von Fakten reduzierten Didaktik des Religiösen zu vermeiden und das Religiöse als eine originäre Dimension menschlicher Erfahrung ernst zu nehmen, bewusst um den Preis einer zumindest in ethikdidaktischen Kreisen ungewöhnlichen Position. Ich habe den Titel dieses Beitrags dann gleichwohl geändert zu „Religion zur Sprache bringen“, weil sich dies einerseits allgemeiner und zugleich spezifischer verstehen lässt, vor allem aber, weil so stärker die notwendige philosophische Distanz zum Gegenstand zum Ausdruck zu bringen ist. - Notwendig erscheint mir aus philosophischer Sicht zunächst eine Distanz zum Thema „Religion“, weil Philo62 Petermann: Religion zur Sprache bringen. Lehraufgaben im Bereich Religion aus philosophiedidaktischer Perspektive. In: D.Fauth / U. Bubenheimer (Hg.): Hochschullehre und Religion. Perspektiven unterschiedlicher Fachdisziplinen. Würzburg: Religion&Kultur 2000, S. 17-69. 63 Unter diesem Titel ist mein Beitrag (fälschlich) auch noch im Inhaltsverzeichnis des o.a. Buchs aufgeführt. 64 Vorweg ist in jedem Falle zu verweisen auf die grundlegende Arbeit von Jürgen Werbick: Glaubenlernen aus Erfahrung. München: Kösel 1989. Wie der Untertitel dieser Arbeit verdeutlicht („Grundbegriffe einer Didaktik des Religiösen“) steht auch für Werbick die didaktische Perspektive elementar mit im Horizont der Erfahrungskategorie. Eigentümlich ist es jedoch, dass der Begriff „Erfahrung“ in einschlägigen theologischen und religionspädagogischen Werken ansonsten keine herausragende Rolle spielt. Einleitung 33 sophie sich auf viele ihrer Gegenstände zwar sympathetisch einlassen kann, aber dies nie ohne die Haltung der Reflexion tun darf, die stets auch kritisch-differenzierend infrage zu stellen in der Lage ist, was das eigentlich ist, was ich gerade tue, und was überhaupt jener Gegenstand ist, auf den ich mich einlasse. Der Titel „zur Erfahrung bringen“ könnte demgegenüber verdächtigt werden, vorschnell bereits die Position des Religiösen eingenommen zu haben, als ob der Gegenstand der Auseinandersetzung als selbstverständlich bereits vorausgesetzt wäre und nur noch die Form der Aneignung zur Debatte stünde. Die Betonung der Sprache lässt stattdessen jene reflexive Haltung stärker zur Geltung kommen, da Sprache das in ihr zur Sprache Kommende oder Gebrachte stets schon vermittelt darstellt, also durch die Reflexion hindurchgegangen, insofern Sprache aber eigentlich selbst den Gegenstand der Reflexion darstellt. Das zur Sprache Gebrachte lässt sich zudem durch die Sprache selbst immer wieder der kritischen Prüfung unterziehen. Über die Sprache wird mithin eine gegenüber der Erfahrung, aus philosophischer Sicht hilfreich, stärker relativ-kritische Haltung eingenommen. Religion zur Sprache zu bringen, ist andererseits auch ein sehr viel gezielterer konzentrierterer und, zumindest aus philosophischer Sicht, sachangemessenerer Zugang zu Religion. Wenn wir einmal davon ausgehen, dass Denken, wenn es philosophischen, das heißt zu kritischer Auseinandersetzung führenden Ansprüchen genügen will, stets auch sich äußern muss, richtet sich philosophisches Interesse an irgendeinem Gegenstand, so auch an der Religion, in erster Linie darauf, was in sprachlicher Gestalt vorliegt und in welcher Form sich dies wiederum zur Sprache bringen lässt. Durch die Konzentration auf die Sprache kann schließlich auch der Bereich des religiösen Gefühls, das ja gerade, wenn es nicht geäußert wird, sich jeder Beurteilung von außen zu entziehen droht, aus dem Raum des Esoterischen herausgeholt und, sofern es sprachlich geäußert wird, erschließend zum Gegenstand philosophischer Deutung gemacht werden. Diese kritisch-reflexive Haltung gebe ich mit der vorliegenden Arbeit keineswegs auf. Auch aus theologischer Position, die ich hier bewusst teile, muss der Religionsunterricht, auch der konfessionelle Religionsunterricht – das wird im Verlauf der Arbeit genauer zu begründen sein – jene intellektuelle Distanz wahren, die mich seinerzeit bewogen hat, die philosophische Reflexion auf das Religiöse als notwendiges Element von Religionsunterricht zu behaupten, will der Religionsunterricht nicht sein eigentümliches Profil eines im öffentlichen Schulsystem verankerten allgemeinen Bildungsanspruchs verlieren. Gleichwohl erscheint mir aus der in der vorliegenden Arbeit einzunehmenden religionspädagogischen Perspektive der Titel „zur Erfahrung bringen“ der eher 34 Einleitung geeignete, wenn denn die Kategorie der Erfahrung in einem differenzierten kritischen Sinne verstanden wird. 2.2 Differenzierungen in der Kategorie der Erfahrung Nun ist es nicht Ziel der vorliegende Arbeit, den Begriff der Erfahrung selbst systematisch auszuloten und einer differenzierten Analyse zu unterziehen. Und doch dient er als heuristischer Rahmen- oder Leitbegriff. Darum soll zumindest skizzenhaft angedeutet werden, wie ich den Begriff „Erfahrung“ verstehe, um die Sichtweise der Arbeit zu klären wie auch um Missverständnisse auszuschalten. Die Kategorie der Erfahrung ist für mich in fünffacher Hinsicht von Bedeutung: (1) als Ebene von Unmittelbarkeit, (2) als Ebene sinnlicher Zugänge, (3) als Ebene von Subjektivität, (4) als Ebene von Prozessualität, (5) als Ebene von Tiefe. Die Ebenen gilt es mit Verweisen auf einschlägige philosophische Quellentexte kurz zu erläutern. Zugleich sind Hinweise zu geben, wo und wie unter der Perspektive von Erfahrung das in den einzelnen Kapiteln Thematisierte zu lesen ist. Insofern geht es nachfolgend um die perspektivische Klammer der Arbeit, in Ergänzung zur systematischen, die für den Punkt (1) der Einleitung tragend war. ad (1) Erfahrung als Unmittelbarkeit – die propädeutische Zielsetzung Wenn wir auf einer ersten, noch völlig undifferenzierten, ganz und gar unmittelbaren Weise auf etwas aufmerksam werden, und wenn wir dies in einen angemessenen Ausdruck fassen sollten, könnte uns mit gutem Grund der Ausdruck einfallen „ich habe eine Erfahrung gemacht“ oder „ich habe etwas erfahren“. Eine Grundlage hätte eine solche Verwendung des Wortes „Erfahrung“ in Berufung auf John Locke. In den berühmten Anfangspassagen des zweiten Buchs seines „Essay concerning Human Understanding“ von 1690 geht er davon aus, dass wir Menschen, genauer unser Bewusstsein anfänglich wie ein weißes Blatt Papier aufzufassen seien. Und auf die scheinbar simple Frage, woher wir dann all den Stoff erhielten, den unser Bewusstsein, unser Denken und Erkennen ständig bewegt, hat Locke eine ebenso simple Antwort bereit: „in one word, from experience“, also aus der Erfahrung.65 Erfahrung gilt hier in einer sehr weiten Bedeutung, und eben dies meint „experience“, als Nährboden und Grundlage, als Erfahrungsraum für alle Verstandes65 Locke: Essay conc. Hum. Underst. (1690), II.1, § 2. Einleitung 35 vollzüge, alle Erkenntnis, ja alle Bewusstseinstätigkeiten. Um eine solche Bedeutung von „Erfahrung“ anzuerkennen, müssen wir den weiteren Schritt zum erkenntnistheoretischen Empirismus Lockes, dass es gar keine andere Quelle und keinen anderen Grund unserer Erkenntnis gebe als die Erfahrung, nicht mitmachen.66 In einer weiten Bedeutung von Erfahrung als erster und grundlegender Ebene, in der irgendetwas „unsere Sinne rühren und … Vorstellungen bewirken“ kann, meint auch Kant fast programmatisch zu Beginn der Einleitung seiner „Kritik der reinen Vernunft“: „Dass alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel.“67 Eben dieser ersten und grundlegenden Ebene der Begegnung mit Etwas gilt mein erstes durch den Begriff der Erfahrung angezeigte Interesse. Wenn in der vorliegenden Arbeit thematisiert werden soll, dass und wie Religion „zur Erfahrung“ gebracht werde, könnte man zunächst auch davon reden, Religion sei „in“ Erfahrung zu bringen. So würde noch deutlicher, dass es mir auf einer ersten Ebene darauf ankommt, Religion ohne alle Voraussetzungen, in aller Unmittelbarkeit, also in einem allen anderen vermittelten Weisen der Auseinandersetzung vorausliegenden „Rückgang auf die Welt der Erfahrung“ (Husserl)68 zu thematisieren. In diesem Verständnis von „experience“ ist der Begriff der Erfahrung grundlegender oder eben elementarer als der der Sprache. Das, was mir begegnet, zur Sprache zu bringen, setzt bereits Auseinandersetzung mit dem Gegenstand der Begegnung voraus, ein, wie zu zeigen sein wird, notwendiges Element auch jeder Erfahrungskunde, aber doch auch erst auf einer grundlegenden Erfahrung aufbauend, sie voraussetzend und sie auch nie ganz einholend und daher nie ersetzend. Insofern ist der Zugang zu Religion über Erfahrung elementarer und auch weiter als der über Sprache. Religion in dieser Perspektive zum Thema zu machen, hat propädeutischen Anspruch: Zur Erfahrung gebracht werden soll, was eigentlich Religion ist. Die von mir im Laufe der Arbeit mehrfach (vgl. insbes. Kap. 1-4 und 5-4) geforderte religiöse Propädeutik ist daher nicht zu verwechseln mit der Idee, zum Inhalt religiöser Bildung lediglich einen von aller konfessionellen und historischen gereinigten und insofern profillosen und unverbindlichen „Kern“ des Religiösen zu machen.69 66 Zur Kritik des Empirismus vgl. das unten am Ende von Punkt (3) kurz erläuterte Kant-Zitat. 67 Kant (1787): Kritik der reinen Vernunft. Einl. B 1. 68 Husserl (1938): Erfahrung und Urteil § 10. 69 Mehr oder weniger explizit wird mit diesem Argument im Bischofspapier zum Religionsunterricht (Die Deutschen Bischöfe 1996) ohne weitere Erläuterung der propädeutische Anspruch von Religionsunterricht vom Tisch gefegt. 36 Einleitung Vielmehr geht es darum, zu elementarisieren und gerade das Eigentümliche des Religiösen erfahrbar zu machen. Interessant ist es von daher, ohne einen Vorbegriff irgendwie religiös zu verstehende Phänomene in den Blick zu nehmen, nicht nur um in ihrer Kritik das eigentümlich Religiöse herauszufiltern, sondern auch um ungewohnte Räume wahrzunehmen, in denen sich religiöse Erfahrung heute artikuliert. Das Kapitel 1-1 bietet dazu einige Hinweise. Eine ungewohnte, ganz in elementaren Erfahrungen zu verortende Begegnung mit dem Religiösen wird auch im Kapitel 4-1 zu Bilderbüchern entfaltet, insbesondere im ersten Teil. Und die Konzentration auf Elementares wird auch in der Auseinandersetzung mit Halbfas in den Kapiteln 5-2 und 5-3 als die Pointe herausgestellt. Das thematische Stichwort „Einwurzelung“ deutet dies an. ad (2) Erfahrung als Ebene des Sinnlichen - zur präsentativen Zielsetzung Die Frage nach der unmittelbarsten Ebene von Wissen, Erkenntnis oder einfach Begegnung mit irgendetwas kann auch anders beantwortet werden. Wenn ich weniger nach Erfahrung überhaupt frage als einem noch undifferenzierten Erfahrungsraum, sondern danach, wie hier Erfahrung zu unserem Bewusstsein gelangt, verweist Locke auf etwas anderes, nämlich auf „unsere Sinne (senses), indem sie mit einzelnen sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen in Berührung treten.“70 - Aus dem gleichen Grund antwortet Hegel in seiner „Phänomenologie“ auf die Frage nach dem „Wissen, welches zuerst oder unmittelbar unser Gegenstand ist“, dies müsse eines sein, welches seinerseits ganz „Wissen des Unmittelbaren oder Seienden ist“ und eines, demgegenüber auch wir „uns ebenso unmittelbar und aufnehmend … verhalten“. Und das ist für Hegel die sinnliche Gewissheit; denn „der konkrete Inhalt der sinnlichen Gewißheit läßt sie unmittelbar als die reichste Erkenntnis … erscheinen.“71 Hier interessiert nicht weiter die herbe Kritik, mit der Hegel die sinnliche Gewissheit als die zugleich „abstrakteste und ärmste Wahrheit“ herausarbeitet.72 Vielmehr geht es um die Aufmerksamkeit für das auch von Hegel letztlich nicht bestrittene erkenntnistheoretische Prinzip des Vorrangs der Sinnlichkeit vor dem Intellekt.73 Mit ihm beginnt bereits Aristoteles das erste Buch seiner „Metaphysik“: Wenn „alle 70 Locke (1690), II.1, § 3. 71 Hegel (1807), S. 82. 72 Ebd. 73 So Thomas unter Bezug auf Aristoteles: „quod est in intellectu nostro prius in sensu fuerit“ (Qu.disp.de Veritate II,3,19). Einleitung 37 Menschen von Natur aus nach Wissen streben“, dann gilt als ein erstes „deutliches Zeichen dafür die Hochschätzung der Sinneswahrnehmungen.“74 Die Ebene der sinnlichen Wahrnehmung also assoziieren wir nicht zu Unrecht, wenn wir das Wort „Erfahrung“ hören und genauer fragen, wie zuerst wir etwas erfahren. In Bezug auf die Religion interessiert mich diese Ebene insofern, als sie die Gefahr einer Reduktion auf das Intellektuelle, Reflektierende, Logische vermeidet, die die Perspektive, Religion zur Sprache zu bringen, nahe legen könnte. Demgegenüber ist ein mit Sinnlichkeit konnotierter Erfahrungsbegriff, Erfahrung verstanden als Sensualität, weiter und realisiert, dass es eine ganze Reihe auch nichtsprachlicher oder vorsprachlicher Zugänge (jedenfalls im Sinne von Sprache als logischem System) zum Phänomen des Religiösen gibt, die das Religiöse originär zur Erfahrung zu bringen in der Lage sind, insbesondere symbolhafte Zeichen und Handlungen und natürlich Bilder. Ihnen gilt in der vorliegenden Arbeit ein besonderes Interesse. Auch die Sprache selbst, die zweifelsohne in der Religion eine besondere und elementare Bedeutung hat, hat im übrigen in all ihren Formen, im unmittelbaren Anruf, im verdichtenden Weitererzählen oder im gebetsartigen Bekenntnis immer auch sinnlichen Charakter, nicht allein aufgrund der vielen Bilder. Religion zur Erfahrung zu bringen, das klammert mithin die Konzentration auf Sprache keineswegs aus, sondern berücksichtigt das besondere Gewicht gerade ihres religiösen Verwendungskontextes. Die Arbeit mit ästhetischen, affektiven und auch handlungsorientierten Zugängen ist für die Religionsdidaktik nichts Neues. Neuere philosophiedidaktische Überlegungen zu Möglichkeiten einer im Unterschied zu einem eher kognitiv-intellektuell gearteten, diskursiven Zugang „präsentativ“ zu nennenden Entfaltung eines Themas können aber auch hier neue Akzente setzen. Sie berufen sich auf den Ansatz von Ernst Cassirer, der in den letzten Jahren eine kleine Renaissance erfahren konnte.75 Cassirer hat überzeugend deutlich gemacht, dass Bilder zunächst keinen gegenüber der Logik oder der Naturwissenschaft geringeren Status der Wirklichkeitsbeschreibung haben, denn auch jene sind wie diese symbolische Formen der Auseinandersetzung mit Wirklichkeit, also nie ein direktes, gleichsam unvermitteltes Abbild von dem, was ist, sondern ein in bestimmten Zeichen und Chiffren sich artikulierender Versuch, das, was ist, in eine uns fassbare, nämlich verdichtete (d.i. die Übersetzung des griechischen Worts „symbolische“) Form zu bringen. Gegenüber anderen symbolischen Formen besteht der eigentümliche Wert von Bildern (und auch mythischen Erzählungen) darin, Wirklichkeit auf einmal und als Ganze, integral und nicht diffe74 Aristoteles: Metaphysik 980a. 75 Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. 1929. Zu der neueren Rezeption in der Philosophiedidaktik vgl. Langer (1984), S. Nordhofen (1998), Petermann (2000a). 38 Einleitung renziert, öffnend und nicht definierend, eben präsentativ in unmittelbar gestalthaften Eindrücken und nicht diskursiv in zerlegender Form zum Ausdruck zu bringen. Geschriebenes setzt stets eine Abstraktion von unmittelbarer Wirklichkeit voraus. Das gilt auch für das, was „lediglich“ ins Bild gesetzt wird. Die Abstraktionsleistung des Bildes bietet aber, da sie unmittelbar das Ganze ihres Sinns und nicht nur Teile ihrer Bedeutung präsentiert und insofern ihren lebendigen Ursprung unmittelbar vergegenwärtigt, eine Folie, in der Betrachtung Erinnerungen zu verlebendigen, Phantasien für neue Lebensperspektiven aufzubieten und damit Gegenwärtiges einer aufbrechenden Dynamik zu unterwerfen. Ein Bild behält deswegen auch stets einen Überschuss gegen seine Deutung zurück. Für Sprache gilt das, sofern sie in der Lyrik offen, in der Poetik mehr oder weniger einleuchtend, mit Sprachbildern arbeitet. Das Interesse an sinnlicher Erfahrung ist also nicht eines an der Armut größter Unmittelbarkeit, sondern am Reichtum des noch nicht Vermittelten, wenn er denn als Reichtum zur Erfahrung zu kommen vermag, also als Verdichtung von Erfahrungen, die in der präsentativen Gestalt von Bildern vielleicht unmittelbarer zu erfahren sind als über die abstraktere Sprache. Im Horizont dieser Überlegungen zu einer als Sensualität oder auch Ästhetik verstandenen Erfahrung stelle ich in dieser Arbeit einige unterschiedliche Modelle vor. So wird beispielsweise in den Kapiteln 4-2 und 4-5 mit einem Bild als Impuls gearbeitet. Entscheidend ist dabei, dass es sich nicht um solche Impulse handelt, die im weiteren Unterrichtsverlauf keine Rolle mehr spielen; vielmehr tragen sie infolge der Dichte des in ihnen Repräsentierten weiter, weil auch weitere Schattierungen des Themas mit ihnen sich zur Sprache bringen lassen. Dieser Gedanke prägt natürlich auch das spezielle Kapitel 4-1 zu Bilderbüchern. Präsentativ lässt sich freilich nicht nur mit Bildern arbeiten. Dass auch Texte sich über einen ästhetischen Zugang erschließen lassen, wird in Kapitel 4-3 erläutert. ad (3) Erfahrung als Ebene des Subjektiven - die autodidaktische Zielsetzung Mit der Ebene des Subjektiven sind wir vielleicht nicht bei der entscheidenden, aber bei der sensibelsten Dimension im Begriff der Erfahrung angelangt. Um gleich vorweg zwei Missverständnisse abzuwehren: Mit der Betonung der Erfahrung geht es weder darum, das Religiöse in subjektive Erfahrung aufzulösen, noch geht es darum, Religiosität der subjektiven Erfahrung irgendwie beizubringen. Beide Missverständnisse arbeiten, wie im Folgepunkt kurz zu zeigen sein wird, mit einem unreflektierten Erfahrungsbegriff. In der Betonung des Subjektiven geht es vielmehr um die Verortung dessen, was es zu erfahren gilt, also der Religion, in der subjek- Einleitung 39 tiven und je persönlichen Erfahrung als einer notwendigen und unverzichtbaren Voraussetzung, soll es überhaupt Sinn machen, Religion zur Erfahrung zu bringen. Eine solche Verortung der Erfahrung im Subjektiven findet ihre philosophische Begründung wiederum bei Aristoteles.76 Mit „Erfahrung“ ist nämlich zumindest bei Aristoteles auch eine besondere Stufe und Ebene im allgemeinen Raum der Erfahrung bzw. des Wissens gemeint, und es ist nicht die erste und grundlegende. Die ist die sinnliche Wahrnehmung (s.o.). Liefert diese bereits Unterscheidungen, gelingt es der sog. Erinnerung, einfachste Kenntnisse auch zu lernen und sie verständig einzuordnen. Als spezifisch menschliches Merkmal des Wissens macht Aristoteles dann als dritte Stufe die Erfahrung, die empeiria aus. Sie entsteht freilich erst, meint Aristoteles; und zwar entsteht sie aus vielen Erinnerungen, die das Vermögen (dynamis) einer einzigen Erfahrung bewirken. Das liefert uns den entscheidenden Hinweis für den Charakter von Empeiria: Erfahrung als Empeiria ist ein synthetisches, vereinigendes Vermögen. Die Einheitsleistung entsteht zwar, wie Aristoteles meint, aus dem Vielen, doch das Vermögen zur Einheit, also die Einheitsleistung selbst, kann nur im Subjekt der Erfahrung, dem erfahrenden Mensch liegen. Denn wenn auch die Einheitsleistung der Erfahrung nicht die Qualität von Allgemeinheit erlangt (das ist erst der technê möglich), so doch das Wissen des Einzelnen nach seiner Besonderheit. Das aber setzt die bewusste Besonderung des Gegenstands der Erfahrung als eben dieses von anderen unterschiedenen Einzelnen voraus. Und darum entsteht durch die Erfahrung ihr Gegenstand gewissermaßen als ein neuer, wie Hegel meint. Für Hegel ist die Erfahrung nicht schlichte Wahrnehmung oder Rezeption, sondern die Durchdringung des Wahrgenommenen, wir können sagen „Perzeption“, in Hegels eigener Begrifflichkeit „diese dialektische Bewegung, welche das Bewusstsein [Hervorh. H.B.P.] an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen als an seinem Gegenstand ausübt“, und aus welcher „insofern ihm der neue wahre Gegenstand daraus entspringt.“77 Vereinfacht gesagt: Erfahrung ist das, was ich aus dem Erfahrenen für mich zur Erfahrung gemacht habe. Ganz so ist auch die Pointe von Kants Erkenntnistheorie zu verstehen, die wir vorhin nur vorläufig zitiert haben; Kant fährt nämlich fort (mit einigen erläuternden Kommentaren meinerseits): „Wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung [E. hier im Sinne des unter (a) beschriebenen allgemeinen Erfahrungsraums, also als experience]. Denn es könnte wohl sein, daß selbst unsere Erfahrungserkenntnis [mit diesem Kunstwort ist eben die jetzt thematische Erfahrung als subjektive, die empeiria, gemeint] ein Zusammengesetztes aus dem sei, was wir durch Eindrücke 76 Im folgenden sind die entscheidenden begrifflichen Qualifikationen genannt, die Aristoteles vornimmt in Metaphysik 980b und 981a. 77 Hegel: Phänomenologie (1807), S. 78. 40 Einleitung empfangen, und dem, was unser eigenes Erkenntnisvermögen … aus sich selbst hergibt.“78 Diese Zusammensetzung aber kommt nicht einfach zustande, sondern wird von Kant im weiteren Verlauf als synthetische Leistung des erfahrenden Subjekts herausgearbeitet. Unter Voraussetzung dieser begrifflichen Differenzierung ist dann verständlicher, um was es geht, wenn Religion zur Erfahrung gebracht werden soll: Damit Religion zur Erfahrung werden kann, muss ich selbst, der ich mich durch eine religiöse Erfahrung angesprochen fühle, diese Erfahrung zu meiner machen. Das heißt noch nicht, dass dies zu existentiellen, mein Leben bestimmenden Konsequenzen führt; aber es heißt, dass dies nur möglich ist, wenn ich selbst nicht nur angesprochen bin, sondern auch mich angesprochen fühle und überhaupt dann erst mich damit auch auseinandersetzen kann. Dass die Einbindung des subjektiven Interesses eine notwendige Bedingung ist, damit Religion tragfähig vermittelt werden kann, gehört (inzwischen) zu religionspädagogischen Selbstverständlichkeiten.79 In den Kapiteln 1-3 und 2-1 erfährt dies im Kontext der vorliegenden Arbeit eine auch theoretische Begründung, insofern die fides qua und nicht die fides quae als eigentlicher und wesentlicher Gegenstand religiöser Bildung herausgestellt wird. Konkrete unterrichtliche Anwendung erfährt dies in der Skizze 4-2, die von einer existentiellen Erfahrung ausgehend Religiosität als elementare Dimension von Menschsein zu erschließen versucht. In anderer Weise hebt das Kapitel 4-4 zur Moralerziehung ganz auf den subjektiven Faktor ab als notwendiger Bedingung gelingender ethischer Bildung. ad (4) Erfahrung als Prozess der Er-Fahrung - die reflexive Zielsetzung Eng mit der eben erläuterten Ebene hängt die nächste zusammen. Im Hegel-Zitat war sie bereits klar ausgesprochen: Erfahrung ist nur Erfahrung, wenn sie eine „Bewegung“ beinhaltet. In dieser begrifflichen Erläuterung ist festgehalten, was das Wort „Erfahrung“ auch etymologisch birgt: Es geht um ein Fahren, einen Weg, den ich gegangen bin, auf dem ich einiges erprobt habe, so dass ich nun erprobt oder er-fahren bin (das meint auch das griechische „em-peiros“). Erfahrung bestätigt sich somit als etwas, das aus vielem sich erst zusammensetzt. Der Prozess dieser 78 Kant: Kritik der reinen Vernunft (1787), Einl. B 1. 79 Dass die Einbindung des Subjektiven auch biblisch elementar ist, mag an dieser Stelle nur kurz per Fußnote erinnert werden. Warum sonst würde Abraham bei der Bindung bzw. Entbindung Jizchaks jeweils zweimal mit Namen angesprochen (Gen 22,1.11), auch Mose oder Samuel bei ihrer Berufung Ex 3,4 und 1 Sam 3,10? Und auch der Besessene von Gerasa oder die blutflüssige Frau werden persönlich von Jesus angesprochen, damit sie Heilung erfahren (Mk 5,9 und 31). Einleitung 41 Bewegung ist freilich, so jedenfalls Hegel, kein willkürlicher, als ob irgendwelche Eindrücke irgendwie zusammengesetzt würden, sondern ein ganz bestimmte Elemente einbeziehender. Im Fortgang der zitierten Passage der „Phänomenologie“ wendet sich Hegel ausdrücklich gegen einen Erfahrungsbegriff, der sich bloß aus der Aneinanderreihung von unterschiedlichem, vielleicht auch gegensätzlichem zufällig Aufgefasstem zusammensetzte. Mit der bekannten Differenzierung der Elemente des Ansich-Seins und des Für-es (=das Bewusstsein)-Seins dieses Ansich erläutert er den vorhin zitierten Satz, wonach es bei der Erfahrung um eine Bewegung gehe, die das Bewusstsein „sowohl an seinem Wissen als an seinem Gegenstande ausübt.“ Mithin bleibt durch diesen Erfahrungsprozess nicht nur der Gegenstand nicht der, der er unmittelbar zu sein schien, auch das Bewusstsein verändert sich. Um eine solchermaßen komplexe Form von Erfahrung aber geht es auch, wenn davon zu sprechen ist, Religion werde zur Erfahrung gebracht. In diesem Lichte stellt sich auch die zuvor erläuterte Ebene des Subjektiven neu dar. Als absurd sind nun zwei beliebte Einwendungen gegen eine erfahrungsdimensionierte Religionspädagogik zurückzuweisen. Die eine meint, es sei überflüssig, ja häretisch, Religion zur Erfahrung bringen zu wollen; denn stets gehe einem solchem Ansinnen eine je schon erfolgte religiöse Erfahrung voraus, die allenfalls zur Sprache zu bringen sei, im Bildungsprozess aber nicht erzeugt werden könne. Dieser Einwand dient nicht selten eher sog. konservativen Kreisen als Argument zur Beibehaltung des konfessionellen Religionsunterrichts. Um Erfahrungsprozesse könne und müsse es im Religionsunterricht natürlich gehen, aber was da zur Erfahrung gebracht würde, sei allenfalls ein Durchsprechen und Verinnerlichen von etwas, was schon vorhanden sei. Die bildende Kraft des Religionsunterrichts beschränkt sich dann darauf, Kinder und Jugendliche in Religion (hin-)einzubilden oder gar einzubinden. Nicht ernst genug genommen wird von diesem Einwand, dass Erziehung nicht nur in Korrespondenz zum eigenen Leben zu gestalten ist, sondern sich an ihm auch bricht.80 80 Konkret und explizit scheint mir diese Position eines auf (Hin)Einbildung des Religiösen reduzierten Religionsunterrichts heute kaum noch vertreten zu werden. Wer allerdings in meiner Kritik auch eine Kritik an manchen Passagen der bischöflichen Schrift zum Religionsunterricht (Die deutschen Bischöfe 1996) herausliest, liest richtig: In der Tat meine ich, dass es dieser Schrift gerade in ihrem ersten bildungstheoretischen Teil nicht wirklich ernst ist mit dem Stichwort Erfahrung (etwa S. 28 od. 42), vor allem mit einem Satz wie diesem: „Besonders religiöse Erziehung macht nur Sinn in Korrespondenz zum eigenen Leben des jungen Menschen“ (S. 28). Ansonsten gäbe es keine Argumente, sich so vehement gegen einen (auch) propädeutischen Anspruch von Religionsunterricht (S. 18) und vor allem gegen einen von den Kirchen gemeinsam verantworteten Religionsunterricht (S. 79f.) zur Wehr zu setzen. Diese Kritik wird, das sollte betont werden, hier nicht in Fixierung auf bestimmte kirchliche Verlautbarungen geäußert, sondern um auf die Gefahr aufmerksam zu machen, mit Begriffen wie „Erfahrung“ tendenziell phrasenhaft und insofern verschließend statt öffnend zu arbeiten. 42 Einleitung Der andere Einwand setzt dagegen bewusst auf Konfrontation gegen einen (angeblichen) Ausverkauf des Religionsunterrichts durch das sog. „Erfahrungsdogma“. Wer so redet und schreibt, weiß nicht um den Inhalt des so Gesagten und Geschriebenen, hat ihn zumindest nicht durchdacht. Natürlich muss ein rein an Schülerinteressen orientierter Religionsunterricht seine Sache verfehlen, weil er sich in einer Widerspiegelung von ohnehin Vorhandenem verflüchtigen würde. Ein solcher Unterricht hat aber rein gar nichts mit Erfahrungskunde zu tun, ist es doch, wie eben erläutert, ein wesentliches Element der Erfahrung, in Bildungsprozesse zu verwickeln, und das heißt in bezug auf Religion, nicht nur die religiöse Botschaft an der sog. Erfahrungswelt Jugendlicher zu brechen, sondern auch umgekehrt die Erfahrungswelt (die ja in Wirklichkeit noch gar nicht zur Erfahrung gekommen ist, sondern lediglich aufgefasst und wiedergegeben ist) zu brechen an dem in ihr zu erfahrenen Gegenstand des Religiösen.81 Ich meine, ganz so sind auch die programmatischen Einlassungen zu einem erfahrungsorientierten Religionsunterricht zu verstehen. So spricht etwa Jürgen Werbick ganz bewusst von einem Verhältnis von „menschlichen Lern- und Reifungsprozessen“ auf der einen und Glaubensprozessen auf der anderen Seite, um das sensible Feld von Glaubenlernen als erfahrungsdimensionierten Lernbewegungen zu beschreiben.82 Am überzeugendsten ist der Sinn einer erfahrungsdimensionierten Religionspädagogik nach wie vor in der berühmten Korrelationsformel des sog. Synodenbeschlusses auf den Begriff gebracht worden: „Der Glaube soll im Kontext des Lebens vollziehbar, und das Leben soll im Lichte des Glaubens verstehbar werden.“83 Korrelation ist hier ernst zu nehmen als nicht bloß oberflächlicher Bezug von Glaube und Leben aufeinander, sondern als eine in einem theologischen Menschenbild und einem anthropologischen Glaubensverständnis begründete gegenseitige Ausleuchtung, so dass das eine nicht ist, was es ist, ohne Einbindung in das jeweils andere. Die Worte „vollziehbar“ und „verstehbar“ deuten aber schon darauf hin, dass dies nicht statisch gedacht werden kann, sondern nur als ständiger Prozess erfahrbar wird. Mit dem Stichwort der Erfahrung als Prozess lässt sich sicher auch der religionspädagogische Ansatz von Hubertus Halbfas charakterisieren. In grundsätzlich 81 Auch hier irrt nicht, wer hier eine deutliche Kritik an jüngeren Einlassung von Thomas Ruster gegen sog. Erfahrungslernen heraus liest. Es reicht eben nicht zu sagen, dass „der Erfahrungshintergrund der Schüler im Unterricht“ ohnehin zur Sprache käme, weil es „ein unvermitteltes Lernen“ gar nicht gebe (Halbfas/Ruster 2001, S. 27). Der sog. Erfahrungshintergrund ist im Religionsunterricht nicht irgendein zufälliger, sondern der Horizont junger Menschen, in dem allein religiöse Erfahrung für den einzelnen wirklich zur Erfahrung werden kann. 82 Werbick: Glaubenlernen aus Erfahrung (1989), S. 29. 83 Synode (1974), Nr. 2.4.2. Einleitung 43 sympathetischer Haltung sind dem zwei Kapitel meiner Arbeit gewidmet, das Kapitel 5-1 in Konzentration auf die Religionsbuchreihe von Halbfas, das Kapitel 5-2 zur Auslotung eines entsprechenden bildungsplankonformen unterrichtlichen Einsatzes. Einen umfassenden Beleg für das Konzept von Erfahrungslernen stellt sicher das Kapitel 3 dar: Wie Jugendliche und Kinder in theologische Gespräche zu verwickeln sind und durch diese Gespräche Erfahrungsprozesse machen, das wird hier nicht nur ausführlich dokumentiert, sondern auch kommentiert. Einen besonderen Hinweis verdient an dieser Stelle auch das Kapitel 4-3, das das Gebet als einen Weg der Erfahrung von Religiosität und Glauben verdeutlicht. Wie oben zur Ebene (4) erläutert, beinhaltet Erfahrung für Aristoteles noch nicht die Kraft des Allgemeinen. Das setzte ein gegenüber dem Fluss der Erfahrung intensiveres Vermögen der Reflexion auch auf die Erfahrung voraus. Gleichwohl beinhaltet Erfahrung zumindest im Horizont von Prozessualität schon mehr als reines Auffassen; im Prozess der Erfahrung wird vielmehr das zur Erfahrung Gebrachte auch durchdrungen, also nicht nur rezipiert, sondern auch perzipiert. Dieser Hinweis ist wichtig für den speziell schulischen Rahmen religiösen Lernens. In einen Prozess wird auch der Glaubende verwickelt, wenn er in kultischen Akten sich stets neu und ritualisiert sich des Glaubens nicht nur vergewissert, sondern ihn darin auch zur Entfaltung bringt. Das kann nicht Anliegen eines schulischen Unterrichts in Religion sein. Die Durchdringung aber der Prozesse, die Religiosität ausmachen, sind Voraussetzungen auch dafür, sollen im Religionsunterricht Religion und Glaube reflektiert werden. Diese reflexive Zielsetzung steht daher zumindest im Sichtkreis der Erfahrung. Vor allem in den Kapiteln 2-1 und 4-3 bildet dieser Gedanke einen wichtigen Horizont, im Kapitel 1-3 findet sich dazu die entsprechende religionsphilosophische Begründung. ad (5) Erfahrung von Tiefe - zur religiösen Zielsetzung Die letzte Ebene des Prinzips Erfahrung nimmt ihren Ausgangspunkt von dem dialektischen Charakter der vorangehenden Ebene: Wenn Erfahrung ein Prozess ist, der sich wesentlich aus den in ihm enthaltenen Momenten zusammensetzt, führt die Erfahrung denjenigen, der sie macht, stets auch über sich selbst hinaus bzw. immer näher zu einer ohne die Erfahrung nicht bewussten Tiefe. Das ist zunächst noch gar nicht religiös zu verstehen, sondern ganz im Sinne Hegels, für den die Erfahrung des Bewusstseins es letztlich „zu seiner wahren Existenz forttreibt“, indem nämlich die einzelnen Gestalten des Erfahrenen sich als Momente seiner selbst erweisen.84 84 Hegel: Phänomenologie (1807), S. 80. 44 Einleitung Übertragen auf unsere Thematik, Religion zur Erfahrung zu bringen, meint das ein doppeltes: Mit der Kategorie der Erfahrung soll angezeigt werden, dass zum einen Religion nicht als irgendetwas Beliebiges zur Kenntnis zu bringen ist, auf das man sich einlassen könnte oder auch nicht, sondern als etwas, dass uns als ErfahrungsWesen betrifft. Wenn Ernst Bloch in seiner Tübinger Einleitung in die Philosophie davon spricht, dass wir nur sind, was wir sind, indem wir werden, und dass wir uns dazu lernend aus uns heraus in einem Außen uns bewegen müssen, „so erst erfahrend und so erst auch, mittels des Draußen, das eigene Innen selber erfahrend“, dann entwirft er damit einen allgemeinen anthropologischen Horizont, den wir hier auf die Erfahrung des Religiösen anwenden können: Auch das Religiöse gilt es als etwas zu erfahren, das den Menschen auf einen solchen Weg führt, „damit er überhaupt nur wieder auf sich zurückkommen könne und so bei sich gerade die Tiefe finde, die nicht dazu da ist, daß sie in sich, ungeäußert bliebe.“85 Dass durch die Erfahrung von Religion wir zum Tiefsten unserer selbst geführt werden, hat seinen Grund aber auch darin, dass in diesem Erfahrungsprozess auch die Religion als Gegenstand unserer Erfahrung als das, was sie wesentlich ist, zur Erfahrung kommen kann. Religion kann aber nicht zur Erfahrung gelangen, wenn ich nur in oberflächlicher Weise von ihr Kenntnis nehme oder auch nur ihre äußeren Fassaden in Erfahrung bringe. Zur Erfahrung kann sie nur gelangen, wenn sie in dem, was sie existentiell ist, als eine originäre Dimension unserer Erfahrung überhaupt erfahren werden kann. Aus diesem Grunde erhalten Konzepte der Reduzierung von Unterricht zu religiösen Themen auf reine Religionskunde in der vorliegenden Arbeit eine klare Absage. Das wird begründet einerseits in dem religionsphilosophischen Kapitel 1-3 durch einen differenzierten Begriff von Religion, andererseits im Kapitel 1-2 durch ein entsprechendes Bildungskonzept. Zu konkreten Konsequenzen führt dies in der in Kapitel 5-3 vorgetragenen Kritik des LER-Konzepts sowie in dem eigenen in 5-4 vorgestellten Konzepts eines Unterrichts in Religion für alle. Konkrete Erfahrungen von existentieller Tiefe aber sollen zur Erfahrung gebracht werden durch Impulse in den Kapiteln 4-1 durch das Jona-Buch, 4-2 mit der Gestalt des Simon Petrus und 4-3 durch den Ausschnitt aus Psalm 119 und die Konfrontation mit den Confessiones des Augustinus. Angst vor einer übermächtigenden Einbindung in das Religiöse braucht deswegen niemand zu haben. Der traditionelle konfessionelle Unterricht hütet sich ohnehin davor, Glaubensunterweisung als direktes Ziel des Unterrichts zu formulieren. Im Horizont steht hier der je persönliche Glaube gleichwohl, weil der Religionsunterricht zumindest Wege zu ebnen hat für eine je persönliche Glaubens85 Bloch (1963), S. 11. Einleitung 45 entscheidung.86 Dieser Verantwortung darf und braucht sich freilich auch der Ethikunterricht nicht entziehen, wenn er denn Ernst damit macht, dass es beim Thema Religion um etwas uns existentiell Beanspruchendes geht. Dass in diesem Sinne Orientierung im bzw. für das Religiöse in gleichem Maße eine Aufgabe des Religions- wie des Ethikunterrichts ist, das wird am Ende des Kapitels 1-4 erläutert wie auch in den Ausführungen zur Konfessionalität im Kapitel 5-4. 86 Ausdrücklich in Erinnerung zu rufen ist in diesem Zusammenhang die Ziffer 2.5.1 des sog. Synodenbeschlusses (Synode 1974). Dass der Religionsunterricht „zu persönlicher Entscheidung in Auseinandersetzung mit Konfessionen und Religionen, mit Weltanschauungen und Ideologien“ befähige, diese Zielsetzung kann natürlich auch für den Ethikunterricht gelten. Wie sehr dies eine Orientierungsleistung beinhaltet, verdeutlicht die unmittelbar zuvor stehende Passage, die freilich in manchen späteren Bildungsplänen nur verkürzt wiedergegeben worden ist: „Dem gläubigen Schüler hilft der Religionsunterricht, sich bewußter für diesen Glauben zu entscheiden und damit der Gefahr religiöser Unreife oder Gleichgültigkeit zu entgehen. Dem suchenden oder im Glauben angefochtenen Schüler bietet er die Möglichkeit, die Antworten der Kirche auf seine Fragen kennenzulernen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Er kann somit seine Bedenken und Schwierigkeiten in den Erkenntnisprozeß einbringen. Dem sich als ungläubig betrachtenden Schüler, der sich vom Religionsunterricht nicht abmeldet, ist im Religionsunterricht Gelegenheit gegeben, durch die Auseinandersetzung mit der Gegenposition den eigenen Standpunkt klarer zu erkennen oder auch zu revidieren.“ 46 3 Einleitung Bausteine einer Didaktik des Religiösen. Überblick über den Aufbau der Arbeit Meine Arbeit gliedert sich in die umfangreiche, da auch systematisch orientierende Einleitung und fünf folgende ungleich große Teile, die ihrerseits insgesamt sechzehn ebenfalls unterschiedlich lange Teilkapitel umfassen. Die einzelnen Kapitel sind in unterschiedlichen Kontexten entstanden, über die jeweils zu Beginn kurz per Fußnote orientiert wird. Zusammengebunden werden die einzelnen Kapitel in einem religionspädagogischen Interesse, das leitend gewesen ist für einen großen Teil meiner bisherigen beruflichen Tätigkeit, und das zu dokumentieren ein Anliegen der vorliegende Arbeit ist. Wenn auch die Idee zu dieser Zusammenstellung der Arbeit recht spontan geboren wurde, ist doch ihr thematischer Kern in vielen Jahren auch allmählich entstanden. Der Ausdruck „Erfahrung“ kann daher auch, wie im Vorwort angedeutet, für die Genese meiner Arbeit als Leitmotiv gelten. Die inhaltliche Kontur dieses Interesses habe ich im Punkt (2) der Einleitung zu erläutern versucht. Mit dem Titel „Religion zur Erfahrung bringen“ wird, denke ich, in angemessener Weise ein roter Faden formuliert, die Perspektive also, die die einzelnen Teile der Arbeit zusammenhält. Einen wichtigen systematischen Bezugspunkt andererseits, der mich zur Skizzierung einer Didaktik des Religiösen angetrieben hat, habe ich im Punkt (1) der Einleitung entwickelt. Trotz dieser relativ klaren Zusammenhänge bleiben die einzelnen Teile und Kapitel doch auch disparat, so sehr, dass über das persönliche Interesse, wichtige Arbeiten in ein Buch zusammenzufassen, auch einige inhaltliche Erläuterungen zum Zusammenhang der Teile sinnvoll sind, soll doch die Arbeit insgesamt mehr als bloß eine Aufsatzsammlung darstellen. Nachfolgend biete ich daher unter Punkt 3.1 eine kurze Zusammenfassung der einzelnen Kapitel, aus denen die Verbindung der Teile und der letztlich kontinuierlich durch sie hindurch entwickelte Gedanke deutlich werden soll. Zuweilen wird diese Übersicht ergänzt durch einige systematische Erläuterungen bzw. Hinweise, die in einzelnen Kapiteln selbst nicht immer geliefert werden können, um den ursprünglichen Duktus der Gedankenführung beizubehalten. Dass in der bleibenden Heterogenität von Teilen sich gleichwohl auch ein FormGedanke verbirgt, darauf sei kurz in einem abschließenden Punkt (3.2) eingegangen. Einleitung 3.1 47 Die Teile der Arbeit Teil I Religionsphilosophische Grundlegung Ursprünglich weder unter einer theologischen noch einer pädagogischen Zielsetzung geschrieben, sondern in philosophischer Perspektive, bietet der Teil I den systematischen Grundstock der Arbeit. Von vorneherein ist er unter wissenschaftlichen Kriterien verfasst worden, bedenkt einschlägige Literatur zur Themenstellung und stellt wichtige Diskussionen systematisch dar. Zwar haben nicht alle seine Abschnitte einen im engeren Sinne religionsphilosophischen Charakter, doch wird erst durch ihren Zusammenhang die These gewonnen, die sich als tragende Idee durch die weitere Arbeit zieht: Ich behaupte nämlich, dass Religion eine originäre Form menschlicher Erfahrung darstellt und deshalb, so meine weitere These, ein unverzichtbarer Bestandteil auch von Bildung sein muss, gerade von öffentlich installierter und staatlich verantworteter Bildung, wenn sie denn in einem demokratisch sich verstehenden Gemeinwesen an elementaren Fragen von Menschsein interessiert ist. Eine Bildung in Religion, das ist meine spezifizierte bildungspolitische Meinung, gehört darum auch nicht allein in den kirchlich verantworteten konfessionellen Religionsunterricht, sondern ebenso in den staatlich verantworteten nichtkonfessionellen Ethikunterricht.87 Umgekehrt setzt eine Bildung in Religion mehr voraus als eine zuweilen selbstverständlich vorausgesetzte Weitergabe des Glaubens an religiös gebundene junge Menschen wie auch mehr als eine anderweitig oft ebenso selbstverständlich unterstellte schlichte Information über Religionen, nämlich die Auseinandersetzung damit, was überhaupt Religion ist.88 Damit wird die Tür aufgestoßen zu einem allgemeinen Unterricht in Religion, der über das traditionell für den Religionsunterricht einerseits, den Ethikunterricht andererseits oft Unterstellte hinausgreift. Diese These mag diejenigen verstören, die das Thema „Religion“ ohne weitere Reflexion als selbstverständlichen Inhalt des Religionsunterrichts ansehen, den Ethikunterricht aber davon freihalten wollen. Dieses Vorurteil setzt jedoch ein konfessionell enggeführtes Verständnis von Religion voraus. Zu eng ist dieses Verständnis zunächst nicht systematisch, sondern angesichts faktischer soziologisch zu erhebender Lebensverhältnisse. In einem ersten Teilkapitel (1-1) orientiere ich 87 Vgl. dazu neben dem Teil I (vor allem Kapitel 1-2, Abschnitt 2) auch die Kapitel 5-3 und 5-4. 88 Dazu sei nochmals verwiesen auf die in Anm. 86 wiedergegebenen wegweisenden Passagen der Synode (1994) und die von mir daraus gezogenen Konsequenzen im Kapitel 5-4. 48 Einleitung darum über einige soziologische Eckdaten zum Phänomen „Religion“ in gesellschaftlichen Verhältnissen, wie wir sie in einem Land wie Deutschland heute vorfinden. Ich halte mich freilich nicht mit der Aufzählung empirischer Daten auf, sondern setze mich gleich mit ihren in der einschlägigen soziologischen Literatur gezogenen Konsequenzen auseinander. Dabei muss es notwendig zu einem differenzierten Blick auf das soziologische Paradigma „Pluralismus“ kommen wie auch zu einem kritischen Begriff von „Säkularisierung“. Besser zunächst als „Pluralismus“ fängt der Begriff „Kontextualisierung“ ein, was aus soziologischer Perspektive zum Phänomen „Religion“ in einer Gesellschaft wie der heutigen deutschen zu beobachten ist. Das wirft ein neues Licht auch auf die zuweilen zu selbstverständliche Rede von säkularen Verhältnissen. In einem, wie ich zugebe, nicht empirischen, sondern philosophischen Verständnis von Soziologie komme ich zu der Einschätzung, dass wir uns im Zuge der neuzeitlichen und modernen Säkularisierungsprozesse zwar faktisch zunehmend in Verhältnissen von Säkularität bewegen, auch im Bereich des Religiösen, dass aber als quasi späte „Rache“ an der Säkularisationsbewegung sich zugleich mehr und mehr Bedürfnisse nach Orientierung artikulieren, die durch Säkularität nicht mehr befriedigt werden können. Insofern bewegen wir uns durchaus auf postsäkularen Geleisen.89 Dabei bricht vor allem eine Frage nach säkularitätstranszendierenden Horizonten auf. Das lässt nicht nur allgemein die Frage nach Religion wieder interessant erscheinen, sondern auch ihre Rolle in der Bildung. In einem zweiten Kapitel (1-2) versuche ich, die erwähnten Rufe nach einer Orientierung leistenden Bildung zu dechiffrieren. Wenn dabei einerseits auf Religion als Bildungsgut rekurriert wird, zeigt sich darin m.E. wiederum ein ungenügendes Verständnis von Religion, und zwar sowohl in dem säkular-atheistischen Versuch einer Reduktion von Religion auf ein sozialgeschichtliches Kulturgut wie auch in dem eher verzweifelten Versuch mancher kirchlicher Kreise, Religion auf den Bestand und die Vermittlung konfessioneller Glaubensgüter zu reduzieren. In die Entwicklung dieses Gedankens versuche ich komprimiert wichtige Diskussionen auch um die Konzepte eines sich von Religion freihaltenden Ethikunterrichts wie um den Religionsunterricht einzubinden, vor allem in ausführlichen Fußnoten.90 Orientierung wird, so meine weitere Überlegung, andererseits nicht nur von Religion, sondern gerade in säkularen Zeiten auch von der Ethik bzw. Philosophie erwartet. Hier aber zeigen sich ganz ähnliche Reduktionstendenzen: Keineswegs nur konservative Vertreter eines werteorientierten Bildungskonzepts verwechseln 89 Vgl. dazu weitere Erläuterungen im Abschnitt 1 der Einleitung zur Wiederkehr des Religiösen. 90 Weitere Entfaltung erfahren diese Überlegungen in den Kapitel 5-3 und 5-4. Einleitung 49 zuweilen Moralunterweisung mit philosophischer Ethik. Die Möglichkeiten philosophischer Orientierung werden dabei überschätzt, das stellt eine wiederum auf engem Raum gedrängte Erläuterung und Argumentation mit einer Vielzahl von Verweisen heraus.91 Auf der anderen Seite werden sie auch unterschätzt, wenn Orientierung tendenziell auf Information und Einschätzungen in rein kognitiver Hinsicht reduziert wird, als ob die philosophische Vernunft sich nicht auch über sich selbst zu orientieren und damit auch Grenzen ihrer selbst und ihrer Basis im reflexiven Denken zu beschreiben hätte. Mit diesem an Hegels Kritik der Reflexionsphilosophie geschulten92, hier aber explizit an Kant ausgerichteten Gedanken der Orientierung im Denken versuche ich die Philosophie gerade hinsichtlich der an sie herangetragenen Bildungsansprüche für die Dimension des Religiösen zu öffnen. Mit diesem dichten und stark thetischen Kapitel ist der Boden bereitet für meine zentrale These, dass wir für einen bildungsrelevanten Begriff von Religion einerseits einen kulturgeschichtliche wie konfessionalistische Engführungen sprengenden philosophischen Begriff von Religion brauchen, andererseits auch ein den Bereich der Religion einbeziehendes Verständnis von Philosophie. Dem widmet sich das folgende dritte Kapitel (1-3). Ebenfalls eher thetisch, um dem Missverständnis einer in diesem Rahmen nicht zu leistenden Grundlegung von Religionsphilosophie zu entgehen, andererseits jedoch ausführlich genug, um ein tragfähiges Verständnis von Religion zu erarbeiten, behaupte ich in diesem Kapitel nicht nur die Möglichkeit und auch Notwendigkeit von Religionsphilosophie, sondern versuche in Orientierung an einer Definition von Gustav Mensching zudem einen arbeitsfähigen Begriff von Religion zu erstellen. Arbeitsfähig ist er in dreierlei Hinsicht: Zum ersten kann ich damit die These von Religion als originärer Dimension menschlicher Erfahrung erläutern. Zum zweiten werden mit den darin enthaltenen Strukturelementen wichtige Prüfsteine zur Einordnung von Phänomenen als religiös gewonnen. Und drittens bieten diese Strukturelemente im Schlussabschnitt zugleich die konzeptionelle Grundlage für eine Didaktik des Religiösen. Das 4. Kapitel (1-4) stellt dann eher nur eine Skizze einer solchen Didaktik des Religiösen in religionsphilosophischer Perspektive dar. Systematisch entfalte ich damit die später im Kapitel 5-4 auch organisatorisch zu erläuternde These, dass diesseits des konfessionellen Religionsunterrichts, aber auch jenseits des nichtkonfessionellen Ethikunterrichts ein philosophischer Unterricht in Religion nicht nur möglich, sondern auch unerlässlich sei, unerlässlich für den inneren Anspruch der 91 Zum Problem moralischer Orientierung vgl. meine weiteren Erläuterungen im Kapitel 4-4. 92 Vgl. dazu insbesondere die frühen programmatischen Schriften Hegels „Differenz“ (1801) und „Glauben und Wissen“(1802). 50 Einleitung Orientierung zur Glaubensentscheidung im Religionsunterricht wie der orientierenden religiösen Bildung im Ethikunterricht. Aus den vier Elementen dieser These werden Bausteine einer Didaktik des Religiösen entwickelt und durch Anmerkungen zu Unterrichtsmodellen exemplarisch z.T. auch ausführlicher erläutert. Fußnoten verweisen zudem auf die nachfolgenden Teile der Arbeit, die dann einzelne dieser Bausteine modellhaft zur Ausführung bringen. Teil II Religiöse Sprache Auch der Teil II der Arbeit hat grundlegenden Charakter, konzentriert sich jedoch auf das Thema „Sprache“, genauer auf die Auslotung dessen, was es heißt, Religion zur Sprache zu bringen. Das betrachte ich, trotz der oben erläuterten Änderung des Titels der Arbeit, als zentrale Zielsetzung für gelingenden Religionsunterricht. Die beiden Kapitel bieten dafür Orientierungen und Begründungen. Als systematische Exposition dieses Teils lässt sich gut die Einleitung zum zweiten Kapitel (2-2) lesen. Mit wenigen Strichen wird hier, ausgehend von der dafür zentralen biblischen Passage 1 Kor 14, das Verhältnis von Religion bzw. Glauben und ihrer vernünftigen Erschließung durch Sprache skizziert: Erläutert wird erstens die zumindest im jüdisch-christlichen Rahmen selbstverständliche These, dass Glauben stets auf vernünftige Erschließung angelegt, ja sogar angewiesen ist. Zweitens wird erinnert an die ebenfalls vielen Religionen eigene Tradition, dass vernünftige Auslegung, sprich begriffssprachlich sich artikulierendes philosophisches Denken als auch authentische Form von Glauben angesehen wird. Drittens jedoch geraten gerade im Prozess der vernünftigen Erschließung von Glauben die Vernunft wie ihr Artikulationsmedium, die Sprache, radikal an ihre Grenzen, wodurch sich Glaube als letztlich vernünftig uneinholbares Ereignis zeigt. Damit ist der Rahmen vorgezeichnet für eine detailliertere Auseinandersetzung mit religiöser Sprache wie auch mit konkreten Gestaltungsformen ihres Zur-Sprache-Bringens im Unterricht. Das erste Kapitel (2-1) setzt sich genauer mit dem dafür wesentlichen menschlichen Organ auseinander, mit der Vernunft. Die Vernunft ist, so meine These, das entscheidende Element dafür, dass es überhaupt zu religiöser Sprache kommt: Das im Akt einer religiösen Erfahrung Vernommene drängt danach, durch das Organ dieses Ver-Nehmens, die Vernunft, zur Sprache gebracht zu werden. Das geschieht einerseits durch die Philosophie, die damit, wie in einem ersten Abschnitt gezeigt wird, keineswegs „bloß“ einen Gott der Philosophen konstruiert. Ebenso, und das ist Einleitung 51 eine möglicherweise verblüffende Variante, vollzieht sich dieses Zur-SpracheBringen auch in einem Akt, der vorderhand gar keine Vernunftstruktur aufzuweisen scheint, sondern ganz aus dem Glaubensgefühl heraus geschieht, dem Gebet. Beide Gestalten aber bieten die Basis dafür, warum es überhaupt sinnvoll sein kann, Religion zum Gegenstand von Bildung zu machen. Sinn macht das nämlich deswegen, (und so schließt sich eine didaktische These unmittelbar an eine religionsphilosophische an), weil Religion sich in und als Vernunft äußert, und weil Religion deshalb auch über und mit Vernunft erschlossen werden kann. Gestalt gewinnen diese Möglichkeiten im Phänomen der (in Texten der Tradition überlieferten) religiösen Sprache. Diese Sprache aber muss wiederum, damit ihr Sinngehalt deutlich wird, nicht nur äußerlich zur Kenntnis gebracht werden, sondern auch zur Erfahrung kommen. Daran lässt sich erneut die Intention ablesen, die ich mit dem weiter gefassten Titel „Religion zur Erfahrung bringen“ im Sinn habe. Hier gieße ich sie in die vielleicht etwas zugespitzte These, Religionsunterricht als Glaubensvermittlung aufzufassen, freilich in einem tieferen, mit Hegel das Vermittelnde und die Vermittlung kategorial auslotenden Sinne des Wortes „Vermittlung“, als vernünftig erschließende Glaubens-Ver-Mittlung. Von diesem Gedanken her liegt es nahe, dass das insgesamt eher essayistisch angelegte Kapitel 2-1 in seinem vierten Abschnitt sogar mit einigen Skizzen zur Konzeption eines tragfähigen Religionsunterrichts schließt, die in komprimierter Form die Grundlage für den im Kapitel 5-4 vorgestellten konzeptionellen Entwurf bieten und damit das in Kapitel 1-4 eher didaktisch Gesagte in systematischer Form artikulieren. Das zweite Kapitel dieses Teils (2-2) setzt sich nach der oben erwähnten Einleitung das Ziel, eher lexikalisch über einige zentrale Möglichkeiten, Methoden, Formen und Ebenen zu orientieren, die es zu berücksichtigen gilt, wenn religiöse Sprache erschlossen werden soll. Natürlich steht dabei die Tradition der Hermeneutik im Mittelpunkt. Schon darüber wird aber nicht bloß informiert, sondern ihre „Methodik“ muss notwendig zu konzeptionellen Konsequenzen führen, etwa einen grundsätzlich stark dialogisch orientierten Unterricht oder auch eine Differenzierung in Phasen der Erschließung, der Weitergabe und der verantwortlichen Lebensgestaltung. Nicht nur konzeptionell, auch positionell erhebliche Konsequenzen haben dann die Erläuterungen zu Intensionalität und Verdichtung als Formen religiöser Sprache sowie die abschließende kurze Orientierung über den Sinn unterschiedlicher Sprachebenen. Wenn dabei neben der dogmatischen, mythischen, legendarischen Sprache der symbolischen Sprache besonderes Gewicht zukommt, verweist das nicht zuletzt wiederum auf die diesen gesamten zweiten Teil durchziehende Grundfrage: Wie sind zum einen die vernünftige Erschließung von Sprache, die notwendig ist, damit nicht nur Religion, sondern auch Glaube weitergegeben und vermittelt werden können, 52 Einleitung und zum anderen die Einsicht in die Begrenztheit solchen Tuns, die der urreligiösen Erfahrung und dem je persönlichen Akt des Glaubens ihre letztliche Uneinholbarkeit durch das Denken belassen, miteinander ins rechte Lot zu bringen? Teil III Gesprächsführung Mit dem dritten Teil ist meine Arbeit an einem neuralgischen Punkt angelangt: Die Grundlegungen der beiden ersten Teile haben sich nun an unterrichtlicher Praxis zu bewähren. Bevor dafür im Teil IV einige Beispiele geliefert werden sollen, ist zunächst grundsätzlich zu klären, warum und wie eine in den beiden ersten Teilen vorgestellte durchaus anspruchsvolle Auseinandersetzung mit dem Religiösen auch für jüngere Menschen geeignet ist. Die Frage nach einer Didaktik des Religiösen wird damit zugeschnitten auf den Bereich des schulischen Unterrichts. Ich konzentriere mich bei der Erörterung dieser Frage auf Kinder, und zwar vom Rede-, Frageund Antwort-fähigen Alter bis zum Erreichen des selbstreflexiven Jugendalters, also Kinder zwischen vier und zwölf Jahren. Auf eine entwicklungspsychologische Auseinandersetzung kann ich mich dabei allerdings nicht einlassen, um den Rahmen nicht zu sprengen.93 Vielmehr geht es um die grundsätzliche Frage, warum und dann vor allem inwiefern Kinder, die zwar elementare Formen sprachlicher Artikulation beherrschen, noch nicht aber die reflexiv-logische Auseinandersetzung mit abstrakten Begrifflichkeiten, gleichwohl in der Lage sind, auch komplexe philosophische und theologische Gedanken zu erfassen und in der ihnen möglichen Form zu erörtern. Und zwar wird diese Frage aus dem Selbstverständnis von Philosophie und Theologie verhandelt. Entscheidend dafür ist der Abschnitt 2 des Kapitels, in dem zur Entfaltung kommt, warum Philosophie bzw. Philosophieren im kindlich-elementaren Denken eine Grundlage hat. Das geschieht hier freilich ebenfalls eher leitlinienartig und thetisch. Noch stärker im Sinne einer bloß fundierenden, noch nicht differenzierenden Skizze wird diese Frage für die Theologie im Abschnitt 3 erörtert. Beide Teile freilich beanspruchen, in nuce durchaus eine Philosophie bzw. eine Theologie des Kindes anzudenken.94 Bloß angedacht wird dies hier, weil diese 93 Weitere Studien dazu sind im Entstehen begriffen. Hinweise, in welche Richtung dies führen wird, gibt der Abschnitt 2 dieses Kapitels. Insbesondere mit dem Begriff der Zweiten Naivität habe ich mich in den letzten Jahren wiederholt auseinandergesetzt, in Vorträgen und Seminaren. Eine wichtige Basis einer (kinder-)philosophischen Kritik an gängigen entwicklungspsychologischen Einwänden gegen die Relevanz kindlichen Denkens (namentlich von Seiten Piagets selber) bietet G.B.Matthews in seinem Buch „Denkproben“ (1991), S. 55ff. 94 Dazu darf erwähnt werden, dass dieser Fragerichtung bislang in der Bewegung des Philosophierens mit Kindern kaum Beachtung geschenkt wird. Im Gegensatz dazu bemüht sich die Theologie, obwohl auf Vorgaben der Philosophie zurückgreifend, nicht nur um Handlungsmodelle oder pädagogische Entwürfe eines Theologisierens mit Kindern, sondern durchaus um eine Theologie Einleitung 53 Abschnitte nur zur Erarbeitung von Kriterien dienen, nach denen im nachfolgenden zentralen Abschnitt 4 drei konkrete Unterrichtsprotokolle analysiert werden. Diese Analysen stellen zugleich die Pointe dieser meiner Einlassung auf die Frage nach Möglichkeiten des Philosophierens und Theologisierens mit Kindern dar. Denn sie kann für sich in Anspruch nehmen, zu den wenigen Auseinandersetzungen in der Bewegung des Philosophierens und Theologisierens mit Kindern zu gehören, die ihre Thesen an konkretem Unterricht auch überprüfen. Um diesen Anspruch zu belegen, orientieren die beiden ersten Abschnitte dieses Kapitels kurz, aber einschlägig über die Bewegung des Philosophierens mit Kindern. Der Gewinn dieses Kapitels für den Kontext der Arbeit liegt in zweierlei Richtung. Zum einen wird hier eine wichtige auch empirisch nachweisbare Basis geliefert für die grundsätzliche These, dass religiöses Lernen stets Erfahrungslernen ist: In ihren Äußerungen dokumentieren die Kinder, dass sie durchaus an theologischen und philosophischen Gedanken interessiert sind, doch nur, wenn über sie Orientierung für Fragen zum eigenen Leben zu erfahren sind. - Zum andern bieten sowohl die Unterrichtsprotokolle als auch meine entsprechenden Analysen eine Vielzahl methodische Hinweise, wie erfahrungsorientiertes Lernen sich planen und gestalten lässt. Insbesondere für einen dialogisch konzipierten Unterricht in Religion wollen sie Mut machen. Teil IV Unterrichtsmodelle Es liegt in der Konsequenz meiner Arbeitsthese, dass der Versuch einer Grundlegung des Unterrichtens, also einer Didaktik von Religion, sich zu bewähren hat an Modellen konkreter unterrichtlicher Umsetzung, also an auch methodischen Hinweisen, in denen grundlegende didaktische Überlegungen zum Tragen kommen. Dem dient der vierte Teil meiner Arbeit. Ich konzentriere ich mich dabei auf fünf Fragestellungen, deren Reihenfolge bewusst in Orientierung an die im Kapitel 1-4 erläuterten Ebenen gewählt ist: Im Sinne einer für Religiosität sensibilisierenden Propädeutik beginne ich im Kapitel 4-1 mit einer religionsphilosophischen Aufbereitung einiger (vorderhand nicht unbedingt) religiöser Bilderbücher. Dass in meinen Augen auch eine Religionskunde im Sinne des Kennenlernens religiöser Lebensanschauungen, Lebensvollzüge und tradierter Symbole ertragreich nur geleistet werden kann, wenn sie erfahrungsdimensioniert arbeitet, dafür bietet dieses Kapitel ebenso ein Beispiel wie das folgende Kapitel 4-2, das in die zentrale Frage des Kindes. Vgl. dazu die z.Zt. noch nicht veröffentlichte Arbeit von Gerhard Büttner: Jesus hilft. Stuttgart 2002, sowie seine Studie zu Religion als einer „specific domain“ im intuitiven kindlichen Denken (demn. in: KatBl 2002). 54 Einleitung glaubender Existenz über religionskundliche Stoffe einführt. In 4-3 liefere ich ein Beispiel einer pädagogisch angelegten Hermeneutik religiöser Sprache. Die Kapitel 4-4 und 4-5 sind demgegenüber einzuordnen in die Ebene der Orientierung im Sinne einer Befähigung zu eigenverantwortlicher Lebensentscheidung, 4-4 leistet das auf der Ebene der Moral, 4-5 auf der Ebene des Politischen. Das erste Kapitel dieses Teils (4-1) löst den Anspruch eines Erfahrungslernens in besonderer Weise ein: Mehr als Texte und auch Erzählungen vermögen ganz äußerlich Bilder unsere Sinne als der Basis aller Erfahrung zu faszinieren. Die Weitergabe und Vermittlung von Glauben über Bilder hat zumindest im Christentum eine lange Tradition, was in der malerischen Ausgestaltung von Kirchen seit dem frühesten Christentum oder in den sog. Armenbibeln am sichtbarsten Ausdruck gefunden hat. Auch Kinderbibeln oder Bilderbögen zu einzelnen biblischen Geschichten sind nicht erst im 20. Jahrhundert ein verbreitetes Medium der Religionspädagogik geworden. Andererseits sind auf diesem Gebiet auch Tendenzen auszumachen, die mit einer erfahrungsorientierten Religionspädagogik nur schwer in Einklang zu bringen sind. Insbesondere die pure Abbildung des äußeren Geschehens von Geschichten vermag nicht ohne weiteres auch ihren religiösen Anspruch zu vergegenwärtigen, gar ihn zu vermitteln. Diese Kritik gilt m.E. für viele biblische Bilderbücher, auch Kinderbibeln, wie auch für die meisten in den letzten Jahren bekannt gewordenen BibelComics.95 Weder eine vordergründige Angleichung an eher zufälligen Zeitgeschmack noch die historisierende Abbildung vermag für die unsere Existenz in Frage stellende Tiefendimension des Religiösen zu öffnen, verstellt eher und führt zu Irritationen, wenn Geschehnisse in problematischer Engführung als naturwissenschaftliche oder historische Tatsachen und nur um den Preis der Verflachung ihrer existentiell beanspruchenden Botschaft ins Bild gesetzt werden, wie etwa der brennende Dornbusch, Wunderheilungen oder die Auferstehung Jesu.96 Gelungene Bilder bieten dagegen Folien, auch eigene Erfahrungen einzutragen in das durch sie Ausgedrückte und diese Erfahrungen sodann zu konfrontieren mit den dargestellten Gehalten, wenn diese sich durch die Bilder ihrerseits entschlüsseln 95 Vgl. dazu meine kurze „Contra“-Stellungnahme zu Comic-Bibeln im Rahmen einer Auseinandersetzung mit Kinderbibeln in: Standpunkte 8/1997, S. 25; sowie Halbfas: Bilder in Religionsbüchern (in: Halbfas 1987, S. 51ff). 96 In einem gemeinsam mit den Kolleginnen aus der Theologie veranstalteten Seminar zur Entwicklung kindlichen Denkens im Sommer 1999 brach diese Schwierigkeit exemplarisch auf bei der Suche nach geeigneten Bilderbüchern zum Geschehen um Noah. Entweder gerieten die Bücher angesichts der „großen Flut“ in den Strudel moralisierender und auch Angst machender Pädagogik, oder die Frage nach Gut und Böse, Gnade und Strafe wird durch vordergründig niedliches Abzählen putziger Tiere einfach vermieden. Vgl. dazu demnächst meinen Aufsatz in dem von Gerhard Büttner herausgegebenen Jahrbuch für Kindertheologie. Einleitung 55 lassen als Verdichtungen von Erfahrungen, die hinter religiösen Geschichten stehen. Das gilt es exemplarisch an den hier zu deutenden Bilderbüchern zu erläutern. Inhaltlich konzentriere ich mich in dieser Annäherung an das Phänomen des Religiösen über Bilderbücher nicht auf die wichtige Frage nach geeigneten Kinderbibeln97, verzichte aber auch nicht ganz auf Bücher zu biblischen Inhalten. Wenn jedoch auf den ersten Blick gar nicht religiöse Bilderbücher im Zentrum der Untersuchung stehen, so hat das für den Kontext der vorliegenden Arbeit zwei Gründe: Zum einen halte ich es für spannend, die religiöse Frage gerade auch im Nachspüren der Tiefendimensionen eher alltäglicher Fragen zu entdecken; – das jedenfalls nehme ich für das erste hier vorgestellte Bilderbuch in Anspruch. Zum andern war es meine Absicht, die Frage nach dem Religiösen hier relativ breit anzulegen; in Orientierung an die in den Kapiteln 1-3 und 5-4 vorgeschlagene und erläuterte Differenzierung zwischen Religiosität, Glauben, Konfession und Religion untergliedert sich das Kapitel in drei Abschnitte: Ich gehe aus von der Frage religiöser Urerfahrungen, setze mich dann mit der davon zu unterscheidenden Erfahrung von Glauben auseinander, um in einem dritten Teil zur Frage nach Gott vorzustoßen, zunächst eher allgemein als tragenden Grund meiner Existenz, dann bestimmter in einem christologischen Kontext auf der Ebene von Alltagserfahrungen. Dass äußere Bedeutung und tieferer Sinn eines religiösen Geschehens miteinander zur Kenntnis genommen, ja auseinander erschlossen werden können, diesen Versuch unternimmt die in Kapitel (4-2) vorgestellte Unterrichtsskizze. Mein Interesse an präsentativen Unterrichtsformen wird hier fortgesetzt, indem ich aus einem spätmittelalterlichen Bild zuerst die existentielle Begegnung und dann den biblischen Bezug der Berufung der ersten Jünger durch Jesus erschließe. Die eher religionskundliche Zielsetzung einer Einführung in biblische Grundkenntnisse (hier geht es exemplarisch um den Aufbau der Evangelien und den Einblick in die Arbeit der Synoptiker) soll so ihrerseits eingebunden werden in die für Jugendliche unmittelbar viel interessantere Sinnfrage, konkret die Frage nach dem Sinn von Religiosität. Überzeugt dieser Entwurf, ist er ein weiterer Beleg für einen erfahrungsdimensionierten Unterricht in Religion, der zu helfen vermag, existentielle Lebenserfahrungen auf ihre religiöse Dimension hin zu lesen und zu deuten und umgekehrt religiöse Traditionen als mögliche Lebensmodelle zu erschließen und erfahrbar zu machen. Der letzte Teil des Kapitels orientiert kurz über den Rahmen, in den diese Unterrichtsskizze eingebunden ist: Exemplarisch stelle ich damit ein Modell vor für 97 Das liegt an dem Kontext, in dem dieses Kapitel entstanden ist: Im Rahmen einer Einführung in philosophisches Denken über Bilderbücher hätte die Einbindung von Kinderbibeln das Thema verändert hin zur Frage einer Einführung in Glaubenstraditionen. 56 Einleitung den Religionsunterricht der Klasse 11, in der bibelkundlich wie fundamentaltheologisch die tragfähige Basis zu legen ist für gelingenden Oberstufenunterricht. Auch das Kapitel 4-3 verbindet in gewisser Hinsicht eine eher religionskundliche Zielsetzung mit einer religiös-existentiellen. Vorgestellt wird ein ausführlich erläutertes Unterrichtsmodell zum Thema Religiöse Sprache. Ich konzentriere mich dabei auf einen vielschichtigen Zugang zum Psalm 119. Das ist insofern ein gewagtes Unternehmen, als es sich hier um einen Gebetstext handelt und dieser Entwurf ursprünglich im Rahmen des Philosophie- und nicht des Religionsunterrichts entstanden ist. Das Gebet scheint sich auf den ersten Blick einer reflexiven Auseinandersetzung zu entziehen, kann es doch eigentlich gesprochen und vollzogen werden allein im Innenraum des Glaubens. Gegen diesen Eindruck, vielleicht besser ihn ergänzend und erweiternd, entwickle ich (in erkennbarer Parallele zu den Ausführungen im Kapitel 2-1) die These, dass gerade über das Gebet sich auch ein dem Glauben scheinbar fremder reflexiver Zugang eröffnen kann. Grundlage für diese These bieten vor allem Aufbau, Struktur und Sinngehalt des zur Debatte stehenden Psalms selber. Sie werden über einfache und zugleich differenzierte Zugangsfragen erarbeitet. Einfach sind diese Fragen, weil sie sich nicht auf eine ausführliche Auseinandersetzung mit exegetischer Fachliteratur einlassen98, sondern sich aus der unmittelbaren Beobachtung des Textes ergeben. Differenziert sind sie, weil sie darin gleichwohl einen geschärften Blick auf den Text voraussetzen, insbesondere hinsichtlich der im Kapiteln 2-2 vorgetragenen Kriterien zur Auseinandersetzung mit religiöser Sprache. Insofern bietet das Kapitel 4-2 ein Beispiel der konkreten unterrichtlichen Umsetzung der dort aufgestellten Thesen. Zugleich zeigt gerade dieser Unterrichtsentwurf, dass erfahrungsorientiertes und logisch-verständiges Lernen nicht nur nicht im Widerspruch zu sehen sind, sondern sich gegenseitig ergänzen und stützen können. Wenn die Auseinandersetzung mit dem Psalm 119 über einen rein ästhetischen Zugang eröffnet wird, so ist das kein methodischer Trick, um Schülerinnen und Schüler, wie man so schön sagt, bei dem, was ihnen nahe zu liegen scheint, dem sinnlichen Reiz also, „abzuholen“. Der ästhetische Zugang führte vielmehr zu Irritationen und Unverständnis, wenn seine Eindrücke, insbesondere das hebräische Schriftbild, aber auch eine fast technische Logik in der Abfolge bestimmter Begriffe für „Wort Gottes“ nicht auch rational, ja im Sinne technischer Erklärungen eingeholt würden. Dieser technische Zugriff würde aber seinerseits sinnleer bleiben, gelänge es nicht, ihn wiederum an die konkrete 98 Das geschieht nicht nur deswegen nicht, weil es möglicherweise den Rahmen eines Unterrichtsmodells sprengen würde, sondern zugegebenermaßen aus einem gewissen Vorbehalt gegen (vorsichtig gesagt) nicht selten gegenüber dem inneren Sinn aufgrund übertriebener Historizität oder auch Assoziativität äußerlich bleibenden Auslegungspraxis. Einleitung 57 Erfahrung eines existentiellen Lebensvollzugs zurückzubinden, der erneut sprachlich, nämlich durch die eindrückliche Übersetzung von Martin Buber sinnlich fassbare Gestalt gewinnt. Für eben diese Bewegung von der unmittelbaren Erfahrung über den reflexiven Nachvollzug zurück zu einer konkreten, also das Leben vermittelnden Erfahrung bietet dieses Modell ein Beispiel. Ein für religiöse Erziehung elementares Problem wird mit dem Kapitel (4-4) angerissen. Bei der Frage nach Moral und Ethik geht es zunächst einmal darum zu klären, was eigentlich darunter zu verstehen ist. Das ist Thema des ersten Teils. Das dient nicht als Selbstzweck oder im Sinne einer philosophischen Belehrung. Vielmehr hat eine solche Klärung erhebliche Konsequenzen auch für eine tragfähige Religionspädagogik. Darauf gehe ich in diesem Kapitel selbst nicht weiter ein, weil es (s.u.) in einem anderen Kontext entstanden ist. Zur Einbindung in den Rahmen der vorliegenden Arbeit sind daher einige zusätzliche Erläuterungen hilfreich: In das allgemein verbreitete Bedürfnis nach Orientierung, und um das genau geht es hier, fließen religiöse wie moralische Motive ein. Weder aber geht Religion in Moral auf, noch ist Moral allein aus Religion begründbar.99 Aus philosophischer Sicht ist solch ein Satz unproblematisch. Theologisch, genauer gesagt kirchlich ist es eher möglich, damit in die Schusslinie der Kritik zu geraten, was am Fall Drewermann deutlich ablesbar ist: Sein ausführlich begründetes Plädoyer für eine Nachordnung des Moralischen hinter das Religiöse100 sah sich heftigen Anfeindungen ausgesetzt. Umgekehrt geriet aber nicht erst in dieser Debatte das kirchliche Lehramt in die Gefahr, den Vorrang des Glaubens durch eine Überbetonung der Moral einzuschleifen, genauer den Glauben abhängig zu machen von der Beachtung ganz bestimmter moralischer Normen.101 Dass dies erhebliche religionspädagogische Konsequenzen hat, liegt auf der Hand: Die letztgenannten Tendenzen gaben denjenigen Meinungen Argumente in die Hand, die schon immer darauf drängten, den Religionsunterricht als Institution vor allem moralischer Unterweisung zu verstehen. Mit Sicherheit ist hierin ein eklatantes Missverständnis des religionsunterrichtlichen Auftrags zu sehen ist, nicht nur im Sinne des schulischen Charakters von Religionsunterricht, welcher in meinen Augen so zu einem Instrument einer letztlich staatlich 99 Vgl. dazu auch die grundsätzlichen Überlegungen im Teil 1 dieser Einleitung zu einem (bloß) als Moral wiederkehrenden Begriff von Religion. 100 Einschlägig vgl. dazu vor allem die dreibändigen Studien zu Psychoanalyse und Moraltheologie: Drewermann (1982-84). 101 Diese Tendenz ist deutlich abzulesen an allen Verlautbarungen des kirchlichen Lehramts seit Mitte der 80er-Jahre. Vgl. insbesondere die Enzyklika Veritas Splendor (Johannes Paul II. (1993)), aber bereits auch die Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre (1990) über die kirchliche Berufung des Theologen. – In der Fülle der Kritik zu diesem weitreichenden Problem kann ich verweisen auf meine eigene Einlassung zur letztgenannten Instruktion: Petermann (1990). 58 Einleitung gewollten Moralunterweisung verkommen würde, sondern auch im Horizont des kirchlichen Lehrauftrags, im Religionsunterricht, „Glaube im Kontext des Lebens vollziehbar, und das Leben im Lichte des Glaubens verstehbar“ zu machen, so die berühmte Formel des Synodenbeschlusses von 1974.102 Hinter solch einem Verständnis steht systematisch sicher die insbesondere von Karl Rahner insinuierte anthropologische Wende in der Theologie insgesamt, also weg von einer deduktiv Glaubenssätze entfaltenden hin zu einer von menschlichem Fragen und Infragegestelltsein ausgehenden Rede über Gott. Darauf kann Religionspädagogik heute ebenso wenig verzichten wie auf die konkreteren Einsichten zu Fragen der moralischen Unterweisung. Als zentral darf in diesem Zusammenhang angenommen werden die These von einer gerade auch im Horizont christlichen Glaubens autonom sich verstehenden Moral.103 Natürlich muss man einräumen, dass es zusätzlicher Überlegungen bedarf, darin nicht eine Moral relativierende und entwertende Abkoppelung der Moral von religiöser Begründung zu sehen, sondern vielmehr die Ermächtigung und den Auftrag zu eigenverantwortlichem Handeln aus der Erfahrung geschenkter Freiheit heraus. Hat man dies aber einmal eingesehen, ist es ganz leicht, die Rede von der biblischen Botschaft als Botschaft der Freiheit mit Sinn zu füllen: Natürlich ist der Christ zu Nächstenliebe aufgefordert, nur weil er zuvor sich als von Gott geliebt erfahren hat; und natürlich sind die sog. Zehn Gebote keine Gesetze, sondern Weisungen zu eigener Verantwortung für gelingendes Leben, weil ihnen die Erfahrung existentieller Freiheit vorausgeht; und natürlich ist der Mensch in biblischer Sicht nur deswegen ein moralisches Wesen, also fähig zur Unterscheidung von Gut und Böse, weil er sich als zu Freiheit und Verantwortung geschaffenes Wesen verstehen darf; anders machen die zentralen biblischen Überlieferungen in Mk 12 (das Doppelgebot), Ex 20 (der Dekalog) und Gen 1/2 (die Schöpfung) keinen Sinn. Theologisch ist es insofern klar, worauf an dieser Stelle zu verweisen war, weil ich es im Kapitel 4-4 nur mit wenigen Strichen philosophisch zu erläutern versuche: Zur Moral, gar zu der Moral lässt sich ernst genommen kein Mensch erziehen; demgegenüber ist die Erziehung in Moral oder eine Erziehung dazu, sich als moralisches Wesen ernst zu nehmen, sehr wohl ein Ziel von Bildung. Dass sich mit dieser These das Kapitel leicht einbinden lässt in die Grundüberzeugung einer erfahrungsorientierten Religionspädagogik, liegt auf der Hand, kann doch eine Erziehung dazu, sich als moralisches Wesen ernst zu nehmen nur gelingen, wenn die Unterrichtenden auch die Schülerinnen und Schüler ernst nehmen. Zur Erfahrungsorientierung gehören daher auch Hinweise einer entsprechenden didaktischen Umsetzung. Sie werden im zweiten Teil des Kapitels ausführlich und lebens102 Synode (1974), S. 136. 103 Vgl. dazu der wegweisende Titel von Alfons Auer (1971). Einleitung 59 nah geboten, lebensnah, weil ich mich zum einen auf ganz aktuelle Konfliktfälle der Bioethik konzentriere, die uns mit der neuen Eigentümlichkeit konfrontieren, dass eine Entscheidungsfindung keineswegs durch den Fall selber schon präformiert ist; denn bioethische Konfliktfälle bringen in der Regel ein hohes Maß an Komplexität, ja Unübersichtlichkeit mit, was mit anderen moralischen Problemen nicht ohne weiteres zu vergleichen ist. Das fordert ganz pragmatisch, und damit ist ein zweiter Aspekt von Lebensnähe genannt, zu einer differenzierungsfähigen Ethik heraus, für die ich im Abschnitt 2.2. eine übersichtliche Orientierung liefere. Und schließlich, das ist die vielleicht entscheidende Dimension von Lebensnähe, sollen in einem moralisch orientierten Unterricht die Schülerinnen und Schüler auch zu ganz konkreten Entscheidungsfindungen ermutigt werden. Wie sie in geeigneter Weise eigenständig und an der eigenen Erfahrungswelt orientiert in solche Prozesse verwickelt werden können, dazu bietet der Abschnitt 2.3. ganz konkrete Möglichkeiten. Mit Moral hat auch das folgende Kapitel 4-5 zu tun. Nach alter philosophischer und auch theologischer Tradition macht es jedoch guten Sinn, zwischen einer eher individuellen Moral und einer Sozial-Moral zu unterscheiden. Natürlich wird es auch die sog. Individualmoral letztlich immer mit dem anderen Menschen zu tun haben, und umgekehrt wäre eine Sozial-Moral nicht mehr moralisch, würde sie dafür nicht den moralischen Eigensinn des Einzelnen als einen elementaren Faktor ansehen. Und doch greifen die jeweiligen Fragen in unterschiedliche Richtungen aus: Kommen beide, Individualmoral wie Sozialmoral in der zweiten Kant’schen Frage überein „Was soll ich tun?“, so tendiert die Individualmoral viel stärker zu der in die erste Kant’sche Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des Wissens („Was kann ich wissen?“) eingebundenen Frage „Wer bin ich?“, die Sozialmoral dagegen zu der die Grenzen des zu Wissenden und des Machbaren betreffenden dritten Frage „Worauf darf ich hoffen?“. Von dieser Systematik her steht im Kapitel 4-5 das Verhältnis von Recht und rechtstranszendierender Gerechtigkeit im Zentrum. Das wird jedoch nicht abstrakt diskutiert, sondern anhand der Problematik der Menschenrechte, im zweiten Teil des Kapitels exemplarisch zugespitzt auf das Menschenrecht auf Nahrung. In dieser Konkretion gelingt es am eindringlichsten, die hier zur Debatte stehenden Kategorien von Moral, Gefühl, Anspruch, Recht, Politik, Gerechtigkeit auszuloten und gegeneinander zu diskutieren (Abschnitt 1.1). Durch seinen lexikalischen Anspruch bietet das Kapitel dazu freilich nur Impulse, wenn auch im zweiten Teil ganz konkret auf Unterrichtspraxis zugeschnittene. Systematisch interessant ist dabei zum einen sicher der Versuch eines Begriffs von Menschenrechten (1.3), nicht um einer abstrakten Definition willen, sondern um für 60 Einleitung die ganz konkrete Auseinandersetzung Problemhorizonte zu haben. Besonders deutlich wird darin mein Anspruch, es in didaktischer Perspektive nicht bei bloßen Informationen zu belassen, sondern eine solche Thematik problemorientiert und erfahrungsdimensioniert aufzubereiten. In philosophisch-theologischer Perspektive wie auch für den religionspädagogischen Rahmen meiner Arbeit ist zum anderen wichtig die geschichtsphilosophische Perspektive, die historisch am klarsten aufbricht bei Benjamin (vgl. Abschnitt 1.4): Systematisch kommt hier in dem ansonsten eher rechtsphilosophisch orientierten Kapitel die Dimension des Religiösen zur Geltung. Sie sollte nicht verwechselt werden mit einer besonders emphatischen moralischen Einstellung zur Frage der Menschenrechte; dazu brauche ich, drastisch formuliert, keine Religion. Wenn sie gleichwohl zu Konsequenzen für die Auseinandersetzung mit Menschenrechten führt, dann vielmehr deshalb, weil damit ein alle rechtlichen Verhältnisse transzendierende sie aber zugleich auch der kritischen Prüfung unterwerfende Vision von Gerechtigkeit ins Spiel kommt. In der Auseinandersetzung um Hunger bzw. den elementaren Anspruch auf Sättigung kann das, so die These des zweiten Teils, für Schülerinnen und Schüler besonders konkret zur Erfahrung wie zur Diskussion gebracht werden. Alle im Teil IV vorgestellten Modelle sind trotz des religionspädagogischen Rahmens der Arbeit getragen von einer gezielt philosophischen Perspektive. Natürlich ließen sich die genannten Themen durchaus auch anders unterrichtlich aufbereiten. Doch mit der philosophischen Perspektive verbinde ich eine in den anderen Kapiteln ausführlicher entfaltete Idee. Keineswegs nämlich ergibt sich der philosophische Horizont lediglich aus den zufälligen Entstehungskontexten der Modelle, in denen ich jeweils eher als Philosoph und weniger als Theologe gefragt war. Auch für die religionspädagogische Fragestellung geben sie vielmehr Einblick in die meine Arbeit insgesamt leitende Perspektive: In einem wie auch immer verstandenen oder getragenen schulischen Unterricht in Religion geht es wesentlich um Reflexion und Auseinandersetzung mit Gründen, Motiven und Perspektiven, nie allein um Information. Dazu aber ist eine problemorientierte Aufbereitung von Themen notwendig, für die die Philosophie jedenfalls die notwendigen analytischen und kritischen Fragestellungen bereitstellen kann. Einleitung 61 Teil V Religionsunterrichtliche Konzeptionen Wenn ich gesagt habe, dass es mir in der vorliegenden Arbeit weniger um eine religionsunterrichtliche Didaktik, sondern um eine Didaktik des Religiösen gehe, mag die Überschrift dieses fünften Teils meiner Arbeit irritieren. In der Tat gilt sie in einem engeren Sinne nur für die beiden ersten Kapitel. Denn sie haben auf den ersten Blick tatsächlich eine im engeren Sinn rein religionsunterrichtliche Ausrichtung. Die genauere Lektüre aber wird schnell darüber aufklären, dass auch hier die bildungskonzeptionelle Umsetzung meiner im Teil I elaborierten Perspektive einer allgemeinen, nicht nur religionsunterrichtlich zu verstehenden Didaktik des Religiösen das tragende Fundament der Auseinandersetzung bildet. Freilich sind diese konzeptionellen Gedanken aus der intensiven mehrjährigen Auseinandersetzung um eine tragfähige Konzeption des traditionellen konfessionellen katholischen Religionsunterrichts entstanden (vgl. Vorwort). Die Dokumentation wichtiger Stationen eben dieser Auseinandersetzung ist ein Anliegen dieses fünften Teils. Gleichwohl hat er nicht rein historisch-biografischen Charakter, sondern bringt auch in den beiden ersten Kapiteln, in den beiden anderen ohnehin, mein grundsätzliches Interesse an tragfähigen Konzeptionen eines Unterrichts in Religion zum Ausdruck. Von den Teilen I und II unterscheidet sich dieser Teil V, weil nicht mehr die Begründung einer Didaktik des Religiösen im Mittelpunkt steht, von den Teilen III und IV, weil es hier nicht in erster Linie um konkrete Unterrichtspraxis geht. Vielmehr gilt das Interesse nunmehr konzeptionellen Rahmenbedingungen, unter denen die zuvor skizzierte Didaktik und Unterrichtspraxis zur Entfaltung kommen können. Dabei gehe ich gewissermaßen eher von innen nach außen vor: Thema des Kapitels 5-1 sind Schulbücher, Thema des Kapitels 5-2 Lehrpläne, Kapitel 5-3 verteidigt einen kirchlich verantwortetem Religionsunterricht gegen einen vom Staat eingerichteten allgemeinen Ethikunterricht, und Kapitel 5-4 diskutiert Möglichkeiten zur Konkretisierung einer Fächergruppe Philosophie - Religion - Ethik. Das Kapitel 5-1 setzt sich ausführlich mit der Religionsbuchreihe von Hubertus Halbfas auseinander. Der normale Rahmen einer Rezension wird dabei freilich verlassen; sowohl vom Umfang, vor allem aber von ihrem systematischen Anspruch her problematisiert diese Auseinandersetzung zugleich Grundlagen gelingender religiöser Bildung. In zehn Unterpunkten rekonstruiere ich zunächst die Konzeption, die diesem Werk zugrunde liegt, und biete damit konkret Einblick auch in Grundsätze der Halbfas’schen Religionspädagogik, nicht zuletzt um sie in ihrem Anliegen gegen diverse Vorwürfe auch zu verteidigen. So wird vor allem die Erfahrungsdimensionierung gegen den Vorwurf der Unterbietung konfessioneller 62 Einleitung Glaubensvermittlung gerechtfertigt104 wie auch das hohe Anspruchsniveau gegen den Vorwurf der Überforderung der Schülerinnen und Schüler.105 Zugleich liefern diese Punkte jedoch Kriterien für ein gelungenes Religionsbuch überhaupt. Vor allem drei Aspekte sind dabei festzuhalten: Mit dem Stichwort „Einwurzelung“ wird für eine Pädagogik geworben, die einen Sinn entwickelt für längerfristig angelegte, also nicht aktuell überprüfbare, sowie subjektiv eigene und nicht objektiv deduzier- und vermittelbare Lernprozesse (vgl. die Punkte 7, 8, 9). Das sog. Korrelationsprinzip erfährt darin eine Einlösung durch konkrete Unterrichtskonzeption. In diesem Sinne plädiere auch ich in meiner Arbeit für einen auf Sensibilisierung für das Religiöse angelegten Unterricht in Religion.106 Den als Punkt 3 skizzierten Aspekt einer religiösen Sprachlehre halte ich, wie im Teil II der Arbeit ausgeführt, in den Kapiteln 1-3 und 1-4 begründet und im Kapitel 4-3 entfaltet, für eine notwendige und unerlässliche Ebene gelingender religiöser Bildung. Und schließlich ist gegen unverbindlich und beliebig bleibende Unterrichtseinfälle hervorzuheben das Konzept eines aufbauenden Lernens, das entwicklungspsychologisch, vor allem aber sachlich gut begründet bestimmte Themenstellungen bestimmten Jahrgangsstufen zuordnet. Vor allem dieser letzte Aspekt wird aufgenommen auch im Kapitel 5-2. Es bietet in seinem ersten Teil streckenweise nur eine Zusammenfassung des vorangegangenen Kapitels. Noch expliziter aber als im Kapitel 5-1 wird die Auseinandersetzung mit den Religionsbüchern von Halbfas zum Mittel genommen, einige grundlegende Kriterien für tragfähigen Religionsunterricht allgemein und für Religionsbücher im besonderen zu benennen und kurz zu erläutern, auch im einleitenden Teil. Der zweite Teil dieses Kapitels ist auf den ersten Blick von nur historiografischem Wert, weil er mit seiner These, der baden-württembergische Lehrplan und der Plan der Halbfas-Bücher seien kompatibel, auf einen inzwischen veralteten Lehrplan zurückgreift. Nicht veraltet aber ist das damit benannte Problem: Warum, so muss 104 Dieser Vorwurf wurde bekanntlich bereits in den 70er- und 80er-Jahren geäußert und ist jetzt mit variierter Motivation erneuert worden etwa bei Ruster (2000). Vgl. auch Halbfas/Ruster (2001). 105 Vgl. in diesem Zusammenhang die unmittelbare Reaktion von A.A. Bucher (1992b) auf Halbfas allgemein und meine Rezension im besonderen. Ich fand seinerzeit leider keine Gelegenheit, in diese Debatte einzugreifen, verweise aber vor allem auf die Ausführungen von Halbfas zur Frage „Was heißt ‚kindgemäß’?“ (in: Wurzelwerk. 1989, S. 319ff), die Diskussion bei Allmen (1992, insbes. S. 194ff) und die Belege von Oberthür (1995) zum metaphorischen Denken bei Kindern. 106 Vgl. dazu die im Kapitel 1-4 erläuterte Ebene (1) einer Didaktik des Religiösen. Einleitung 63 mit Halbfas kritisch gefragt werden, werden immer wieder Lehrpläne nur am grünen Tisch produziert, nach denen dann in aller Schnelle und oft eher schlecht als recht Schulbücher gestrickt werden; und warum geht es nicht auch anders, dass aus einem vernünftig gedachten Schulbuchkonzept her tragfähige Lehrpläne abgeleitet werden? Mit dem Kapitel 5-3 wechselt der Blick zu bildungspolitischen Auseinandersetzungen. Diskutiert werden sie anhand der Kontroverse um das brandenburgische Schulfach „LER“ („Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde“). Diese Kontroverse nehme ich wiederum eher zum Anlass, auch grundsätzliche Überlegungen zu einem Religionsunterricht der Zukunft anzustellen. So wird in der kurzen Skizze zur Geschichte von LER (Abschnitt 1) eine Sympathie für den ursprünglichen Ansatz des Fachs deutlich, die in meinem eigenen im Kapitel 5-4 vorgetragenen Vorschlag aufgenommen wird. Auch die Rekonstruktion wichtiger in der Anfangsphase der Diskussion107 geführter Argumente im Abschnitt 2 geschieht weniger historisierend als vielmehr im Bemühen, die zentralen Kriterien für einen öffentlich eingerichteten Unterricht in Religion gegeneinander abzuwägen, das verfassungsrechtliche, das demografische, das schulreformerisch-demokratische und das konfessionstheoretische. Insofern glaube ich, in diesem Beitrag die zentralen Argumente in der langwierigen Auseinandersetzung um LER auf den Punkt gebracht zu haben. Konsequent schließt das Kapitel mit eigenen Thesen für einen Religionsunterricht der Zukunft. Sie haben an dieser Stelle in der Tat eher dokumentarischen Charakter, insofern durch sie zum einen seinerzeit nicht unwichtige Diskussionen ausgelöst worden sind108, zum anderen, weil sie für mich selbst wichtige Anstöße geliefert haben zu den sehr viel präziseren Überlegungen im Teil I der Arbeit wie im abschließenden Kapitel 5-4. Als Schlusspunkt der Arbeit ist das Kapitel 5-4 umfangreicher geraten als ursprünglich avisiert. Grund dafür ist, dass mein Vorschlag einer die Schülerinnen und Schüler integrierenden wie auch differenzierenden Fächergruppe Religion-EthikPhilosophie, den ich im Teil (3) vorlege, genauer begründet werden musste, um ihn auch als logische Konsequenz meiner Arbeitsthese herausstellen zu können. Dazu liefert der erste Teil (1) eine umfangreichere und, wie ich meine, recht präzise systematische Auseinandersetzung mit dem Konfessionalitätsprinzip, zunächst (1.1) mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben zum Religionsunterricht in 107 Das Kapitel geht zurück auf einen bereits 1996 veröffentlichten Aufsatz. 108 Gemeint sind intensive Auseinandersetzungen sowohl auf Verbandsebene wie auch überregional; vgl. die genaueren Hinweise im Kapitel. 64 Einleitung Deutschland, an denen auch der Ethikunterricht hängt, hinsichtlich seiner religiösen bzw. religionskundlichen Perspektive ohnehin. Die religionspädagogisch sicher interessanteste Auseinandersetzung folgt im Abschnitt 1.2, der das kirchlicherseits vorgebrachte Konfessionalitätsprinzip in theologisch-dogmatischer Perspektive kritisch unter die Lupe nimmt. Ein kürzerer Abschnitt 1.3 greift dann die Überlegungen aus dem ersten Teil der Arbeit auf und führt zu einer differenzierenden Klärung der hier zur Debatte stehenden Ebenen von Religiosität, Glaube, Bekenntnis, Konfession, Religion. Daraus werden dann im Abschnitt 1.4 die Konsequenzen gezogen für die entscheidende Frage, um welchen Sinn von Religion es in einem an öffentlichen Schulen eingerichteten Religions- wie Ethik-Unterricht eigentlich zu gehen hat. Um zu dokumentieren, dass mein eigener Vorschlag nicht im luftleeren Raum anzusiedeln ist, liefert der zweite Teil des Kapitels (2) dann einen relativ kurzen kritischen Überblick zu anderen Modellen eines kooperativen Unterricht in Religion. Im Horizont dieser Diskussionen ist schließlich mein Vorschlag zu verorten zu einem Unterricht in Religion, der einerseits die Schülerinnen und Schüler aller Herkunft und Konfession zu integrieren und zur gemeinsamen Auseinandersetzung zu führen in der Lage ist, andererseits auch konfessionell differenziert, um ihren je besonderen und auch unterschiedlichen Beheimatungen wie Neigungen gerecht zu werden (Teil 3). Der Vorschlag weiß als Organisationsmodell um seinen visionären Charakter, ist jedoch davon überzeugt, dass er ein realistisches und auch umsetzungsfähiges Modell anbietet, das die bisherigen Formen von Religions- und Ethikunterricht in Deutschland nicht nur nicht ins Abseits führt, (was in meinen Augen durch eine weitere Diversifikation etwa durch Aufnahme von Islamunterricht in unterschiedlicher konfessioneller Prägung droht), sondern die unterschiedlichen berechtigten Ansprüche und Erwartungen an diese Fächer gerade ernst nimmt und zu integrieren beansprucht. Insofern bildet dieser Vorschlag mit Grund den Schlussstein meiner Auseinandersetzungen mit den Möglichkeiten, Religion zur Erfahrung zu bringen. 3.2 Baustein-Didaktik Dem aufmerksamen Leser wird nicht die stilistische Heterogenität der einzelnen Teile und Kapitel entgehen. Sie ist kurz zu erläutern. Als erste Rechtfertigung mag der unterschiedliche Entstehungskontext gelten. In der Tat sind die meisten Teile der Arbeit zunächst unabhängig vom Plan einer religionspädagogischen Dissertation Einleitung 65 entstanden.109 Da es sich dabei zum großen Teil um bereits veröffentlichte oder für eine unmittelbar bevorstehende Veröffentlichung angefertigte Arbeiten handelt, waren damit auch unterschiedliche Gliederungs- und Zitationsformen vorgegeben. Sie habe ich zumindest insofern in eine einheitliche Form gebracht, als a) alle Zitate und Verweise in Fußnoten nachgewiesen werden, b) alle zitierte und verwendete Literatur im Literaturverzeichnis aufgeführt ist110 und c) eine durchgängig einheitliche auf Lesbarkeit hin angelegte Gliederung der Unterabschnitte eingearbeitet wurde. Wichtiger ist der Verweis, dass die ursprünglichen Zusammenhänge auch je unterschiedliche Formen der Darstellung erforderten. Sie habe ich nicht nur aus Bequemlichkeit weitgehend beibehalten. Damit soll einerseits dem dokumentarischen Interesse meiner Arbeit Genüge getan werden; so habe ich bewusst, aber jeweils begründet (so etwa für die Kapitel 5-2 und 5-3) darauf verzichtet, hier oder da möglicherweise sinnvolle Ergänzungen aus heutiger Sicht oder aufgrund neuerer Literatur vorzunehmen. Vor allem aber habe ich für die einzelnen Kapitel den sehr unterschiedlichen Adressaten-Kontext und weitgehend auch den ursprünglich inneren Zusammenhang der Gedankenführung beibehalten. Darum finden sich neben wissenschaftlich angelegten Kapiteln (insbesondere gilt das für den Teil 1, bedingt auch für Kapitel 5-4) eher lexikalisch-zusammenfassende (wie 2-2 oder 4-5); andere sind ganz auf Lehrerfortbildung ausgerichtet (wie 4-4) oder haben gar essayistischen Stil (wie 2-1). In dieser Zusammenstellung finden sich hier und da auch Parallelen, auf die ich nach Möglichkeit per Fußnote aufmerksam mache; nur offenkundige Dubletten, die für den ursprünglichen Kontext unproblematisch, ja für den Zusammenhalt sinnvoll waren, habe ich gestrichen und durch Verweise auf das jeweils einschlägigere Kapitel ersetzt. Der Preis für diese Zusammenstellung auch heterogener Teile sind Mängel in der inneren Systematik der einzelnen Teile, die auch durch den größeren Zusammenhang, den ich oben im Teil (2) der Einleitung zur Kategorie der Erfahrung hergestellt habe, nicht behoben werden. Das mag aus wissenschaftlicher Sicht, gerade in philosophischer Perspektive, schmerzlich sein, weil keineswegs notwendig oder zumindest naheliegend sich ein Gedanke konsequent aus dem vorangegangenen ergibt. Doch ist 109 Darüber wird zu Beginn der Kapitel per Fußnote jeweils kurz Auskunft gegeben. In den meisten Fällen führte der Einbau in den Rahmen der vorliegenden Arbeit jedoch auch zu mehr oder weniger großen inhaltlichen Eingriffen oder Umstellungen. 110 Der Lesbarkeit halber sind aber die Anmerkungen selbst nicht alle in die gleiche Form gebracht; so finden sich in den Fußnoten teilweise, wie oft üblich, schlicht Autorenname mit Erscheinungsjahr und Seitenzahl unter Verweis auf das Literaturverzeichnis, zuweilen habe ich es aber bei der wegen des Literaturverzeichnisses an sich überflüssigen ausführlichen Literaturangabe belassen, um unbequemes Herumblättern zu vermeiden und so bestimmte Teile in ihrem ursprünglichen Zusammenhang für sich lesbar zu halten 66 Einleitung es nicht abwegig, darin auch einen Vorteil zu sehen, ist es doch mein Interesse nicht, den ursprünglichen Kontext für die vorliegende Arbeit zu übertünchen, sondern vielmehr als Teil meiner These gerade herauszustellen. Religion zur Erfahrung zu bringen, das geschieht eben stets kontextbezogen; und so liegt gerade darin ein Reiz, von Religion einmal im Kontext eines wissenschaftlichen Diskurses über die Aufgaben und das Selbstverständnis von Philosophie zu reden (in 1-3), ein andermal im Kontext einer erfahrungsorientierten Einführung ins Philosophieren (in 4-1), im Kontext der Orientierung für Nichtphilosophen und Nichttheologen (in 4-4) oder im Kontext religionsunterrichtlicher Selbstbesinnung (in 2-1), in Konzentration auf ein spezifisch religiöses Thema (in 2-2) oder im Zusammenhang eines eher politischen Themas (in 4-5), im Versuch einer wissenschaftlichen Bestimmung des Religiösen (in 1-1 oder 1-3) oder in der exemplarischen unterrichtlichen Umsetzung (im Teil IV) oder im Versuch bildungspolitischer Konzeptionen (im Teil V). Mit solcher Kontextualisierung sollte sich eine wissenschaftliche Arbeit freilich nicht ohne Not an zufällige Figuren des Zeitgeschmacks angleichen. Und das täte sie, wenn ich unter Verabschiedung des Gedankens einer einheitlichen Systematik die postmoderne Patchwork-Struktur zum Form-Prinzip erheben würde, zumal dies mit eigenen im Teil I entwickelten Prinzipien im Gegensatz stehen würde. Gleichwohl kann man sich nicht davor verschließen, dass Zeiten, in denen sich Sinn aus einem einheitlichen Konzept stiften ließe und dies zudem zu einer allgemeinen und allgemeingültigen Anerkennung führen würde, zumindest faktisch vorbei sind. Insofern sollte man sich davor hüten, und sei es als Gegenrezept, mit Versuchen eines einheitlichen Konzepts etwas gegen vielerorts zu beobachtenden Diversifikationstendenzen zu setzen, es sei denn, man würde die Rettung in Fundamentalismen sehen. Davon kann und darf aber schon deshalb nicht die Rede sein, wenn es, wie bei religiöser Bildung, um eine Auseinandersetzung und eine Bildung des Menschen mit bzw. zu sich selbst geht, ein Konzept, das nicht nur konträr zu jeder Form von Fremdbestimmung läuft, sondern sich als innerster Gegensatz zu Fremdbestimmung versteht. Das mag wiederum den Grund dafür liefern, Bildung über möglichst viele Facetten, Perspektiven und Dimensionen anzusprechen, nicht nur weil es viele mögliche Bildungswege gibt, sondern weil Bildung sich auch wohl erst im Zusammenwirken vielfältiger Ebenen einstellt. Insofern mag man es nicht nur als Mangel ansehen, viele Punkte eher nur skizzenhaft anzudeuten statt konzentriert systematisch auch auszuleuchten, sondern als Möglichkeit, zu weiteren Gedanken anzuregen statt ein fertiges Konzept schlicht zu vermitteln. Zu solch freundlicher Lesart der einzelnen Kapitel lädt meine Arbeit ein. I Religionsphilosophische Grundlegung Abgrenzungen und Fragestellung einer philosophisch begründeten Didaktik des Religiösen 1 „Religion ist eine der wichtigsten Angelegenheiten unseres Lebens.“2 - Vor gut 200 Jahren konnte der spätere Systemphilosoph des Deutschen Idealismus, der damals noch junge Student der Theologie Georg Wilhelm Friedrich Hegel diese Meinung noch ganz selbstverständlich zu Papier bringen. Freilich hatte Hegel bereits damals ganz unorthodox einen institutionenkritischen Blick auf Religion3: Gegen „ein totes Kapital … von religiösen Kenntnissen“ setzte Hegel auf eine Religion, die einerseits gut aufklärerisch ganz „auf der allgemeinen Vernunft gegründet“ ist, andererseits gegen die Abstraktheit des bloß „raisonierenden Verstandes“ vor allem „Herz und Phantasie beschäftigt“. 1 Dieses und die als Teil I nachfolgenden Kapitel sind eine umgearbeitete, um einige Anmerkungen gekürzte und aktualisierte, an anderen Stellen um Erläuterungen nicht unwesentlich erweiterte Fassung meiner Abhandlung: Religion zur Sprache bringen. Lehraufgaben im Bereich aus philosophiedidaktischer Perspektive. In: Dieter Fauth / Ulrich Bubenheimer (Hg.): Hochschullehre und Religion – Perspektiven verschiedener Fachdisziplinen. Würzburg: Religion & Kultur 2000, S.1769. – Die Herausgeber hatten für diesen Band Vertreter verschiedener Fachdisziplinen um Beiträge zu der Frage gebeten, welche Rolle die Religion in der Lehre und Ausbildung der jeweiligen Fächer spielt. Zugleich war damit die Gelegenheit geboten, das „Religion“ eingehender zum Thema der Auseinandersetzung zu machen, als dies in Aufsätzen üblicher Länge möglich ist. Ich habe damals versucht, diese Gelegenheit ausgiebig zu nutzen, so dass bald die ursprünglich geplante Länge erheblich überschritten wurde. Das war vor allem darin begründet, nicht nur die faktische Rolle zu beleuchten, die das Thema Religion im philosophischen Zweig der Lehrerbildung spielt, sondern dafür zugleich eine Begründung zu liefern. Dieser Versuch bietet sich darum gut an als Grundlegungskapitel für die vorliegende Arbeit. 2 Dieses wie die folgenden Zitate stammen aus Hegels Fragment 1 der sog. „Fragmente über Volksreligion und Christentum“ vom Winter 1792/93; in: Hegel, Werke. Bd.1. Ed. Moldenhauer / Michel. Frankfurt 1970, S. 9ff. - Die sog. Jugendschriften Hegels bieten bekanntlich reichhaltiges Material für das auch hier zur Debatte stehende Verhältnis von Religion und Philosophie. Die frühesten Fragmente aus der Tübinger Studentenzeit konzentrieren dieses Thema zudem auf eine aufklärerisch gefasste Bildungskonzeption. Das erklärt die Rezeptions-Renaissance dieser Schriften zu Beginn des 20.Jh. (vgl. insbes. Dilthey (1905), Nohl (1907)) wie auch unter stärker gesellschaftspolitischen Fragestellungen in den 50er- und 60er-Jahren (vgl. Lukács (1948), Ritter (1965)). Mich selbst haben diese Schriften seit dem Theologiestudium beschäftigt und waren Thema der theologischen Diplomarbeit unter dem Titel: Der Anspruch der Versöhnung unter den Bedingungen der Geschichte. Überhänge aus der Rezeptionsgeschichte der Hegelschen Jugendfragmente zur Klärung ihrer systematischen Implikationen und ihrer Bedeutung für die Theologie. MS (113 + 39 S.)Tübingen 1975. 3 Biografisch erklären sich diese orthodoxiekritischen Äußerungen aus Hegels Begegnungen mit der Schultheologie in seinen Tübinger Studienjahren. 1 Religionsphilosophische Grundlegung 71 In dieser Perspektive galt Religion für Hegel, und damit sind wir beim Thema, als wesentliches Element von Bildung: Dass aus den natürlichen Anlagen des Menschen „eine wirkliche Rezeptivität für moralische Ideen und Empfindungen entstehe, dies ist Sache der Erziehung, Bildung“; und eben „die Religion gibt also der Moralität und ihren Beweggründen einen neuen erhabeneren Schwung“. Religion bietet für Hegel mehr als individuellen Seelentrost; „die Kraft der Religion [muss] in das Gewebe der menschlichen Empfindungen eingemischt, ihren Triebfedern zum Handeln beigesellt [sein] und sich in ihnen lebendig und wirksam erweise[n]“. Heute, gut 200 Jahre später, muss Hegels Auskunft anachronistisch erscheinen. Auch wenn der religiösen Frage, ja selbst der Gottesfrage „an der Schwelle des Jahrtausends“ wieder hohes Interesse entgegengebracht wird4, bereitet es heute gerade in philosophischer Perspektive eher Probleme, sich mit der Frage nach Religion auseinander zu setzen. Doch Schwierigkeiten schärfen den Blick, verdeutlichen Stoßrichtungen und gliedern Gedanken; darum beginne ich mit einigen Problemen, die sich in den Weg stellen, soll, so die Zielsetzung der nachfolgenden Kapitel, der Umgang mit Religion unter der Perspektive von Bildung beschrieben, 4 Während 1999 der diesem Kapitel zugrundeliegende Beitrag verfasst wurde, mussten dem aufmerksamen Zeitgenossen eine Reihe aktueller Beiträge ins Auge fallen: Nicht nur die Theologie, insbesondere in ihrer religionssoziologischen Disziplin, auch Organe, von denen man es weniger erwarten würde, griffen 1999 die religiöse Frage intensiviert auf: So veröffentlichte die Wochenzeitung für Deutschlands Bildungsbürgertum [„Die ZEIT“] in ihrem Magazin „Leben“ unter der ständigen Rubrik „Entscheiden“ (!!) am 24.6.1999, S.8, einen Beitrag von Franz Kardinal König mit der eigentümlichen Ankündigung „An der Schwelle des Jahrtausends stellt sich erst recht die Gottesfrage - auch für Sie.“ Die Formulierung „erst recht“ indiziert, dass die Gottesfrage in einer Zeit gestellt werde bzw. werden müsse, die sich vordergründig bereits von ihr verabschiedet habe. Und die Zuspitzung „auch für Sie“ unterläuft das gängige Urteil, der religiöse Mensch am Ende des 20. Jahrhunderts sei in der Minderheit und zunehmend weniger in der Schicht der aufgeklärten, das eigene Leben selbst bestimmenden und organisierenden Menschen der reichen Industrienationen zu finden. - Gegen dieses Vorurteil, explizit sogar gegen die spätoder nach-aufklärerische Interesselosigkeit, sich im dritten Jahrtausend noch mit dem Thema „Religion“ auseinander zu setzen, veröffentlichte die spätaufklärerische Zeitschrift für europäisches Denken, die nach eigener Auskunft „nie theologische Interessen“ verfochten habe, der „Merkur“, sein Doppelheft im Herbst 1999 zum Thema „Nach Gott fragen. Über das Religiöse“ [Merkur. Heft 605/606, hg. v. K.H.Bohrer u. K.Scheel, Stuttgart 1999]; die Herausgeber behaupten gar, wer sich mit dieser Frage nicht auseinandersetze, nehme Schaden „an seinem Intellekt“, gerade auch der sog. Ungläubige (S.771). - Das dritte Beispiel: Ein wenig vorsichtiger, vielleicht spöttischer im Titel, doch in gleicher Weise an der Frage interessiert: „Welche philosophischen Bedingungen des menschlichen Weltbezuges sind es, die dazu führen, dass alle Kulturen Religion ausbilden?“ konzipierte das unorthodoxe, eher an philosophischen Nachtstücken denn an traditionellen Diskursen interessierte Journal für Philosophie „der blaue reiter“ sein letztes Heft 1999 zum Thema „Götter“ [der blaue reiter. Journal für Philosophie. Nr.10. Stuttgart 1999]. Schließlich: Die letzte TV-Sendung des sog. „Baden-Badener Disputs“ im Jahr 1999, also im ausgehenden zweiten Jahrtausend, sollte sich dem Thema stellen: „Hat Gott noch Zukunft?“ Dass bei Redaktion des Kapitels für den Zusammenhang der vorliegenden Arbeit Ende 2001 dieses Thema erneut in den Mittelpunkt deutscher Feuilletons rückte, dazu s.o. meine Einlassungen zur Wiederkehr des Religiösen im Einleitungskapitel im Abschnitt 1. 72 1 Religionsphilosophische Grundlegung kritisch beleuchtet und auch begründet werden. Vier Probleme sehe ich vor allem, die kurz zu entfalten sind, um damit zugleich die Zielsetzungen der vier Folgekapitel (1-1, 1-2, 1-3, 1-4) zu skizzieren: (1) Macht es in säkularen Zeiten überhaupt noch Sinn, sich auf die Frage nach Religion einzulassen? (2) Warum und wie kann heute sinnvoll von Religion als „Bildungsgut“ geredet werden? (3) Welche grundsätzlichen Orientierungen liefert dafür ein philosophischer Begriff von Religion? (4) Welche Grundlinien einer Didaktik des Religiösen sollten aus Sicht der Philosophie im Kontext schulischer Bildung festgehalten werden? (1) Die Ausgangsschwierigkeit ist wissenschaftstheoretischer bzw. wissenschaftsgeschichtlicher Natur. Genauer steht die Konkurrenz von Philosophie und Soziologie in ihrem Blick auf Religion zur Debatte. Das Eingangszitat von Hegel verdeutlicht, dass für Hegel ein philosophischer von einem soziologischen Blick auf Religion nicht zu trennen war. Wie sonst könnte die Religion ganz selbstverständlich als eine „Angelegenheit unseres Lebens“ in den Blick genommen werden und zugleich eben damit nach einem „Begriff der Religion“ gefragt werden? Gerade Hegel gehört zu den neuzeitlichen Philosophen, die den genauen nicht nur diagnostischen, sondern zunächst auch schlicht historiografischen Blick auf Wirklichkeit zum Fundament philosophischer Spekulationen gemacht haben. Wie sonst wäre sein berühmter Satz zu verstehen, Aufgabe der Philosophie sei es, das was ist zu begreifen.5 Dieses Verständnis von Philosophie zieht sich zweifelsohne bis in die gegenwärtige Philosophie; insbesondere die Kritische Theorie der Frankfurter Schule hat es geradezu zu ihrem Grunddogma erhoben.6 Und doch ist die Philosophie heute mehr 5 Hegel (1821): Grundlinien der Philosophie des Rechts. Vorrede. 6 Vgl. dazu als zentrale Dokumente zu Entstehung und Selbstverständnis der Kritischen Theorien der (älteren) Frankfurter Schule: Max Horkheimer: Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung [1931]; in: Ges.Schr. Bd.3, Frankfurt 1988, S.20ff; sowie der berühmte Aufsatz Horkheimers von 1937: Traditionelle und Kritische Theorie; in: Ges. Sch. Bd. 4, Frankfurt 1988, S.162ff; auch die Antrittsvorlesung von 1931 von Theodor W. Adorno: Die Aktualität der Philosophie; in: Ges.Schr. Bd. 1, Frankfurt 1973, S. 325ff. Programmatisch fordert vor allem Horkheimer in seinem Eröffnungsvortrag als Direktor des berühmten Frankfurter Instituts für Sozialforschung eine Sozialphilosophie, die „sich daher vor allem um solche Phänomene zu bekümmern [habe], die nur im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Leben der Menschen verstanden werden können“, worunter Horkheimer ausdrücklich auch die Religion zählt (a.a.O. S.20). Auch der eher theoretisch denkende Adorno ist davon überzeugt, dass alle philosophische Deutung „ihr einzelwissenschaftliches Material vorwiegend der Soziologie zu entnehmen habe“ (a.a.O. S.340), ja plädiert nach dem „endgültige(n) Zerfall der phänomenologischen Philosophie“ (331) 1 Religionsphilosophische Grundlegung 73 denn je auf Eckdaten angewiesen, die sie einer selbständig gewordenen soziologischen Wissenschaft verdankt. Das hat aber bisweilen dazu geführt, dass die Soziologie glaubt, die Philosophie beerben und ersetzen zu können. Zumindest hinsichtlich der Religion ist dies meines Erachtens ein schwerer Irrtum, weil so elementare Dimensionen des Phänomens Religion nicht genügend in den Blick kommen; auch deshalb bin ich von der Notwendigkeit einer philosophischer Theorie von Religion überzeugt. Dafür eine Begründung zu liefern, die soziologischer Diagnostik nicht nur standhält, sondern sie überhaupt erst recht zu deuten weiß, dem dient das erste Teilkapitel. (2) Die zweite und für den Zusammenhang vielleicht zentrale Schwierigkeit ist bildungstheoretischer Natur: Philosophie hat im deutschen Bildungssystem, insbesondere an höheren Schulen, stets eine Rolle gespielt, wenngleich in den letzten Jahren eher nur als ergänzendes Wahlfach7. Doch mit der Etablierung eines Alternativfachs8 für den Religionsunterricht wächst der Philosophie eine ganz neue Aufgabe zu, nämlich die der entsprechenden Bezugswissenschaft und Lehrerfür eine Verwandlung der Philosophie „in philosophischen Essayismus“ (343), der es dann in nur noch kritischer Perspektive darum zu gehen habe, „im kleinen einzudringen, im kleinen die Maße des bloß Seienden zu sprengen“, so der letzte Satz des Aufsatzes (344). Freilich weist Adorno zugleich darauf hin, dass Fakten noch nicht für sich selbst sprechen, sondern gedeutet werden müssen, und zwar in folgender, deutlich hegelianisch-marxistischer Weise: „Deutung des Intentionslosen durch Zusammenstellung der analytisch isolierten Elemente und Erhellung des Wirklichen kraft solcher Deutung: das ist das Programm jeder echten materialistischen Erkenntnis.“ (336). Diese Auffassung von Philosophie als Kritischer Theorie reicht trotz der Kritik an geschichtsphilosophischen Interpretamenten bei Adorno und Horkheimer hinüber auch bis zu den vielfältigen Entwürfen von Jürgen Habermas, etwa in seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ (Frankfurt 1981) 7 Nur wenige Länder sehen z.Zt. überhaupt (noch) die Möglichkeit eines eigenständigen, d.h. zunächst einmal von einem Alternativfach gegenüber Religion prinzipiell unterschiedenen Unterrichtsfachs Philosophie vor. Mit der wieder zunehmend stärkeren Festlegung des Fächerkanons in der Sekundarstufe II ist aber faktisch auch die Attraktivität eines zusätzlichen Wahlfachs für Schüler gesunken. In Nordrhein-Westfalen etwa, wo sogar Leistungskurse in Philosophie vorgesehen waren, wird diese Möglichkeit heute meines Wissens kaum noch wahrgenommen. 8 In der bildungspolitischen Diskussion um ein solches Fach ist man sich inzwischen weitgehend einig, dass die Nomenklatur „Ersatzfach“ unangemessen, zumindest aber anachronistisch ist, vor allem wenn man auf die ostdeutschen Bundesländer schaut. Ausgehend von K.E. Nipkows Idee einer Fächergruppe (vgl. Nipkow 1998 sowie Evangelische Kirche 1994) und angesichts der Diskussionen zum Brandenburgischen Fach „LER“ (vgl. dazu unten Kap. 4-4-1) scheint sich zunehmend das Konzept eines Wahlpflichtbereichs durchzusetzen, in dem neben dem tradierten konfessionellen Religionsunterricht ein philosophisch fundierter Ethikunterricht fest verankert ist. Der angemessene Name für ein solches Alternativfach zum Religionsunterricht ist hingegen bis heute umstritten, die Angebote lauten von „Ethik“, über „Werte und Normen“, „Praktische Philosophie“, bis zu „Philosophie“. Dass sich hinter dem Namen auch konzeptionelle Unterschiede verbergen, ist offenkundig. - Vgl. dazu meine Bemerkungen zum Verständnis philosophischer Ethik in Kapitel 1-3. - Zum Thema Fächergruppe sei verwiesen auf das Abschlusskapitel 5-4. 74 1 Religionsphilosophische Grundlegung ausbildung. Entsprechende Angebote an den Hochschulen sind jedoch noch nicht recht etabliert.9 In der Tat hat sich, wie etwa Matthias Tichy bemerkt10, die Fachphilosophie im Streit um die rechte Bezugswissenschaft für das Fach Ethik bislang eher bedeckt gehalten; andere Disziplinen, die Erziehungswissenschaften, die Religionspädagogik, insbesondere aber die Religionswissenschaften haben sich stärker zu Wort gemeldet. Hintergrund der philosophischen Zurückhaltung mag vor allem die Gefahr einer philosophischen Ansprüchen prinzipiell widerstreitenden Einbindung um nicht zu sagen Funktionalisierung der Philosophie für eine allgemeine Werteorientierung gerade im Bereich des Themas Religion sein.11 - Warum und wie philosophisch gleichwohl sinnvoll von einem Bildungsgut „Religion“ geredet werden kann, dieser Schwierigkeit stellt sich das zweite Unterkapitel. (3) Hegel hatte nicht nur bildungskonzeptionell, auch philosophisch ein ungebrochenes Verhältnis zu Religion. Voller Überzeugung konnte er festhalten, „dass der Inhalt der Philosophie und der Religion derselbe ist“12. Davon können wir heute nicht mehr ausgehen; zum einen hat sich die Philosophie im Zeitalter nachmetaphysischen 9 In Baden-Württemberg werd beispielsweise erst seit Winter 1999/2000 überhaupt die Möglichkeit geboten, durch das Studium Philosophie/Ethik eine spezielle Qualifikation auch für das Fach Ethik zu erwerben. In fachdidaktischer Hinsicht wird das Lehrangebot für ein Ethik-Studium seitens der Hochschulen bundesweit jedoch überwiegend noch über Lehraufträge abgedeckt. 10 Matthias Tichy: Die Vielfalt des ethischen Urteils. Grundlinien einer Didaktik des Faches Ethik/Praktische Philosophie, Bad Heilbrunn 1998, S. 9. 11 In den wenigen philosophischen Fachdidaktiken findet das Gebiet des Religiösen kaum Erwähnung: Heinz Schmidt (Didaktik des Ethikunterrichts, 2 Bde., Frankfurt: Kohlhammer 1982) spricht im Band I „Grundlagen“ das Thema „Religion“ gar nicht an, offenkundig aufgrund des hier unterstellten Ethik-Verständnisses; im Band 2 „Unterricht“ subsumiert Schmidt den Bereich der Religion dem Lernfeld „Sinndeutung und Lebensorientierung“, in eher religionskritischer, allenfalls noch religionskundlicher, nach meinem Eindruck aber nicht in Religion erschließender Hinsicht. - Die jahrelang einschlägige Philosophiedidaktik von Wulff D.Rehfus: Didaktik der Philosophie. Düsseldorf: Schwann 1980 geht auf das Thema Religion überhaupt nicht ein. Ebenso wenig findet das Thema Erwähnung in dem breit angelegten „Handbuch des Philosophie-Unterrichts. Hg.v.W.D.Rehfus/H.Becker, Düsseldorf: Schwann 1986“, nicht einmal in der umfangreichen Glossarliste. - Auch in Ekkehard Martens: Dialogisch-pragmatische Philosophiedidaktik. Hannover: Schroedel 1979, sucht man eine Auseinandersetzung mit dem Thema „Religion“ vergeblich, ebenso in seiner didaktisch angelegten Arbeit E.M.: Sich im Denken orientieren. Philosophische Anfangsschritte mit Kindern. Hannover: Schroedel 1990 (jetzt revidiert als „Philosophieren mit Kindern. Stuttgart: reclam 1999“ neu erschienen). - Matthias Tichy (1998, wie oben Anm.10) geht auf das Thema „Religion“ immerhin in der Perspektive der Auseinandersetzung mit religionsunterrichtlichen Konzeptionen ein. 12 G.W.F.Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), § 573 Anm.; in: Hegel: Werke. Bd.10. Ed. Moldenhauer/Michel. Frankfurt 1970, S. 371. 1 Religionsphilosophische Grundlegung 75 Denkens13 zunehmend von religionsspezifischen Reflexionen gelöst, zum andern stellt sich das Phänomen Religion in nachmodernen Zeiten vielfältiger, offener, weniger greifbar dar als zu Zeiten Hegels. Auf diese veränderte Theorielage kann im Rahmen dieser Arbeit nicht ausführlich geantwortet werden. Wenn aber auch die Didaktik der Philosophie sich mit dem Thema Religion ernsthaft befassen soll, so nicht zuletzt weil sie der Ansicht ist, einen durch andere Wissenschaften nicht ohne weiteres abzudeckenden Beitrag leisten zu können und zu müssen - und das ist meine These. Darum sind in einem dritten Teilkapitel einige grundsätzliche Perspektiven, eher leitlinienartig im Blick auf das Verhältnis der Philosophie zur Religion nötig.14 (4) Die vierte Schwierigkeit kann ebenfalls mit Hegel verdeutlicht werden, der, obwohl selbst acht Jahre lang Philosophielehrer an einem Gymnasium, stets recht despektierlich auf Versuche einer Didaktisierung der Philosophie geblickt hat. Didaktik ist innerhalb der philosophischen Wissenschaft nach wie vor ein eher ungeliebtes Stiefkind. Philosophie, so ein schnell beigebrachtes, oft wenig reflektiertes Argument, habe es stets mit der abstrakten Arbeit des Begriffs, dem Denken des Denkens zu tun, dürfe nicht verwechselt werden mit alltäglichem Welt- und Lebensraisonnement. Manche Versuche in Richtung einer „angewandten Philosophie“ scheinen tatsächlich diese Differenz überspringen zu wollen; dazu fällt dem Philosophen Hegels Spott über gehaltloses Herumraisonnieren ein.15 Meine Absicht ist es, gegenüber solchen Vorurteilen und Missverständnissen zu zeigen, wenn auch nur in Konzentration auf die Religions-Thematik, dass die Philosophie durchaus richtungsweisende didaktische Beiträge zu erbringen vermag. Darum entwirft das vierte Teilkapitel Leitlinien einer Didaktik des Religiösen in philosophischer Perspektive, die dann in den folgenden Teilen der Arbeit exemplarisch zu entfalten sind. 13 Mit dieser Formulierung beziehe ich mich auf eine „weiche“, d.h. zunächst nur diagnostische, noch nicht positionelle Lesart des Titels von Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt 1992. Diagnostisch meint die Rede vom nachmetaphysischen Denken, dass die Philosophie heute faktisch „dem privilegierten Zugang zur Wahrheit und der Heilsbedeutung der Theorie entsagen“ musste (57). Positionell freilich behauptet Habermas in seiner Aufsatzsammlung mehrfach, dass wir nach Hegel „zum nachmetaphysischen Denken keine Alternative“ hätten (36), weder im Sinne einer Theorie der Erreichbarkeit eines Vernunftideals, welche hinter Kants kritische Einsichten zurückfallen würde, noch aber auch im Sinne einer negativen Metaphysik, deren paradoxalen Aussagen Habermas die philosophische Zustimmung versagt, auch wenn er im gleichen Satz der Religion solche Aussagen zuzugestehen scheint, so dass er von einer Koexistenz zwischen Philosophie und Religion spricht (185). 14 Vgl. dazu auch meine Auseinandersetzung mit der Ende 2001 verschiedentlich proklamierten Wiederkehr des Religiösen in der Einleitung der Arbeit, Abschnitt 1. 15 Etwa in G.W.F.Hegels Privatgutachten „Über den Vortrag der Philosophie auf Gymnasien; in: Hegel: Werke. Bd.4. Ed. Moldenhauer/Michel. Frankfurt 1979, S. 414. Kapitel 1-1 Religionssoziologische Eckdaten Vielleicht wird zuweilen zu selbstverständlich behauptet, religiöse Orientierung sei heute, in Zeiten zunehmenden Verschwindens des Religiösen anachronistisch geworden. So habe ich selbst in der Einleitung der Arbeit lediglich unterstellt, Religiosität werde hier und heute nicht mehr so selbstverständlich gelebt, dass wir für den Religionsunterricht religiöse Beheimatung als Basis unterstellen dürften1. Selbstverständlich muss eine solche Behauptung sich zunächst einmal auch an faktisch nachprüfbaren Zahlen oder Verhältnissen messen lassen, um das gleichzeitige Plädoyer für die Unverzichtbarkeit religiöser Bildung nicht von vornherein banal-selbstverständlich oder aber anachronistisch-spekulativ erscheinen zu lassen. Wenn auch die empirischen Grundlagen solcher Zahlen hier im nicht einzelnen aufgeführt werden2, sollen darum wenigstens einige aus ihnen gefolgerte religionssoziologische Eckdaten in den Blick genommen werden. 1 Der Prozess der Säkularisation Franz-Xaver Kaufmann schreibt 1989: „Die Denkhorizonte des Religiösen und des Modernen scheinen sich irgendwie auszuschließen, wenigstens für das zeitgenössische Bewusstsein.“3 Kaufmanns Diagnose bietet einen guten Ansatz, die These vom zunehmenden Verschwinden des Religiösen zu differenzieren, lädt er doch durch die Kennzeichnung „scheinbar“ dazu ein, sich erst einmal genauer vor Augen zu halten, was denn eigentlich die Denkhorizonte des Religiösen zum einen, des Modernen zum zweiten und des zeitgenössischen Bewusstseins zum dritten meinen. 1 Vgl. dazu die Thesen des Deutschen Katecheten-Vereins (1992), insbesondere die These 8, sowie exemplarisch für die breite Auseinandersetzung in der Religionspädagogik Scholl (1989) und (1993) sowie F.X.Kaufmann (1989b). Für mich selbst kann ich verweisen auf meine Thesen Petermann (1991) und (1996). 2 Dazu darf ich verwiesen auf die nachfolgend verarbeitete soziologische Standardliteratur. Speziell für die Frage nach der Religiosität Jugendlicher sollten hier hervorgehoben werden die Untersuchungen von Barz: Religion ohne Institution (1992) sowie Barz: Postmoderne Religion (1992) und neuerdings die Studie von Bucher: Religionsunterricht zwischen Lernfach und Lebenshilfe (2000) sowie die jüngste Schell-Studie (2000). 3 Dieser Satz findet sich in der Einführung des religionssoziologischen Standardwerks: Franz-Xaver Kaufmann: Religion und Modernität Tübingen 1989, S.1. 1-1 Religionssoziologische Eckdaten 77 Da es ja um die Frage nach Religiosität im Horizont der Moderne bzw. Postmoderne geht, macht es keinen Sinn, mit einer abstrakten Definition des Religiösen zu beginnen. Vielmehr ist zuerst der Horizont des Modernen zu erläutern. Die Grundthese von Modernität scheint mir die der Durchschaubarkeit und damit einhergehend der Gestaltungsmöglichkeit von Welt und Leben zu sein. Diese Weltanschauung bricht sich Bahn vor allem in den naturwissenschaftlichen Entdeckungen des 16. und 17. sowie des 19. Jahrhunderts. Die erste Epoche wird gemeinhin unter das Stichwort „Kopernikanische Revolution“ gefasst. Möglich gemacht wurden die hier erfolgten astronomischen Erkenntnisse jedoch durch eine radikal veränderte Sicht auf wissenschaftliche Erkenntnis, wie sie paradigmatisch durch Francis Bacons „Novum Organum (1620) postuliert wird: Mit seinem Satz: Der Mensch, als Diener und Erklärer der Natur, wirkt und weiß nur so viel, als er von der Ordnung der Natur durch die Sache oder seinen Geist beobachtet hat; mehr weiß und vermag er nicht. (I,1) bringt Bacon die moderne Einstellung zu dem, was wir auch heute noch in der Regel alltäglich unter Natur verstehen, auf den Punkt.4 Daraus folgt für ihn zugleich: Da unser Bestreben ist, die Natur den menschlichen Bedürfnissen und Wünschen zu unterwerfen, so ist es folgerecht, dass diese Werke, die schon längst von der Macht des Menschen abhängen, gleich Provinzen, die bereits früher erobert und unterworfen worden sind, verzeichnet und festgestellt werden, namentlich solche, die am meisten ausgearbeitet und vollendet sind (II,31.). Die Natur erklärt sich für Bacon insofern vollkommen aus sich selbst, ebenso wie der daraus abzuleitende Umgang mit Natur, der folgerichtig unter rein technischen Kategorien gesehen wird. Die Annahme einer göttlichen Schöpferinstanz ist dafür nicht mehr nötig. Diese Ansicht leitete auch Galileis Untersuchungen physikalischer Gesetze, selbst wenn Galilei wie auch Bacon sich selbst subjektiv noch als gottesgläubige Menschen ansahen. Die zweite Epoche des 19. Jh. führt nach dieser ersten Kränkung des menschlichen Geistes zur zweiten durch die Evolutionslehre von Charles Darwin einerseits und zur dritten durch die Entdeckung der Psychoanalyse durch Sigmund Freud zum andern. Die hier vorherrschenden Auffassungen zur Erklärung von Welt und Leben haben sich damit nicht geändert, sondern bestätigen Bacons Postulat, was sich kaum besser fassen lässt als durch Ernst Haeckels berühmte Einlassung am Ende seiner „Welträtsel“ (1899): Die Zahl der Welträtsel hat sich durch die angeführten Fortschritte der wahren Naturerkenntnis im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts stetig vermindert; sie ist schließlich auf ein einziges allumfassendes Universalrätsel zurückgeführt, auf das Substanzproblem. Indem dieses höchste Naturgesetz festgestellt und alle anderen ihm untergeordnet wurden, gelangten wir zur Überzeugung von der 4 Bacon (1620). 78 1-1 Religionssoziologische Eckdaten universalen Einheit der Natur und der ewigen Geltung der Naturgesetze. Der Monismus des Kosmos, den wir darauf begründen, … zertrümmert aber zugleich die drei großen Zentraldogmen der bisherigen dualistischen Philosophie, den persönlichen Gott, die Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit des Willens.5 Durchschaubarer und machbarer geworden sind Welt und Leben für die Vernunft mithin infolge ihrer Emanzipation von (religiöser) Autorität. Schon von ihrem Selbstverständnis her setzt sich Moderne ab von der Ansicht, menschliche Lebensgestaltung sei präformiert durch Strukturen, die menschlichem Leben vorgelagert seien. Solche Formen präformierter Sinngebung betrachtet die Moderne als Vergangenheit. Und zu solchen Formen zählen vor allem religiöse Systeme, nicht nur die Kirchen, sondern auch der Glaube an Gott. Er kann im Bewusstsein der Moderne verabschiedet werden, weil Welt und Leben weitgehend ohne ihn erklärbar geworden sind und sich auch ohne ihn gestalten lassen. Entdivinisiert ist alles dem menschlichen Zugriff unmittelbar zugänglich wie auch unterworfen. Selbst der moralische Umgang mit Welt und Leben fußt nunmehr allein auf Vernunft.6 Diese Entdivinisierung von Welt und Leben wird seit Max Weber als Prozess der Säkularisation begriffen.7 Doch über die Entdivinisierung hinaus, und das ist die Kehrseite, tendiert der Prozess der Säkularisation zu der Ideologie, dass die Welt daher alles sei, was der Fall ist, also nicht nur Gott ersetzt habe, sondern ihrerseits als nunmehr einzig gültige Perspektive zu etablieren sei.8 Damit aber ist die gängige Rede von Säkularisation zugleich untergraben: Wir leben nicht mehr bloß in einem Prozess der Säkularisation, sondern in Verhältnissen faktisch vollzogener Säkularität, einer Säkularität freilich, die in ihrer säkularen Qualität gegenüber nicht säkularisierten Lebensverhält5 Haeckel (1899). 6 Zumindest gilt das in der Hinsicht, dass die Begründung moralischen Handelns allein durch die Vernunft erfolgen kann, bereits für Kant die erste Voraussetzung seiner Ethik. Kant ist sich freilich der Ambivalenz dieser Subjektivierung von Moral durchaus bewusst, wenn er etwa in seinen geschichtsphilosophischen Überlegungen konstatiert, dass es, obwohl der Mensch danach strebe, dass sein ganzes Leben “gänzlich sein eigen Werk sei“, nicht darum gehen könne dass der Mensch „wohl lebe, sondern dass er sich so weit hervorarbeite, um sich, durch sein Verhalten, des Lebens und des Wohlbefindens würdig zu machen“ [„Idee zu einer allgemeinen Geschichte...“, in: Werke, ed. Weischedel, Frankfurt 1958, Bd.VI, S.41]. – Zur Ambivalenz autonomer Moral vgl. die Notizen zu Kapitel 4-4 in der Einleitung. 7 Vgl. den diesbezüglich als einschlägige Quelle oft zitierten Aufsatz aus dem Jahr 1920 von Max Weber: Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus, in: Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie Bd.I. Tübingen 51972, S. 207ff. 8 So hat es Peter Sloterdijk in seinen zeitdiagnostischen Einlassungen treffend formuliert, etwa in: Chancen im Ungeheuren. Notiz zum Gestaltwandel des Religiösen in der modernen Welt, im Anschluss an einige Motive bei William James, Vorwort zu: William James: Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Frankfurt 1997, S.13f. 1-1 Religionssoziologische Eckdaten 79 nissen gar nicht mehr erkennbar ist.9 Diese Einsicht liefert zugleich eine Rechtfertigung für die inzwischen gängige Rede von „postsäkularen“ Lebensverhältnissen.10 Was bedeutet diese Diagnose für unsere Frage nach Religion? Zunächst einmal sprechen soziologische Daten noch nicht für sich selbst, auch wenn sich Theorien zu einem Phänomen wie dem Religion sich zumindest an entsprechenden Daten messen lassen müssen. Auch zurückgehender Gottesdienstbesuch und zunehmende Kirchenaustritte sind Daten, die noch zu interpretieren sind. Ohne Zweifel aber fallen religiös-kirchliche Sozialmilieus zunehmend auseinander; Entkonfessionalisierung und vor allem die Entkoppelung von Konfession (hierzulande vor allem: Christentum) und Religion sind allenthalben festzustellen; gegenüber tradierten gewinnen neue Formen von Religiosität an Bedeutung, sei es aus anderen religiösen Traditionen, sei es als neue Wege von Spiritualität und Sinnfindung; auch in westlichen Ländern macht sich eine Tendenz zu polykonfessionellen Verortungen11 bemerkbar, etwa eine nicht mehr aus tradiertem Glaubensvollzug begründete Inanspruchnahme kirchlicher Riten wie Hochzeiten, Beerdigungen, Weihnachtsgottesdiensten, oder auch die Selbstverständlichkeit, die Bedeutung der Kirchen an ihren sozialen und kulturellen Aktivitäten zu messen. Und doch berühren solche Feststellungen nur die Oberfläche, was sich leicht an entsprechenden Erklärungsmustern zeigen lässt: Insbesondere das in der religionssoziologischen Literatur beliebte Paradigma „Pluralität“12 scheint mir zur Bezeichnung dieser 9 Diese Einschätzung hat im übrigen bereits vor mehr als 100 Jahren Nietzsche gegeben in seiner berühmten Parabel vom tollen Menschen, dessen Diagnose, dass Gott tot sei und wir ihn getötet hätten, trotz der eindringlichen Bilder, in denen er sie zu vermitteln sich bemüht, keiner versteht. Nietzsche hat damit hellsichtig auf den Punkt gebracht, dass die Menschen der Moderne sich einerseits ihre Welt selbst errichtet haben, ohne zurückgreifen zu müssen auf die Vorstellung eines ihrer Willkür letztlich entzogenen Sinns von Welt, dass ihnen aber andererseits diese ihre eigene Welt keineswegs durchsichtiger geworden ist, sie der Lebenswelt mithin nach wie vor ausgeliefert sind, doch nun ohne Maßstab einer Orientierung, so dass es kein Oben oder Unten, keinen Horizont mehr gibt. 10 Zur Angemessenheit des Begriffs „Postsäkularität“ vgl. die entsprechenden Passagen in meiner Einleitung, Abschnitt (1). Zu Habermas’ Verwendung dieses Begriffs vgl. jetzt kritisch Hans Joas (2002): Eine Rose im Kreuz der Vernunft. 11 Gemeint ist das in Japan bereits seit längerem bekannte Phänomen, sich in verschiedenen Religionen bzw. Konfessionen ohne Orthodoxieprobleme gleichzeitig zuhause zu finden. Auch in Mitteleuropa ist es zunehmend unproblematisch, etwa als bekennender Christ zugleich buddhistische Meditations-Sessions zu besuchen oder indianische Naturkulte in traditionell biblische Schöpfungskontexte einzubinden. Für Länder Lateinamerikas, Afrikas und Asiens gilt dies ohnehin bereits länger nicht nur als gängige, sondern auch als anerkannte Praxis. Vgl. die kirchlichen Diskussionen zum Bedeutungswandel von Missions- in Inkulturationsarbeit. Hintergrund dieser Praxis scheint ein sehr viel stärker pragmatisch als orthodoxal empfindendes religiöses Bedürfnis zu sein. - Ausführlicher zu diesem Thema vgl. W.Gephart / H.Waldenfels (Hg.): Religion und Identität, Frankfurt: Suhrkamp 1999. 80 1-1 Religionssoziologische Eckdaten Verhältnisse nicht zureichend; zumindest müsste die Rede von Pluralität, um aussagefähig zu bleiben, differenziert werden. 2 Differenzierungen in der Pluralismus-These Zunächst ist es hilfreich, zwischen Pluralismus als Antwort auf eine Situation und Pluralität als Diagnose dieser Situation zu unterscheiden.13 Eine differenzierte Diagnose von Pluralität würde zunächst zumindest folgende Ebenen unterscheiden: • Von Multiperspektivität können wir sprechen, insofern Horizonte zur Orientierung und Gestaltung des eigenen Lebens dem einzelnen in vielfältiger, eben nicht mehr eindimensionaler bzw. allgemein verbindlicher Weise angeboten werden und zur Verfügung stehen. • Diversifikation bezeichnet näher die Form, in der sich die vielfältigen Angebote darstellen, nämlich ungeordnet, unübersichtlich und daher vielfach auseinanderlaufend; der einzelne reagiert darauf entsprechend mit Orientierungsproblemen.14 • Die entsprechende Anforderung an den einzelnen, aber auch seine Antwort, ist Mobilität; zu konstatieren sind jedenfalls erhöhte Umtriebigkeit und Flexibilität in vielerlei Hinsicht: geografisch, berufsbezogen, aber auch hinsichtlich zwischenmenschlicher Beziehungen und persönlicher Ansichten; festlegen mag sich heute niemand mehr ohne weiteres.15 • Mit Globalität ist zunächst lediglich die Offenheit für größere Sinnzusammenhänge angesprochen, auf die ein bestimmter Lebenshorizont sich heute beziehen lassen muss. Die Frage ist dann freilich, inwieweit damit ein neuer Einheitsanspruch 12 Das Stichwort „Pluralität“ fehlt in kaum einer religionssoziologischen Veröffentlichung der letzten zehn Jahre, wird aber kaum reflektiert. Auch die jüngste, umfangreich angelegte Bildungsstudie von Karl Ernst Nipkow: Bildung in einer pluralen Welt. 2 Bde. Gütersloh 1998, differenziert zwar das Phänomen des Pluralismus in verdienstvoller Weise und wird so ohne Zweifel ein Standardwerk werden, lässt sich aber kritisch-reflektierend auf den Begriff der Pluralität zur Kennzeichnung der pluralen Verhältnisse eigentlich nicht ein. 13 Ich übernehme diese Unterscheidung in Analogie zu der zwischen „Globalisierung“ und „Globalität“, wie sie eindrucksvoll und überzeugend Ulrich Beck vorgelegt hat. (Ulrich Beck: Was ist Globalisierung? Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S.26ff) 14 Vgl. hierzu die systemtheoretische Beschreibung der "Segmentierung" bei Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Frankfurt 1989. 15 Vgl. dazu vor allem die Überlegungen von Michael Walzer; z.B. in: Die kommunitaristische Kritik am Liberalismus; in: A.Honneth (Hg.): Kommunitarismus. Frankfurt 1993, S. 164 f. 1-1 Religionssoziologische Eckdaten 81 sich geltend macht, dem zunächst auseinanderlaufende Lebenshorizonte schließlich doch unterzuordnen wären.16 • Schließlich indiziert das Modewort der Vernetzung, dass trotz auseinanderlaufender Lebenswelten wir doch bislang nicht gekannte Möglichkeiten des Bezugs auf Anderes, Neues, Unbekanntes ausgebreitet finden. Offen bleiben dabei freilich die Kompetenzen, die Möglichkeiten auch zu nutzen, sowie die Qualität der durch Vernetzung allein gebotenen Kommunikation.17 Im Kontext dieser Ebenen von Pluralität zeichnen sich dann sehr viel genauer bestimmte Antwortversuche als Phänomene von Pluralismus ab, die unmittelbar eine Herausforderung auch für eine heute tragfähige Religionspädagogik bedeuten: • Als erster Reflex auf die Situation von Pluralität ist die sich verstärkende Tendenz nicht nur zu Subjektivität, sondern auch zu Individualisierung und Vereinzelung zu sehen: Der Einzelne will nicht nur stärker selbst gefragt sein, er ist auch mehr und mehr gänzlich auf sich allein gestellt in Fragen von Lebensführung, Lebensgestaltung und Sinnsuche. • Parallel zur Individualisierung ist die Veränderung der Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit zu diagnostizieren: Die Verwirklichung von Leben hic et nunc gewinnt Priorität gegenüber dem Lebensentwurf in geschichtlichen Zusammenhängen und Verantwortungen. Geschichte hat zumindest die Wertigkeit eines Ideenrahmens, in den ich verantwortlich eingebunden bin, verloren. • Immer weniger eine Rolle spielen entsprechend mehr oder weniger allgemeinverbindliche Lebensformen und Sinnhorizonte, sowohl ideologisch als auch vom individuellen Bildungsstand her; das „Ende der großen Entwürfe bzw. Metaerzählungen“ (Lyotard) einschließlich der Religion ist postmodern wiederholt verkündet worden. • Die Frage nach Sinn stellt sich unter den Vorzeichen von Pluralität gleichwohl oder deshalb extensiver; extensiver meint offener, ohne vorgegebene Orientierung, und stärker die Suchbewegung des Einzelnen fordernd. Zu verabschieden ist die Voraussetzung einer quasi anthropologische Sinn-Konstante, auf die Religiosität 16 Zur genaueren Auslotung des Begriffs der Globalität, auch in Unterscheidung von denen des Globalismus und der Globalisierung vgl. die neueren Arbeiten von Ulrich Beck, etwa: Was ist Globalisierung? Frankfurt 1997, aber auch die Schlusspassagen in Peter Sloterdijk: Globen. Frankfurt 1999. 17 Vgl. dazu die Studien von Vilém Flusser, gut einzusehen etwa in dem „Flusser-Reader“: Die Revolution der Bilder. Mannheim: Bollmann 1995, mit programmatischen Aufsätzen wie „Bilderstatus“ (1991) und prägenden Stichworten wie dem der „telematischen Informationsgesellschaft“ (ebd. S.85ff). 82 1-1 Religionssoziologische Eckdaten dann die Antwort böte. Die auch für Religiosität eigentlich interessante Frage ist zunächst einmal: Wer bist du, dass du meinst, ganz du selbst sein zu können ? • Entsprechend kurzsichtig wäre es auch, in der neuerdings als gleichsam „natürlich“ beschriebenen Sehnsucht nach Werten vorschnell ein Indiz für einen vorgegebenen (religiösen) Wertekanon zu sehen. Eine als Sehnsucht sich äußernde Werteorientierung scheint angesichts der skizzierten Pluralität vielmehr grundsätzlich die Nachfrage erforderlich zu machen, warum wir denn überhaupt Werte brauchen. • Auch die anthropologische Offenheit hin auf Transzendenz ist neu zu sehen. Gestalten postmoderner Transzendenz verdeutlichen in ihrer bloßer Funktionalität oder als rein ästhetisierender Lebensgenuss schnell das Ungenügen bloß formaler Vieldeutigkeit, die Orientierung nur noch zufällig zu bieten vermag. Offener denn je sind wir daher konfrontiert mit der Frage, was denn grundsätzlich der Mensch sei, dass er über sich hinausfragt und hinausgreift. • Suchend tritt uns der Mensch heute eher entgegen als Bediener von Suchmaschinen, mehr oder weniger hilflos jedoch, denn vorausgesetzt ist bei aller konkreten Suche ein je schon vorhandenes Objekt der Suche. Die postmodern unbestimmte Form der Suche aber scheint hinter Phänomenen zu stehen wie Wander-, Bastel- (Bricolage-), oder Cafeteria-Religiosität. Natürlich müssen heutige bildungstheoretische Entwürfe solche Bewusstseins- und Daseinsformen ernst nehmen. Das bedeutet aber eben nicht nur, dass Religiosität heute nicht mehr in festen religiösen Systemen vorkomme, sondern unsichtbar, polytheistisch, um affirmativ verwendete Prädikate zu zitieren, oder auch beliebig, relativistisch, austauschbar; vielmehr ist auch hier tiefer zu fragen nach den Gründen solch unsystematischer, sich nicht festlegen wollender Suchbewegungen. 3 Kontextualisierung Aufschlussreicher ist die Beobachtung, dass hinter den genannten Phänomenen sich eine stärkere Lebensweltorientierung und -fixierung auch religiöser Haltungen und Vollzüge zeigt, eine sehr viel eher pragmatisch als orthodoxal ausgerichtete Religiosität. Geeigneter als der Begriff „Pluralität“ scheint mir zur Kennzeichnung postsäkularer Religiosität daher das Paradigma „Kontextualisierung“.18 Die inzwischen 18 Die Wahl dieses Begriffs nährt sich nicht nur aus den eben vollzogenen Differenzierung des Pluralitäts-Paradigmas und den nachfolgend kommentierten Beobachtungen, sondern ist auch in Korrelation zu sehen zu anderen in der Soziologie in den letzten Jahren zum Standard gewordenen heuristischen Begriffen, neben dem der Globalisierung (vgl. insbesondere Beck 1997a) auch den der Zweiten Moderne (vgl. Giddens 1995 und Beck 1997b) sowie schon früher dem der Individu- 1-1 Religionssoziologische Eckdaten 83 zum Allgemeingut gewordenen Rede von der unsichtbaren Religion19 bestätigt eine solche Sicht: Sie macht klarer, warum Religion und Religiosität zunehmend auseinander laufen, vor allem aber warum und inwiefern Religion in heutiger Lebenswelt durchaus eine Rolle spielt. Deutlich wird nämlich, dass Religion sich heute an anderen Orten und vor allem in anderer Weise „ereignet“20: Statt tradierter kirchlicher Riten gilt mehr und mehr die Alltagskultur als Ort des Religiösen, zuweilen sind Alltagskultur und gelebte Religion gar nicht zu trennen21: Selbst die Dechiffrierung von Sportevents als religiöser Gemeinschaftsformen oder das Aufdecken kultischer Rituale im Fernsehkonsum überrascht von daher nicht mehr, denn religiöses Erleben findet weniger an festen, gar sakralen Orten statt, sondern in der Kultivierung von Alltagswelt, von G. Thomas als „sekundäre Ritualisierung“ bezeichnet.22 Religion zeigt sich im Lebensstil23, ereignet sich eher als „religiöses Feld“, in dem wir uns mitten im Alltagsvollzug bewegen.24 Was sich dabei ändert, sind zudem die entsprechenden Bilder von Transzendenz; zur Charakterisierung dessen, „was alisierung (vgl. etwa Beck/Beck-Gernsheim 1994). Für den Zusammenhang dieser allgemeinen soziologischen Deutungen mit dem Thema Religiosität ist an dieser Stelle ausdrücklich meine Einlassung auf die jüngste zum Paradigma erhobene Wiederkehr des Religiösen in der Einleitung (Abschnitt 1) hinzuweisen. In diesem Kontext wird auch die oben bereits angedeutete Kategorie des Postsäkularen kurz erläutert. 19 Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion, Frankfurt 1991 [The Inivisible Religion. New York 1967]. 20 Vgl. Kaufmann (1989a), S.8. 21 Über diesen Zusammenhang informiert ausführlich z.B. der Band Wolf-Eckhard Failing,/ HansGünter Heimbrock: Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt - Alltagskultur - Religionspraxis, Stuttgart 1997. - Zur Phänomenologie von Religion in moderner Lebenswelt, auch zu Phänomenen wie Kulturalisierung von Religion, Zivilreligion, Alltagssynkretismus, Ritualisierungen von Alltagskulturen wie Sport etc., bieten umfangreiche Einblicke und Analysen auch die Studien von Karl-Fritz Daiber: Religion in Kirche und Gesellschaft. Theologische und soziologische Studien zur Präsenz von Religion in der gegenwärtigen Kultur, Stuttgart: 1997, sowie Karl-Fritz Daiber: Religion unter den Bedingungen der Moderne. Die Situation in der Bundesrepublik Deutschland, Marburg 1995. 22 Günther Thomas: Medien - Ritual - Religion. Zur religiösen Funktion des Fernsehens, Frankfurt 1999. Vgl. für den Zusammenhang auch die Studien von Gunter Gebauer zur religiösen Bedeutung des Sports, zuletzt etwa: Religiöse Gemeinschaften im Sport, in: Merkur 1999, S.963ff. - Die Suche nach Spuren des Heiligen in der Lebenswelt der Moderne ist so neu im übrigen nicht: Vgl. bereits die umfangreiche Studie von Dietmar Kamper / Christoph Wulf (Hg.) : Das Heilige. Seine Spur in der Moderne, Frankfurt 1987, mit Untersuchungen zu Heiligem etwa in der Psychoanalyse, in der Erotik, in der bildenden Kunst, im Alltag, in der Geschichte, im Geldverkehr, im Sport usw. Die Suche nach religiösen Spuren im Alltag ist spätestens mit William James’ berühmtem Buch „Die Vielfalt religiöser Erfahrung“ von 1901 zum Standard religionssoziologischer Untersuchungen geworden. 23 Vgl. dazu die Studien des Marburger Graduiertenkollegs zur Religion in der Lebenswelt der Moderne, zuletzt veröffentlicht von Kristian Fechtner / Michael Haspel (Hg.): Religion in der Lebenswelt der Moderne. Köln 1998. 24 Peter Sloterdijk: Selbstversuch. Ein Gespräch mit Carlos Oliveira, München 1996, S.96. 84 1-1 Religionssoziologische Eckdaten Menschen heute wirklich glauben“, spricht K.P. Jörns gar von den „neuen Gesichtern Gottes“, einer von Lebenskontexten abhängigen Gestalt auch religiöser Gehalte.25 Wenn aber die konkrete Existenz, der gelebte Vollzug des Alltags nicht nur die Ebenen sind, in denen bzw. auf die hin sich Religion vollzieht - denn das galt zumindest im biblischen Kontext immer schon so26 -, sondern auch mit Religiosität identisch sind, stellt sich die Frage, ob Religion durch Alltagskultur nicht sogar ersetzt wird. Für den Sinngehalt des Begriffs Säkularisation meint das zunächst gar nichts Neues27, und doch verändert sich mit dieser Form von Säkularität Entscheidendes: Dreh- und Angelpunkt für säkularisierte Religiosität ist nicht mehr ein religiöser Bezugsrahmen, sondern das Religiosität ausübende Individuum und seine von ihm selbst geschaffene Lebenswelt. Das hat aber eine doppelte Konsequenz: Einerseits scheint Religion als nur noch religiöses Feld sich so zu verlieren.28 Und damit droht zugleich das als Akteur dieses Prozesses unterstellte Subjekt selbst sich aufzulösen, nur noch im Kontext seiner Lebenswelt fassbar zu sein, also in völlige Abhängigkeit von Kontextualität zu geraten, ja gänzlich in diesen Kontexten sich zu verlieren, vergleichbar dem, was Marx unter den Kategorien der Entäußerung und der Entfremdung beschrieben hat.29 25 Klaus-Peter Jörns: Die neuen Gesichter Gottes. Was die Menschen heute wirklich glauben, München 1999. Jörns stellt (S.27) die These zur Debatte, die konkrete Gestalt der Transzendenzbeziehung beeinflusse die konkrete Gestalt von Lebenssituation, wie auch das „transzendente Gegenüber („Gott“) ein mit der Lebenssituation verbundenes ‘Gesicht’“ habe (S.27). Zur Stützung dieser These konstatiert Jörns einen weitgehenden Abbruch tradierter dogmatischer Glaubensüberzeugungen (vgl. S.210), eine starke Tendenz zu Individualisierung bzw. individualisierter Deutung von Glaubenstraditionen (S.212), womit der Mensch sich zunehmend zum Maß und Gegenüber seiner selbst und seiner Welt stilisiere (vgl. S.220; in diesem Zusammenhang spricht Jörns vom „Heiligen Kosmos“ des Atheismus), konstatiert aber trotz dieser Traditionsbrüche bzw. -veränderungen ein bleibendes Bedürfnis nach Heil und Bewahrung von Leben (S.221). 26 Unbestritten gilt das für den Prototyp des Glaubenden, Abraham, aber natürlich zeichnet dieses Verhältnis von Existenz bzw. Lebensgestaltung und Glauben auch alle anderen biblischen Figuren aus, was sich an den entsprechenden Texten genau nachzeichnen lässt. (Zur Entfaltung dieser Behauptung vgl. die Anmerkungen zum Abschnitt 1 des Kapitels 1-4.) Im nichtbiblischen Religionen ist diese Verbindung fast selbstverständlich in allen Stifterreligionen nachzuweisen, so im Buddhismus. Wenn aber auch in den anderen großen Religionen, wie etwa im Hinduismus die Einbindung des Glaubens in die Existenz fundamental ist, wird diese Behauptung nahezu banal. 27 Bekanntlich ist „Säkularisation“ ursprünglich ein Begriff aus dem kirchlichen Recht und bezeichnet den Ausgriff bzw. Zugriff kirchlicher Befugnisse auf innerweltliche Zusammenhänge. 28 Sloterdijk (1996), S.96. 29 Gemeint ist neben der Kritik ökonomischer Entfremdung die auch heute noch glänzende Kritik an einer Ideologisierung des Bewusstseins, wie sie die nach Marx unvollständige philosophische Kritik der Junghegelianer geleistet habe: In der Fixierung auf die Religionskritik sei die Religion „als letzte Ursache aller … widerwärtigen Verhältnisse angesehen und behandelt worden“. Das daraus folgende veränderte philosophische Bewusstsein laufe aber darauf hinaus, lediglich „das Bestehende anders zu interpretieren“ und somit nicht nur weiterhin „vermittelst einer anderen Interpretation anzuerkennen“, sondern seinerseits sogar erneut zu mystifizieren. Was also eigentlich von Menschen um der Emanzipation von Ideologien gemacht worden sei, verändere sich 1-1 Religionssoziologische Eckdaten 4 85 Unabgeschlossene Säkularisation In diesem Sinne erweist sich der Prozess der Säkularisation als ganz und gar nicht abgeschlossen, weil er nun gegen die eigenen Grundlagen sich wendet: Die vom Einzelnen selbst geschaffenen aber unsichtbaren Quasi-Institutionen religiöser Betätigung machen die Religiosität des Einzelnen aus, ja definieren sie. Damit aber droht zugleich ihr Akteur, die menschliche Vernunft, hinter der Macht der faktisch waltenden Verhältnisse zurückzufallen, der Einzelne scheint sich in religiösen Betätigungen nurmehr selbst verehren zu können, was sich ausnimmt wie eine späte Rache an Feuerbachs Religionskritik. Die zur Zeit gängige Rede von postsäkularen Lebensverhältnissen30 macht von dieser Offenheit, besser Unbestimmtheit her, meine ich, guten Sinn. Es kann nicht Sinn kritischer, auf Autonomie und Eigenverantwortung abzielender Bildung sein, zu solchen Formen scheinhafter Orientierung zu erziehen. Aber auch das Projekt einer Erziehung zu kritischem Umgang mit religiösen Äußerungen bliebe dieser Dialektik von Säkularität und Selbstentfremdung noch ganz verfallen. Anspruchsvolle, auf Orientierung ausgerichtete Bildung müsste und würde demgegenüber einklagen, diese Säkularität wiederum zu profanisieren, d.h. ihr den Schleier eines Heiligen Kosmos zu nehmen, den sie sich hypertroph selbst umgelegt hat; sie müsste säkularitätstranszendierende Horizonte aufweisen, um „gegenüber der Wirklichkeit Offenheit der Wahrnehmung zurückgewinnen“ zu können31. Das aber lässt die Dimension des Religiösen aus kritisch-philosophischer Sicht wiederum interessant erscheinen. In dieser Perspektive stellt sich auch die Frage nach der Berechtigung religiöser Bildung differenzierter: Zur Debatte steht eigentlich nicht mehr, ob religiöse Bildung angesagt ist, sondern wie Religion so vermittelt werden kann, dass das eben 30 31 unter der Hand zu etwas, was den Menschen und sein Bewusstsein mache. Auch in dieser Perspektive, also mit der Pointe eines kritischen Untertons gegen uns übermächtigende Verhältnisse ist der berühmte Satz der sog. 5.Feuerbach-These zu lesen, in der Wirklichkeit sei der Mensch „das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“. Vgl. dazu Karl Marx: Deutsche Ideologie (1845), in: MEW Bd.3, Berlin: Dietz 1963, S.13ff, Zitate S.19f. Ins Gerede gekommen ist solche Rede parallel zu der im Abschnitt 1 andiskutierten vielfach proklamierte Wiederkehr des Religiösen. Genauere Erläuterungen, vor allem auch zu Habermas’ Friedenspreisrede (2001b) siehe dort. Peter L. Berger: Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Widerentdeckung der Transzendenz. Freiburg: 1991 (Frankfurt 1969), S.157. Berger plädiert in seinem Buch für ein theologisches Programm, das die „Säkularität transzendentalisieren“ würde (Einführung zur TBAusgabe, S.10). Diese Idee variierend und zuspitzend habe ich von der Profanisierung der Säkularität gesprochen. In ähnlicher Sinngebung, nämlich als Programm gegen Verabsolutierung wie auch Nihilisierung der Vernunft in einer zunehmend rationalisierten Welt, sprach bereits 1957 Adorno von Säkularisation (in: Vernunft und Offenbarung, in: Stichworte, Frankfurt 1969, S.23). Auch dieser Zusammenhang von nachaufklärerischer Vernunftkritik und kritisch zu rehabilitierender Metaphysik und Religiosität wird in meiner Einleitung im Abschnitt 1 thematisiert. 86 1-1 Religionssoziologische Eckdaten angedeutete kritische Potential zur Sprache zu kommen vermag. Diese Sicht bricht sich freilich an der Realität mancher bundesdeutscher Bildungskonzeptionen, wenn Religion eher als Kulturgut zum Gegenstand schulischer Bildung gemacht wird. Der Auseinandersetzung damit ist das folgende Kapitel gewidmet. Kapitel 1-2 Welchen Sinn macht die Rede von Religion als „Bildungsgut“? Nicht allein das A B C / Bringt den Menschen in die Höh’; / Nicht allein im Schreiben, Lesen / Übt sich ein vernünftig Wesen; / Nicht allein in Rechnungssachen / Soll der Mensch sich Mühe machen; / Sondern auch der Weisheit Lehren / Muss man mit Vergnügen hören. - Diese Verse aus Wilhelm Buschs „Max und Moritz“ zitiert Heinz Schmidt zu Beginn seiner Ethik-Didaktik als Beleg für die Möglichkeit, „denen, die der Religionsunterricht nicht mehr erreicht, Sittliches denken zu geben“.1 Sittliche Unterweisung also als Ersatz für Religionsunterricht? Ekkehard Martens konzentriert sich in seinen Überlegungen zu einer Ethik-Didaktik demgegenüber ganz auf die orientierende Kraft des Denkens, plädiert für das Philosophieren als vierter Kulturtechnik.2 Damit ist er zumindest näher an Wilhelm Busch, denn dort heißt es weiter: … Dass dies mit Verstand geschah, / War Herr Lehrer Lämpel da … - Richtschnur für das angemessene Thematisieren der Weisheitslehren und auch der Sittlichkeit scheint somit der (im Denken orientierende) Verstand zu sein. Das ist begründeter eine philosophische Position, wenigstens wenn man an Kant denkt, auf dessen kritischen Ansatz sich Martens beruft. Doch kann Philosophie deshalb wirklich als Verstandestechnik aufgefasst werden? Oder gilt nicht umgekehrt, dass auch der Verstand lediglich ein Organ ist zum Hören einer dem Verstand selbstverständlich vorgeordneten Weisheit? Auch für eine solche weder auf Sittlichkeitsunterweisung, noch auf Kulturtechnik reduzierte Lesart philosophischer Bildung könnte Wilhelm Busch gewonnen werden, zumindest aufgrund seiner hintersinnig humorvollen Parteinahme für das Vergnügen am Weisheits-Lernen: Max und Moritz klagen ja, wenngleich unmoralisch und gewalttätig, vor allem gegen die strenge Verstandeszucht ihres Lehrers Lämpel, den sie darob „gar nicht leiden“ mochten, nicht aber gegen ein Hören der Weisheit, zu welchem Vergnügen sie ja gar nicht kommen.. 1 Schmidt (1983), Bd. I, S.9. 2 Vgl. sein an verschiedenen Orten geäußertes Plädoyer für Philosophieren als vierter Kulturtechnik, etwa: Ekkehard Martens: Philosophicum elementare. Zur (Wieder-)Einführung von Philosophie in der Lehrerbildung, in: Akademische Philosophie zwischen Anspruch und Erwartung. Hg.v. K.R.Lohmann u. Th.Schmidt, Frankfurt 1998, S.196-208, zuletzt auch in: Martens 1999, bes. S.184-191. In mündlichen Referaten hat Martens in diesem Zusammenhang wiederholt die Passage von Wilhelm Busch als ermunternden Beleg angeführt. 1-2 Religion als Bildungsgut? 89 Die kleine Busch-Exegese könnte durchaus zu einer didaktischen Kontroverse ausformuliert werden; hier dient sie nur als Einstieg für die Frage nach einer bloß äußerliches Verstandeslernen ergänzenden, vielleicht auch sie überhaupt erst recht dimensionierenden Bildungsgröße. Religion bietet dafür selbst in nur halbwegs säkularisierten Lebensverhältnissen (siehe Kapitel 1-1) keine allgemein anerkannte Voraussetzung mehr. Säkular stellt sich daher am unmittelbarsten die Frage nach Ersatz. Und was läge da näher als die Philosophie in ihrem ethischen Bereich zu bemühen? Unserer Frage nach Religion als Bildungsgut gehen wir unter dieser Vorgabe also aus einer gewendeten Perspektive nach: Kann bzw. inwiefern kann nunmehr philosophische Bildung herhalten als (ersatzweise) Unterweisung in Sittlichkeit?3 Unmittelbar ist darauf zu antworten mit einer Gegenfrage: Handelt sich die Philosophie damit nicht zugleich kompetenzüberschreitende Probleme ein? Die Möglichkeiten und Grenzen einer angemessenen Antwort darauf hat Odo Marquard treffend und selbst-ironisch als „Inkompetenzkompensationskompetenz“ beschrieben, um die zunehmend unübersichtlichen und orientierungsbedürftigen Lebensverhältnisse ebenso ernst zu nehmen wie das kritische, zur Ideologisierung untaugliche Selbstverständnis der Philosophie.4 Vermag die Philosophie gleichwohl Orientierung zu 3 Zur Einordnung dieser Wendung ist natürlich auch darauf zu verweisen, dass dieses Kapitel ursprünglich im Kontext einer ursprünglich nicht religionspädagogischen, sondern philosophiedidaktischen Einlassung auf Religion stand. 4 Vgl. Odo Marquard: Inkompetenzkompensationskompetenz? Über Kompetenz und Inkompetenz der Philosophie; in: ders: Abschied vom Prinzipiellen. Stuttgart 1981, S.23-38. - Was ist gemeint? Im Zuge nachmetaphysischen Denkens haben sich im 19. und 20. Jahrhundert nach und nach die (heute selbständigen) Einzel-Wissenschaften aus der Philosophie verabschiedet. Da müsste es eigentlich einfacher geworden sein, da eingeschränkt fassbarer, einen Gegenstand aus philosophischer Perspektive zu beschreiben. Doch das ist meist nicht der Fall, was den hier zur Debatte stehenden Gegenstand, die Religion, angeht, allemal nicht. Denn mit ihrer Verabschiedung aus der Philosophie haben die Wissenschaften zudem versucht, traditionelle der Philosophie eigentümliche Gegenstände des Denkens als vorwissenschaftlich oder hinterweltlerisch abzutun. Andererseits haben die Wissenschaften die sich selbst aufgeladenen Probleme keineswegs zu größerer Zufriedenheit lösen können als vormals die spekulative Philosophie; zwar leben wir durch sog. wissenschaftliche Entdeckungen in einer Zeit ständig sich steigernder Informationsgehalte, andererseits steigen damit paradoxerweise auch Orientierungs- und Legitimationsprobleme für neu sich bietende Lebensformen. Entsprechend meldet sich ein Bedarf nach Bewältigungs-Theorien. Auch die Philosophie wird angesichts dieser Schwächen neu befragt. Das macht ihr Geschäft auch nicht einfacher, schwieriger vielleicht auch nicht, aber heikler und gefährlicher. Warum? Einerseits kann die Philosophie angesichts der aus ihr ausgezogenen Wissenschaften nicht mehr ohne Probleme mit allgemeingültigen Orientierungssätzen aufwarten, war doch dieser Auszug ein Indiz für das anbrechende nachmetaphysische Zeitalter, - ihr ist also eine gewisse Zurückhaltung bei allgemeinen Sinnfragen auferlegt; auf der anderen Seite aber wächst in einer zunehmend sich diversifizierenden und auseinanderlaufenden, aber auch komplexer und zusammenhängender werdenden Welt, sowie konkurrierender Entlastungstheorien Orientierungsbedarf, den die Wissenschaften aufgrund ihrer zunehmenden Spezialisierung nicht mehr einlösen können. In dieser Situation wird, so meint Odo Marquard, der Philosoph zunehmend als „Stuntman des Experten“ gefragt, „Experten - die ja kostbarer sind als Philosophen - zu doubeln in Situationen, die jenen Riskanz- 90 1-2 Religion als Bildungsgut? bieten? Und was lädt sie sich auf, wenn sie solche Orientierung ersatzweise nun gerade für religiöse Orientierung anbieten soll? - Dazu bieten sich drei Wege an: Als erste Möglichkeit einer Orientierung könnte die Philosophie Religion entschlackt von ihrem transzendenten Anspruch als kulturelles Gut ansehen und das darin bewahrenswürdiges Erbe ausmachen (1). Weiter würde die Lösung reichen, die Werte, die bislang durch Religion verkörpert wurden, nun als ethische (im philosophischen Sinn) zu begründen und herauszustellen (2). Und schließlich bliebe noch, ganz auf das philosophische Proprium zu setzen und Orientierung im Denken als Ersatz für religiöse Orientierung zu bieten (3). Prüfen wir diese Möglichkeiten: 1 Religion als Kulturgut Unter der Perspektive, Religion als Kulturgut zum Gegenstand schulischer Bildung zu machen wurde das Fach Ethik in den 70er-Jahren ausdrücklich für diejenigen Schüler eingeführt, „die nicht am Religionsunterricht teilnehmen“5; seine Orientierung an den „allgemein anerkannten Grundsätzen der Sittlichkeit“ bzw. des „natürlichen Sittengesetzes“6 versuchte, sich auf religiöse Elemente ausdrücklich nicht zu beziehen. Gleichwohl haben in den Bildungsplänen von Anfang an religiöse Gehalte eine Rolle gespielt, jedoch in einer Religion bzw. Religiosität nicht vermittelnden, sondern eher in einer über Religion als Kulturgut informierenden, also religionskundlichen Perspektive. Die Religionswissenschaft wurde damit zunehmend zur entscheidenden wissenschaftlichen Bezugsdisziplin.7 grad erreichen, den interdisziplinäre Kooperationen nun einmal haben“ [Odo Marquard: Der Mensch „diesseits der Utopie“. Bemerkungen über Geschichte und Aktualität der philosophischen Anthropologie, in: ders: Glück im Unglück. Philosophische Überlegungen. München 1995, S. 154.]. 5 So die Verfassungen der Länder Bayern (Art.137.2) und Rheinland-Pfalz (Art.35), die seinerzeit Vorreiter waren in der Einführung von Ethik als Schulfach. 6 Ebd. 7 Vgl. Peter Antes: Ethiklehrerausbildung ohne Religionswissenschaft? Ein Plädoyer, in: EU 1995, H.4, S.43f. - Antes fordert hier „die Religionswissenschaft als [gegenüber der Philosophie] gleichwertige und gleichberechtigte Leit- und Bezugswissenschaft“. Drei Begründungen liefert er dafür: Erstens sei für die heute in interkultureller Wirklichkeit gefragte Auseinandersetzung mit andersartigen Denkansätzen „eine an der abendländischen Philosophie orientierte Ethik allein nicht mehr ausreichend“. - Diesem Argument hat mit Recht Heinz-Albert Veraart (Wie philosophisch darf die Ethik sein ? Eine selbstverständliche Antwort auf eine erstaunliche Frage, in: EU 1996, H.3, S.41f.) eine unphilosophische Verkürzung des Ethikbegriffs durch Antes entgegengehalten: Philosophische Ethik hat ihren Gegenstand nicht in der faktischen Geltung bestimmter Normen, sondern in der Reflexion auf sie bzw. in der Frage ihrer möglichen Begründung. - Vgl. dazu auch unten die Anmerkungen 44 und 45 sowie das Kapitel 4-4, in dem ich selbst versuche, einen philosophisch wie didaktisch tragfähigen Begriff von Ethik zu entwickeln. 1-2 Religion als Bildungsgut? 91 Die Pointe wie Problematik dieser Sicht auf Religiöses ist dann am deutlichsten geworden in der Diskussion um das brandenburgische Fach LER (LebensgestaltungEthik-Religionskunde). Bekanntlich erfolgte hier in der Phase der Einführung eine Veränderung der Nomenklatur von „Religion“ über „Religionen“ zu „Religionskunde“, die die Verschiebung und letztlich auch Engführung der Perspektive auf das Phänomen des Religiösen sicher am evidentesten verdeutlicht. Auf die umfassende Diskussion kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden.8 Unbestritten ist aber, dass das Fach LER unter völlig anderen Bedingungen als der westdeutsche Ethikunterricht eingeführt wurde: Zumindest auf den ersten Blick schienen dies, und darum ist in unserem Zusammenhang darauf kurz einzugehen, vor allem religionskundliche Aufgabenstellungen erforderlich zu machen.9 - Die Problematik dieses Zweitens, so Antes, ermögliche gerade die (zunächst deskriptive) Religionswissenschaft einen „kognitiven Nachvollzug“ religiöser Traditionen „von außen“. Diesem Argument vor allem wird in der Folge durch Etablierung eines philosophischen Begriffs von Religion zu begegnen sein. Siehe dazu die Ausführungen im folgenden Kapitel 1-3. Und drittens erlaube die Religionswissenschaft einen kontextualisierten Zugang zu religiösen Phänomenen und Begriffen. Auch dazu vgl. unten meine Ausführungen in Kapitel 1-3. Offener für ein „Bündnis zwischen Philosophie und Religionswissenschaft“ hat Ulrike Brunotte plädiert (Ethik und Religion in der Schule, in: ZDPE 1995, H.2, S.130-136, hier S.136). Sie sieht den religionswissenschaftlichen Beitrag vor allem in dem „am tatsächlich vorhandenen Interesse der Schüler“ anzuknüpfenden „Erfahrungsmodus“ (ebd. S.132), welchen religionswissenschaftlich zu erschließende Deutungstraditionen eröffnen. Vgl. dazu unten das Kapitel 1-4, insbesondere im Zusammenhang meines Plädoyer für einen propädeutisch verfahrenden Unterricht in Religion, sowie auch die Erläuterungen zur Kategorie der Erfahrung in der Einleitung, Abschnitt 2. 8 Vgl. dazu diverse umfangreiche Dokumentationen, u.a.: Religionsunterricht und LER im Land Brandenburg. Hg. v.d. Evang.Kirche in Berlin-Brandenburg 1995, oder die epd-Dokumentation 19/96 „Pro und contra ‘LER’“. - Zu diesem Thema vgl. auch mein jetzt als Kap. 5-3 in die vorliegende Arbeit aufgenommener Beitrag: H.B. Petermann: LER - eine Herausforderung für den Religionsunterricht der Zukunft, in: IRP-Mitteilungen 2/96, Freiburg 1996, S.22-29. 9 Drei Gründe sehe ich vor allem, die für die Einführung des Faches LER im Unterschied zum Ethikunterricht angeführt werden konnten und angeführt wurden: (1) Es ging zunächst einmal nicht um das Auffangen von „Abmeldern“ aus dem Religionsunterricht, die gleichwohl, in einer neutral Wissen vermittelnden Form, in religiösen Dingen unterrichtet werden sollten; Ausgangspunkt für das Fach LER (wie im übrigen auch für das Fach Ethik in allen anderen ostdeutschen Bundesländern) war vielmehr die demografische Tatsache von ca. 80% nichtreligiösen, d.h. ungetauften und i.d.R. über religiöse Traditionen völlig uninformierten Schülern; ihnen sollten zunächst einmal Grundkenntnisse vermittelt werden. (2) Natürlich hatte solche Vermittlung bekenntnisneutral zu erfolgen; angesichts der Vielfalt gelebter und lebbarer Religionen wie auch nichttreligiöser Weltanschauungen schien die Maxime einer eher informativen Religionen-Kunde einleuchtend. „LER soll keine Religion bekennend vermitteln, sondern Wissen über die verschiedenen Religionen“, so programmatisch die ehemaligen Brandenburgische Bildungsministerin Peter Angelika Peter gegenüber der „Frankfurter Rundschau“, [zitiert in dem Artikel von Christian Füller: „Um Gottes willen, kein Weltanschauungsfach“. Religion als Nebenfach: In Brandenburg verschärft sich der Konflikt zwischen Staat und Kirche, in: FR v. 12.10.1995] (3) Schließlich musste man sich der neuen Situation einer pluralen demokratischen Gesellschaft stellen, zu deren Überleben Toleranz und Fähigkeit zur Auseinandersetzung gehören. In diesem Sinne meinte seinerzeit auch der LER-Kritiker Werner Simon durchaus affirmativ: „Eine plura- 92 1-2 Religion als Bildungsgut? pädagogisch innovativen Ansatzes hat Karl Ernst Nipkow auf den Punkt gebracht: Abgesehen von allen bildungskonzeptionellen und politischen Einwänden reflektierte das LER-Modell sicher zu wenig auf die gerade auch von Religionswissenschaftlern beschriebene strukturelle Aporie des religionskundlichen Zugangs zu Religionen: Sofern es sich bei Religionen um gelebte und lebbare, auch heute noch aktuelle und nicht rein historische Lebensbezüge handelt, kann ein informierender, sachkundlicher Zugang nie am Anfang einer Auseinandersetzung stehen, sondern ist stets von Lebensfragen getragen. Pädagogisch ist ein solcher Zugang daher problematisch, in der Erwachsenenperspektive kann er sinnvoll sein, nicht aber für die Erstbegegnung mit dem Religiösen.10 Dass bei der Bildung in religiösen Dingen die Dimension religiösen Erlebens bzw. von Religion als Beziehungsgeschehen ein unverzichtbares Element ist, diesen Schluss hat Klaus-Peter Jörns auch aus seinen soziologischen Erhebungen ziehen können.11 Gleichwohl ist keineswegs nur in philosophie- bzw. ethikdidaktischen, sondern auch religionspädagogischen Überlegungen die Ansicht nicht unverbreitet, heute sei es lediglich noch möglich, Religion als Bewahren kultureller Traditionen zu vermitteln.12 Ohne Zweifel besteht für eine elementare Wissensvermittlung in Sachen Religion nicht nur in den überwiegend nichtreligiös geprägten ostdeutschen Bundesländern Handlungsbedarf; auch in Westdeutschland ist die Rede vom religiösen Analphabetismus längst common sense.13 Auch den Herausforderungen listische Gesellschaft lebt von der Vielfalt begründeter, nicht beliebiger Überzeugungen. Sie fordert insofern eine ‘kenntnisreiche’ Toleranz.“ (Simon 1995). 10 Vgl. insbesondere zuletzt Nipkow (1998), Bd.2, S.144ff, 179f., 450ff. - Einen Weg, diesen Einwänden zu begegnen, weist Ulrike Brunotte mit ihrem auf Erfahrungslernen aufbauenden religionsdidaktischen Plädoyer (Brunotte 1995, S.132). 11 Jörns 1999, S.229. 12 Zu verweisen ist hier insbesondere auf die Überlegungen von Gerd Otto, zusammengefasst etwa in: Gerd Otto: Allgemeiner Religionsunterricht - Religionsunterricht für alle. Sieben Thesen mit Erläuterungen, in: Lott, Jürgen (Hg.), Religion - warum und wozu in der Schule?, Weinheim: Dt.StudienVerlag 1992, S.359-374. - Hintergrund für solche Konzeptionen bietet einerseits die Diagnose, Gesellschaft und (christliche) Kirche bildeten heute keine Einheit mehr, andererseits die Herausforderung, gegen die Mängel eines rein problemorientierten Religionsunterrichts, wie er in den 70er-Jahren gegen eine anachronististisch gewordene und nicht mehr akzeptanzfähige katechetische Glaubensunterweisung entwickelt wurde, gleichwohl an objektivierbaren stofflichen Bildungselementen festzuhalten. Für einen Rückzug der Kirchen aus dem schulischen Religionsunterricht und die Einbindung von „einschlägige(m)“ kirchlichen Gedankengut als „wesentliche(n) Stücken unserer moralischethischen Tradition“ in einen für alle verbindlichen „Ethik- oder Moralunterricht“ (sic!) plädierte 1988 aus Josef Brechtken in den „Katechetischen Blättern“ und zettelte damit eine heftige Diskussion unter Religionspädagogen an (Brechtken 1988). 13 Vgl. etwa auch Annette Schavan: Wozu brauchen wir noch einen Religionsunterricht ?, in: Stimmen der Zeit 1997, H.1, S.3-10. - Schon früh auf die zunehmende religiöse Sprachlosigkeit haben von Seiten der Religionspädagogik hingewiesen Norbert Scholl (zusammengefasst in: RU 2000. Welche Zukunft hat der Religionsunterricht? Zürich: Benziger 1993) und Günter Lange; Lange 1-2 Religion als Bildungsgut? 93 multikultureller und auch multireligiöser gesellschaftlicher Verhältnisse insbesondere in westdeutschen Großstädten haben sich religionspädagogische Überlegungen in den letzten Jahren verstärkt zu stellen versucht. Dabei scheint man augenblicklich noch eher darauf zu setzen, vor allem für die vielen islamischen Kinder und Jugendlichen (an einigen Schulen inzwischen mehr als 70% der Schüler) einen eigenen Religionsunterricht einzurichten, und nicht einen allgemeinen Religions- und Orientierungsunterricht für alle.14 Als zentrales Gegenargument gegen einen allgemeinen Religionsunterricht wird von kirchlicher Seite eben die fehlende Ebene persönlicher Erfahrungsbezogenheit eingeklagt. So formuliert etwa die Denkschrift der Evangelischen Kirche es sogar als Grundsatz für den Religionsunterricht, jene von Nipkow oder Jörns angemahnte „selbständige erfahrungsbezogene Aneignung und Auseinandersetzung zu fördern“.15 Der Religionsunterricht will demnach „ein Beitrag zur persönlichen Orientierung und Bildung sein“ und elementarisiert Fragen wie Lebenszuversicht, Identitätsentwicklung aufwerfen, freilich mit Religion als „Erfahrungen ganz eigener Art“, als „eine unverwechselbare Dimension des Lebens“.16 Die katholische Kirche arbeitet den hier zugrundeliegenden Bildungsbegriff in ihrer programmatischen Schrift zum Religionsunterricht noch deutlicher heraus, wenn das Thema „Erziehung als Bildung“ ausdrücklich im Horizont jugendlicher Erfahrungswelt und insbesondere des jugendlichen Selbstwerdungsprozesses erläutert wird:17 Die „konkrete Existenz“ der Jugendlichen wie der Lehrenden biete den Boden zur Ausbildung von Zielen wie „aus der Perspektive anderer sehen zu lernen“, um so „Perspektivenübernahme einzuüben“, oder „Selbstständigkeit“ zu entwickeln, was auch „Ermutigung zu kritischer Selbstdistanz“ mit einschließe.18 konstatierte bereits 1988 auch für den tradierten konfessionellen Religionsunterricht ein Verhältnis von 9:1 von kirchlich nicht mehr sozialisierten zu kirchlich gebundenen Schülern (Religionsunterricht auf dem Prüfstand, in: KatBl 1988, S.490); ebenso vgl. die kurze Notiz bei Scholl (1989). 14 Gegen die Einführung von Islamunterricht spricht m.E. nicht bzw. weniger die Schwierigkeit, geeignete Ansprechpartner und Träger zu finden. Vielmehr würde dadurch einer weiteren Aufspaltung in Konfessionalismen Vorschub geleistet mit der (fast notwendigen) Folge zunehmender Ausgrenzung von Religionsunterricht aus dem allgemeinen schulischen Bildungsangebot. Eine lobenswerte Ausnahme stellt demgegenüber der Hamburger Versuch eines Religionsunterrichts für alle dar, zumal dessen Konzeption auffälligerweise nicht bei bloßer Kenntnisvermittlung stehen bleibt, sondern versucht, die Dimension des Erfahrungs-Lernens auch in einem interreligiösen Kontext ernst zu nehmen. Vgl. dazu F.Doedens / W.Weiße: Religionsunterricht für alle. Hamburger Perspektiven zur Religionsdidaktik, Münster: Waxmann 1997. – Weitere Auseinandersetzungen dazu s.u. im abschließenden Kapitel 5-4. 15 Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität. Hg.v.d. Evang. Kirche i. D. Gütersloh: 1994, S 27. 16 Ebd., S.26,28,30. 17 Die deutschen Bischöfe: Die bildende Kraft des Religionsunterrichts (1996), S.26ff. 18 Ebd., S.61ff. 94 1-2 Religion als Bildungsgut? Eigentümlicherweise wird kirchlicherseits (und aufgrund der sog. religionsunterrichtlichen Trias von der katholischen Kirche noch stärker19) gleichwohl am Prinzip des konfessionellen Religionsunterrichts festgehalten, zugleich an der Pflege der konfessionellen Beheimatung20, so dass weiterdenkenden Versuchen, die den propädeutischen Charakter des Religionsunterrichts stärken wollen, um der angesichts konfessioneller Marginalisierungen notwendigen Ebene des Erfahrungslernens stärkeres Gewicht zu verschaffen21, vorschnell und paradoxerweise mit dem gleichen Argument wie gegenüber einem allgemeinen Religionsunterricht begegnet wird: „Ein solcher Religionsunterricht müsste gerade die konkret gelebten, anschaulichen und lebensnahen Elemente vernachlässigen, sich auf eine wenig fassbare, allgemeine Religiosität beschränken“.22 - Die Frage ist aber, ob ein puristisches Festhalten am konfessionellen Religionsunterricht nicht selbst dem als Gegenargument aufgebauten Abgleiten „in eine abstrakte Religionskunde“23 anheim fällt, da dabei abstrakt eine Verwurzelung in religiöser Erfahrung vorausgesetzt wird, die demgegenüber durch einen erfahrungsorientierten Unterricht angesichts weithin entkonfessionalisierter Sozialisation zuerst einmal aufbereitet werden müsste.24 19 Die Trias meint die Bindung des Religionsunterrichts an das Bekenntnis von Lehrer, Schülern und Lehrinhalten. Sie wird katholischerseits als Konstituens des Religionsunterrichts festgehalten (vgl. Die deutschen Bischöfe (1996), S.77), evangelischerseits zumindest, was die Ebenen Lehrer und Lehrinhalte angeht. Versuche, das Konfessionalitätsprinzip nicht als formale Voraussetzung, sondern eher als inhaltliche Aufgabe im Sinne einer Konfessionabilität des Religionsunterrichts aufzufassen, also als Orientierung auf eine konfessionelle Entscheidung hin, haben sich bislang nicht durchsetzen können. Vgl. dazu mein eigener Vorschlag: H.B.Petermann: Religion im Religionsunterricht ? Thesen zu einem Religionsunterricht der Zukunft, in: Mitt.d.Verb.Kath.RL, Freiburg 1996, H.2, S.14ff., sowie das Kapitel 5-4. 20 Zur Kritik vgl. auch Petermann (1997b) sowie Kapitel 2-1, Abschnitt 4. 21 Vgl. dazu die Vorschläge Petermann 1996a sowie zuletzt Hans Julius Schneider: Das neue Fach "Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde": Sinnvolle Propädeutik oder fragwürdiger Ersatz für den Religionsunterricht ?, in: Dt.Ztsch.f.Philos., Berlin 1998, S. 305ff. 22 Die deutschen Bischöfe (1996), S.77f. 23 Ebd. 24 Zur Entfaltung dieser Position vgl. unten die Kapitel 1-4 sowie 5-4. 1-2 Religion als Bildungsgut? 2 95 Werteorientierung und Ethik Wie aber kann Religion nicht nur als allgemeines und damit tendenziell beliebiges, zumindest kontingentes Kulturgut, sondern auch als unser Leben elementar berührende Erfahrung vermittelt werden, wenn konfessionell-religiöse Bindung den dafür notwendigen Erfahrungshintergrund faktisch nicht mehr bietet? Auf dem Hintergrund dieser Diagnose ist es beliebt geworden, von Werteorientierung zu sprechen und sie als zentrale Bildungsaufgabe einzuklagen. Das war die Pointe auch der Bildungsrede des früheren Bundespräsidenten Roman Herzog mit seiner ersten Forderung „Ich wünsche mir ein Bildungssystem, das wertorientiert ist“.25 Der Versuch des Rückgriffs auf Werteorientierung in Zeiten größerer Orientierungsschwäche hat Vorbilder, man vergleiche die Grundwertedebatte der 80er-Jahre oder den Kongress „Mut zur Erziehung“ von 1978.26 Nicht immer wird in diesen Appellen deutlich, inwiefern es dabei um einen Ersatz gegenüber verlorengegangener oder nicht mehr verallgemeinerungsfähiger religiöser Erziehung geht. Hartmut von Hentig scheint mit eben dieser Begründung Werteerziehung zu fordern (wenn auch in allgemeinerer Akzentuierung als Herzog): „Als Ursprung von Werten“ sieht v. Hentig ausdrücklich das Thema Religion „und Religionsunterricht als Instrument einer ‘Werteerziehung’“.27 Doch ist auch für ihn „in der multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft“ ein allgemeiner Wertekonsenses nicht mehr selbstverständlich und „mit konfessionsbewussten Religionen [auch] nicht zu haben“. Darum plädiert v. Hentig für einen allgemein verpflichtenden Unterricht in Philosophieren, in dem Wertvorstellungen sich bilden und geübt werden können oder zumindest als „Grundbedingung geklärt und bewusst gemacht“ werden.28 Eine solche Begründung von Werten ist philosophisch problematisch. Zwar versuchte bereits die sog. materiale Wertethik vom Beginn des 20. Jh.29 philosophisch 25 Roman Herzog: Sprengt die Fesseln. (Rede zur Zukunft unseres Bildungssystems), in: Die Zeit 1997, H.46, S.49f. - Herzog fordert darin nicht nur allgemein eine wertorientierte Erziehung, sondern auch einen Wertekatalog einschließlich der Vermittlung von konkreten (Sekundär-) Tugenden wie „Verläßlichkeit, Pünktlichkeit und Disziplin, vor allem aber Respekt vor dem Nächsten und die Fähigkeit zur menschlichen Zuwendung“, um eine Erziehung zu Selbständigkeit und Kreativität nicht in orientierungslose Irre laufen zu lassen, sondern ihr Ziele vorzugeben. 26 Zur Kritik vgl. u.a. Ruth Dölle-Oelmüller: Philosophisches Orientierungswissen in Erziehung und Bildung, in: Philosophische Orientierung. FS z. 65. Geb.v. W.Oelmüller. Hg.v. F.Hermanni u. V.Steenblock, München: Fink 1995, S.163-186. 27 Hartmut von Hentig: Ach die Werte. München: Hanser 1998, S.14. 28 Ebd., S.134f. 29 Vgl. insbes. Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. 1913; sowie Nicolai Hartmann: Ethik. 1925. 96 1-2 Religion als Bildungsgut? einen Rückgriff auf konkrete Werte auch im Hinblick auf inhaltliche Orientierung. Und auch Otfried Höffe glaubt in seinem frühen Programmaufsatz zum Ethikunterricht, die „Problematik einer sittlichen Verbindlichkeit in pluralistischer Gesellschaft“ durch Konzentration auf einige „elementare Verbindlichkeiten“ wie Tötungsverbot, Toleranz und Verständigungsbereitschaft, also konkrete Werte lösen zu können.30 Demgegenüber zeigen jedoch Winfried Franzen31 und Georg Lohmann32 aufgrund des heutigen Diskussionsstandes, insbesondere in der politischen Philosophie33, erhebliche Skepsis gegenüber einem werteerziehenden Unterricht. Lohmann fordert anstelle der problematischen und stets interpretationsbedürftigen Vermittlung eines konkreten Wertekanons die „Stärkung der sittlichen Urteilskraft“, mithin auch der „moralischen Autonomie und Urteilsbildung“, „die Fähigkeit jedes einzelnen, Werte überprüfen und Situationen angemessen einschätzen und überlegt zwischen ihnen wählen zu können.“34 - Kenner und erfahrene Vertreter des Ethikunterrichts haben diese Einsicht längst übernommen und wissen, wie etwa Konrad Baldrian: „Religion und Ethik sind weit mehr als ‘Wertefächer’“.35 Den entscheidenden Hintergrund für die Kritik eines werteorientierenden Unterrichts liefert ein reflektierter philosophischer Begriff von Ethik.36 Gegen die Alltagssprache und den etymologischen Wortsinn ist es in der Philosophie üblich geworden, Ethik von Moral zu unterscheiden: „Nach einem sich einbürgernden Sprachgebrauch bezeichnen wir als ‘Moral’ den [erg.: für den Einzelnen oder auch 30 Otfried Höffe: Ethikunterricht in pluralistischer Gesellschaft (1974), überarbeitet in: Ethik und Politik, Frankfurt: Suhrkamp 1979, hier S.470ff. - Auch die Konstanzer Philosophen Hubert Schleichert, Gottfried Seebaß und Peter Stemmer sprechen in ihrer bekannten Einlassung zum Fach LER von „grundlegenden Werten“, „von denen jedes Zusammenleben in der Gesellschaft abhängt“ und plädieren dafür, dass sie auch in ihrer inhaltlichen Bestimmung „den Bürgern eines demokratischen Staats vermittelt werden“ müssten, nicht nur hinsichtlich ihrer eigenverantwortlich zu treffenden Beurteilung. [Hubert Schleichert / Gottfried Seebaß / Peter Stemmer: Respekt für Menschen braucht Distanz zur Sache, in: FAZ v.14.01.1997]. 31 Winfried Franzen: Wertevermittlung und Philosophie, in: Philosophie und Religion. Zukunft einer Fächergruppe. Hg. H.Hastedt. Rost.Phil. Manuskripte H.5, Rostock: 1998, S.17-30. 32 Georg Lohmann: Probleme der "Werteerziehung" im Ethikunterricht, in: Dt.Zt.Philos., Berlin 1998, S.291-303. 33 Hintergrund dieser Skepsis scheint mir die in der politischen Philosophie zunehmend verbreitete Tendenz zu deliberativen Entscheidungsbegründungen zu sein. Vgl. dazu die jüngeren Arbeiten von Jürgen Habermas. – Zu den Konsequenzen für eine Moralerziehung vgl. auch meine eigenen Einlassungen in Kap. 4-4. 34 Ebd., S.300f. 35 Konrad Baldrian: Zum immer noch umstrittenen Verhältnis zwischen Religions- und Ethik/Philosophieunterricht, in: www.fv-ethik.de 1999, S.1. 36 Vgl. dazu auch meine Ausführungen unten in Kap. 4-4, die nicht nur den Unterschied zwischen Moral und Ethik klären, sondern auch das Problem einer unreflektierten Übernahme sog. Werte reflektieren sowie aus diesen Überlegungen didaktische Konsequenzen ziehen. 1-2 Religion als Bildungsgut? 97 bestimmte Kulturen geltenden] Inbegriff moralischer Normen, Werturteile, Institutionen, während wir den Ausdruck ‘Ethik’ für die philosophische Untersuchung des Problembereichs der Moral reservieren“, so Günter Patzig.37 Ihre Begründung gewinnt diese Unterscheidung in der Ablösung der ethischen Grundeinsicht von einer metaphysischen Begründung. Der Titel „Ethik ohne Metaphysik“ (Patzig) leistet allerdings zugleich einem ganz bestimmten (Miss-)Verständnis ethischer Autonomie Vorschub: Was von Kant zunächst zur Begründung von Freiheit als Konstituens allen Handelns behauptet wurde, dient nun als Zurückweisung jeglicher religiöser Grundlegung menschlichen Handelns. Philosophische Ethik wird so, was von dieser Argumentation her keinesfalls notwendig ist, in die Position einer gegenüber und von religiöser Ethik emanzipierten Begründung von Moral gerückt.38 Entsprechend ist es vielfach üblich geworden, die Orientierung an der Vernunft als Ziel des Ethikunterrichts auszurufen und der Orientierung an der Offenbarung als Ziel des Religionsunterrichts gegenüberzustellen.39 Die Bestimmung von moralischer Autonomie als „letztes regulatives Ziel des Ethikunterrichts“40 wird unter dieser Perspektive leicht zu einem Argument für Distanz gegen die Vermittlung konkreter persönlicher Handlungsbezüge. Entsprechend wollen Autoren wie Heinz-Albert Veraart den Ethikunterricht „auf die kognitiven Momente des sittlichen Handelns konzentrieren“.41 Erst neuerdings klagen demgegenüber andere Autoren zunehmend auch den erfahrungsorientierten und kommunikativ ausgerichteten Prozess des Zustandekommens von Wissen als Basis des Ethikunterrichts ein42 oder auch präsentative statt bloß diskursive Formen des Philosophierens.43 Darin mag sich 37 Günther Patzig, Ethik ohne Metaphysik. Göttingen 1971, S.3. 38 Eine solche Gegenüberstellung bringt sich sogar in die Gefahr, philosophische Ethik zu verwechseln mit der Begründung einer ganz bestimmten konkreten Moral, was andererseits der als religiös apostrophierten Ethik unterstellt wird. 39 Vgl. sogar die EKD-Denkschrift zum Religionsunterricht „Identität und Verständigung“ (Ev.Kirche 1994), S.79. 40 So Heinz-Albert Veraart: Wie philosophisch darf die Ethik sein ? Eine selbstverständliche Antwort auf eine erstaunliche Frage, in: EU 1996, H.3, S.42, Sp.3. 41 Ebd. - Veraart sieht das philosophische Spezifikum des Ethikunterrichts, dem die ethischen, dann wohl auch die religiösen Themen einzuordnen sind, in erster Linie in einer „geltungs- begründungs-und argumentationsorientierte(r) systematische(r)“ Fragestellung. 42 So etwa Richard Breun in: Überlegungen zu einem Curriculum für den Ethikunterricht, in: ZDPE 1994, H.4, S.269-277, sowie in: Kanonbildung im Ethikunterricht. Zur Frage des ethischen Wissens in der Primarstufe und Sekundarstufe I, in: ZDPE 1997, H.2, S.100-109. 43 Vgl. dazu die grundlegende Arbeit der Cassirer-Schülerin Susanne Langer: Philosophie auf neuem Wege. Frankfurt 1984, sowie die diesen Ansatz weiterführenden Beiträge von Susanne Nordhofen, etwa: Didaktik der symbolischen Formen. Über den Versuch, das Philosophieren mit Kindern philosophisch zu begründen, in: ZDPE 2/1998, S.127ff. – Auf Möglichkeiten der Umsetzung dieses Ansatzes für den Unterricht komme ich selbst ausführlicher zu sprechen in den Kapiteln 4-1 98 1-2 Religion als Bildungsgut? andeuten, dass Ethik auch als philosophische Disziplin zu kurz greift, wenn sie sich beschränkt auf Begründungs- und Argumentationstheorien und nicht den konkreten Lebensbezug des Handelns in den Blick nimmt. Schon für Aristoteles ist Ethik jedoch keine rein wissenschaftliche Disziplin, sondern darauf ausgerichtet, im konkreten Leben auch „gut zu werden“, also entsprechend der rechten ethischen Einsicht zu leben.44 Als philosophischer Disziplin geht es der Ethik gleichwohl nicht um direkte Anweisungen zum guten Leben45, sondern um die grundlegende Einsicht, dass überhaupt unser Leben führbar und durch uns selbst zu gestalten ist und nicht schlicht verläuft. Wenn sie aber Strukturen der Lebensführung zur Einsicht bringt, hilft sie durchaus auch, das Leben gut zu führen. Insofern bietet philosophische Ethik Orientierung.46 Doch ist es gerade deshalb fraglich, dass sie dies ersatzweise für religiöse Orientierung tut und tun kann.47 Eher scheint ihre Orientierungsleistung darin zu bestehen, diese grundlegende Orientierung zur Einsicht zu bringen und so der je eigenen Verantwortung den Weg zu bereiten.48 zur Arbeit mit Bilderbüchern, aber auch in 4-2 zur Erschließung biblischer Botschaften durch Bilder. 44 Aristoteles, Nikomachische Ethik 1103b. Darum strebt für Aristoteles grundsätzlich jede Handlung wie auch jede Einsicht nach dem, was „gut“ ist, so der berühmte Anfangssatz der Nikomachischen Ethik 1091a. 45 Die Differenz von je konkreter guter Lebensführung und der Reflexion auf das, was gutes Leben sei und was es heißt, es gut zu führen, wird tendenziell eingeschliffen von diversen Versuchen sog. angewandter Philosophie oder von Philosophie als Lebenskunst. Die Aufrechterhaltung dieser Differenz ist freilich keine philosophische Kopfgeburt, sondern ergibt sich notwendig aus der menschlichen Möglichkeit zur Reflexion. Mit der Einbindung der Philosophie als Schulweisheit in die Philosophie als Weltweisheit hebt beispielsweise Kant diese Differenz ebenso wenig auf wie Aristoteles mit dem eben zitierten Bezug der Ethik auf das Gut-Leben. Ursula Wolf hat einleuchtend darauf hingewiesen, dass die Philosophie wesentlich in und von dieser Spannung lebt, die existentiell elementare Frage nach dem guten Leben als das sie begründende Motiv zu verstehen und zu ihrem zentralen Gegenstand zu machen, in dieser Reflexion aber zugleich mit der Unlösbarkeit dieser Frage konfrontiert zu werden, so dass immerhin die Explikation unseres existentiellen Selbstverständnisses, die Sinnfrage, notwendige Aufgabe der Philosophie bleibt. [Ursula Wolf: Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, Reinbek: Rowohlt 1999]. 46 So auch Gernot Böhme: Ethik im Kontext. Frankfurt 1997, S.7. Mit seiner Formel, die Ethik habe zum Gegenstand moralische Fragen, und diese stellten sich, wenn es ernst werde (S.111,155,236), vertritt Böhme zwar explizit auch die Ansicht von Philosophie als Lebensform und Weltweisheit gegen ihre verwissenschaftlichte Form (S.7). Aber auch er hintergeht damit m.E. nicht die eben in Anm. 45 beschriebene Differenz, insofern er zwar konstatiert, dass „der Entwurf einer moralischen Lebensführung [nur] Sache des je einzelnen“ sein könne (S.237), die Bestimmung von Kompetenzen einer moralischen Lebensführung aber gleichwohl als originäre Aufgabe von Philosophie anerkennt, die als Leben zu führen „nicht jedermanns Sache“ sei (S.7). 47 Auch Ursula Wolf (1999) sieht trotz einer hinsichtlich des praktischen Lebens eher agnostischen Haltung die Auseinandersetzung mit der ihr vorgelagerten existentiellen Sinnfrage, wie sie die Religionen stellen, für die Philosophie als notwendig an, will sie nicht spannungshaltig und unabgeschlossen bleiben. (Vgl. S.186). 48 Dass sich in dieser Aufgabe der philosophisch ausgerichtete Ethik- und der traditionelle Religionsunterricht treffen, hat m.E. sehr klar Heinz-Albert Veraart beschrieben, wenn er es als Aufgabe 1-2 Religion als Bildungsgut? 3 99 Orientierung im Denken? Warum aber wird hier ein so deutlicher Unterschied gemacht zwischen dem einen Ziel, Orientierung zu bieten, und dem anderen Ziel, Orientierung zur Einsicht zu bringen? Ich will damit entgegen dem vielleicht ersten Eindruck die zuweilen unterstellte Identifikation des ersten Ziels mit religiöser und des zweiten mit philosophischer Orientierung nicht bestätigen, sondern aufsprengen. Gegenüber der starren Trennung zwischen religiöser und philosophischer Orientierung vertrete ich die These, dass zum einen als Schulfächer Philosophie wie Religion nicht mehr leisten können und dürfen, als Orientierung zur Einsicht zu bringen, dass aber zum andern diese Orientierung ihren Sinn verliert, wenn sie nicht auch die je persönlich beanspruchende Orientierung zur Erfahrung bringt, also hinausgreift über Informationen zu Begründungs- und Argumentationswegen. Nun wird Orientierung, und zwar Orientierung an der Vernunft, weithin als die Aufgabe des Ethik- und Philosophieunterrichts schlechthin angesehen. Um die seit Entstehung des Ethikunterrichts entstandenen konzeptionellen Varianten zu vereinigen, plädiert seit 1990 Ekkehard Martens wiederholt für die Aufnahme von Philosophie „als unverzichtbare(r) vierte(r) Kulturtechnik“ in den Kanon schulischer Bildung.49 Er beruft sich dabei auf Kants Essay „Was heißt: sich im Denken orientieren?“50 Die Frage Kants hat Martens in einen Imperativ verwandelt und daraus einen eigenen philosophiedidaktischen Ansatz entwickelt.51 Seitdem gilt die Orientierungsfunktion weithin als originäre Leistung der Philosophie, gerade im Bereich ihrer schulischen Wirkung. Zuweilen wird dieser Ausdruck jedoch nicht weiter ausgewiesen und tendiert dazu, für sich selbst zu stehen, als böte die Einladung zu Orientierung schon selbst Orientierung.52 Dabei reicht es nicht aus, Orientierung als bloßes „Angebot“ zu verstehen, beider Fächer beschreibt, „mit Orientierungen kritisch vertraut zu machen, die sich … auf das Leben im Ganzen und damit auf Leben ermöglichende und existenztragende Sinnorientierungen beziehen.“ (Heinz-Albert Veraart: Die Fächergruppe Religionsunterricht - Ethik - Philosophie. Trennung oder Einheit? in: Ehman u.a.: Religionsunterricht der Zukunft. Aspekte eines notwendigen Wandels. Freiburg 1998, S.115f.). Vgl. dazu auch meine Bemerkungen unten in den Kapiteln 1-4 und vor allem 5-4. 49 Vgl. Martens (1996) und (1998). 50 Immanuel Kant: Was heißt: Sich im Denken orientieren?, in: Werke Bd.V, 265-283; im folgenden zitiert nach der originalen Paginierung in der Berl. Monatszt. Okt.1786, S.304-330. 51 Martens (1990) und (1999). 52 Diesen Eindruck könnte man gewinnen, wenn man etwa den Satz liest: „Philosophie in der Schule kann und sollte Orientierungshilfe nur im Sinne eines Angebots sein“. So zu lesen bei Gisela 100 1-2 Religion als Bildungsgut? dem gegenüber die je persönliche Entscheidung völlig dem Einzelnen überlassen bleiben müsse. Als wahre Aufklärung ist Philosophie stets Herausforderung zum Denken und auch zum Entscheiden, darf sich also letzter Überzeugungsgrundsätze gerade nicht enthalten.53 An dieser Stelle, auch aus Gründen des Bezugs zum Thema „Religion“, ist ein ausführlicherer Verweis auf den vielzitierten Essay Kants „Was heißt: Sich im Denken orientieren?“ angebracht. In den genannten und weiteren philosophiedidaktischen Einlassungen wird diese Schrift gern zitiert, freilich oft nur der Titel und ggf. die Schlussanmerkung, insbesondere die Aufforderung Kants, man solle „bei allem dem, was man annehmen soll, sich selbst fragen“, sich also „seiner eigenen Vernunft bedienen“ (330). Damit verbindet sich die Option zu freiem Philosophieren gegen bloße Kenntnisakkumulation oder auch praxisferne begriffliche Reflexion; das aber führt leicht zum Missverständnis eines völlig ungebundenen, gänzlich auf sich selbst fixierten schlichten Nachdenkens54, besser „Herumraisonnierens“. Ein tieferer Blick in Kants Text vermag ein solches Missverständnis auszuräumen und bietet zudem ein gutes Fundament, sich in die philosophische Auseinandersetzung mit der Religion mit kritischem Blick einzulassen: In der Tat votiert Kant in seiner kleinen Schrift entschieden für das „Selberdenken“ als „obersten Probierstein der Wahrheit“, stellt dies aber bereits im Folgesatz klar als „die Maxime, jederzeit selbst zu denken“ (330), mithin in allem Denken nie die eigene Vernunft außen vor zu lassen. Das aber meint keineswegs, alles Gedachte und zu Denkende lediglich aus sich selbst zu schöpfen; denn Orientierung gewinnt das Denken für Kant nicht lediglich in sich selbst, sondern vielmehr in der ihrer selbst bewussten Vernunft. Die Orientierung an „Gemeinsinn, … gesunde(r) Vernunft, … schlichte(m) Menschenverstand“ kritisiert Kant als bloß „vorgebliche(n) geheime(n) Wahrheitsinn“, „überschwengliche Anschauung“ (306). Die Orientierung an der Vernunft dagegen weiß zugleich um die Raupach-Strey: Ethik-Unterricht auf philosophischer Basis. Zum Berliner Schulversuch Ethik / Philosophie, in: Dt.Zt.Philos., Berlin 1998, S.654f. 53 In missverständlicher Weise wird diese Abgrenzung vollzogen bei Raupach-Strey (1998), S.655. Auch der von R.S. behauptete Gegensatz von philosophischer Rationalität zu einem Überzeugungssystem ist auf dieser Grundlage nicht zu halten. - Zur Gegenargumentation vgl. meine Skizzierung philosophischer Ethik im vorausgegangenen Abschnitt 2 dieses Kapitels. 54 Martens hat in seinem programmatischen Bezug auf Kant zumindest auf den Anlass des Kantschen Aufsatzes Bezug genommen; er wendet diesen Bezug aber in ein vom Text nicht abgedecktes Plädoyer für ein ohne Anleitung durch den Lehrer tätiges „Selbstdenken“ aus je eigener moralischer Erfahrung [Martens 1999, S.55], sogar dafür, eine Gesamtperspektive für unser Denken „durch [Hervorh. i. Orig.!] Selbstdenken zu gewinnen und sich insgesamt auf das eigene, freie Denken … zu verlassen“ (S.58). Für problematisch halte ich dabei das „insgesamt“ wie auch das „durch“, mit dem das Selbstdenken gegenüber der Kantschen Intention auch als Substanz aller Denkbemühungen hochgespielt wird. Kant war demgegenüber bei aller aufklärerischen Emphase stets daran interessiert, im Selbstdenken wesentlich auch das Bewusstsein von der Begrenztheit der Vernunft zu verwurzeln. 1-2 Religion als Bildungsgut? 101 „Unzulänglichkeit der objektiven Prinzipien der Vernunft“ (310), also die „Grenzen aller Erfahrung“ und die Gefahr ihrer in der Kritik der reinen Vernunft ausführlich als Dialektik beschriebenen unzulänglichen Erweiterung. Im Wissen um diese Unzulänglichkeit aber kann und soll man sich „im Fürwahrhalten nach einem subjektiven Prinzip derselben [sc. der Vernunft] bestimmen“. Entscheidend zum Verständnis der Orientierungsleistung - und damit sind wir bei religionsphilosophischen Bezügen angelangt - ist der Zusammenhang dieser These: Orientierung im Denken ist offenbar in besonderer Weise gefragt beim „spekulativen Gebrauche der Vernunft“ (305), womit der Vernunftgebrauch in bezug auf Übersinnliches gemeint ist, vor allem die Begriffe vom höchsten Gut, von Gott, von Freiheit, von Glückseligkeit (316). Orientierung ist hier angesagt, eben weil es keine klare Erkenntnis dieser Gegenstände des Denkens geben kann, obgleich, und das ist entscheidend, der Vernunft das Bedürfnis, auch hier zu Wissen, zumindest aber zu Annahmen zu kommen, nicht verwehrt werden darf, also „sich im Denken, im unermesslichen und für uns mit dicker Nacht erfülleten Raume des Übersinnlichen, lediglich durch ihr eigenes Bedürfnis zu orientieren“ (311). Interessanterweise wehrt Kant sich im folgenden ausdrücklich gegen jegliches bloß vorgebliche Bedürfnis des Denkens, was keineswegs immer ein Bedürfnis der Vernunft sei (311ff). Ein Bedürfnis freilich „auf die Voraussetzung des Daseins desselben [eines uneingeschränkten Wesens als Grund für das konkret erfahrene beschränkte des eigenen Ich], ohne welche sie [die Vernunft] sich von der Zufälligkeit der Existenz der Dinge in der Welt, am wenigstens aber von der Zweckmäßigkeit und Ordnung … gar keinen befriedigenden Grund angeben kann“ (313f.), ein solches Bedürfnis der Vernunft wird von Kant nicht nur ausdrücklich akzeptiert, sondern sogar für erforderlich gehalten, soll es nicht zur Zerstörung der Freiheit im Denken durch sich selbst kommen (328). Die Orientierung ist also keineswegs eine Orientierung schlicht an sich selbst, sondern eine an der Vernunft, und zwar an einer kritischen, ihrer eigenen Grenzen wie auch Möglichkeiten bewussten Vernunft. Eine solche Orientierung an der Vernunft nennt Kant „Vernunftglaube“, ein notwendiger „Wegweiser oder Kompaß, wodurch der spekulative Denker sich auf seinen Vernunftstreifereien im Felde übersinnlichen Gegenstände orientieren“ kann (320). Ohne Kant zu weit in unsere religionsphilosophische These zu pressen, kann man zumindest dies mit Fug und Recht behaupten, dass Kant hier mit den Fragen und Themen der Religion eine Dimension thematisiert, die die Vernunft offen zu halten erlaubt für die Reflexion auch ihrer eigenen Grenzen. An ihr, der Religion, hätte insofern das Denken einen wesentlichen Maßstab zur Orientierung. 102 1-2 Religion als Bildungsgut? Willi Oelmüller hat in seinen zahlreichen Veröffentlichungen zum Thema „philosophische Orientierung“ immer wieder darauf hingewiesen, dass Orientierungswissen sich nicht formalisieren lässt, nicht beliebig verfügbar ist, und dass auch die entsprechenden Orientierungsfragen nicht frei verfügbar sind, sondern dass sie sich uns stellen, wenn Gewohntes fragwürdig wird; und sie stellen sich in einer Weise, dass sie uns „belästigen“, also sie selbst es sind, die sich uns stellen, dass letztlich nicht wir selbst es sind, die wir sie uns machen. Oelmüller nennt sie deshalb „letzte Fragen“55. Ich würde sie lieber elementare Fragen nennen, weil sie zugleich grundlegend für alle anderen Fragen sind.56 Noch deutlicher wird damit, dass es sich um unserem Denken bereits vorausliegende Fragen handelt. Die Philosophie erstellt sie nicht selbst, sondern ebnet Wege, dass wir sie formulieren und aussprechen können. Insofern leistet Philosophie Orientierung, doch nur, weil sie ihrerseits Orientierung wohl eher an dem findet, was zu suchen sie sei ihren Entstehungstagen unterwegs ist.57 55 So etwa in: Willi Oelmüller: Philosophische Aufklärung. Ein Orientierungsversuch, München: Fink 1994, S.32f. 56 Vgl. dazu weitere Erläuterungen im Abschnitt 2 des Kapitels 3 dieser Arbeit. 57 Ohne im einzelnen die Philosophie Heideggers mitgehen zu wollen, ist ihm an dieser Stelle m.E. durchweg Recht zu geben, wenn er die Philosophie grundlegend als eine Bewegung, als ein Streben beschreibt auf etwas zu, was nicht sie selbst ist, mit dem aber sie und damit wir im Einklang stehen wollen, das, was die Tradition das Sein oder „das Eine, Einzige, alles Einigende“ nennt. Vgl. Martin Heidegger: Was ist das - die Philosophie? Pfullingen: Neske 1956, S.12f. Kapitel 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung 1 Schwierigkeiten in der Bezeichnung „Religion“ Religion begegnet heute, so scheint es nach den Ausführungen in Kapitel 1-1, als ein nur noch kontextuell zu fassendes Phänomen, ein Phänomen im Kontext von alltäglicher Lebenswelt oder von Kultur, vorgängig gegenüber dem, was heute eher als Sinnfrage oder Werteorientierung thematisiert wird. Doch was ist das, was in den bisherigen und in den folgenden Überlegungen jeweils als „Religion“ gemeint ist, wird dabei nicht stets stillschweigend eine Bedeutung von „Religion“ vorausgesetzt? Was also überhaupt ist Religion? Der Versuch, bestimmen zu wollen, was Religion überhaupt, wesentlich sei, scheint also aufgrund der bisherigen Überlegungen zwar problematisch, er ist aber nicht unsinnig. In keiner philosophischen Auseinandersetzung kann die seit Sokrates elementare philosophische Frage, „ti estin“, was ist das, mit dem wir es zu tun haben, ausgeklammert werden, vor allem nicht mit der Behauptung der faktischen Unmöglichkeit einer Antwort; gerade dann bleibt sie im Gegenteil ein notwendiger Stachel der Auseinandersetzung.1 Bedenkt man weiterhin die Probleme, die sich eine unreflektierte Verwendung der Bezeichnung „Religion“ einhandelt, ist die Grundsatzfrage „ti estin“ nicht mehr verdächtig. Zwar erscheinen Definitionen unangemessen oder einseitig oder abstrakt, doch das hängt mit mindestens einer der folgenden vier Grundschwierigkeiten zusammen, die einer vereinheitlichenden Rede von „Religion“ entgegenstehen; sie aber zu bedenken, ist eine erste philosophische Aufgabe: 1 Bewusst nehmen diese Formulierungen Bezug auf das von Platon in seinen Dialogen dokumentierte Vorgehen des Sokrates, die Versuche einer Bestimmung eines Phänomens oder Begriffs durch Beispiele zu destruieren und stattdessen auf die Frage nach dem „überhaupt“ zu drängen, auch um den Preis einer vordergründig noch größeren Verwirrung, aber mit dem Gewinn, wenigstens den Sinn einer Frage besser verstanden zu haben. (Vgl. dazu exemplarisch Platon: Menon, 80a.b, und 84b). Diese im wörtlich Sinne sprach-analytische Fragestellung durchzieht die Geschichte zumindest abendländischer Philosophie und ist (wenigstens in diesem grundsätzlichen Verständnis) keine Neuentdeckung moderner sprachanalytischer Philosophie, so dass Wittgensteins Auskunft für alle Philosophie gelten kann: „Die Philosophie soll die Gedanken, die sonst, gleichsam, trübe und verschwommen sind, klar machen und scharf abgrenzen.“ (Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt: Suhrkamp 1960, Nr.4.112). 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung 105 1. Die Vielfalt der Religionen ist nicht nur unübersichtlich, sondern auch so disparat, dass ein einheitlicher Oberbegriff für alle Religionen kaum möglich ist.2 Insbesondere scheint es schwer, eine sinnstiftende Mitte auszumachen zwischen Naturreligionen einerseits, Offenbarungsreligionen andererseits, Religionen mit personalem Transzendenzbezug einerseits, Religionen andererseits, die (nach einem verbreiteten Urteil) Personalität des Heiligen, aber auch Transzendenzbezug ausschalten, schließlich die Unterscheidung zwischen tradierten Religionen und sog. Ersatzreligionen oder als Religion sich (bloß) qualifizierenden Sinnsuchbewegungen, zwischen allgemeinen Religionen und nur für wenige bestimmten Sekten; diesen Gegenüberstellungen ist freilich schon zu entnehmen, dass es auf den je zugrundegelegten, aber nicht weiter explizierten Religionsbegriff ankommt, der das Urteil einer Unterscheidung bzw. von Gemeinsamkeit ermöglicht. 2. Auch die Vielfalt der Möglichkeiten und Weisen religiöser Äußerung lässt sich offensichtlich nicht mit einem einheitlichen Begriff von Religion oder Religiosität erfassen, geschweige denn qualifizieren. Die Unterscheidung in persönliche Gotteserkenntnis einerseits, allgemeinen Kult andererseits3, oder der früher beliebte Versuch der etymologischen Aufschlüsselung des Begriffs „Religion“4, auch die historische These von der Entwicklung weg von öffentlich und ritualisiert praktizierter Religion hin zu persönlicher Religiosität5, oder die neuerliche 2 Vgl. diesbezügliche Auskünfte in den einschlägigen Lexikon-Artikeln zum Begriff „Religion“. 3 So galt lange Zeit die scholastische Definition von Religion als „modus cognoscendi et colendi Deum“ als brauchbare und ausreichende Antwort auf die Frage nach dem, was Religion sei. Über die dahinter stehende Vielfalt religiöser Formen in Antike und Mittelalter, die in den Übersetzungen verschiedener Begriffe in das lateinische „religio“ Eingang gefunden haben (von latreia, caeremonia, obsequium, threskeia, eusebia, pietas bis zu theou therapeia usf.) geben neuere Lexika kaum mehr Auskunft. Vgl. dazu aber noch das Vorgänger-Lexikon zum LThK, Wetzer/Welte: Kirchenlexikon oder Encyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hülfswissenschaften, etwa in 2.Aufl.Freiburg 1897 (Bd.10, Sp.1002ff). - In theologischen Lexika der Gegenwart findet sich diese Materialfülle nicht mehr; vgl. jedoch die umfangreichen Artikel zu „Religion“ von U.Dierse, C.H.Ratschow, S.Lorenz u.a. im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd.8, Basel 1992, Sp.632-713. 4 Beliebt ist mit Verweis auf Cicero die Begründung in „relegere“ („immer wieder (zusammen) lesen“, von Thomas variiert zu „sammeln/sorgfältig bedenken“) einerseits, mit Verweis auf Laktanz in „religare“ („zurückbinden, fest anbinden an“) andererseits, wohingegen der Versuch von Augustinus, R. aus „reeligere“ („wieder, neu erwählen“) abzuleiten, als etymologisch unangemessen angesehen wurde, ebenso wie die zuweilen belegte Ableitung aus „relinquere“ (das Irdische „zurücklassen/aufgeben“). - Für genauere Quellennachweise vgl. Wetzer/Welte (1897), Sp.1002f. – Solche etymologischen Erklärungsversuche machen natürlich nur dann Sinn, wenn die dabei herausgearbeitete Bedeutung auch ihrerseits erläutert und mit Sinn gefüllt werden kann. 5 Offenkundig stößt die Frage „nach dem wahren Wesen der R. unabhängig von den einzelnen R.en“ seit dem 18.Jh. auf erhöhtes Interesse. Damit einher geht die Betonung einer der wahren R. eher entsprechenden inneren R. im Unterschied zu der geschichtlicher Kontingenz und der Gefahr des Formellen ausgesetzten äußeren, bloß kultisch sichtbaren R.. Diese Lesart findet ihre Bestäti- 106 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung Unterscheidung von Dimensionen religiöser Betätigung6 helfen nicht weiter, wenn es um die Frage geht, was all diese Formen zusammenhält, was das ihnen gemeinsame Religiöse sei. 3. Eine Vielfalt gibt es auch hinsichtlich möglicher wissenschaftlicher Zugänge zum Phänomen „Religion“. Hier ist es das Problem, implizit mit einem Begriff von „Religion“ zu arbeiten, der nicht von vorneherein andere ausschließt und so bestimmte Phänomene von Religion oder Religiosität gar nicht in den Blick bekommt.7 4. Schließlich müssen wir uns die interpretatorische Grundschwierigkeit vor Augen halten, mit einer Definition von Religion je nur a posteriori etwas sagen zu können über das beschriebene Phänomen und somit seinen apriorisch behaupteten Wahrheitsanspruch tendenziell nicht ernst zu nehmen.8 gung im Versuch der Elaboration einer allgemein gültigen Vernunft-R. im 18.Jht; vgl. Hist.WB d.Philos.Bd.8 (1992), Sp.653ff. 6 Von nicht nur religionssoziologischem Interesse sind die bekannten von Charles Glock aufgestellten, immer wieder, zuletzt von F. Benthaus-Apel weiterentwickelten 5 Dimensionen der Religiosität: a) ideologisch (R. als Glaube), b) ritualistisch (R-Praxis), c) Erfahrung (religiöses Empfinden), d) intellektuell (rlg. Wissen), e) Akzeptanz rlg. Rituale (Teilnahme an rlg. Vollzügen); vgl. Charles Y. Glock: Über die Dimensionen der Religiosität [1962], in: J.Matthes (Hg.): Kirche und Gesellschaft. Einführung in die Religionssoziologie II, Hamburg 1969; sowie Friederike BenthausApel: Religion und Lebensstil. Zur Analyse pluraler Religionsformen aus soziologischer Sicht, in: Fechtner/Haspel 1998, S.102-122. 7 So glaubt etwa Norbert Schiffers wissenschaftstheoretisch 8 Methoden eines möglichen Zugangs zu Religion herausarbeiten zu können, (1) abstraktionsmethodisch als Frage nach dem Wesen von R., (2) additiv als Summe der positiven Aussagen aller R,’en, (3) substrahierend als Frage nach dem Kern von R. unabhängig von empirischen Erscheinungsweisen, (4) identitätsmethodisch als Suche nach dem in allen R.en identischen Religiösen, (5) isolatorische als Frage nach rlg. Vorgängen und rlg. Erleben, (6) evolutiv-genetisch als Frage nach der (historischen) Entwicklung der R.en, (7) interpratationsmethodisch als (philosophische) Frage nach dem Sich-Einlassen auf die Dimension der Transzendenz, (8) funktional als Frage nach den konkreten Aufgaben von R. für Mensch und Gesellschaft [in: Norbert Schiffers: (Art.) Religion, in: Herders Theolog. Taschenlex., hg.v.K.Rahner, Bd.6, Freiburg 1973, S.204f]. Man sieht leicht, dass hier je nach Frage als Gegenstand der Frage etwas je unterschiedliches vorausgesetzt wird. Einen grundsätzlich guten Überblick über heute relevante religionsphilosophische Fragestellungen liefert nach wie vor: Halder/Kienzler/Möller (Hg.): Religionsphilosophie heute. Chancen und Bedeutung in Philosophie und Theologie, Düsseldorf: Patmos 1988. Als in der heutigen Forschung relevante Richtungen kommen darin Vertreter der analytischen, der soziologisch implizierten, der psychoanalytisch fragenden, der transzendental-hermeneutischen, der phänomenologischen, der ontologisch-metaphysischen bzw. personal-antimetaphysischen und der postmodern-dekonstruktivistischen Religionsphilosophie zur Sprache. 8 So lautet z.B. der Einwand von H.R.Schlette: (Art.) Religion, in: LThK 2.Aufl., Bd.8, Freiburg 1963, Sp.1164. 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung 2 107 Wie fragt die Philosophie nach Religion? Die Frage „Was ist das, die Religion?“ scheint somit schlicht nicht zu beantworten. Doch hat das „ti estin“ der philosophischen Tradition seit jeher zwei Ebenen: Einerseits wird nach dem Gegenstand gefragt, dem wir begegnen, andererseits aber immer zugleich auch nach der Art diesem Gegenstand zu begegnen. Eine Auseinandersetzung mit Religion, die Schwierigkeiten des Zugangs zum Phänomen „Religion“ thematisiert, ist mithin schon der Versuch einer philosophischen Antwort.9 Eine kleine wissenschaftstheoretische Vorüberlegung mag das erläutern: Es ist nicht nur Faktum, dass es verschiedene Wissenschaften gibt, die sich sachkundig mit Religion beschäftigen10, sondern auch, dass diese Wissenschaften in je unterschiedlicher Weise nach Religion fragen. Zumindest für den im vorliegenden Kapitel vorausgesetzten Zugang ist daher zu klären, wie eigentlich die Philosophie nach Religion fragt. Zunächst ist es sinnvoll, grob zu unterscheiden zwischen den eher empirisch ausgerichteten verschiedenen Religionswissenschaften zum einen, der begrifflich-strukturell fragenden Religionsphilosophie zum zweiten und der Religion selbstbezüglich und vor allem einverständlich auslegenden Theologie zum dritten. Das Schema der beiden folgenden Seiten kann diese Unterscheidung ein wenig genauer erläutern. 9 Eine ausgezeichnete Orientierung zu dieser Art Fragestellung liefert der Beitrag von Richard Schaeffler: Orientierungsaufgaben Religionsphilosophie, in: Peter Koslowski (Hg.): Orientierung durch Philosophie, Tübingen: Mohr 1991, S.196-224. Schaeffler macht überzeugend deutlich, dass entgegen dem Verdacht remetaphysizierender Wesensfragen einerseits und trotz der problematischen Vielfalt von Religion „die alte Frage ‘Was ist Religion?’ nicht übergangen werden kann“ (S.209). Schaefflers Hinweis, dass die religionsphilosophische Frage nach der Eigenart des Religiösen heute nicht mehr als „Hinweis auf den Gegenstand aller religiösen Akte“ beantwortet werden kann, sondern „durch Analyse der Akt-Struktur“ (ebd.), macht sich auch der vorliegende Beitrag zueigen. 10 Das wird deutlich nicht zuletzt durch die Intention des Bandes: Hochschullehre und Religion. Perspektiven verschiedener Fachdisziplinen. Hg. v. D.Fauth u. U.Bubenheimer, Würzburg 2000, in dem auch die vorliegenden Überlegungen als philosophischer Beitrag zuerst erschienen sind. 108 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung SICHTWEISEN Disziplin / Wissenschaft AUF DAS PHÄNOMEN „RELIGION“ Teildisziplinen [ in allgemeinstem Verständnis ] Sichtweise möglichst umfassende und differenzierte, allgemein und vernünftig nachvollziehbare Darstellung des Religiösen (i.d.R. von außen vollzogene) Darstellung expliziter bzw. allgemein erfahrbarer religiöser Phänomene, Verhaltensweisen, Riten, Glaubensvorstellungen, auch jeweiliger historischer [in empirischem Verständnis] Entwicklungen Religions-Kunde / ReligionsPhänomenologie / ReligionsWissenschaft Religions-Geschichte ReligionsWissenschaft ReligionsPhilosophie Darstellung der historischen Entwicklung der Religionen im Zusammenhang der Menschheitsgeschichte Religions-Psychologie Darstellung und Deutung von Formen der Religiosität als psychische Gestalten/Dimensionen von Menschsein Religions-Soziologie Darstellung und Deutung von gesellschaftlichen Ausprägungen von Religiosität als sozialen Formen / Dimensionen von Menschsein Religions-Philosophie Hinterfragen, Erklären und Deuten der Strukturen (Erfahrungsebenen, sprachliche Formen, Handlungsebenen) von Religiosität als Dimensionen von Menschsein / als menschliche Äußerungsformen - weltanschaulich / hermeneutisch Reflexion auf Religiosität als Dimension von Menschsein / als menschliche Äußerungsform - ideengeschichtlich / phänomenologisch [ im philos. Sinn] vernünftiges Hinterfragen, Erklären, Deuten der Strukturen von Religiosität als Formen menschlichen Verhältnisses zu sich selbst, zu Welt, zu Sinn - analytisch Analyse / Begreifen der (sprachlichen) Muster von Religiosität: Was wollen sie in welcher Form zum Ausdruck bringen? 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung Disziplin / Wissenschaft Teildisziplinen Exegese Auslegung der Heiligen Schriften Dogmatik Formulierung der zentralen Glaubensauffassungen Ethik Impulse / Anweisungen zur Lebensführung Praktische Theologie Deutung/Einübung von Glaubensäußerungen (Riten u.a.) Vollzugsform [ als praktisch vollzogene Religion ] fides qua creditur [Glaube, mit dem / durch den man glaubt] Konfession fides quae creditur [Glaube, den man glaubt] Religion Sichtweise grundsätzliche Offenheit menschlicher Existenz für Religion Religiosität Glaube Sichtweise Zur-Sprache-Bringen der Grundlagen, Erfahrungsebenen, Lebensdeutungen und Handlungsimpulse einer Religion aus der Sicht des Glaubens (von innen) Theologie Religions-Vollzug 109 persönliches Festhalten und Vollzug zentraler religiöser Lebensdeutungen und Lebensanweisungen je subjektiver, auf Deutung und Vollzug des Lebens bezogener Akt des Glaubens / Organ des Glaubens - Vollzug des Glaubens durch Festhalten, Bekenntnis, Lebensführung, Feier, Gemeinschaftsbezug - ausdrückliches Bekenntnis zu bestimmten Glaubensaussagen - Bekenntnis der Zugehörigkeit zu einer bestimmten GlaubensRichtung System / Summe zentraler Glaubens-Aussagen, die zu glauben sind / geglaubt werden objektives (historisch gewordenes) System von Glaubens-Vollzügen / -Äußerungen 110 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung Aus dieser Übersicht ergibt sich: Um einen auch didaktisch aufzubereitenden Zugang zum Phänomen „Religion“ zu erlangen, ist die religionsphilosophische Perspektive unverzichtbar11: Was Religion ist, kann nicht deutlich werden, kann vor allem nicht zur Auseinandersetzung gelangen, wenn ich mich nicht auf die Erörterung der Strukturen von Religiosität einzulassen bereit bin. Zugespitzter formuliert: Es muss in der Auseinandersetzung mit Religion auch prinzipiell zur Sprache gebracht werden, warum und in welcher Weise ein sich als religiös verstehender Akt oder ein als religiös eingeordnetes Phänomen als religiös zu deuten ist und als religiös sich verstehend auch betrachtet werden will und kann. Die Theologie kann und vermag sich auf solche grundsätzlichen Fragen nicht oder nur bedingt einlassen, weil es ihr zwar um Auseinandersetzung gehen kann und sollte, aber stets im Sinne der Ausleuchtung des bereits Geglaubten, also im nicht mehr zu hinterfragenden Einverständnis des Religiösen, nicht aus der Position der grundsätzlichen Infragestellung der Religiosität der zur Debatte stehenden Akte und Phänomene. Warum? Theologie ist bei aller Wissenschaftlichkeit immer auch den Glauben erschließende Antwort auf das im Glauben ergangene Wort Gottes. Im engeren Selbstverständnis von Theologie meint bereits das Wort „Theologie“ stets die doppelte Dimension: Einmal das im menschlichen Logos formulierte Wort Gottes, und dann die entsprechende Auslegung des göttlichen Wortes. Die eine Ebene ist an die andere streng gebunden und wird ohne die jeweils andere nicht verständlich. Insofern verliert, wissenschaftstheoretisch gesehen, theologische Rede umgekehrt ihren Sinn als theologische, wenn sie sich beispielsweise nur noch historisch-kritisch oder empirisch-darstellend auf ihren Gegenstand bezieht.12 Die empirische Sicht auf Religion hingegen vermag zwar, weil sie zunächst auf Deutung verzichtet, unter Umständen Phänomene gegenüber einer bereits deutenden Sicht vielfältiger und insofern aufschlussreicher zu entdecken, wird sie aber, solange sie dabei bleibt, sie als äußerlich sichtbare Phänomene einzuordnen, nicht als das, 11 Auf die Erläuterung des zweiten Teils des Schema, die unterschiedlichen Vollzüge von Religion betreffend, komme ich unten im Abschnitt 5 des Kapitels kurz und ausführlicher dann im Kapitel 5-4 zu sprechen. 12 Das ist bereits in der sog. Leben-Jesu-Forschung des 19. Jahrhunderts schmerzlich zur Erfahrung geworden, glänzend dargestellt von Albert Schweitzer in seiner Geschichte der Leben-JesuForschung (1906). Im Streben nach größerer Wissenschaftlichkeit, die als Historizität oder linguistische Genauigkeit enggeführt nur vermeintlich größere Verlässlichkeit verbürgt, scheinen diese Geschichte wie auch den erläuterten Sinn von Theologie manche zeitgenössische Theologen vergessen zu haben, insbesondere im exegetischen Raum. Andererseits darf natürlich auch die Bedeutung von Theologie als vernünftiger Auslegung des zuvor gehörten Wortes nicht beiseite geschoben werden. Dann würde Theologie in der Tat ihren wissenschaftlichen Anspruch verlieren und zu einem rein esoterischen Geschäft werden. Insbesondere die Reflexion auf Sprache gehört daher elementar zum Theologisieren. Dazu vgl. genauer den Teil II meiner Arbeit. 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung 111 was sie zu sein beanspruchen, zur Sprache bringen können, bleibt insofern stets Hilfsdisziplin.13 Die empirische Religionswissenschaft sollte daher, auch wenn sie zuweilen den Titel „Religionsphänomenologie“ trägt, nicht von vorneherein mit einer philosophisch zu verstehenden Phänomenologie identifiziert werden, wie vor allem von Edmund Husserl sie entwickelt hat; diese hat es entgegen dem alltagssprachlichen Gebrauch von „Phänomen“ eben nicht bloß mit äußeren Erscheinungen, Phänomenen, zu tun hat, sondern ihr Gegenstand ist (im Gegensatz zu einem eng verstandenen cartesianischen Rationalismus) die Korrelation zwischen dem cogito und dem in seine Welt eingebundenen cogitatum, bzw. zwischen Bewusstseinsakt, noesis, und intentionalen Gegenständen dieses Aktes, noemata. Aufgrund dieser Unterscheidung sind in meinem Schema auch empirische Religionsphänomenologie und phänomenologisch ausgerichtete Religionsphilosophie unterschieden. Das heißt natürlich nicht, dass sich nicht auch die empirische Religionsphänomenologie, ihre empirische Grundlage überschreitend bzw. vertiefend, in philosophischer Weise äußern kann.14 Damit bleibt die Philosophie als diejenige Ebene übrig, deren originäre Aufgabe eben jenes gesuchte reflektierte Zur-Sprache-Bringen des als Religion sich Zeigenden und Äußernden in der je eigenen „Sprach“-Form ist. Die oben genannten Schwierigkeiten einer einheitlichen Definition von Religion sollten daher nicht zu dem Schluss führen, eine Auseinandersetzung mit dem, was „Religion“ eigentlich sei, sei absurd, sondern gerade provozieren zur Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Apostrophierungen von Akten und Formen als religiös, inwiefern sie mithin als religiös anzusehen sind. 3 Möglichkeit einer Philosophie der Religion Mit dieser Überlegung ist die Möglichkeit und auch Notwendigkeit einer Philosophie der Religion erläutert, noch nicht aber die einer Philosophie der Religion. Damit sehen wir uns einer anderen, nämlich innerphilosophischen Schwierigkeit gegenüber, ob es nämlich aus philosophischem Selbstverständnis heraus überhaupt möglich und sinnvoll ist, sich mit dem Phänomen Religion auseinander zu setzen. Den Hintergrund dieser Schwierigkeit bildet der bislang implizit eher gegen den religionswissenschaftlichen Zugang vorzubringende Einwand, dass es sich bei dem Bereich 13 So auch völlig zu Recht ausgerechnet von philosophiedidaktischer Seite der Einwand von Veraart (1996) gegen Antes (1995). 14 Dass dies auch im Sinne einer Weiterentwicklung der religionswissenschaftlichen Perspektive nicht nur sinnvoll, sondern auch möglich ist, darauf hat wiederholt Ulrike Brunotte hingewiesen, etwa: In LER hat auch ER seinen Platz, in: Die Zeit 1999, H.3, S.33. 112 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung des Religiösen um einen spezifischen, von anderen Formen menschlichen Selbstund Weltverhältnisses wesentlich unterschiedenen Bereich handle, der deswegen als das, was er ist, auch in seiner besonderen Struktur zu erfassen sei, also auch, dass das Religiöse nicht reduzierbar sei auf eine erkenntnistheoretische oder eine ethische oder eine politische oder eine ästhetische Form der menschlichen Begegnung mit Wirklichkeit. Dieses Argument, das eben noch für die Notwendigkeit einer philosophischen Perspektive herhalten konnte, wendet sich nun gegen die Möglichkeit einer philosophisch sinnvollen Auseinandersetzung mit Religion. Genauer geht es um die Frage, mit welchem Verständnis von Religionsphilosophie der vorliegende Beitrag arbeitet. - Auf drei Ebenen sind, wenn ich recht sehe, Einwände gegen eine Philosophie der Religion denkbar: (1) Der erste äußert sich als systematischer Verdacht, ist aber eher historisch begründet, wenn er in jeder als Religionsphilosophie sich verstehenden Denkbewegung einen Rückfall in eine überwunden geglaubte metaphysische Denk- und Sprechweise ausmacht. - Dem ist in zweifacher Form zu begegnen: Zum einen ist historisch gesehen die Disziplin der Religionsphilosophie bekanntlich erst nach dem Zerbrechen metaphysischer Selbstverständlichkeiten entstanden. Wie Jörg Splett bemerkt, wird erst damit eine prinzipielle Reflexion auf Religion als Religionsphilosophie möglich wie auch nötig.15 Religionsphilosophie ist insofern auch nicht eine Nachfolgedisziplin der theologia naturalis16, bzw. einer allgemeinen philosophischen Begründung von Religion im Geiste und aus Perspektive der Theologie, sondern eine im nachmetaphysischen, ja metaphysikkritischen Sinne grundlegende Infragestellung und Auseinandersetzung mit dem Religiösen. Darum ist Religionsphilosophie, und das ist die eher terminologische Entgegnung, auch nicht zu verwechseln mit der vor allem in der katholischen Theologie bis heute verbreiteten Disziplin der Fundamen15 Vgl. Jörg Splett: Religionsphilosophie? Vorentwurf zu einem Lexikonartikel - samt Glossen, in: L.Hauser, E.Nordhofen (Hg.): Im Netz der Begriffe. Religionsphilosophische Analysen, Altenberge: Oros 1994, S.215. 16 Das gilt m.E. auch für Hegels Einordnung von Religionsphilosophie. Hegel behauptet zwar (missverständlich) in seiner Einleitung zur Religionsphilosophie [Einleitung nach dem Manuskript, in: G.W.F.Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 1: Einleitung. Der Begriff der Religion. Hg.v.W.Jaeschke. Hamburg: Meiner 1983, S.3], die Religionsphilosophie habe „im allgemeinen, ganzen denselben Zweck als die vormalige metaphysische Wissenschaft hatte, die man theologia naturalis nannte“; doch identifiziert er damit m.E. keinesfalls Religionsphilosophie und theologia naturalis; der Zweck, so Hegel, ist zwar bei beiden der gleiche, nämlich die Frage, „was die bloße Vernunft von Gott wissen könne“ (ebd.), doch damit haben, würde ich ergänzen, beide nicht die gleiche Absicht: Während die theologia naturalis in durchaus apologetischer Absicht Religion aus der bloßen Vernunft auch zu begründen beabsichtigt hat, verzichtet die Religionsphilosophie, der gegenüber die theologia naturalis eben „vormalige“ metaphysische Wissenschaft war, auf diese Perspektive, ohne damit die Fragestellung preiszugeben; im Gegenteil: die Frage, was die bloße Vernunft wissen überhaupt könne, kann erst jetzt eigentlich so prinzipiell gestellt, d.h. auch infrage gestellt werden. 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung 113 taltheologie, hat also nicht wie diese eine wesentlich religionsbegründende, sondern lediglich -erschließende Aufgabenstellung.17 (2) Eine zweite Ebene von Einwänden gegen die Möglichkeit einer Philosophie von Religion gründet sich auf Wittgensteins frühe Einordnung von religiösen Sätzen als unsinnig.18 Demnach ist die Philosophie, der es allein um „das Klarwerden von Sätzen“ gehen kann19, in der Religion mit einem Bereich konfrontiert, in dem etwas gesagt würde, was sich (logisch) nicht sagen lässt.20 Die Konsequenz eines solchen philosophischen Selbstverständnisses ist ambivalent, und in dieser Ambivalenz steckt zugleich die Entgegnung gegen diesen Einwand: Einerseits kann ein solches Selbstverständnis eine logisch-positivistische Selbstbeschränkung nach sich ziehen, die latent in Widerspruch gerät mit dem philosophischen Anspruch, alles Denkmögliche zum Gegenstand der Kritik machen zu können: Auch die als unsinnig apostrophierte Sprache der Religion ist Sprache, und schon daher ist es eher fraglich, ob in Bezug auf das Religiöse jenseits wissenschaftlicher Fragen keine Frage mehr bleibt.21 Andererseits wird - das hat gerade Wittgenstein in seiner persönlichen Hochachtung gegenüber Religion stets gesehen und auch betont - die Philosophie in der Aussparung möglicher Rede über Religion mit der Grenze ihrer selbst konfrontiert.22 Von daher kann sie sich nicht in einen platten Agnostizismus flüchten, gar nichts mehr zu Religiösem sagen zu wollen. Ein fundierterer Agnostizismus im Sinne negativer Religionsphilosophie bliebe eine mögliche Alternative, doch würde er ja die Möglichkeit einer Reflexion auf Religiöses bereits wieder bejahen, ohne sich freilich auf (philosophische) Möglichkeiten ihrer Entfaltung einzulassen. (3) Die dritte Ebene möglicher Einwände knüpft an die o.g. vierte Grundschwierigkeit einer verständigenden Rede über Religion an: Sie arbeitet mit dem eher 17 Dabei ist es natürlich nicht ausgeschlossen, dass spezifisch religionsphilosophische, und das heißt im wörtlichen Sinne auch religionskritische Perspektiven in die Fundamentaltheologie aufgenommen werden können, so dass auch die theologische Disziplin der Fundamentaltheologie sich heute faktisch vielfach als Erschließung von Religiosität, weniger als (traditionelle) apologetische Begründung darstellt. 18 Einen ausführlichen Kommentar der Unterscheidung von sinnvollen, sinnlosen und unsinnigen Sätzen bei Wittgenstein sowie zur folgenden Einordnung religiöser Aussagen als sinnlose im Logischen Empirismus gibt Hermann Schrödter: Analytische Religionsphilosophie. Hauptstandpunkte und Grundprobleme, Freiburg/München: Alber 1979, S.65ff und 87ff. 19 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt: Suhrkamp 1960, Nr.4.112. 20 Das würde die durch die Philosophie selbstgesetzte Grenze sprengen, „nichts zu sagen, als was sich sagen lässt“. (Ebd., Nr.6.53). 21 Vgl. ebd., Nr. 6.52; so jedenfalls äußerst sich Wittgenstein in seiner frühen Phase. 22 Vgl. dazu nur die vielzitierte Nr. 6.52 des Tractatus: „Wir fühlen, daß selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind…“ 114 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung innerreligiösen Einwand, die dem Religiösen eigentümliche Wahrheit sei eben nicht die Wahrheit philosophischen Denkens, das der Religion gegenüber immer äußerlich bleiben müsse.23 Das mag insofern richtig sein, als der religiöse Akt selbst nicht von vornherein ein Akt philosophischen Denkens ist, auch eher seltener sich als Akt des Denkens äußert, auf keinen Fall aber schlicht in ihm aufgehen kann.24 Doch kann daraus nicht geschlossen werden, als das ganz Andere gegenüber dem philosophischen Denken sei die Religion ein diesem Denken wesentlich entzogener Bereich.25 Im Gegenteil ist dabei an die schlichte Tatsache zu erinnern, wie sie etwa Bernhard Welte feststellt, „dass die Religion - wie sehr sie auch aus eigenem Ursprung leben mag und vielleicht ein Geschenk Gottes ist - sich doch vollzieht als ein menschliches Geschehen und eine Form des menschlichen Lebens und Daseins. Und also geschieht sie im Horizont des Menschen.“26 Entsprechend verlangt sie ganz naturgemäß auch 23 So der gängige Einwand gegen einen (religiös letztlich irrelevanten) Gott der Philosophen. - Auf Pascal (und sein berühmtes Mémorial) kann sich dieser Einwand m.E. nur bedingt berufen, denn Pascal wendet sich zunächst keineswegs pauschal gegen philosophische Gotteserkenntnis überhaupt und fordert demgegenüber auch keineswegs einen auf jede gelehrige Erkenntnis verzichtenden, unhinterfragt (ge)horchenden Glauben an die Offenbarung. Vielmehr sucht er - bewusst doppelt gesetzt - „Gewißheit; Gewißheit“, und sie ist es, so meint Pascal, die nicht durch gelehrige Philosophie, sondern allein im sich offenbarenden Gott erreichbar ist. Durchaus offen bleibt damit der Status der erkennenden Vernunft in Bezug auf die Einsicht in diese Gewissheit, auch wenn Pascal selber seine Logik "par le coeur" polemisch gegen die Erkenntnis "par le raison" des Descartes meinte setzen zu müssen. Der sogenannte Gott der Philosophen jedoch muss keineswegs verstanden werden als bloß diskursiv reduzierbares und insofern quasi mathematisch "beweisbares" Produkt unserer Verstandeskonstruktionen; mit Berufung auf gute Tradition, nicht zuletzt biblische Tradition, lässt sich die Rede vom Gott der Philosophen vielmehr verstehen als geistige Rechenschaft über jene Bedingung, unter der Gott sich von uns in all unserer Beschränktheit überhaupt erfahren lässt; die Rede vom Gott der Philosophen kann mithin sogar jene eher theologische Ebene markieren, empfangenen Glauben auch zu erschließen, weiterzugeben und verantwortlich zu gestalten, die Ebene der vernünftigen oder im wörtlichen Sinne intellektuellen Erfahrung Gottes, auf der nämlich die (unmittelbare) Glaubens-Erfahrung zugleich zum Bewusstsein gebracht und insofern eingesehen und überhaupt erst begriffen und weitergegeben werden kann. Ausführlicher wird dieser Gedanken entfaltet unten im Kapitel 2-1. - Die von hier her mögliche Verbindung von Philosophie und Theologie kann an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden, scheint mir aber nicht zuletzt auch in hochschuldidaktischer Sicht wichtig, zur Möglichkeit nicht nur abgestimmter, sondern auch kooperativer Interdisziplinarität. 24 Insofern, aber auch nur insofern, um die Eigenheit des religiösen Aktes gegenüber dem Akt des Philosophierens zu betonen, (was im übrigen auch Hegel tut), ist in der Tat Hegels Gleichsetzung von Religion und Philosophie zu widersprechen. 25 Insofern ist auch der Verweis auf Aristoteles, Philosophie sei wesentlich Denken des Denkens, genau zu lesen. Keineswegs kann daraus geschlossen werden, Gegenstand der Philosophie sei allein das Denken und insofern sei die Religion, die sich zunächst einmal nicht als Denken äußert, kein möglicher philosophischer Gegenstand. Wohl aber bezieht sich die Philosophie auf ihre Gegenstände so, dass sie zu Gegenständen des Denkens gemacht werden. Daraus ergibt sich, dass eine Philosophie der Religion zwar eine mögliche (und vielleicht auch notwendige) Auseinandersetzung mit Religion ist, aber keineswegs die einzig angemessene oder gar mögliche. 26 Bernhard Welte: Religionsphilosophie, 5. überarb. u. erw. Aufl. hg. B.Casper u. K.Kienzler, Frankfurt 1997, S.56 (§2.2). 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung 115 stets nach vernünftiger Auslegung, zumindest aber ins Leben eingreifender Äußerung und kann deshalb nie allein im Binnenraum religiöser Erfahrung verharren.27 4 Ein philosophischer Begriff von „Religion“ Wenn demnach Religionsphilosophie möglich und sinnvoll, ja unter der Annahme, dass es sich beim Bereich des Religiösen um ein originäres, nicht in anderen Bereichen menschlichen Lebensvollzugs aufgehendes Geschehen handelt, auch notwendig ist28, dann ist es nun doch sinnvoll, einige Elemente für einen Begriff von Religion zu benennen. Damit kann und soll nicht aus philosophischer Sicht das Wesen von Religion bestimmt werden, wohl aber sind Kriterien zu nennen, unter denen Religion sinnvoll zum Gegenstand philosophischer Auseinandersetzung gemacht werden kann. Zudem soll darüber auch jenes Proprium des Religiösen im Rahmen menschlicher Lebensvollzüge herausgestellt werden. Unter allen „Definitionen“ von Religion scheint mir für dieses Unternehmen am hilfreichsten der Versuch von Gustav Mensching zu sein, weil er selbst seine Definition eher als Summe formaler Strukturelemente auffasst.29 27 Vgl. auch dazu mehr vor allem im Teil II meiner Arbeit. Für die Möglichkeit der auch didaktischen Umsetzung dieses Gedankens liefert das Kapitel 4-2 einen Beleg. 28 Mit dieser Behauptung ist noch nicht differenziert zwischen verschiedenen Ansätzen von Religionsphilosophie. In meinem Schema oben habe ich dafür drei Wege genannt, die sich selbstverständlich gegenseitig ergänzen können: (1) Die eher ideengeschichtliche Richtung erfasst nicht nur religiöse Phänomene, Verhaltensweisen, Riten, Glaubensvorstellungen, Schulen, sondern deutet sie auch als Formen menschlichen Verhältnisses zu sich selbst, zu Welt, zu Sinn. - (2) Die weltanschaulich-hermeneutisch sich verstehende Religionsphilosophie reflektiert auf die Strukturen von Religiosität, sieht und deutet sie jedoch als eine ganz eigentümliche, von anderen unterschiedene Dimension von Menschsein. - (3) Die analytische Religionsphilosophie schließlich konzentriert sich auf die Analyse und das Begreifen der sprachlichen Muster von Religiosität und fragt, was diese in welcher Form zum Ausdruck bringen wollen. Der Verweis auf Schaeffler (199 hat deutlich gemacht, dass der Versuch etwa von Jörg Splett, die analytische Religionsphilosophie mit der Behauptung zu unterminieren, sie verzichte auf die zentrale Frage nach „der Wahrheit ihres Bekenntnisses“ [Splett 1994, S.218] nicht zu halten ist. Zu einer genaueren Übersicht und Erläuterung tragfähiger Ansätze von Religionsphilosophie heute vgl. Halder (1988). 29 Wie durch die folgenden Ausführungen ersichtlich, handelt es sich bei den meisten anderen Definitionsversuchen entweder nur um Teile von Menschings differenzierten Vorschlag oder vor allem um diese Definition nicht weiter als strukturierend erläuternde Versuche. So leiden vor allem eher analytische Versuche eines Religionsbegriffs an der (bewussten) Aussparung des Begegnung mit Heiligem bzw. auf die Reduktion dieser Begegnung auf den bloßen Akt der Begegnung ohne Reflexion auf ihren Gegenstand. Unter dieser Einschränkung können systemtheoretische Definitionen dann durchaus ihren Nutzen haben, so vor allem Luhmanns Beschreibung der Funktion von Religion (wohlgemerkt nicht mehr!), „die unbestimmbare … Welt 116 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung Mensching bestimmt Religion „als erlebnishafte Begegnung mit heiliger Wirklichkeit und als antwortendes Handeln des vom Heiligen existentiell bestimmten Menschen“.30 Die genaueren Auslotung der hier genannten Strukturelemente ermöglicht eben jene gesuchte Kriteriologie zur Unterscheidung bestimmter Lebensvollzüge als religiös, aber auch zur Abgrenzung eigentlich nicht religiös zu nennender Lebensvollzüge. Damit sollen (im Hinblick auf das hier zur Debatte stehende Didaktik-Thema) zugleich Strukturelemente genannt werden, auf deren Artikulation eine Didaktik der Religion nicht verzichten darf.31 (4.1) Das erste Element bei Mensching ist „Begegnung“. Damit wird, was auch immer Religion ist, von vornherein in den Horizont menschlicher Erfahrung gerückt. Religion geschieht, so Welte32, „im Horizont des Menschen“. Dabei geht es aber, [an anderer Stelle, S.38, heißt es „Transzendenz“ oder „das Unfaßliche“] in eine bestimmbare zu transformieren“ [Niklas Luhmann: Funktion der Religion, Frankfurt: Suhrkamp 1977, S.26]. Hermann Schrödters Bestimmung von Religion als „Gesamtheit der Erscheinungen (Objektivationen), in denen Menschen das Bewusstsein der radikalen Endlichkeit ihrer Existenz und deren reale Überwindung (Religiosität) ausdrücklich machen“ [Schrödter 1979, S.298] spart in dem Ausdruck „Erscheinungen“ ebenfalls die Begegnung mit Heilige eher aus, assoziiert mit dem erläuternden Stichwort „Objektivationen“ eher die unten näher erläuterte Ebene von sichtbaren religiösen Formen, Riten usw.; dann aber würde Religion auf ein rein menschliches Verhältnis reduziert, ohne die Bedingung der Möglichkeit für „Bewusstsein der Endlichkeit“ und vor allem „deren reale Überwindung“ (die in der Definition offenkundig als Akt des Menschen, nicht als (möglicherweise per Geschenk an den Menschen möglichen) Gegenstand menschlichen Bewusstseins gefasst wird), zu nennen. Der eher theologische Vorbegriff von Religion, mit dem Bernhard Welte arbeitet, unterläuft hingegen die Differenzierung bei Mensching: „Unter Religion wird seit alters her die Beziehung des Menschen zu Gott oder auch zum Bereich des Göttlichen verstanden.“ (Welte 1997, S.63). Dass viele nichtphilosophische Versuche eines Begriffs von Religion, das hier vorgestellte Niveau unterbieten oder allenfalls Teilaspekte von Religion zur Sprache bringen, mag der von Ulrike Brunotte (wohl missverständlich formulierte) Versuch dokumentieren, mit Verweis auf Klaus Heinrich „Religionen…als Formen der Selbstvergewisserung…zu begreifen“ [Brunotte 1999]. Gewiss sind Religionen auch Formen menschlicher Selbstvergewisserung, werden aber durch eine solche pauschalisierende Beschreibung in ihrer Eigenart gerade nicht erfasst. 30 G. Mensching: Religion. Erscheinungs- und Ideenwelt; in: RGG 31961, Bd.5, Sp.961ff. Mensching versucht mit seiner Definition von Religion bewusst lediglich formale Strukturelemente zu benennen, die in der mannigfaltigen inhaltlichen Bestimmung dann die Erscheinungsweise bestimmter Religionen bilden. In der genaueren Erläuterung der von ihm genannten Grundelemente nennt Mensching dann freilich eher einzelne Phänomene, statt die Elemente als formale Strukturen weiter zu erläutern und so zu einer unterscheidungsfähigen Kriteriologie auszuformulieren. 31 In Orientierung an diesen Strukturelementen sind die meisten der in Teil IV der Arbeit dokumentierten Unterrichtsmodelle konzipiert, aber auch mein Vorschlag zu einem organisatorischen Konzept eines Unterrichts in Religion im Kapitel 5-4. 32 Welte (1997), S.56. 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung 117 Welte ergänzend, nicht nur um Fragen des Ursprungs der Religion, sondern auch um je mögliche religiöse Gegenstände. Selbst die Rede von Transzendentem und göttlich Numinosem ist stets menschliche Rede, muss also immer auch in diesem Horizont verstanden werden, was nicht heißt, das mit dieser Rede Bezeichnete sei nichts anderes als bloß von Menschen Produziertes.33 Erkenntnistheoretisch gesehen ist Gegenstand der Religion nie das Religiöse an sich, etwa Gott oder Heiliges an sich, sondern nur das, was religiöse Gehalte für uns sind. Schon von daher muss stets auch eine reflexive Rede über Religiöses möglich sein, ja das religiöse Erlebnis drängt sogar danach, zur Sprache gebracht zu werden, selbst wenn seine Botschaft sprachlich nie vollständig zu fassen ist. Auch religiöse Rede, mithin auch in sog. heiligen Schriften fixierte religiöse Rede steht unter dieser Voraussetzung.34 Abgrenzend fallen damit selbsternannte rein und ausschließlich esoterische Modi religiöser Begegnung zumindest tendenziell aus dem Horizont des Religiösen heraus.35 (4.2) Freilich begegnet dem Menschen in dieser religiösen Begegnung, und damit erst sind wir bei dem zentralen Kriterium, der differentia specifica des Religiösen, immer „heilige Wirklichkeit“, man sollte ergänzen auch Wirklichkeit als heilige. Das Prädikat „heilig“ meint dabei ein Doppeltes: Einerseits geht es in Religion um Begegnung mit einer dem Menschen zugleich wesentlich entzogenen Wirklichkeit, vielleicht sollte man auf einer einfacheren Stufe zunächst von einer unseren Erfahrungshorizont transzendierenden Wirklichkeit sprechen, dann erst von einer ihm gegenüber auch transzendenten. Natürlich ist diese Ausdrucksweise dem Einwand ausgesetzt, wie denn etwas zur Wirklichkeit werden 33 Diese Redeweise setzt freilich einen Sinn von Sprache voraus, der Sprachliches nicht auf eine durch Reflexion immer einholbare Selbstäußerung des Menschen reduziert, sondern zumindest die durch die Sprecher selbst nie einholbare „sprachliche Weltkonstitution“ anerkennt [so Hans-Georg Gadamer: Die Universalität des hermeneutischen Problems, in: GW Bd.2, Tübingen ²1990, S.228]. Martin Heidegger ist dabei noch weiter gegangen und hat Sprache als je schon Vorgefundenes angesehen. – In diesem Zusammenhang ist von Interesse auch der Blick auf den religionskritischen Vorwurf nach dem Feuerbachschen Muster, Gott sei nichts anderes als die Projektion menschlicher Wünsche. Über das Wesen der Religion ist damit, entgegen Feuerbachs Meinung, noch nicht viel ausgesagt, solange die Frage nicht gestellt wird, woher und warum der Mensch dergestalt projeziere. Strukturell betreffen solche Äußerungen zu Religion daher lediglich bestimmte Umgangsweisen mit dem Religiösen, nicht das Religiöse in seinem (möglicherweise durch Sprache nicht fassbaren) extensionalen Gehalt. (Zur Kategorie des Extensionalen vgl. genauer meine Ausführungen in Kapitel 1-2.) 34 Zur Entfaltung dieses Gedankens vgl. unten den Teil II der Arbeit und auch das Kapitel 4-2. 35 Damit wird nicht unterstellt, dass esoterische Erlebnisse keine religiöse Struktur hätten; aber zur Erschließung dessen, was Religion ist, vermögen sie nichts beizutragen. Vgl. in diesem Zusammenhang bereits die innerreligiöse Kritik an esoterischen Erlebnissen, etwa in der paulinischen Kritik am geisterfüllten Zungenreden in 1Kor 14. 118 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung soll, was darin sich als benennbare Wirklichkeit zugleich entzieht, wo doch nur (so das erste Element) das je im menschlichen Horizont Benennbare begegnen kann. Möglicherweise ist aber diese Paradoxie genau die Eigenart religiöser Wirklichkeitserfahrung. Gegen die Blochsche Forderung nach einem Transzendieren ohne Transzendenz36 geht es um die in Lebenshorizonte transzendierenden Erfahrungen aufbrechende Frage, woher diese Kraft des Transzendierens kommt und wohin hier zu überschreiten wäre. Diese Frage ist von vornherein nur ungenügend beantwortet, wenn das Woher und das Wohin des Transzendierens mit der Erfahrung des Transzendierens, gleichgesetzt wird. Die Rede von Transzendenz als Bezeichnung eben dieses Woher und Wohin markiert aber lediglich das Problem, das sich hier auftut, bezeichnet noch nicht eine faktisch auszumachende Bedeutung. Einen entsprechenden Schluss legt auch die logische Überlegung von der Möglichkeit einer privativ negierenden Redeweise nahe; demnach macht es durchaus einen Sinn, den Verweis auf einen sprachlich nicht mehr benennbaren je größeren Horizont per privativer Negation auszudrücken. Dass eben hierin ein spezifisches Kennzeichen religiöser Sprache liegt, haben wiederholt einige Autoren zum Ausdruck gebracht.37 In religiöser Begegnung, und eben dies unterscheidet sie von anderen Erfahrungsebenen, begegnet also etwas die eigene Erfahrung wesentlich Übersteigendes, theologisch würde man hier von „Anspruch“ oder „Anruf“ reden. Die Identifikation säkularer Sinnsuchbewegungen oder gar bereits benennbarer Sinnerfüllungen mit Religion scheidet durch dieses zentrale Kriterium für Religion von vornherein aus. Selbst die Rede von Religion als einer Weltanschauung oder als eine Form von Sinnsuche ist daher als unangemessen oder zumindest einseitig zurückzuweisen (was nicht heißt, dass Sinnsuche und auch Weltanschauung nicht auch wesentliche Elemente von Religion sind).38 36 Diese These formuliert Ernst Bloch als „entscheidend“ für seine Sicht auf Religion, wie er sie in „Atheismus im Christentum“ (1968) entfaltet hat. Seine Lesart von „Exodus“, ein Begriff, der auch im Untertitel des Buchs auftaucht, verdeutlicht das hier gemeinte besser: Die Bewegung des Herausgehens aus einem Zustand in einen befreiteren, das Überschreiten von Lebenshorizonten, wie es zweifelsohne in der Exoduserfahrung deutlich geworden ist, meint Bloch von der Religion beerben zu müssen, ohne die darin mitgedachte Rückbindung an eine befreiende Instanz. Es kommt ihm auf den Akt des Überschreitens an. Die Erfahrung des Überschreitens aber reduziert er auf einen Akt des Überschreitens. Damit wir der Gegenstand der Erfahrung und auch die Frage nach einer Bedingung der Möglichkeit solcher Erfahrung ausgeklammert. Transzendenz hat wie auch Religion in Blochs Überschreitungs-Philosophie keinen Platz. 37 Im Anschluss an Hermann Schrödters religionsphilosophische Überlegungen hat vor allem Eckard Nordhofen diesen Gedanken eindrucksvoll wie verständlich herausgearbeitet: Eckhard Nordhofen: Glaube, in: Ethik. Ein Grundkurs, hg.v. H.Hastedt/E.Martens, Reinbek 1994, S.278f., zuletzt auch: Die Zukunft des Monotheismus, in: Merkur 53.(1999), S.828ff. 38 Auch an diesem Punkt irrt m.E. Gisela Raupach-Strey, wenn sie die Feststellung, Philosophie sei keine Weltanschauug, als Argument verwendet für eine Trennung von Philosophie- und Religionsunterricht, welchem damit unterstellt wird, er sei Weltanschauungsunterricht: R.S.: Das Verhältnis des Ethik/Philosophie-Unterrichts zu den religiösen und nicht-religiösen Weltanschau- 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung 119 Das zweite im Prädikat „heilig“ indizierte Element bringt diese Konfrontation mit wesentlich anderer Wirklichkeit in religiöser Begegnung nun in einen Zusammenhang mit dem ihr Begegnenden. Für ihn nämlich begegnet darin Heil. Auch dieses Wort ist erklärungsbedürftig. Es verweist zunächst auf die Idee einer alle anderen Wahrheiten umfassenden absoluten Wahrheit. In diesem Sinne ist Hegels nur vorderhand altertümliche Beschreibung von Religion ganz ernst zu nehmen, Religion nämlich als „die Region, in der alle Rätsel der Welt, alle Widersprüche des Gedankens, alle Schmerzen des Gefühls gelöst sind - eine Region der ewigen Wahrheit und Ruhe, der absoluten Wahrheit selbst.“39 Die Wahrheit der Religion übersteigt in der Tat die Wahrheit im Sinne von Übereinstimmung möglicher Wahrnehmungen, also von Objektivität, auch die Wahrheit im Sinne unmittelbarer Einstimmigkeit, als Schönheit also, ebenso die logische Wahrheit der Richtigkeit (orthotes), aber auch die Wahrheit der Übereinstimmung mit dem eigenen Handeln, also die Wahrheit als das Gute. Absolut und alles übersteigend ist diese Wahrheit jedoch eher eine Idee, nicht auf der gleichen Ebene wie die anderen, genauer zu bezeichnenden Wahrheiten. Es bleibt dafür nur eine Idee von Wahrheit, die nämlich hinter allem als Ganzes sich verbirgt, die aletheia der Griechen.40 Zugleich, und das ist die weitere Ebene, wird mit dem Begriff Heil eine soteriologische Dimension angezeigt. Theologisch gesprochen zeigt sich in der religiösen Erfahrung von Heil die Dimension der Erlösung gegenüber der als endlich erfahrenen menschlichen Wirklichkeit. Diese zweite Ebene von Transzendenz macht die zuweilen geführte Rede von Religionen ohne Transzendenzbezug zu einem hölzernen Eisen.41 Zu einer Verdeutlichung oder Erweiterung des Religionsbegriffs jedenfalls trägt sie nichts bei.42 ungen, in: Philosophie und Religion. Zukunft einer Fächergruppe. Rost.Philos.Manuskr.H.5, hg.v.H.Hastedt, Rostock 1998, S.59. Zur didaktischen Konsequenz einer solchen Fächertrennung vgl. unten Kap. 1-4. 39 Hegel (1983), S.3. 40 Sie aufgelöst zu haben gegen die bloße Adäquationswahrheit, die letztlich nicht mehr als Richtigkeit oder Übereinstimmung ist, hat bekanntlich Heidegger der abendländischen Metaphysiktradition vorgeworfen. Wenn er, Heidegger, demgegenüber auf eine Wahrheit im Sinne von aletheia rekurrieren will, gewinnt dieser Gedanke zumindest kryptotheologische Züge. 41 Wenn diese Rede auf östliche Religionen, insbesondere den Buddhismus, vor allem in Form des Zen, oder auch auf den Konfuzianismus angewandt wird, wird die Rede von Transzendenz wohl eher mit der aus westlicher Sicht konnotierten Form personaler Transzendenz unzulässigerweise identifiziert. Dem Buddhismus insofern einen grundsätzlichen Transzendenzbezug, und sei es nur im Sinne einer endliche Erfahrungen kategorial übersteigender „Negativ“-Erfahrungen, abzustreiten, halte ich dagegen für absurd. Andererseits wäre etwa ein Konfuzianismus, der tatsächlich lediglich als ethisch-politisches Ordnungssystem sich verstünde oder verstanden würde, und die Orientierung an sog. himmlischen Mächten außer acht lassen würde, keine Religion mehr, sondern eben nur noch Weltanschauung. 42 Die Rede von „Ersatzreligionen“ oder „quasireligiösen“ Phänomenen halte ich daher entgegen verbreiteter soziologischer Einwände für durchaus klärend, da sie mit Grund zur Bezeichnung eben solcher Phänomene dienen, die zwar bestimmte Parallelen mit religiösem Erleben aufweisen, 120 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung Bei der Erläuterung des anderen in diesem Zusammenhang genannten Begriffs, also dem der Wirklichkeit, stellen sich die gleichen Probleme: Einerseits wird mit dem Ausdruck „heilige Wirklichkeit“ behauptet, dass es tatsächlich um eine andere Wirklichkeit gehe als die täglich erfahrbare, andererseits meint dieser Ausdruck ebenso, dass in der Erfahrung heiliger Wirklichkeit unsere alltägliche Wirklichkeit anders, nämlich im Horizont von Heil erfahren wird. Beide Bedeutungen sind nicht zu verwechseln, aber auch nicht voneinander zu trennen. Zu trennen sind sie nicht, weil es unter Berücksichtigung des zuerst genannten Elements bei Religion nicht um eine Anderwelt, eine jenseits des Erfahrbaren liegende Welt gehen kann, umgekehrt aber die täglich erfahrene Wirklichkeit im Lichte des Religiösen auch wirklich als andere erfahrbar wird. Zu verwechseln sind beide Wirklichkeit entsprechend auch nicht, weil zumindest für die täglich erfahrbare die veränderte Wirklichkeit eine absolute Grenze darstellt, an der gebrochen sie als endliche erscheint. Die Lehre von den letzten Dingen, die Eschatologie, gehört insofern zu den wesentlichen Elementen von Religion.43 (4.3) Als drittes Element bringt Mensching den Ausdruck „erlebnishaft“. Mensching selbst betont, dass damit keineswegs nur die Ebene des Gefühls gemeint ist, sondern: „Er-lebnis ist eigentlich ein Ergreifen eines Objektes mit dem ganzen Leben, so daß das Ergriffene das eigene Leben erfüllt und existentiell bestimmt.“44 In anderen Worten: Das Leben wird in einer vorher nicht erfahrenen Tiefendimension erfahren. Alle in der Literatur beschriebenen religiösen Erlebnisse äußern sich in eben dieser Weise. Religiosität ist insofern immer mehr als eine Bestätigung des ohnehin gelebten und erfahrenen Daseins, nämlich zum einen die Erfahrung dieses Daseins in seiner Endlichkeit und Kontingentialität45, dann aber auch in seiner auf denen aber Transzendenzbezug fehlt, und die daher auch nicht als Gestalten von Religiosität anzusehen sind. - Auch die Rede von Selbsterlösungsreligionen ist irreführend: Gewiss gibt es Religionen, die den subjektiven Vollzug des Religiösen stärker betonen als andere. Daraus aber den Schluss zu ziehen, Erlösung käme lediglich durch Selbstvollzug zustande, ist nicht zwingend und zumindest erläuterungsbedürftig hinsichtlich des Sinns von „selbst“. 43 Das auszuführen, würde den Rahmen der Arbeit sprengen. Jedenfalls verwiesen sei daher auf das Kapitel 4-5, in dem hinsichtlich der Frage nach Gerechtigkeit am deutlichsten das Problem der Endlichkeit von Geschichte und einer alle Geschichte heilenden Gerechtigkeit weiter verhandelt wird. 44 Mensching (1961), Sp.963. 45 Die Versuche, Religion als Bewältigung von Kontingenz zu begreifen, etwa bei Hermann Lübbe und in anderer Weise auch bei Niklas Luhmann, teilweise auch bei Hermann Schrödter, sind von daher durchaus angemessen, aber nicht hinreichend. Zur Bestimmung eines Aktes als religiös gehört m.E. wesentlich auch die Benennung des Horizonts, aus dem heraus Kontingenz und auch Endlichkeit, bzw. ihre Überwindung als solche erfahren werden. 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung 121 Transzendenz hin offenen Anlage.46 In diesem Zusammenhang sprechen religionsphilosophisch beeinflusste Theologen vom Menschen „als Geheimnis“.47 (4.4) Das vierte Element ergibt sich aus dem dritten. Mensching nennt es „existentielles Bestimmtsein“. Damit ist mehr gemeint als die erlebnishafte Begegnung. Das existentielle Bestimmtsein ist eine aus der Begegnung erwachsende Folge, ja eine das Leben bestimmende Antwort auf diese Begegnung. Gewiss gibt es religiöse Erfahrungen oder Begegnungen, die nicht zu einer existentiellen Bestimmung führen. Dann aber, so ließe sich terminologisch differenzieren, hat ein Mensch zwar eine religiöse Erfahrung gemacht, hat vielleicht auch sich als religiös, also Religiosität erfahren, hat aber noch keine Religion. Mit Heidegger bezeichnet Existenz im Unterschied zum schlichten Dasein, das sich diesem Dasein Stellen, das aus der Erfahrung des Seins gewonnene Heraustreten ins Dasein. Die religiöse Begegnung muss also, das meint „existentielles Bestimmtsein“, zur Auseinandersetzung mit dem Dasein führen. Für den sich als religiös empfindenden bzw. wissenden Menschen ist dies seine persönliche Religiosität bzw. sein Glaube.48 (4.5) Schließlich ist als fünftes Element „antwortendes Handeln“ genannt. Es ergibt sich fast notwendig aus dem vierten und meint gleichwohl mehr: Sich dem Dasein zu stellen, führt zur Auseinandersetzung mit dem Dasein; Handeln versucht demgegenüber, das Dasein auch umzugestalten. Einerseits gehört zu Religion solche das Leben gestaltende Praxis, andererseits gewinnt diese Praxis ihre Kraft aus der 46 Transzendenz ist darum mehr als die Bewältigung von Endlichkeit. Immerhin kann man mit gutem Sinn von Wegen nichtreligiöser Bewältigung von Endlichkeit sprechen. Auch hierin findet sich ein Argument dafür, Transzendenzbezug als notwendige Dimension von Religiosität anzusehen. 47 Dieser Terminus durchzieht etwa die Theologie von Karl Rahner, deutlich auch in seiner „Grundlegung einer Religionsphilosophie“: Hörer des Wortes, München 1941. Eine ausführliche Deutung der Rahnerschen Anthropologie unternimmt unter diesem Titel Klaus P.Fischer: Der Mensch als Geheimnis. Freiburg 1974. - Rahner ist ebenso bei Heidegger in die Schule gegangen wie der buddhistische Religionsphilosoph Keiji Nishitani, der in seinem grundlegenden Werk „Was ist Religion?“ (Frankfurt ²1986, jap.1980) als religiöse Urerfahrung beschreibt, „dass das Ich die Seinsweise eines in sich selbst verschlossenen Selbst zeigt“ (S.57) und im weiteren, in auffallender Parallele etwa zu den Denkfiguren spätmittelalterlicher Mystiker, sprich Religionsphilosophen, wie Meister Eckhart die Erleuchtung im Buddhismus als „religiöse Existenz“ bezeichnet (S.66). 48 In diesem Zusammenhang wäre eine tiefere Auseinandersetzung mit der Bedeutung von „Glaube“ und „Religiosität“ notwendig. Die unten im Abschnitt 5 dieses Kapitels vorgestellten Koordinaten von Religion liefern dazu nur grundlegend strukturierende Hinweise. Wichtig wäre darüber hinaus insbesondere die Erläuterung davon, was Schleiermacher im „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ herauszustellen versuchte, oder auch von Kierkegaards Unterscheidung von „Religieusitet A“ und „B“ sowie die darauf aufbauende Kritik der dialektischen Theologie gegen die Subsumierung des christlichen Glaubens unter den Begriff von Religion. Religionsdidaktisch von hohem Interesse ist die Frage, inwiefern sich diese Dimension von Religiosität überhaupt mit Mitteln der Vernunft erschließen lässt. Vgl. dazu auch oben die Anm. 23 zu Pascal sowie das Kapitel 2-1. 122 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung durch das religiöse Erlebnis sich ergebenden existentiellen Bestimmtheit. Zum einen: Religion, die das Leben flieht, untergräbt sich selbst. Das erste Element, die Begegnung, erfährt durch den handelnden Lebensvollzug erst seine volle Bestätigung: Religion ist nichts gegenüber dem Leben völlig anderes, abgehobenes, sondern wesentlich in das Leben eingreifend und es mitgestaltend. Andererseits ist dieses Handeln kein Selbstläufer, sondern geschieht im Horizont der religiösen Begegnung; von da her gewinnt es seine Begründung, daraufhin aber ist es letztlich auch ausgerichtet, so dass religiöses Handeln stets auch als Gottesdienst zu verstehen ist. Alle religiöse Ethik - ein für den kommenden Didaktikteil wichtiger Hinweis - ist nur von daher verständlich.49 5 Ebenen des Religiösen Von diesem durch Strukturmerkmale gekennzeichneten Religionsbegriff ausgehend, scheint es mir sinnvoll, auch Ebenen zu unterscheiden, in denen Religion begegnet. Sie einander zuzuordnen und ihre Bezüge strukturell zu benennen, ist ebenfalls eine Aufgabe der Religionsphilosophie. Das sei nachfolgend zumindest kurz angedeutet. Unter Aufnahme der oben abgebildeten Schematisierung von religiösen Vollzügen begegnet Religion auf vier Ebenen: (1) als Möglichkeit religiösen Erlebens, die dem Menschen Religiosität als eine originäre Dimension seines Daseins eröffnet, (2) als Gegenstand der Religiosität, den der religiöse Mensch als als Heilige (oder auch als Transzendenz) erfährt, als Ursprung und Ziel allen Lebensvollzugs, 49 Der Begriff des Handelns muss hier eher weit aufgefasst werden. Im Bereich des Religiösen kann er durchaus auch Formen der Meditation und des Gebets, ja sogar von asketischer oder mönchischer Weltabwendung beinhalten, sofern damit gerade ein bestimmter Weltbezug herausgestellt wird. Mit dieser Erläuterung religiöser Ethik soll andererseits keineswegs der Meinung das Wort geredet werden, bei religiöser Ethik handle es sich um eine Sonderethik. Verbreitet ist bis in richterliche Entscheidungen hinein die irreführende Ansicht, aus Religiosität heraus verantworteten Lebensgestaltungen entzögen sich der Beurteilung durch die reine Vernunft. Fatal wird diese Ansicht, wenn sie als Argument herhalten muss für eine strikte Trennung von Religions- und Ethikunterricht, als ob dieser völlig an die Begründung im Glauben gebunden, jener aber im Gegensatz dazu vor der Vernunft zu rechtfertigen sei. Diese fehlerhafte Ansicht scheint mir vorzuliegen in dem vielbeachteten Beitrag von Schleichert / Seebaß / Stemmer 1997; ebenso bei Veraart 1998. Hier wird die Differenz zwischen einer Moral grundlegenden Begründung in bzw. aus etwas und einer Moral einsichtig machenden Begründung vor etwas eingeschliffen zu werden: Diese Differenz bedenkend ist es durchaus möglich, ja nach geltender zumindest jüdischer und christlicher Theologie auch notwendig, moralische Einsichten und Entscheidungen einerseits im Glauben zu gründen, zugleich aber auch je vor der kritischen Vernunft zu prüfen und zu rechtfertigen. 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung 123 (3) als lebenserschließende und -bestimmende Antwort des Menschen auf die religiöse Erfahrung, sein Glaube oder seine (subjektive) Religion, (4) als objektiv sich zeigende, institutionalisierte Gestalt von Glaubensbezügen, als sichtbare (objektive) Religion, zu der sich eine Mehrzahl von Menschen bekennen kann. Die Erschließung von Religion auf strukturellem Wege kann versuchen, die Bezüge zwischen diesen Ebenen zu erläutern, die so gleichsam als Koordinaten des Religiösen erscheinen. Damit würden zugleich Bausteine einer Didaktik der Religion aus philosophischer Sicht genannt: Aufgabe etwa wäre es, einzelne Phänomene in diese Koordinaten einzubauen und zu prüfen, inwiefern beispielsweise50 Götter oder Gottesnamen Benennungen des Heiligen durch die (objektive) Religion sind, heilige Texte durch (objektive) Religion fixierte Verdichtungen von Glauben anzusehen sind, als sprachliche in Frömmigkeit oder Frömmigkeitsformen (wie Gebet) sich die zur Erfahrung gebrachte Religiosität Ausdruck verschafft, die fides qua creditur, also der glaubende Glaube, die subjektive Realisierung einer religiösen Erfahrung darstellt, dieser subjektive Glaube eher als tätige Antwort des Glaubenden auf die religiöse Erfahrung zu verstehen ist oder als durch die religiöse Erfahrung unmittelbar mitgegebenes „Geschenk“, hingegen die fides quae creditur, also der geglaubte Glaube, die Akzeptation eines bestimmtem Menschenbildes, bestimmter moralischer Normen, bestimmter Jenseitsvorstellungen usw. ist, moralische Normen aus religiösen Erfahrungen abgeleitet werden, an der Erfüllung moralischer Gebote Religiosität gemessen werden kann, Riten die Deutung von Wirklichkeit in der Dimension von Religiosität sind, Konfessionen im Unterschied zum Glauben auch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten (objektiven) Religion(sgemeinschaft) anzeigen, alle Menschen zwar (im Sinne der Ebene 1) religiös sind, aber keineswegs auch gläubig bzw. Religion haben (im Sinne der Ebene 3), 50 Weitere Differenzierungen, insbesondere hinsichtlich der Frage, in welcher Hinsicht Religion Thema einer schulischen religiösen Bildung sein kann und sollte, nehme ich vor im Kapitel 5-4. 124 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung viele Menschen zwar (im Sinne von Ebene 3) Religion haben, aber deshalb noch nicht einer Religion (im Sinne von Ebene 4) angehören müssen, (objektive) Religionen den Nährboden zur Entwicklung von Religiosität hin zu Glauben bilden, oder vielmehr Glauben rein aus (subjektiven) religiösen Erfahrungen erwächst. Zur einer noch differenzierteren Auseinandersetzung mag das auf der Folgeseite kopierte Schema hilfreich sein. Die Kennzeichnungen verstehen sich dabei lediglich als (freilich begründete) Vorschläge, nicht als Definitionen. Die farbliche Gestaltung macht die problemorientierte Erschließung von Religion deutlich; dabei meinen in Bezug auf Religion die schwarzen Kästen die grundlegenden Ebenen (s.o. S. 122f.), das blau Umkreiste sichtbare gelebte Formen, das rot Umkreiste psychische und affektive Ebenen und Formen, das braun Umkreiste sprachliche Ausdrucks- und Darstellungs-Formen, die blau geschlängelten Pfeile Versuche der Definition bzw. begrifflichen Bestimmung, die grünen Pfeile Strukturmerkmale. Zu weiteren Auseinandersetzungen führt das Schema, wenn man versucht, die Strukturmerkmale und Definitionen als problemerschließende und kritische Fragen zu formulieren, auch unter Aufbietung möglicher Alternativen. 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung 125 Kapitel 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen Für das abschließende Kapitel der Grundlegung begnüge ich mich mit einer religionsdidaktischen These, die durch wiederum eher thetisch vorgetragene Differenzierungen ihrer Elemente erläutert wird. Durch z.T. ausführliche Anmerkungen und Fußnoten werde ich allerdings auch Hinweise zu möglichen Wegen einer Konkretion geben sowie dazu, in welchen der nachfolgenden Kapitel einzelne dieser Elemente exemplarisch entfaltet werden, bis hin zu Unterrichtsmodellen.1 Für eine systematisch ausgeführte, gar umfassende Didaktik müssten gewiss zusätzliche Überlegungen angestellt werden2; insofern verstehen sich die nachfolgenden Erläute1 In dieser Hinsicht ist das vorliegende Kapitel im Vergleich zur Vorlage (Abschnitt 3 meiner Abhandlung Petermann 2000c) vollständig neu zusammengestellt worden. (Vgl. die redaktionelle Anmerkung 1 zum einführenden Abschnitt des Teil I dieser Arbeit) 2 Bewusst spare ich in diesem Zusammenhang weitergehende allgemeine philosophiedidaktische Erläuterungen aus, vor allem solche zur methodischen Erschließung einzelner Themen-, Frageund Problemstellungen. Möglichkeiten einer differenzierten philosophischen Gesprächsführung werden immerhin angesprochen im Kapitel 3, anhand konkreter Unterrichtsprotokolle sogar diskutiert. Andere Methoden, wie Wege einer hermeneutischen Textarbeit, aber auch sog. präsentative Formen des Philosophierens finden exemplarisch im Teil IV in den 5 vorgestellten Unterrichtsmodellen Verwendung, ohne dass sie dabei im Detail erläutert werden können. Für weitere Konkretionen, etwa das Arbeiten mit Dilemma-Geschichten, mit rekonstruktiven wie kreativen Schreibübungen, Phantasie-Reisen, präsentativen und erfahrungsorientiert arbeitenden Themenerschließungen verweise ich auf drei philosophiedidaktische Aufsätze: Petermann (1999) zu einer rekonstruktiven, dilemmatisch-diskutierenden und kreativen Erschließung eines Satzes von Montaigne; Petermann (2000), ausgehend von Hume, zu einer präsentativen, biografischerfahrungsdimensionierten und das eigene Denken anregenden Auseinandersetzung mit dem Sinn von Philosophieren; Petermann (2001) zur spielerischen Erschließung unterschiedlicher Formen von Philosophie durch eine Kindergeschichte. Zum Hintergrund didaktischer Überlegungen für den Philosophie- und Ethik-Unterricht ist zu sagen: Allgemeine Didaktiken des Philosophie- und Ethik-Unterrichts liegen im Unterschied zum Religionsunterricht, wie bereits oben in der Einführung zum Teil I angedeutet, für den deutschsprachigen Raum bislang kaum vor; die von Schmidt (1983) ist gerade in ihren methodischen Teilen, vor allem hinsichtlich ihres konzeptionellen Anspruchs veraltet; Rehfus (1980) ist im Grund nur für die gymnasiale Oberstufe geeignet; Martens (1999) orientiert eher über unterschiedliche Ansätze des Philosophierens mit Kindern, liefert nur indirekt grundsätzliche Ansätze einer Didaktik; und sowohl Tichy (1998) wie auch jetzt Steenblock (2001) liefern eher Vorüberlegungen zu einer Didaktik als eine detailliert ausgeführte Didaktik. - Immerhin gibt es neuerdings in den Nummern 2/2000 sowie 2/2001 der ZDPE und dem bislang in zwei Bänden erschienenen „Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik“, allesamt von Johannes Rohbeck (Dresden) herausgegeben, einige über sporadische Beiträge hinausgehende Sammlungen zu diesem Thema. 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen 127 rungen lediglich als kritischer Rahmen für die hier aus philosophischer Sicht zur Debatte stehende Didaktik zum Thema „Religion“. Doch ohne diese Rahmenbedingungen kann meines Erachtens ein tragfähiger Unterricht zu Themen der Religion in heutigen Lebenskontexten nicht gelingen. Meine These zu einer Didaktik des Religiösen lautet: Soll Religion bildungskonzeptionell konsistent3, der Sache der Religion gegenüber angemessen4, heutiger Erfahrungswelt gewachsen5 und an den Anforderungen schulischer Bildung orientiert6 zum allgemeinen Bildungsgut werden, ist sie zumindest auf vier Ebenen zu thematisieren: (1) als religiöse Propädeutik im Sinne einer Sensibilisierung und Erfahrungskunde hinsichtlich dessen, was einen religiösen Menschen auszeichnet; (2) als religiöse Sprachlehre im Sinne einer Hermeneutik bzw. Kunst des Deutens und Dechiffrierens des eigentümlich Religiösen; (3) als Religionskunde im Sinne des Kennenlernens und Beurteilens tradierter religiöser Lebensanschauungen, Vollzüge, Symbole; (4) als religiöse Orientierung im Sinne der Befähigung zu je eigener religiöser Lebensentscheidung. Die folgenden Bemerkungen sind auch inhaltlich stark aus der Sicht philosophischer Fragestellung formuliert.7 Dass die Philosophie aber selbst die Ausbildung von Philosophie/Ethik-Lehrer/innen weder grundlegend, noch vor allem im Bereich „Religion“ alleine bewältigen kann und will, sollte klar sein; insbesondere theologische sowie religionswissenschaftliche Fragestellungen sind notwendige Ergänzungen 3 Vgl. Kapitel 1-2. 4 Vgl. Kapitel 1-3. 5 Vgl. Kapitel 1-1. 6 Vgl. dazu meine Bemerkungen zur Eigenart eines schulisch verankerten Religionsunterrichts im Vergleich zu anderen Formen der Glaubensvermittlung, insbesondere die Gemeindekatechese im Abschnitt 4.2 des Kapitels 2-1 sowie in den Erläuterungen zur Konfessionalität im Kapitel 5-4. 7 Das ist begründet zum einen durch den ursprünglichen Kontext dieses Kapitels im Rahmen einer philosophiedidaktischen Einlassung auf das Thema Religion, zum andern aber in meiner in der vorliegenden Arbeit auch systematisch vertretenen These eines philosophisch fundierten Unterrichts in Religion; vgl. dazu insbesondere die Ausführungen in Kapitel 2-1. Durch die philosophische Akzentuierung entsteht notwendig ein Schwergewicht in den Ausführungen zum Punkt (1), der religiösen Propädeutik, die sich teilweise jedoch auch als Erläuterungen zu den anderen Punkten lesen lassen. 128 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen für eine in Regie der Philosophie geleistete Ausbildung von Ethik/PhilosophieLehrer/innen.8 Für die Ausbildung von Religions-Lehrer/innen ist traditionell ohnehin die Theologie/Religionspädagogik zuständig. Gleichwohl beanspruchen die nachfolgenden philosophisch gefärbten Bemerkungen ihre Anerkennung auch in diesem Rahmen als notwendige Elemente einer bildungskonzeptionell tragfähigen Didaktik der Religion. Als Ansprechpartner einer solchen Didaktik ergeben sich damit: in erster Linie die Lehramts-Studierenden für das Fach Philosophie/Ethik, in deren Aufgabenbereich der Unterricht zu religiösen Themen innerhalb ihres Fachs gehört, um sie dafür grundlegend zu qualifizieren, Theologie-Studierende, für die der schulische Religions-Unterricht in der Regel zumindest zeitweise zu ihrem späteren Aufgabenbereich gehören wird, um ihnen philosophische Perspektiven auf diesen Bereich offen zu legen, alle Lehramtsstudierende, um ihnen in der je nach Fach unterschiedlichen Begegnung mit religiösen Fragestellungen Ebenen der Auseinandersetzung zu eröffnen. Wie nun vermag eine philosophisch begründete Didaktik konkrete Beiträge in Richtung der vier skizzierten Ebenen leisten? ad (1) religiöse Propädeutik (1.1) Am Beginn, aber auch als Prinzip jeder Auseinandersetzung mit Religion muss die Frage stehen: Was ist ein religiöser Mensch? Unter Voraussetzung der oben erläuterten Merkmale erschließt sich diese Frage auf der propädeutischen Ebene jedoch nicht abstrakt-begrifflich, sondern am ehesten mittels konkreter biografischer Zeugnisse. Unter dem Stichwort „biografisches Lernen“ wird dabei gezielt die erlebnishafte Identifikation mit dem Lerngegenstand, in diesem Falle also einer religiös handelnden Person, durch die Lernenden angestrebt, um das religiöse Erlebnis, von dem die Rede ist, auch wirklich lebendig werden zu lassen. Aus philosophischer Sicht wäre kritisch allenfalls zu betonen, dass es dabei nicht um beliebige Kontextualisierung oder zufällige Veranschaulichungen gehen kann, sondern um die Intensivierung der Möglichkeit, das Religiöse wirklich als Religiöses begegnen zu 8 Zur Problematik der Trägerschaft der Ausbildung von Ethik-Lehrkräften vgl. meine Bemerkungen im einleitenden Abschnitt zu Teil I sowie im Kapitel 1-2. 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen 129 lassen, wozu sich am ehesten die (daraufhin fragende) Begegnung mit einer religiösen Erfahrung eignet. Der Religionsunterricht bietet dazu eine Vielzahl von Möglichkeiten, (die freilich in Auswahl mehrheitlich auch im Ethikunterricht zur Sprache kommen können), an vorderster Stelle natürlich durch Einlassung auf biblische Personen. Die Lehr- bzw. Bildungspläne sehen solche Themen ausdrücklich vor, nicht immer freilich mit Hinweisen auch zu einem entsprechend (in meinen Augen notwendigen) erfahrungsorientierten Zugang. Eigentümlicherweise gelingt das auch trotz seines explizit erfahrungsorientierten Anspruchs Halbfas in seinen Religionsbüchern nur bedingt: So werden Personen wie Abraham, König David oder auch die alttestamentlichen Propheten wie auch einige weitere biblische Themen eher informativ oder historisch aufbereitet, die angemahnte identifikatorisch-erfahrungsdimensionierte 9 Ebene wird allenfalls indirekt angesprochen. Angemessener ist bei Halbfas umgesetzt das alle Bände der Sekundarstufe I durchlaufende Themenfeld „Menschen der Kirche“, in dem altersspezifisch begründet wie auch biografisch interessierend Figuren wie Martin von Tours, Franz von Assisi oder Oscar Romero als Vorbilder vorgestellt werden. Für entsprechende Unterrichtsmodelle liefere ich in der vorliegenden Arbeit mit dem Kapitel 4-3 in bezug auf die Jünger Jesu, hier Simon Petrus, selbst ein Beispiel: Über ein Bild wird zu Beginn, die Erfahrung in ganz unmittelbarem Verständnis ansprechend, in das Thema „Religiöse Existenz“ eingeführt, als Schlüssel und Sensibilisierung zur erfahrungsdimensionierten Erschließung der Perikope Lk 5, 1ff, womit erst dann auch bibelkritische Perspektiven durch einen synoptischen Vergleich eröffnet werden, welcher somit von vorneherein im Horizont der hier zur Debatte stehenden Sensibilisierung für das Religiöse getan wird, und nicht aus einem religiositätsirrelevantem historischen oder literarischen Interesse. Einen weiteren Versuch habe ich zumindest ansatzweise auch für den Ethik-Unterricht vor10 gelegt. Mit nur wenigen Sätzen wird im Ethikbuch „Ich bin gefragt 9/19“ zur Thematik „Religion – Suche nach Mehr“ exemplarisch die Gestalt des Abraham skizziert: Auch die Religionen kennen die Sehnsucht nach dem „Mehr“, die über den Alltag hinaus will. So erzählen Juden, Christen und Muslime von ihrem gemeinsamen Ursprung, ABRAHAM: Als Nomade zog er mit seiner Familie und seinen Viehherden durch die Steppen Mesopotamiens, bis er in seinem tiefsten Innern den Ruf vernahm: Geh fort! Auf dem Weg durch die Wüste war er ohne Vater (der war gestorben), ohne Heimat (die hatte er verlassen) und ohne Aussicht auf Zukunft (er war kinderlos). Ganz auf sich allein gestellt, setzte er sich mit der Frage auseinander: Wer bin ich; und wohin soll ich gehen mit meinem Leben? Doch gerade in dieser extremen Lage wusste sich Abraham ganz und gar getragen. Diese ursprüngliche Erfahrung, die fortan sein Leben prägte und durch die er sich auch ganz auf sich selbst verlassen konnte, nannte er „Gott“ und gab 11 sie seinen Nachkommen weiter. 9 Vgl. dazu meine Kritik im Abschnitt 5 des Kapitels 5-1. 10 Dieser Text findet sich auf Seite 143 des Bandes „Ich bin gefragt. Ethik [bzw.LER] 9/10. Berlin: Volk und Wissen 2000“ (Petermann 2000b). 11 Dieser von mir verfasste Text ist so entstanden aus der Idee, erfahrungsorientiert wie biografisch verortet in die Frage einzuführen, wer ein religiöser Mensch ist. Nach dem ursprünglichen Plan bildete dieser Text nur den ersten Teil weiterer Ausführungen zu Mose, Jesus und Mohammad als 130 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen Nicht uninteressant sind die meinerseits für den entsprechenden Lehrerband vorgeschlagenen 12 didaktisch-methodischen Anregungen : » Der Schulbuch-Text S. 142 liefert lediglich einen zusammenfassenden Einstiegsimpuls zur Auseinandersetzung mit der Frage, wonach eigentlich ein religiöser Mensch fragt. Über eine Verständigung des SB-Textes hinaus bietet allein die Erschließung des entsprechenden biblischen Quellentextes Gen 11,17-12,9 eine vertiefende Antwort. eigentlichen „Stiftern“ der drei abrahamitischen Religionen. Unter dem Titel „Braucht Religion Religionen?“ wollte ich zudem an diesen drei Personen elementare Eigenarten des Judentums, des Christentums und des Islams festmachen. Der Text zu Abraham sollte einleitend die diese drei Religionen verbindende Klammer herstellen. An der Diktion der zugegebenermaßen recht frei sowie aufgrund des Gehalts symbolisch-hintergründig (vgl. dazu unten Anm. 14), aber doch sachangemessen formulierten Texte ist, denke ich, deutlich die erfahrungsdimensionierte Zielsetzung herauszulesen: Mose: aus dem Wasser gezogen In die Wüste verschlagen hatte es auch Mose: als Kind aus dem tödlichen Wasser gerettet und als Mann zum ägyptischen Verwalter aufgestiegen hatte er, vom Gerechtigkeitssinn übermannt, einen Sklavenpeiniger erschlagen. Nun in der vor Hitze flirrenden Wüstenluft brennt sich ihm der Auftrag in die Seele, die Gepeinigten und Gedemütigten zu retten: In einem „brennenden“, aber nicht verbrennenden Dornbusch hört er den Anruf „Mose“ und versteht: Wie er selbst „aus Wasser gezogen“ wurde, soll auch er sein Volk vor Untergang retten. Unausprechbare und doch benennbare Hilfe erfährt er durch den, der immer für die da ist, die auf ihn vertrauen: JHWH. Dieser Gott wird ihm und seinem Volk Lebensorientierung, die 10 Gebote in die Hand geben: Denke an JHWH, der dich aus der Sklaverei gerettet hat, dann wirst du leben. Jesus: Gott hilft Wie alle frommen Juden fastete auch Jesus 40 Tage in der Wüste. Vom Geist Gottes gestärkt kann er in der Synagoge das Wort des Propheten Jesaja deuten: „Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht …“ Jesus weiß: Damit ist jeder gemeint, auch er selbst, und er setzt um, was er vernommen hat: Einen Menschen z.B., der unfähig geworden war, sich, seine Mitmenschen und die Welt im rechten Licht zu sehen, führt er aus seiner Umgebung weg, er bringt ihn zum Weinen, das löst den „Dreck“ aus seinen Augen; da kann der Mann sagen „Ich sehe Menschen“. Aber nicht genug, Jesus legt ihm die Hände auf die Augen, und plötzlich „sah der Mann alles ganz deutlich“ … Wer Jesus als „Christus“ (=Gesalbter Gottes) glaubt, glaubt, dass diese Liebe zueinander real werden kann. Muhammad, der Lobwürdige In der Wüste erlebt auch der Kaufmann Muhammad seine Erwählung zum Propheten Gottes. Erschüttert über die soziale Rücksichtslosigkeit und religiöse Gleichgültigkeit seiner Zeitgenossen zieht sich Muhammad in die Einsamkeit der arabischen Berge zurück und erfährt Stärkung und Orientierung durch den Engel Gabriel [die Stärke, Kraft Gottes]: „Lies, bei deinem Herrn, der den Gebrauch der Feder lehrte und den Menschen lehrt, was dieser nicht gewusst hat.“ Muhammad macht sich diese Botschaft zu eigen, schreibt die Worte, die er vernommen hat, auf als etwas, was immer wieder gelesen werden soll (=Koran), und wird zum Gesandten Gottes, der als gütiger Schöpfer den Menschen zu sich selbst bringt - der Islam, die Hingabe an Gott zur Erlangung von Lebensorientierung und Frieden ist gegründet. 12 Die nachfolgend in „» … «“ - Klammern gesetzten von mir verfassten Passagen finden sich demnächst (2002) in redigierter Form in: Lehrerband Ich bin gefragt Ethik 9/10. Berlin: Volk und Wissen, vorauss. S.145f.u. S.150. – Dieses Modell beruht im übrigen auf eigenen Erfahrungen im Religionsunterricht der Klasse 11, den ich in vielen Durchgängen nach diesem Grundmuster erprobt habe. Zum konzeptionellen Zusammenhang eines solchen Unterrichts vgl. das Kapitel 4-2. 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen 131 13 Dazu bietet sich am besten die sperrige, aber eindringliche Übersetzung von Buber an: Und dies sind die Zeugungen Tarachs: Tarach zeugte Abram, Nachor und Haran. Und Haran zeugte Lot. Haran starb unterm Angesicht seines Vaters im Lande seiner Geburt, in dem chaldäischen Ur. Abram nahm und Nachor sich Weiber. Der Name von Abrams Weib war Ssarai, der Name von Nachors Weib war Milka: eine Tochter Harans, des Vaters von Milka und Vaters von Jiska. Ssarai aber war eine Wurzelverstockte: sie hatte kein Kind. Tarach nahm Abram seinen Sohn und Lot Sohn Harans seinen Sohnessohn, und Ssarai, seine Schwiegerin, Abrams seines Sohnes Weib, sie zogen mitsammen aus dem chaldäischen Ur, ins Land Kanaan zu gehen. Doch als sie bis Charan kamen, siedelten sie sich dort an. Und der Tage Tarachs waren zweihundert Jahre und fünf Jahre, da starb Tarach in Charan. ER sprach zu Abram: Geh vor dich hin aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft, aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dich sehen lassen werde. Ich will dich zu einem großen Stamme machen und will dich segnen und will deinen Namen großwachsen lassen. Werde ein Segen. … Abram ging, wie ER zu ihm geredet hatte …Sie kamen in das Land Kanaan … ER ließ von Abram sich sehen und sprach: Deinem Samen gebe ich dieses Land. … Dort baute er IHM eine Schlachtstatt und rief den NAMEN aus. Die Entzifferung der hier vollzogenen „Verdichtungen“ kann z.B. nach folgender Methode geschehen: a) Erfahrungen A’s zusammenstellen, die einen Einschnitt in seinem Leben bedeuten; b) die Tragweite dieser Erfahrungen ermessen (mit der Frage: Was bedeutete das für A. – vor allem in damaliger Zeit?); c) eine Lebenskurve A’s zeichnen; d) als Vertiefung einen Vergleich anstellen und entfalten „A. verliert – A. gewinnt“ [Sachinformation, zugleich als Hintergrund für den letzten Satz S.142 „Diese ursprüngliche Erfahrung, die fortan sein Leben prägte und durch die er sich auch ganz auf sich selbst verlassen konnte, nannte er „Gott“ und gab sie seinen Nachkommen weiter.: Gen 12,1: A. verliert (1) Land (=äußere Lebensgrundlage, Heimat), (2) Verwandtschaft (= inneres Lebensfundament, soziales Eingebundensein), (3) Vaterhaus (=abgestammte Identität, Geschichte, Name) --- Gen 12,2: A. gewinnt (stattdessen): (1) Land Gottes (= nicht (allein) geografisch festzumachen, sondern Lebenslandschaft, Kultur, die Lebensgrundlage bietet), (2) großes Volk (= neue Sozialität, die mit allen Menschen verbindet allein durch das Menschsein; vgl. Gen 12,3: „alle“), (3) großen Namen (vgl. Gen 17, 4f.!; d.i. nicht mehr nur gläubig seinem Gott „unterworfen“ (=Abram), sondern selbst-bewusst, autonom für die eigenverantwortliche Lebensgestaltung freigesetzt (= Abraham: das „abba“ in diesem neuen Namen realisiert den Bezug auf jenen uns allen Leben spendenden „abba“-Gott in der Begegnung mit jedem anderen Menschen, in dessen Antlitz sich das „abba“ wiederspiegelt, das ihn darum mit unverwechselbarer Würde ausstattet). Der biblische Gottesglaube, wie er in dieser Urerfahrung A’s paradigmatisch Gestalt festgehalten ist, realisiert sich in eben diesen hiermit komprimiert zusammengetragenen Dimensionen.] e) als weitere Vertiefung: Die weiteren Lebenswege A’s erkunden und ihre überlieferten Verdichtungen entziffern, so Gen 18,1ff (Verheißung des Jizchak), Gen 18,16ff (Feilschen mit Gott), Gen 22 (Bindung Jizchaks); 13 Buber / Rosenzweig (1932). 132 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen [Für die Erschließung dieser schwierigen Texte ist es absolut notwendig, nicht an der vorurteilsbeladenen Oberfläche zu bleiben, sondern in die Innendimension der Texte einzutauchen, um ihren symbolischen Gehalt in Erfahrung zu bringen. Dann ergeben sich für diese drei Sagen-Elemente als Schlüssel z.B. folgende Leitfragen: Wer wie A. an Gott glaubt, a) wie wird dieser Mensch eigene Kinder beurteilen, woher kommen sie, wessen „Eigentum“ sind sie? („Jizchak“ heißt: Gott ist es, der den Menschen zulacht => Kinder haben einen Eigenwert, lassen sich endgültig nie „planen“, bleiben Geschenk); b) wie wird dieser Mensch mit seinem Glauben angesichts von Unrecht und Leid umgehen? (A. fügt sich nicht einfach, sondern sein Glaube führt zur dialogischen Auseinandersetzung, zum Kampf ums Leben); c) wie wird dieser Mensch sich zu anderen, insbesondere seinen Kindern verhalten? (soll A. J. wirklich „binden“ oder nicht letztlich doch freisetzen, weil er nicht ihm „gehört“, sondern Gott, d.i. sich 14 selbst? Wie schwer ist es für Eltern, ihre Kinder freizugeben?) « In philosophiedidaktischer Ebene habe ich dazu einen Versuch vorgelegt und erläutert am Beispiel von David Hume: Mein Aufsatz „Sei ein Philosoph, doch bleibe, bei all deiner Philosophie, stets 15 Mensch.“ nimmt im Titel einen programmatischen Satz von Hume auf und versucht, diesen Satz in seinem Sinn über die Deutung eines zeitgenössischen Portaits vom jüngeren Hume und biografische wie autobiografische Notizen zu seiner Person und sein Verhältnis zur Philosophie erfahrungsdimensioniert zu erschließen. (1.2) Religiöse Erlebnisse haben mit Sinnsuche zu tun, reichen aber tiefer, in dem Sinne, dass Sinnsuche selbst in ihrem Sinn erläutert wird. Insofern ist es wenig hilfreich, sich bloß darüber in Kenntnis zu setzen, wie nach einer bestimmten religiösen Vorstellung Sinnsuche sich phänomenal fassbar darstellt. Religiös erschließend ist erst die Frage, was es ist, dass wir je nach Sinn suchen.16 14 Die hier zugrundeliegende Methode der Auslegung biblischer Texte ist nicht ganz selbstverständlich. Sie übernimmt einiges von dem, was als sog. tiefenpsychologische Exegese bekannt geworden ist, die besser unter dem Stichwort „existenzerhellende Bibelauslegung“ zu fassen wäre. Vgl. dazu insbes. Maria Kassel: Biblische Urbilder. Tiefenpsychologische Auslegung nach C.G.Jung. Freiburg: Herder 1992 [mit ausführlichen Deutungen zu Abraham und Jakob], sowie Eugen Drewermann: Tiefenpsychologie und Exegese. 2 Bde, Olten: Walter 1985. Es sollte aber auch erwähnt werden, dass es dabei nicht um modische Psychologisierungen geht, sondern, dass eine solche Form existentiell erschließender Bibeldeutung eine lange Tradition aufzuweisen hat, etwa in der anagogischen Deutung durch die Kirchenväter oder in der allegorischen durch die großen Prediger des Mittelalters. - Zu grundsätzlichen Ebenen und Voraussetzungen der Deutung religiöser Sprache vgl. Hans-Bernhard Petermann: Religiöse Sprache verstehen – eine religionsphilosophische Hermeneutik, in: Martens/Thomas (Hg.): Praxishandbuch Philosophie, Bd.4: Religionsphilosophie, München: bsv 2002, [in veränderter Form als Kapitel 2-2 in der vorliegenden Arbeit]. 15 Petermann (2000a). 16 In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, was hinsichtlich des Elements „heilige Wirklichkeit“ im Rahmen meines Versuchs zu einem Begriff von Religion oben (Kapitel 1-3) angedeutet wurde: Ich empfehle von daher, deutlich zu unterscheiden, wann und warum wir von Weltanschauungen, Sinnsuchbewegungen und religiösen Erfahrungen sprechen. Sinnsuchbewegungen bezeichnen sicher die grundlegendste Ebene, die Voraussetzung für die anderen ist, insofern damit wir als Menschen zunächst einmal ernst genommen werden als Wesen, die nach sich selbst fragen 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen 133 In dieser Perspektive einer Sinn-Orientierung einen religiös propädeutischen Unterricht zu konzipieren, der für das Fach Ethik/Philosophie in gleicher Weise geeignet ist wie für das Fach Religion, ist kompliziert, da sensibel mit dem Problem umzugehen ist, junge Menschen einerseits mit der Frage des Religiösen zu konfrontieren, andererseits jedoch so etwas wie Religionsvermitt17 lung, aber auch bloß äußerlich bleibende Religionskunde zu vermeiden. 18 In meiner Beteilung an dem Unterrichtswerk „Ich bin gefragt“ hatte ich diese reizvolle Aufgabe gemeinsam mit zwei Kollegen. Für die Anlage des Kapitels, das jetzt den Titel trägt „Spurensuche – dem Leben Sinn geben“ (S. 132ff), entwickelte ich folgende Grundidee, die in redigierter Form 19 in den Lehrerband Eingang finden wird: Zielsetzungen: 1.) Die auch im Fach Ethik/Philosophie zu thematisierende religionskundliche Dimension (in einem weiten Sinne des Wortes „Religionskunde“ als Auseinandersetzung mit dem Bereich des Religiösen) geht im vorliegenden Band 9/10 über ein Kennenlernen der Grundlagen und des ethischen Anspruchs der Religionen hinaus und versucht, eher grundsätzlich die religiöse Dimension menschlichen Lebens zur Sprache zu bringen. Zielsetzung ist insofern weniger die Begegnung mit konkreten Erscheinungsformen der Religionen, vielmehr ein Zugang zu Religiosität, der durch die Religionen in unterschiedlicher Weise eröffnet wird, aber nicht nur durch sie. 2.) Dafür ist es zweitens notwendig, die Frage nach Religiosität in die Frage grundlegender Orientierung menschlichen Lebens einzubinden. Dabei geht es wiederum weniger um Erschließung alltäglicher menschlicher Befindlichkeiten, sondern um die Frage nach ihrer Tiefendimension und der Letztorientierung menschlichen Lebens. Darum steht im Zentrum des Kapitels die Frage nach Sinn. Zielsetzung ist von daher eine Sensibilität für die über unsere aktuelle Befindlichkeit hinausgreifende und für sie Orientierung bietende Dimension. Hinsichtlich des gesamten Buchtitels „Ich bin gefragt“ bedeutet das eine Öffnung für eine uns tragende Dimension, aus der heraus ich gefragt bin, also mich im Anspruch des Gefragtseins zu verstehen. 3.) Drittens geschieht beides, die Frage nach Sinn wie die nach Religiosität in Perspektive heutiger und jugendlicher Lebenswelt. Nach Sinn wie nach Religion kann ich nur fragen, wenn und nach Orientierungen für sich und ihr Leben in der Welt, in der sie leben. Weltanschauungen stellen demgegenüber schon Antworten bereit für einen der Welt, in der wir leben, unterstellten Gesamtsinn; sie können uns zugleich Orientierung für unser Leben bieten und gehen dann über in Lebensanschauungen, die uns zu Leben helfen; der dabei unterstellte Gesamtsinn meint dabei nicht notwendig, dass alles letztlich Sinn mache; vielmehr können damit auch Tendenzen bezeichnet sein, die allgemein zur Sinnfrage führen, möglicherweise auch die Auffassung, ein Sinn sei letztlich nicht vorhanden (in der Bedeutung, dass alles letztlich keinen Sinn mache). Religiosität schließlich bezeichnet 17 Zu den Fragen der Konfessionalität einerseits, der Bekenntnisneutralität andererseits vgl. unten die konzeptionellen Kapitel 5-3 und 5-4. 18 Ich bin gefragt. Ethik [bzw.LER] 9/10. Berlin: Volk und Wissen 2000 (Petermann 2000b). 19 Lehrerband Ich bin gefragt Ethik 9/10. Berlin: Volk und Wissen 2002, vorauss. S. 134ff. – Die o.a. Erläuterungen stellen einen von mir ausführlicher kommentierten Vorschlag dar, der aufgrund der Gesamtperspektive des Unterrichtswerks wie auch der Länge in redaktionell veränderter Form erscheinen wird. – Ich veröffentliche meinen Vorschlag an dieser Stelle, um damit ein Beispiel für meine These eines religiös sensibilisierenden Unterrichts in Religion zu liefern, von der dieser Vorschlag getragen ist. 134 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen stets auch ich selbst gefragt bin; so kommt die eher subjektive Seite des gesamten Ethik-Werks zur Sprache. Unter diesen Perspektiven lernen die Schüler/innen im vorliegenden Kapitel - ihr eigenes Leben unter der Perspektive der Suche nach Sinn und Religiosität zu verstehen, - warum die Religionen der Welt in dieser Frage nach Sinn begründet sind, - wie die Frage nach Sinn und Religiosität (in verschiedener Weise) zur Sprache und zur Reflexion zu bringen ist, - warum die Suche nach Sinn scheitern kann oder an Grenzen gerät. Dieser Lernprozess wird unter dem erfahrungsorientiert formulierten Titel „Spurensuche“ zum Thema gemacht. Diese Zielsetzungen beruhen auf folgenden didaktischen Grundüberlegungen: Spuren sind zu suchen, gar zu finden nur durch Nachspüren. Bloße Informationen reichen nicht, man muss sie auch nachempfinden, um ihre Verläufe, gar ihre Orientierungsleistung verstehen und deuten zu können. Mehr vielleicht als in den anderen Kapiteln des Buches ist hier darum die Bereitschaft verlangt, sich auf Phänomene oder Verhältnisse auch einzulassen (weswegen man sie sich nicht sofort zu eigen machen muss.) Das sei ausdrücklich auch für das Phänomen des Religiösen betont, das hier im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht. Bereits das Schülerbuch 5/6 stellte klar: Weltanschauliche Neutralität darf nicht mit Gleichgültigkeit verwechselt werden. Gerade im Bereich des Religiösen aber versteht vom Thema nichts, wer es bloß neutral zur Kenntnis nimmt. Auch das Fach Philosophie/Ethik hat die Aufgabe, mit dem Religiösen als wesentlicher Dimension von Menschsein vertraut zu machen, Formen zur Verfügung zu stellen, Religiosität verstehen und reflektieren zu können, und Räume zu öffnen für je persönliche verantwortete Sinn-Entscheidungen. Insofern stellt sich der Philosophie- und EthikUnterricht in Deutschland gemeinsam mit dem Religionsunterricht vor aller konfessioneller Differenzierung der Aufgabe grundsätzlicher religiöser Bildung, auf die nach Art.4 u.7 GG alle 20 Menschen ein Recht haben. Diese didaktische Grundüberlegung hat unterrichtsmethodische Konsequenzen: Kein Text oder Bild ist schlicht als Information zu verstehen, sondern bedarf eines „Eintauchens“ in die Eigenart seiner Erfahrung und Sprache. Das auf 34 Seiten komprimiert gebotene Material stellt daher Impulse vor, Herausforderungen zu vertiefenden, weiterführenden und vor allem auch am Eigenen sich brechenden Erfahrungen. Nicht alles kann dabei als kognitives Ergebnis festgehalten werden, der Unterricht sollte Raum bieten für persönliche Berührungen durch das Material, ergänzt durch den Reichtum religiöser Texte aus den angesprochenen Traditionen, durch künstlerische Manifestationen oder durch filmische Dokumente, die religiösen Vollzügen oder Sinnsuchbewegungen nachspüren. Verschriftlichungen müssen dabei einen anderen Charakter haben als Ergebnisse festzuhalten; im Sinne eines Lerntagebuchs können auch Formen des Berührtseins, der Herausforderung, der Irritation festgehalten werden, die sich im „Lern“-Prozess ergeben haben. Zu bewerten ist dabei weniger nach dem Muster „richtig/falsch“, wichtig ist vielmehr, die Äußerung der Auseinandersetzung möglichst vielfältig zu fördern, um kritikfähig, das heißt sehend, urteilend, entscheidend gegenüber den vor allem religiös tradierten Sinnsuchbewegungen zu werden. 20 Zur weiteren Begründung dieser These vgl. meine Einlassungen auf das LER-Konzept im Kapitel 5-3 sowie grundlegend das Kapitel 1-2. 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen 135 Von diesen Grundüberlegungen her ist es sicher interessant, sich auch den Aufbau, die innere 21 Komposition des Kapitels anzuschauen : • Die Auftaktdoppelseite eröffnet über eine Collage eher affektiv mit wenigen visuellen Mitteln (Treppen, Stufen, „Sinn“-Faden/Knäuel, Auf und Ab, Raum-Grenzen) elementare Dimensionen von Sinnsuche. • Das einführende Unterkapitel „Mensch fragen nach Sinn“ (S.134-137) liefert lebensnah und an jugendlicher Lebenswelt orientiert Anstöße, wie, bei welchen Gelegenheiten und warum Menschen die Sinnfrage stellen. Entscheidend ist dabei die Verortung der Sinnfrage im Alltäglichen, das in zufälligen „Rissen“ zur Frage wird • „Sich selbst zur Frage werden“ (SB, S.138-141) entfaltet darüber hinaus wesentliche Richtungen und Kategorien der Sinnfrage; es geht um Erfahrungen von Grenze (hier zum Thema Liebe), von Abgründigkeit, von Existenz, Möglichkeiten und Grenzen der sprachlichen Reflexion und von Freiheit, und zwar über literarische wie philosophische Texte. • 10 Seiten (SB, S.142-151) sind der Sinnsuche „in Judentum, Christentum und Islam“ gewidmet. Diese drei Religionen sind bei uns mehr als alle anderen geschichtsmächtig geworden (Lehrer-Band 5/6, S.91). In vier Schritten werden die Schüler/innen geleitet, in ihnen Sinn-Spuren zu finden: - Zunächst wird als Leitmotiv für alle Religionen die menschliche Suche nach Mehr, nach Mitte und nach Orientierung herausgearbeitet (SB, S.142-143), zu Beginn über einen 22 Kinderbuch-Text (Sendak), dann über die Gestalt des Abraham , schließlich über das Sinn-Symbol des Labyrinths. Insofern die Frage sich hier konzentriert darauf richtet, was eigentlich einen religiösen Menschen ausmacht, findet man hier das Sinnzentrum des gesamten Kapitels. - Mit persönlichen Zeugnissen zweier Glaubensgestalten (Dietrich Bonhoeffer aus christlicher, der Sufi Ruma aus islamischer Perspektive) wird sodann die erste elementare Frage der abrahamitischen Religionen aufgeworfen: „Wer bin ich eigentlich?“ (SB, S. 144-145). - Der dritten elementaren religiösen Frage: „Worauf dürfen wir hoffen?“ sind die Folgeseiten gewidmet (SB, S. 146-147), exemplarisch über eine erfahrungsorientierte Aufarbeitung der christlichern Ostergeschichte aus heutiger Sicht . - Schließlich werden auf 4 Seiten wichtige Dimensionen der zweiten elementaren Frage der drei Religionen entfaltet: „Was sollen wir tun?“ (SB, S.148-151). Exemplarisch kommt dabei die Ethik des Juden Schalom Ben-Chorin zur Sprache, die politische Entscheidung des Christen Dietrich Bonhoeffer und eine Menschenrechtserklärung aus islamischer Sicht. Am Ende wird die Vision eines alle Menschen verbindenden Weltethos ins Spiel gebracht. • Die „Antworten ostasiatischer Religionen“ (SB, S.152-157) greifen die metaphysische wie weltanschauliche Sinn- und Orientierungssuche in Hinduismus, Buddhismus, Taoismus und 21 Auch hier greife ich auf meinen Vorschlag für den Lehrerband zurück, ergänzt durch kleinere Kommentare zur Veranschaulichung der hier nicht vorliegenden Texte und Bilder. – Zur Genese dieses Kapitels ist zu sagen, dass es von mir gemeinsam mit Maria Greifenberg und Matthias Hahn verfasst wurde; die vor allem bildnerische Ausgestaltung und Layoutierung lag in Händen der Verlagsredaktion. Jeder von uns war für klar umrissene Unterkapitel verantwortlich. Da die Gesamtanlage auf ein von mir eingebrachtes Strukturgitter zurückging, hatte ich auch die Aufgabe einer redaktionellen Gesamtübersicht. 22 Zur Ausführung vgl. oben die Anmerkungen zum biografischen Lernen. 136 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen Konfuzianismus auf. Die Einführung in diese Sinnsuch-Bewegung wird hier verbunden mit dem Ziel, auch einige Grundaussagen dieser Religionen kennen zu lernen. • Mit der ausdrücklich nichtreligiösen Sinnsuche des Humanismus können sich die Schüler/innen auf der folgenden Doppelseite auseinandersetzen (SB, S.158-159). • Das Unterkapitel „Spurensuche – im Sande verlaufen“ (SB, S.160-161) artikuliert dagegen Skepsis, Grenzen, Ohnmacht und auch Scheitern in der Suche nach Sinn. • Die Besinnung auf das kulturelle Erbe unserer Vorfahren (SB, S. 162-163) verdeutlicht einerseits, dass Menschen immer schon nach Sinn gesucht haben, andererseits, dass die Auseinandersetzung mit Geschichte eine ganz eigene identitätsstiftende Dimension von Sinn-Suche und –Findung darstellt. • Auf der Ideendoppelseite (SB, S. 164-165) springt das Schild „Das Leben ist eine Baustelle“ ins Auge. Damit wird die bisherige Suchbewegung erweitert um das Thema „individuelle Sinnsuche in pluraler Welt“; die Schüler/innen werden im Sinne des Titels „Ich bin gefragt“ zur persönlich betreffenden Auseinandersetzung mit der Frage nach Sinn und Religiosität herausgefordert. Diese Übersicht verdeutlicht ein in meinen Augen klar erkennbares Konzept aufbauenden Lernens, ausgehend a) von einer erfahrungsorientierten, mit biografischen Elementen gesättigten Sensibilisierung für die Frage nach Sinn und Religiosität zunächst b) zu einer vertiefenden Einsicht in die Dimension der Sinnfrage, in der die Frage nach einer angemessenen Sprache eine zentrale Rolle spielt, aus der heraus dann c) der Sinn von Religiosität ins Spiel gebracht wird, welcher den Schlüssel bietet, d) eher religionskundlich Elementares über Menschenbild, Ethik und Hoffnungen der Religionen in Erfahrung zu bringen, um schließlich e) Anregungen und Orientierungen zu geben, wie die Frage nach Sinn und Religion ins eigene Leben einzubinden wäre. Dieser Aufbau kann, meine ich, in deutlicher Parallele zu meiner einleitend zu diesem Kapitel formulierten didaktischen These gelesen werden. Ich habe aus diesem Grund die Schlüsselbegriffe kursiv gesetzt. (1.3) Konkreter zur Entfaltung bestimmter Erfahrungen oder Personen geht es dann um die Entwicklung sog. Letztfragen, die ich besser elementare Fragen nennen will23, weil sie als Fragen ihren Sinn weniger darin haben, andere Fragen in ihrer Dimension zu übersteigen, sondern grundzulegen. Vier Fragen sind es vor allem, die in ihrer Elementarität alle anderen auch alltäglichen Fragen nach Ich und Welt und einem Gesamtsinn erschließen und stellen helfen: Wer bin ich? - Woher komme ich? - Was soll ich tun? - Wohin gehe ich? Sie sind auffälligerweise allen großen Religionen gemeinsam. Zunächst einmal käme es darauf an, diese Fragen auch philosophisch zu formulieren, um zu verstehen, was es eigentlich ist, dass wir sie stellen: (1) Wer bin ich? Besser: Was ist es eigentlich, dass ich der bin, der ich bin? Und das setzt dann voraus: Was ist es, dass ich mir zur Frage werde? 23 Vgl. dazu den Schlussabschnitt des Kapitels 1-2 sowie meine genauere Erläuterung von Elementarität im Abschnitt 2 des Kapitels 3. 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen 137 (2) Woher komme ich? Oder: Worin hat mein Leben seinen Grund? Auch hier gilt als Voraussetzung: Was ist es, dass in der Frage nach mir selbst mir der Grund meiner selbst zur Frage wird? (3) Was soll ich tun? Oder: Woher erfahre ich Orientierung für die Lebensführung, für mich, mit anderen, in der Natur? Und wiederum genauer: Was ist es, dass ich nach Orientierung suche, wenn ich leben will? (4) Wohin gehe ich? Hier zunächst grundlegend: Was ist es, dass ich über mein Leben hinausgreife, hoffe? Erst daraus macht die konkretere Frage Sinn: Gibt es eine Hoffnung über den Tod hinaus? Und: Wie kann ich angesichts der Notwendigkeit endlichen Lebens mit Krankheit, Versagen, Schuld, Endlichkeit umgehen? Mit diesen Elementarfragen haben wir ein differenziertes Schema in der Hand, mit der sich die eben genannten religiösen Erfahrungen, die biografisch zur Sprache gekommen sind, genauer erschließen lassen.24 (1.4) Die grundsätzliche Forderung nach Erfahrungs-Lernen25 kann an dieser Stelle nur wiederholt, nicht weiter erläutert werden. Gewiss hat gerade in diesem Zusammenhang die Philosophiedidaktik auch die entsprechenden Stile und Methoden von Lehren und Lernen zu entwickeln. Ohne die mitunter strittig diskutierte Frage zu entfalten, wie man besser Philosophie lerne, über das Kennenlernen des Systems und der Positionen der Philosophie oder über das eigene Philosophieren, darf in didaktischer Hinsicht grundsätzlich mit Kant festgehalten werden, dass „sich überhaupt keiner einen Philosophen nennen (kann), der nicht philosophieren kann. Philosophieren lässt sich aber nur durch Übung und selbsteigenen Gebrauch der Vernunft lernen.“26 Bis in die Bildungspläne hinein (Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern) ist es inzwischen üblich geworden, diese Anweisung zum Philosophieren ebenfalls mit Kant als didaktische „Vorschriften“ zu entfalten, wir würden vielleicht eher sagen Maximen, um zum ureigenen „praktischen Gebrauch der Vernunft“ zu gelangen: „1) Selbstdenken, 2) sich (in der Mitteilung mit Menschen) an die Stelle des anderen zu denken, 3) jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken“.27 24 Vgl. dazu die im Punkt zuvor ausführlich erläuterte Erkundung der drei abrahamitischen Religionen in dem Werk „Ich bin gefragt“ nach eben diesen Fragen. 25 In religionspädagogischer Perspektive dazu grundlegend: Jürgen Werbick: Glaubenlernen aus Erfahrung. Grundbegriffe einer Didaktik des Glaubens, München: Kösel 1989. - Aus religionswissenschaftlicher Sicht vgl. Brunotte 1995, aus philosophiedidaktischer Sicht Breun 1994 u.1997. Zur Erläuterung des für die vorliegende Arbeit tragenden Begriffs der Erfahrung vgl. auch oben den Abschnitt (2) der Einleitung zu dieser Arbeit. Der erfahrungsorientierte Zugang zum Phänomen der Religion hat natürlich eine längere Tradition durch die Entwicklung der religionswissenschaftlichen Sicht auf Religion (vgl. dazu oben Kapitel 1-3, Abschnitt 2). Insbesondere auf die grundlegende Arbeit von William James (1901) sollte an dieser Stelle nochmals ausdrücklich verwiesen werden. 26 Kant: Logik (1800), Einleitung A 26; in: Werke Bd.III, S.448. 27 Kant: Anthropologie (1798), 122, in: Werke Bd.VI, S.511. 138 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen Ich selbst habe in meinen Seminaren und auf Vorträgen versucht, diese Einteilung durch eine weitere vorgelagerte Maxime zu ergänzen und zu präzisieren und schlage unter dem Titel „Deutekompetenzen“ vier Ebenen vor: empirisch-diagostische Kompetenz: Lebenswelt differenziert zur Erfahrung bringen, autonoetische Kompetenz: selber denken, dialogisch-kritische Kompetenz: sich an die Stelle des anderen denken, logisch-reflexive Kompetenz: mit sich einstimmig denken. In Orientierung an diesen Maximen sind für den Philosophieunterricht (nicht nur hinsichtlich des Themas Religion) auch oberflächlich eher atmosphärisch-pädagogisch anmutende Bedingungen wichtig wie: den Schülern durch den Unterricht ein Forum bieten, dass sie sich zunächst einmal auch sich selbst ernst nehmen können, ihnen einen Raum zur Auseinandersetzung bieten, das heißt sowohl Anforderungen stellen, wie Lernen als Prozess und Weg anbieten, zu Kritik und Streitgespräch herausfordern, Strukturen und Verhaltensweisen des Lernens bewusst machen, Tiefe zum Thema machen, also auch Brechungen zulassen, ja einbinden in die Auseinandersetzung, an Grenzen führen und Suche gerade dadurch nachhaltig zu machen (statt lediglich mit abfragbaren Ergebnissen zu arbeiten), Kritikfähigkeit vermitteln als Weg zu bewusster Relativierung gegen indifferenten Relativismus einerseits und zu rechter Entschiedenheit bzw. Entscheidungsfähigkeit gegen unflexiblen Fundamentalismus und Dogmatismus. Und schließlich ergibt sich, wenn es beim Thema Religion vorrangig und wesentlich um eine Dimension menschlicher Erfahrung geht, die Einbeziehung affektiv-sinnlicher wie auch meditativer, den inneren Sinn betreffender Zugänge.28 Die Philosophie ist als Disziplin des Denkens ein für diese Dimension nur scheinbar ungeeigneter Partner. Doch entsteht, ganz banal gesagt, in die Tiefe gehendes Denken nie aus sich selbst, sondern hat, wie nicht zuletzt die Bewegung des Philosophierens mit Kindern deutlich gemacht hat29, seinen Anstoß in irritierenden Alltagserfahrungen, die nicht selten ganz sinnlicher Natur sind. Erfahrungen, selbst Wahrnehmungserfahrungen können insofern ein Schlüssel zu philosophischem Denken sein.30 (1.5) Die grundsätzliche Zielsetzung dieser ersten Ebene ist es, Religiosität als wesentliche und originäre Dimension von Menschsein zu erschließen und damit nicht zuletzt die den Religionen eigene Wahrheitsfrage wahrzunehmen.31 28 Zur Einbeziehung solcher Ebenen vgl. meine Vorschläge zu sog. präsentativem Unterrichten, wie ich sie in den Unterrichtsimpulsen in den Kapiteln 4-1, 4-2, 4-3 und 4-5 vorlege. 29 Vgl. dazu die historische wie systematische Skizze zur Bewegung des Philosophierens mit Kindern im Kapitel 3. 30 Vgl. dazu bereits Aristoteles, Metaphysik I.1 (980a). Aus dem Bereich des Philosophierens mit Kindern kann für wahrnehmungsorientierte Erfahrungsübungen verwiesen werden auf Zoller (1995) sowie die anregende Sammlungs von Erfahrungsgeschichten von Schreier (1993). 31 Zur Begründung vgl. oben das Kapitel 1-3. 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen 139 ad (2) religiöse Sprachlehre (2.1) Grundsätzlich ist hier zunächst zu sagen: Wenn die Wahrheit der einzelnen Religionen ernstgenommen werden soll, gehört dazu die Fähigkeit, sich diese vernünftig und das heißt kritisch erschließen zu können. Der entscheidende Weg dazu aber ist die Fähigkeit zur sprachlichen Reflexion bzw. der Reflexion auf die Sprache. Das zu leisten, ist aber nicht nur eine der zentralen Aufgaben von Philosophie, sondern gleichsam ihr innerstes Selbstverständnis. Hier kann nicht der Ort sein, einen Begriff von Philosophie zu entwickeln. Doch stets hat Philosophie zu tun nicht nur mit der tieferen Auseinandersetzung mit Gegenständen des Denkens, sondern immer auch mit dem Denken dieses Denkens selbst. Oft wird als Organ dieses Denkens die Vernunft genannt. Wichtig ist aber in didaktischer Hinsicht auch die Entwicklung von Techniken zur Entfaltung der Vernunft. Auf grundsätzlicher Ebene ist das der kritische Charakter der Vernunft. Kritisch ist hier im vollen Wortsinn gemeint: als Fähigkeit Stellung beziehen zu können, als Fähigkeit Unterscheidungen vorzunehmen und zu differenzieren, als Fähigkeit auf der Grundlage begründeter Unterscheidungen zu Entscheidungen zu kommen, als Fähigkeit getroffene Entscheidungen der Diskussion auszusetzen, um sie zu vertiefen, zu revidieren oder zu entfalten. Das Instrument des Denkens ist dann weiterhin die Sprache, die zur Reflexion zu bringen ist. Für die Didaktik bedeutet das, Sprachtechniken zu entwickeln wie beispielsweise Erwerb von Sprachkultur als Voraussetzung dafür, sich überhaupt Kenntnisse aneignen und mit ihnen umgehen zu können, zuvorderst die Fähigkeit, Fragen zu stellen, und als Fähigkeit auszulegen, Lebenskontexte, Traditionen, vor allem manifeste Texte und Werke der Kunst; und im besonderen Hinblick auf das Thema Religion: Sprachfähigkeit aufbauen in dem Sinne, elementare und existentielle Fragen als solche benennen und im Austausch differenzierter erfassen zu können; dialogische und soziale Kompetenz erarbeiten, sich über solche Fragen mit anderen austauschen zu können; reflexive Erfahrungsmuster, Begriffe und Kategorien zur Entzifferung der vielfältigen Sinnangebote kennen und unterscheidend anwenden lernen. (2.2) Um überhaupt sich mit Religion auseinandersetzen zu können, besser: Religion zur Sprache bringen zu können, ist es notwendig, sich auf die eigentümliche religiöse Sprache einzulassen. Damit ist zugleich die wichtigste didaktische, ja die grundlegende hermeneutische Anforderung für jede Auseinandersetzung mit 140 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen Religion benannt. Ohne die religiöse Sprache zu verstehen, verstehen wir von Religion nahezu nichts, jedenfalls nicht das originär Religiöse. Das gilt natürlich in gleicher Weise auch für andere Gegenstände möglicher Erfahrung. Für die Sprache der Naturwissenschaften wird diese Voraussetzung ganz selbstverständlich anerkannt: Mitreden kann nur, wer sich auf die spezifische Terminologie versteht, die Wirklichkeit bewusst isoliert betrachtet. Auch für das Verstehen von Kunst, der bildende Kunst, der Musik, und mit Abstrichen der Literatur, wird das Verstehen der je eigentümlichen Formensprache als notwendige Voraussetzung akzeptiert. Die Religion hat es da schwerer, weil das Gefühl für das besondere Symbolsystem des Religiösen, wohl nicht zuletzt aufgrund der von den Religionen selbst verursachten Säkularisierung, auch der Sprache, verloren gegangen ist, was dann leicht zur Verwechslung von Glaubensaussagen mit (in naturwissenschaftlicher Sicht gesehenen) Wirklichkeitsaussagen u.ä. führt.32 Als auch didaktisch relevante Voraussetzung dafür kann die Einsicht gelten, dass Religion keine andere Sprache spricht in dem Sinne, dass damit eine andere Wirklichkeit bezeichnet würde, sondern dass ihre Sprache Wirklichkeit vor allem anders erfasst als etwa die weitgehend üblich gewordene Wissenschaftssprache. Das wäre im einzelnen zu erläutern etwa durch folgende Differenzierungen33: • Religiöse Sprache erfasst Wirklichkeit zunächst intensional, d.h. als Herangehensweise, und nicht extensional, also bestimmte (andere) Wirklichkeiten ausmachend und bezeichnend. • Auch religiöse Sprache hat stets das menschliche Verhältnis zu Wirklichkeit, hier religiöser Wirklichkeit im Auge. Selbst Aussagen über Gott, über Götter, über Paradies oder ewige Gerechtigkeit oder Wiedergeburt müssen stets gelesen werden als Aussagen über menschliche und menschlich erfahrbare Wirklichkeit, sonst können sie nicht verstanden werden. • Religiöse Sprache „weiß“ andererseits sehr wohl, dass sie über eigentümlich religiöse „Gegenstände“ wie Gott oder Auferstehung nicht extensional sprechen kann. Und doch hat sie letztlich keinen anderen Zweck, als Rede über diese Gegenstände möglich zu machen, um sei es als bloße Markierung, z.B. mittels privativer Negation. Das gilt insbesondere zu allen Wirklichkeit sprengenden Aussagen über Gott. Hier liegt eine besonders schwierige, aber entscheidende Ebene zum Verständnis religiöser Sprache. • Eine besonderes Verhältnis zu Wirklichkeit hat religiöse Sprache entwickelt durch die Form der Verdichtung, insbesondere für existentielle Erfahrungen. Solche Verdichtungen müssen erkannt und je neu wieder in Erfahrung, auch heutige, aufgelöst werden, um Zugang zu ihrem 34 Sinn erhalten zu können. • Konkretere Entfaltung wird eine religiöse Sprachlehre finden müssen in der Erschließung konkreter religiöser Sprachformen. Insbesondere die Sprachformen der Metapher, des 32 Grundlegend zu einer entsprechend differenzierenden Verwendung der Sprache hat sich HansGeorg Gadamer geäußert, etwa in: Sprache und Verstehen (1970), in: GW Bd.2, 21990, 184-198. 33 Das Folgende kann in diesem Punkt sich mit Andeutungen begnügen, weil sich zu dem Thema „Religiöse Sprache“ sowie den einzelnen hier angedeuteten Elementen mit den Kapiteln 2-2 in grundlegender und 4-3 in unterrichtspraktisch entfaltender Hinsicht zwei ausführliche Ausformulierungen im Verlauf dieser Arbeit finden. 34 Insbesondere zu dieser Punkt findet sich konkrete Entfaltungen im Kapitel 4-2 sowie im Abschnitt 2.6 des Kapitel 4-3. 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen 141 Symbols, des Gleichnisses, des Wunders, der Legende, aber auch des Glaubensbekenntnisses, des Dogmas usf. müssen zuerst als Sprachformen erkannt werden, um überhaupt „verstanden“ werden zu können. ad (3) Religionskunde (3.1) Grundsätzlich ist festzuhalten, dass sich religionskundliche Phänomene, seien es bestimmte religiöse Lebensanschauungen oder sichtbare religiöse Riten oder religiöse Stätten oder Symbole, nur unter der Voraussetzung der zuvor genannten Ebenen der Erfahrung und der Sprachlichkeit als religiöse erschließen; ansonsten bleiben es bloß historisch, sozial oder psychologisch interessante Phänomene. In dieser Perspektive ist es interessant, Schulbücher darauf zu überprüfen, inwieweit es ihnen gelingt, sog. religiöse Grundkenntnisse tatsächlich so zu thematisieren, dass auch ihr jeweiliger religiöser Charakter deutlich wird. Das ist eine keineswegs banale Forderung, weil nur zu selbstverständlich einem als religiös angesehenen Phänomen oder Akt Religiosität unterstellt wird. Das wird aber erst deutlich, wenn es gelingt, in ihm die oben im Kapitel 1-3 erläuterten Elemente der menschlichen Erfahrung, der heiligen Wirklichkeit, der Erlebnisstruktur, des existentiellen Bestimmtseins und der Herausforderung zu antwortendem Handeln freizulegen. Das aber geschieht nicht nur in Ethik-Büchern nicht immer, auch in Religionsbüchern wird diese Komplikation nicht immer genügend bedacht. In philosophiedidaktischer Perspektive verweise ich diesbezüglich auf das oben unter Punkt (1) genauer vorgestellte Konzept des Sinn-Kapitels im Ethik-Buch „Ich bin gefragt“. Auch Teile des unterrichtsbezogenen Modells im Kapitel 4-5 (vgl. die Punkte 2.4 und 2.6) sind unter dieser Perspektive zu lesen. Zur exemplarischen Verdeutlichung kann ich an dieser Stelle auf meine didaktische Aufbereitung der Kenntnisnahme des sog. „edlen achtfachen Pfad“ im Buddhismus im gleichen Werk verweisen. Er wird im Schulbuch nur kurz genannt: „rechte Sicht (1), rechtes Wollen (2), rechte Rede (3), rechtes Handeln (4), rechter Lebenswandel (5), rechte Anstrengung (6), rechte Achtsamkeit (7), 35 rechte Sammlung/ Versenkung/Meditation (8)“. – Für den Lehrerband wird dazu folgende 36 Arbeitsanweisung vorgeschlagen und kurz kommentiert: „Die Schüler/innen konzentrieren sich gesondert auf den „edlen achtfachen Pfad“ der „vierten Wahrheit“: Überlegt a) worin genauer die Anweisung der einzelnen „Pfade“ bestehen könnten. [Als Hintergrund empfiehlt sich ein Blick in Quellentexte, z.B. in: Glasenapp (Hg.): Pfad zur Erleuchtung. Buddhistische Grundtexte. Düsseldorf: Diederichs 1956, S.92ff]; - b) was zu tun ist, um sie zu gehen; c) warum sie gerade in dieser Reihenfolge stehen [Hinweis: die Tradition unterteilt sie in die Gruppe der „Erkenntnis“ (1,2), der „Zucht“ (3,4,5) und der „Versenkung“ (6,7,8)], warum also (1) seine Vollendung in (8) 35 Dieser Text findet sich auf Seite 154 des Bandes „Ich bin gefragt. Ethik [bzw.LER] 9/10. Berlin: Volk und Wissen 2000“ (Petermann 2000b). 36 Wie im oben erwähnten Beispiel bietet dieser Text meinen noch zu redigierenden Vorschlag für den „Lehrerband Ich bin gefragt Ethik 9/10. Berlin: Volk und Wissen 2002“ vorauss. S. 154. 142 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen hat, (8) aber nicht ohne die vorangegangenen Pfade erlangt werden kann.“ - Dieser Vorschlag lässt sich zudem verbinden mit der Auseinandersetzung mit den anderen auf dieser Schulbuchseite in Kürze gegebenen „Informationen“: eine Skizze der legendarischen Überlieferung von Siddhartas sog. Erleuchtung sowie je ein Foto eines Zen-Gartens in Kyoto und der Buddha-Statue von Kamakura. Natürlich wäre es unzureichend, die einzelnen Materialien hier schlicht zur Kenntnis zu nehmen in dem Sinne von „Im Buddhismus gibt es...“. Vielmehr lassen sie sich erfahrungsdimensioniert, nach dem jeweiligen Sinn fragend, auch auseinander erschließen: So veranschaulichen die Fotos die Frage nach dem Sinn der acht Pfade, die Einlassung auf den achtfachen Pfad hilft umgekehrt, die auf den ersten Blick möglicherweise irritierende Anlage eines Steingartens einzusehen. Für den Religionsunterricht (aber nicht nur für ihn, da sich hier Teile durchaus auch im Ethikunterricht verwenden lassen) biete ich im Rahmen der vorliegenden Arbeit dazu Modelle an in den Kapiteln 4-2 zum Thema Jüngerberufung, sowie im Kapitel 4-3, wenn es unter der Perspektive „Bibelkunde“ gelesen wird. (3.2) Die Vermittlung detaillierter religionskundlicher Phänomene, deren Grundkenntnis ja immerhin ein notwendiges Element in der Lehrerausbildung darstellt, sprengt die Möglichkeiten, aber auch die Aufgaben der Philosophiedidaktik. Sie ist hier angewiesen auf die Kooperation mit Theologie und Religionswissenschaft.37 (3.3) Lediglich auf der Ebene der Strukturierung der unterschiedlichen Inhalte könnte die Philosophiedidaktik einen eigenen Beitrag leisten, indem sie nach Ort und nach Formprinzip eines religiösen Phänomens innerhalb eines wie oben im Abschnitt 5 des Kapitels 1-3 erläuterten Koordinatensystems von Ebenen des Religiösen. Insbesondere ginge es dabei um die rechte Einordnung und wechselseitige Erschließung der Ebenen - religiöser Lebens- und Weltanschauungen; dabei scheinen mir drei Felder elementar zu sein, mit denen sich wohl jedes religiöse System auseinandersetzt: (1) das Menschenbild, (2) die Ethik bzw. der Bezug zur Lebens- und Weltgestaltung38, (3) die Frage nach Transzendenz39; 37 Aus diesem Grunde wird auch dieser Punkt (3) zur Religionskunde im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht weiter ausgeführt, sondern nur prinzipiell angedacht. 38 In diesem Zusammenhang wird klar, dass es entstellend, die religiöse Frage der Religionen ausklammernd ist, wenn die Auseinandersetzung mit Religion aus ethikunterrichtlicher Sicht reduziert wird auf Aussagen zur Ethik und Lebensführung. Vgl. dazu aber auch meine Kritik gegenüber einer religiösen Sonderethik in Kapitel 1-2, Abschnitt 2. 39 Nach diesem Muster führt die Sinn- und Religions-Einheit des Ethikbuchs „Ich bin gefragt“ (Petermann 2000b), wie oben unter Punkt (1) dieses Kapitels ausführlich vorgestellt, in die sog. Welt- und Lebensanschauungen der abrahamitischen wie auch der ostasiatischen Religionen ein. Ergänzend zu dieser Vorstellung sei an dieser Stelle exemplarisch auf den Taoismus verwiesen: 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen 143 - des Kultus, der Riten, der religiösen Feiern, des Gebets, kurz der religiösen Akte, durch die religiöse Anschauungen am unmittelbarsten fassbar werden40; - sprachlicher und auch sichtbarer religiöser Symbole (in einem weiten Sinne, also auch Chiffren), wozu nicht zuletzt auch bestimmte Gottesbilder oder Götter gehören; - gesondert davon religiöser Orte, Stätten, aber auch religiöser (Kunst-) Werke41; - einen besonderen und ausgezeichneten Rang nehmen religiöse Texte ein, insbesondere, wenn sie als heilige Schriften das grundlegende Zeugnis einer Religion zu sein beanspruchen;42 dass die Kenntnisnahme religiöser Texte sich nicht mit ihren Sachaussagen oder über Inhaltsangaben erledigt, sondern die Erfahrung der je eigenen Sprachlichkeit einschließt, ergibt sich aus dem bislang Erörterten, sollte an dieser Stelle aber besonders betont werden;43 - schließlich die Dimension der Geschichte einer Religion bzw. einer religiösen Bewegung, über die Religion sich erschließen kann. Mit Auszügen aus vier Strophen des Tao-Te-King wird hier, dem inneren Anspruch des Taoismus entsprechend, zunächst mit der alles Leben und alle Welt tragenden Ur-Einheit die Dimension der Transzendenz zur Sprache gebracht; dann folgt eine Strophe mit Thematisierung des eher auf Stille und Rückkehr zur Wurzel angelegten Menschenbilds; die dritte Strophe bietet eine komprimierte Einführung in die taoistische Ethik, während die vierte mit dem Begriff des „Tao“ die innere Einheit dieser Religion zum Inhalt hat. 40 Wie beispielsweise über die Erschließung eines Gebets der Zugang zu einer religiösen Tradition vermittelt werden kann, verdeutliche ich im Kapitel 4-3 am Beispiel des Psalm 119. 41 Vgl. dazu in Ergänzung zu der eben exemplarisch skizzierten Erschließung des Buddhismus mein Arbeitsvorschlag für einen Zugang zum Foto der Buddha-Statue von Kamakura (s.o. Anm. 34): „Was fällt auf an der Haltung des Buddha? Achtet besonders auf seine Handhaltung, den Wurf des Gewandes, den Blick! Stellt euch vor, ihr stündet morgens unmittelbar vor dieser von der aufgehenden Sonne beschienenen Kolossalstatue; wie wäre euer Eindruck?“ (Vorschlag für den Lehrerband Ich bin gefragt Ethik 9/10. Berlin: Volk und Wissen 2002, vorauss. S.154). Als weitere Beispiel verweise ich auf die Arbeit mit dem Bild des Gerichtsengels am Ende von Kapitel 4-5 und natürlich die ausführlicher dargestellte Skizze zu dem Berufungsbild von Duccio di Buoninsegna im Kapitel 4-2, aber auch das Kapitel 4-1 zur Frage nach Religion und Gott im Bilderbuch. 42 Die mündliche Weitergabe religiöser Traditionen wird deshalb nicht extra erwähnt, weil sie heute i.d.R. bereits schriftlich fixiert ist oder zumindest als ritualisierte Erzählung phänomenal fassbar ist. 43 Auch das hat erhebliche didaktische Auswirkungen: Wie können z.B. Texte des Koran in ihrem religiösen Gehalt zur Darstellung kommen, wenn man es bei der Darstellung von Aussagen zu sozialen, moralischen oder politischen Themen belässt und nicht auf einer ganz anderen Ebene seinen Anspruch eines ästhetischen Erlebens wahrzunehmen in der Lage ist? Vgl. dazu exemplarisch das umfangreiche Buch von Navid Kermani: Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran. München: Beck 1999. (Als Unterrichtsmaterial wird dieser Zugang von mir aufbereitet im Abschnitt 2.2 des Kapitels 4-3.) Natürlich ist eine solche Fragestellung entsprechend auf die Auseinandersetzung mit heiligen Texten anderer Religionen zu übertragen. 144 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen ad (4) religiöse Orientierung (4.1) Wenn Unterricht in Religion zur Orientierung beitragen soll, ist das eine gefährliche Forderung, die unmittelbar mit dem verfassungsrechtlichen Aufschrei rechnen muss, im Kontext allgemeinverbindlicher schulischer Bildung könne und dürfe es nicht um religiöse Unterweisung gehen. Doch ist die in diesem Zusammenhang gern zitierte Bekenntnis-Neutralität des demokratischen Staates nicht zu verwechseln mit Bekenntnis-Irrelevanz. Natürlich hat sich ein Staat in einer plural verfassten Gesellschaft insofern bekenntnisneutral zu verhalten, als er nicht ein bestimmtes Bekenntnis bevorzugen oder gar sich selbst mit einem bestimmten Bekenntnis identifizieren darf; damit vollzieht er eine der elementaren Errungenschaften der Moderne: die Abkoppelung des Politischen von vorgegebenen religiösmoralischen Strukturen; und das gilt natürlich auch für jede vom Staat verantwortete allgemeine Bildung. Doch ereignet sich weder Staat, noch Gesellschaft, noch auch Bildung in einem religiös oder moralisch neutralen Raum. Im Gegenteil ist gerade der von besonderer religiöser Begründung entkoppelte Staat darauf angewiesen, dass Räume eingerichtet sind, in denen diese Begründung, nun freilich in einer reflektierenden und orientierenden, nicht mehr oktroyierenden Weise zur Sprache gebracht werden. Der deutsche Staat hat daher ganz konsequent die Institution des Religionsunterrichts grundgesetzlich verankert und überträgt damit nicht zuletzt die Erörterung der eigenen Grundlagen den Religionsgemeinschaften als gesellschaftlich tragenden Kräften.44 In Zeiten, in denen diese den Status tragender und allgemeinverbindlicher Kräfte verloren haben, ist eine solche Aufgabenübertragung als Prinzip natürlich nicht erledigt.45 (4.2) Unabhängig von der in der Tat schwierigen Frage der Trägerschaft ist für die Inhalte hier aus religionspädagogischen Überlegungen zum Problem der Konfessionalität zu lernen: So wie konfessionelle Prägung nicht notwendig Unterweisung in den Grundlagen einer bestimmten Konfession bedeutet, sondern mit gutem Sinn die 44 Das vielfach zitierte Wort von Ernst-Wolfgang Böckenförde, „der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“ (E.W.Böckenförde: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation [1967], in: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt: Suhrkamp 1991, S.112) hat hierin seine Begründung. B. führt in seinem Aufsatz aus, dass der heutige Staat eben nicht mehr die Religion „die tiefste Bindungskraft für die politische Ordnung und das staatliche Leben“ biete (S.111), dass aber ein ersatzweiser Rekurs auf sog allgemeinverbindliche Werte „ein höchst dürftiger und auch gefährlicher Ersatz“ sei (S.112). Vgl. dazu auch oben das Kapitel 1-2. 45 Zu den Problemen, die in diesem Zusammenhang aus dem in Brandenburg eingerichteten LERModell entstehen, wird genauer informiert im Kapitel 5-3. 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen 145 Vermittlung der Fähigkeit zu je subjektiver konfessioneller Entscheidung meint46, so meint religiöse Orientierung aus Sicht der Philosophie die Fähigkeit, Religiosität als Dimension von Menschsein wahrnehmen zu können, Formen religiöser Äußerung und Gestaltung verstehen und beurteilen zu können, sowie zu Möglichkeiten eigener Religiosität Wege vermittelt zu bekommen. Eine solche orientierende Auseinandersetzung mit Religion sollte und kann m.E. auch die Philosophie und auch ein philosophisch dimensionierter Ethikunterricht uns nicht ersparen.47 46 Ich selbst habe aus diesem Grunde auch für einen kirchlich getragenen Religionsunterricht plädiert, der unter Anerkennung zunehmender Marginalisierung konfessioneller Sozialisation (s.o. Kapitel 1-1) seine erste Aufgabe nicht darin sieht, Schüler in ihrer konfessionellen Beheimatung zu bestärken und insofern - kontrafaktisch - die Konfessionalität der Schüler als drittes Element der konfessionellen Trias (neben der Konfessionalität von Lehrplan und der von Lehrkräften) vorauszusetzen, - ein solcher Unterricht hat seinen Ort m.E. nicht in der öffentlich institutionalisierten Bildung, sondern in der gemeindlichen Katechese -, sondern darin, Schülern den Sinn einer konfessionellen Entscheidung zur Erfahrung zu bringen und insofern von seinen Inhalten wie von seiner Methodik her konfessionabel zu sein. Insofern würde auch der kirchlich verantwortete Religionsunterricht vor allem propädeutischen, d.h. vor allem Religiosität erschließenden und für je persönliche konfessionelle Entscheidungen orientierenden Charakter tragen. [vgl. Petermann 1996 sowie das Kapitel 5-4 der vorliegenden Arbeit]. - Dieser Ansatz ist auf einen nicht mehr von den Kirchen allein verantworteten allgemeinen Unterricht in Religion zu übertragen: Auch hier kann und muss, denke ich, Religion so zur Sprache kommen können, dass Religiosität als elementare Dimension von Menschsein (im Sinne der oben im Abschnitt 5 des Kapitels 1-3 entwickelten Ebene 1) zur Einsicht gebracht und von daher dann auch die Fähigkeit zu je persönlicher konfessionell-religiöser Entscheidung vermittelt wird. Vgl. dazu auch die Vorschläge von Schneider (1999), sowie Heiner Hastedt: Vorwort (mit Thesen zum schulischen Religions- und Philosophieunterricht), in: Philosophie und Religion. Zukunft einer Fächergruppe. Hg. H.Hastedt. Rost.Phil. Manuskripte H.5, Rostock: 1998, S.6. 47 Nicht einleuchtend erscheint mir in diesem Zusammenhang die Argumentation von Schleichert / Seebaß/Stemmer (1997). Die Autoren ziehen einen falschen Graben zwischen religionswissenschaftlicher und philosophischer Orientierungen einerseits, der durch intellektuelle Distanz gekennzeichnet sei, und dem kirchlichen Auftrag, „Glaubensinhalte als gültige Wahrheiten zu unterrichten“ andererseits. Zunächst einmal kann es nicht Aufgabe staatlicher Organe sein, (und ist es nach höchstrichterlicher Auffassung auch nicht), die Kirchen auf das festzulegen, was sie im Rahmen des Grundgesetzes im Religionsunterricht zu unterrichten haben. So ist aber das hier zitierte Urteil des BVerfG von 1987 (Bd.74, S.244f.) auch gar nicht zu verstehen: Zwar heißt es hier wörtlich zum Religionsunterricht: „Sein Gegenstand ist vielmehr der Bekenntnisinhalt, nämlich die Glaubenssätze der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Diese als bestehende Wahrheiten zu vermitteln, ist seine Aufgabe.“ Doch erstens handelt es sich bei diesem Auftrag nicht, wie nicht nur die Autoren falsch unterstellen, um ein „Privileg“ der Kirchen, sondern um eine ihnen vom Staat subsidiär übertragene Aufgabe und Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit. Und zweitens meint, ebenfalls gegen die Auffassung der Autoren, „zur Sprache bringen“ von Glaubensinhalten mehr als bloß informierende Religionskunde, aber zugleich auch weniger als direkte katechetische Glaubensunterweisung. Der Religionsunterricht, auch der kirchlich verantwortete, hat keineswegs Glaubensunterweisung, sehr wohl aber Glaubensvermittlung zum Gegenstand, in eben dem oben ausführlicher erläuterten Sinn, Religion und ihre existentiell beanspruchende Wahrheit zur Sprache zu bringen und so Orientierung zu leisten, nicht zuletzt auf eine je persönlich zu treffende Glaubensentscheidung der Schüler hin. Darin aber trifft sich ein kirchlich verantworteter Religionsunterricht mit einem philosophisch ausgewiesenen Unterricht in Religion, wie oben bereits am Ende des Abschnitts 2 von Kapitel 1-2 erläutert (vgl. auch die dortige Anm. 48 zu Veraart 1998). Vgl. dazu auch die Auseinandersetzung von Wolf (1999), auf die ich oben im gleichen Zusammenhang mit zwei Anmerkungen eingegangen bin. 146 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen (4.3) Daraus ergibt sich fast notwendig: Zur religiösen Orientierung gehört aus Sicht der Philosophie auch die Religionskritik, freilich in dem eben beschriebenen weiten Sinne der Ausbildung der Fähigkeit zur Wahrnehmung, zum Verstehen, zur Differenzierung und vor allem Beurteilung, sowie zur persönlichen Stellungnahme religiöser Phänomene. Kriterien der Kritik liegen für die Philosophie in den Fragestellungen ihrer Einzeldisziplinen, für den Bereich des Religiösen sind das vor allem Fragen erkenntnistheoretischer, (philosophisch-) ethischer, anthropologischer, ästhetischer Natur. Heutzutage sehe ich die Aufgabe solcher Kritik in negativ wie positiv kritischer Hinsicht: Negativ ist der Gefahr des Fundamentalismus vorzubeugen, wozu vor allem die Dechiffrierung abergläubischer, d.h. Religiosität reduzierender oder gegen vernünftige Erschließung immunisierender Strukturen gehört; als positive Religionskritik würde ich es ansehen, Religion als wesentlicher Dimensionen von Menschsein herauszustellen gegen die Autonomie und verantwortliche Lebensführung letztlich unterlaufende und beschneidende Privatisierung und Relativierung religiöser Sinnangebote. Schließlich ist zum Schluss dieser didaktischen Skizze nochmals zu betonen, dass es bei den vier von mir skizzierten Ebenen nicht um disparate Bereiche gehen kann und darf, so dass sie u.U. gar in die Kompetenz unterschiedlicher Unterrichtsfächer verteilt würden. Im Gegenteil ist stets eine Ebene auf die anderen hin zu durchleuchten, für die sie einen Schlüssel zum Verständnis zu liefern hat, wie umgekehrt die je anderen Ebenen als notwendige Voraussetzungen oder Folgen zu verdeutlichen sind. Insofern ist leider das ursprüngliche LER-Modell im Land Brandenburg mit Grundlegungs-, Differenzierungs- und Zusammenführungs-Phasen frühzeitig in den Mühlen nicht kooperationsfähiger Sonderinteressen untergegangen. Eine große Chance für einen allgemeinen Religionsunterricht der Zukunft, der m.E. durchaus auch im Interesse des tradierten Religionsunterrichts und der diesen tragenden Kirchen wäre, ist damit vertan worden.48 Dabei sind Modelle zur möglichen Umsetzung einer solchen Idee eines für alle offenen, gleichwohl differenzierenden Religionsunterrichts gar nicht so kompliziert und auch bereits heute in die Praxis umzusetzen49, zumal in Organisationsformen, an denen die Schule 48 Zu den Hintergründen vgl. genauer den Abschnitt 2 des Kapitels 5-3. 49 An anderen Orten habe ich selbst wiederholt dazu Vorschläge gemacht, vgl. Petermann (1991) sowie Petermann (1996a). Entsprechende Modelle haben vorgelegt: Gabriele Miller: Vision eines dreistufigen Religionsunterrichts, in: KatBl 1993, S. 831ff; oder die von Folkert Doedens in Braunschweig vorgetragenen Thesen für einen differenzierten Lernbereich „Religion/Philosophie/ Ethik“ (in: J.Lott: Religion - warum und wozu in der Schule. Weinheim 1992, 421ff, bes. 429ff); diesen Vorschlag konkretisierend hat Hamburg seit 1992 einen entsprechend differenzierten Lernbereich versuchsweise als Modell erprobt: Vgl. Doedens 1992, S.77f. - Diese Modelle dienen 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen 147 der Zukunft ohnehin nicht wird vorbeigehen können und dürfen.50 Die Chancen einer auch für das Bildungsgut Religion förderlichen Schulentwicklung liegen insofern z.Zt. leider eher in Einzelinitiativen bzw. einzelnen Versuchen vorsichtiger Kooperation im Gerüst konventioneller Fächeraufteilung. Die Hochschuldidaktik im Bereich der Philosophie täte gut daran, ein Augenmerk auf die Förderung solcher Ansätze zu richten, vermag sie doch durch ihre ureigene Methodik schon wesentliche Bausteine für eine elaborierte Form von Interdisziplinarität beizutragen.51 zunächst als Möglichkeit religionsunterrichtlicher Zusammenarbeit, gehen also von dem konkret machbarsten Modell eines konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts aus, wären aber ohne größere Probleme auf eine Fächergruppe „Religion - Philosophie - Ethik“ hin konkretisierbar. In diesem Zusammenhang scheinen mir die Modelle in Mecklenburg-Vorpommern (vgl. Kultusm. d. L. M.-V. 1996), Berlin (vgl. Ev.Kirche Berlin-Brandenburg 1998a) und Sachsen-Anhalt (vgl. Kultusm. d. L. S.-A. 2001) besonders interessant zu sein. (Vgl. dazu genauer die Anmerkungen im Kapitel 5-4). Für entscheidend halte ich dabei eine Differenzierung nicht nach Fächern, sondern nach Lernbereichen. Demnach wären wesentliche Elemente dessen, was ich als religiöse Sprachlehre skizziert habe, ohne tiefere Probleme im Klassenverband zu unterrichten ebenso wie eher religionskundliche Informationseinheiten; Begegnungen mit religiösen Einrichtungen und Personen können ohne weiteres, wie im übrigen schon jetzt, als Projekt in den Schulablauf integriert werden. Dadurch würde nicht zuletzt ein gutes Fundament gelegt auch für die darüber hinaus durchaus sinnvollen konfessionellen Differenzierungsphasen, die so ihren je eigenen Bildungsanspruch viel besser vermitteln können. Damit sind natürlich auch schulart- bzw. stufenspezifische und regionale Gegebenheiten zu berücksichtigen. (Vgl. die Ausführung dieser Idee im Kapitel 5-4). 50 Bereits heute kommen viele Grundschulen vom herkömmlichen 45-Minuten-Takt los und versuchen zunehmend projektorientiert und fächerübergreifend zu arbeiten. Das organisatorisch interdisziplinäre, methodisch projektorientierte und inhaltlich stärker auf Strukturwissen denn auf Einzelkenntnisse angelegte Lernen nimmt nicht nur in den Bildungsplänen zunehmend breiteren Raum ein: Baden-Württemberg etwa sieht bereits seit Mitte der 90er-Jahre in allen Jahrgangsstufen in allen Schulformen verbindlich mindestens ein fächerübergreifendes Thema vor; entsprechend wurde 1998 auch für die Oberstufe mit dem sog. „Seminarfach“ ein bewusst interdisziplinär und projektorientiert konzipiertes Zusatzfach eingerichtet, das von den Schülern auch in die Abiturqualifikation eingebracht werden kann. Auch die neuen Studienordnungen für die Studiengänge Grund-, Haupt-, und Realschulen in Baden-Württemberg sehen inzwischen einen eigenen Bereich „Interdisziplinäres Lehren und Lernen“ bzw. „Interdisziplinäre Studien“ mit erheblichen und auch prüfungsrelevanten Studienanteilen vor. Vgl. dazu den Dokumentarband zu einer Grundlagenveranstaltung zu diesem Studienbereich Wellensiek/Petermann (2002). 51 Das gilt nicht nur in methodischer Hinsicht, insofern der eher wissenschaftstheoretische Zweig der Philosophie die unterschiedlichen Fächer in einen differenzierenden und in ihren je besonderen Fragestellungen wiederum sich ergänzenden Gesprächszusammenhang bringen kann, sondern auch in inhaltlicher Hinsicht, insofern die Philosophie als Disziplin des Fragens und Hinterfragens sowie in ihrer weniger ergebnis- als vielmehr problemorientierter Zielbestimmung einen heute mehr denn je erforderlichen Weg des Lehrens und Lernens in schulisches Bildungssystem einbringt. Vgl. dazu meine Andeutungen zu methodischen Elementen des Philosophierens oben unter Punkt (1.4) dieses Kapitels. II Religiöse Sprache Kapitel 2-1 Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung 1 Die Frage nach einem auch in der Zukunft tragfähigen Religionsunterricht ist nicht neu, sie hat sich im Laufe der Geschichte dieses Schulfachs immer wieder gestellt. Neu ist freilich die Richtung, aus der heute dem RU der Wind ins Gesicht bläst. In fundamentalerer Form als früher stellen besonders zwei Symptome den RU auch als ordentliches Schulfach in Frage, zum einen ist das die zweifelsohne zunehmende Entkirchlichung in unserer Gesellschaft, zum andern quasi gegenläufig der verstärkt sich äußernde Ruf nach einer säkularen, bekenntnisneutralen Werte-Erziehung. Zum ersten: Wenn in Baden-Württemberg noch weit über 90% der katholischen und evangelischen Schülerinnen und Schüler den RU besuchen und darüber hinaus zunehmend Nichtgetaufte, darf dies nicht über die gesamtdeutsche Lage hinwegtäuschen, dass gerade einmal noch 2/3 der Bevölkerung den christlichen Kirchen angehören, in Ostdeutschland sind es unter 30%. Schon demographisch hat insofern der RU nicht mehr die Basis wie noch vor wenigen Jahrzehnten, abgesehen davon, dass der christliche Glaube seine Monopolgeltung hinsichtlich von Fragen nach Letztorientierung, Lebenshilfe und moralischer Bildung heute faktisch verloren hat (auch wenn Bischöfe wie Dyba noch von den Gleichungen moralisch = christlich 1 Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht in den „Mitteilungen des Verbandes Katholischer Religionslehrer/-innen der Erzdiözese Freiburg“ 1/1998. Er stellt eine zu einem ausführlicheren Essay erweiterte Fassung meiner Dankesrede auf der Religionslehrertagung in Hohritt (Sasbachwalden) im November 1997 dar, auf der ich von meiner 21-jährigen religionsunterrichtlichen Tätigkeit verabschiedet wurde. Wenn in dieser Einlassung die philosophische Perspektive ganz im Zentrum steht, so nicht, um auch von meiner Seite zu betonen, was mir als Ruf bei den vielen Fortbildungs-Begegnungen in Hohritt immer wieder nachgesagt wurde, anerkennend, aber auch skeptisch, sondern weil ich mit dieser Perspektive, glaube ich, am besten verdeutlichen kann, worauf es mir in meinem Einsatz für einen tragfähigen RU der Zukunft in den letzten Jahren, zuletzt auch im Vorstand des Religionslehrerverbandes ankam, und was auch nach dem Wechsel zur Philosophie ein wichtiges Element meines Engagements bleiben sollte. Dass solcherlei Gedanken nicht einsam am Schreibtisch entstehen, sondern im lebendigen, am Thema interessierten Gespräch, ist selbst eine der grundlegenden Einsichten der Philosophie, die nicht wäre, was sie ist, würde sie nicht ihre Basis im konkreten Gespräch haben. In diesem Sinne war der Beitrag auch als Dank für die vielen Begegnungen, Gespräche, Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen gedacht. Der Beitrag wurde lediglich um die Schluss-Passage gekürzt, die jetzt ausführlicher als Kapitel 5-4 entfaltet wurde, sowie in einigen Anmerkungen aktualisiert und ist ansonsten unverändert geblieben. Auch den eher essayistischen Stil habe ich beibehalten. 2-1 Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung 151 und heidnisch = unmoralisch auszugehen scheinen2). Gleichwohl ist, zum zweiten, das Bedürfnis nach einem welt-, lebens- und werteorientierenden Schulfach in Deutschland steigend, so dass sich die Frage stellt, welche Aufgabe und Zielsetzung ein originärer Religions-Unterricht angesichts dieser Situation (noch) haben kann, bildungstheoretisch wie religionspädagogisch.3 Die deutschen Bischöfe haben diese Spannung sehr wohl erkannt, wenn sie ihr Schreiben zur Zukunft des RU unter das Thema der "bildenden Kraft des Religionsunterrichts" stellen, (wobei an dieser Stelle offen bleiben muss, inwieweit dieser Anspruch in seiner Durchführung zu überzeugen vermag).4 Wenn ich im Folgenden einige Gedanken zur Vernunft als der gestaltenden Kraft im RU formulieren möchte, so bewege ich mich einerseits auf eher „konservativen“ Geleisen, insofern ich an originärem RU als Schulfach festhalte; andererseits bin ich mir möglicher Kritik von vornherein bewusst, weil das Setzen auf die Vernunft dem RU sein Proprium zu entziehen und ihn in das Fahrwasser eines säkularen EthikUnterrichts zu leiten scheint. Dieser Gefahren wohl bewusst sind die folgenden Gedanken durchaus als Provokation gedacht, freilich mit der Intention und Überzeugung verbunden, dass der RU anders als unter diesem notwendigen (nicht hinreichenden!) Kriterium der Vernunft keine Überlebenschance und auch keine Daseinsberechtigung im schulischen Bildungskanon mehr besitzt, ohne einen solchen RU aber umgekehrt schulische Bildung substantiell verlieren würde.5 Meine Überlegungen beleuchten zunächst die Rolle der Vernunft in drei Schritten, um schließlich viertens daraus Konsequenzen zu ziehen im Sinne eines Plädoyers für einen RU der Zukunft. 2 Den Hintergrund dieser hier polemisch gelieferten Anmerkung zur Verwechslung von Moral und Religion mache ich genauer zum Thema in den Kapiteln 4-4 sowie 1-2. 3 Zu der hier essayistisch recht pauschal getroffenen Feststellung von verlorengegangener religiöskirchlicher Bindung einerseits und wertekompensierender Orientierungssuche andererseits vgl. genauer die Eingangskapitel 1-1 und 1-2. 4 Vgl. dazu meine kritisch kommentierenden Einlassungen Petermann (1997a) sowie Passagen im Kapitel 1-2. 5 Diese hier sehr allgemein geäußerte These wird genauer entwickelt und begründet im Teil I dieser Arbeit, insbesondere im Kapitel 1-2, organisatorisch-konzeptionell dann entfaltet im Abschlusskapitel 5-4. 152 1 2-1 Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung Ärger mit dem Gott der Philosophen ? Vor 343 Jahren6, am 23. November 1654, schleuderte der Philosoph Blaise Pascal einige Worte auf ein Stück Pergament; sie halten eine Erfahrung fest, die er in der Nacht zuvor gemacht hat. Er näht den Fetzen in sein Gewand ein, wo dieser erst nach seinem Tode von einem Diener entdeckt wird. Das berühmte Memorial beginnt mit dem Ausruf "Dieu d'Abraham, Dieu d'Isaak, Dieu d'Jacob, non des philosophes et des savants."7 - Ich gestehe offen, dass ich selbst mich immer eher zu denen gerechnet habe, die sich über Pascals Ausruf geärgert haben, nicht zu denen, die sich unmittelbar darin bestätigt oder getröstet fanden: Ich trat und trete immer noch entschieden ein für den hier von Pascal (scheinbar) inkriminierten "Gott der Philosophen" . Um genauer verstehen zu können, was gemeint ist, muss aber sowohl die Rede vom Gott der Philosophen als auch Pascals Einspruch genauer erklärt werden. Pascal zunächst wendet sich keineswegs pauschal gegen philosophische Gotteserkenntnis überhaupt und fordert demgegenüber keineswegs einen auf jede gelehrige Erkenntnis verzichtenden, unhinterfragt (ge)horchenden Glauben an die Offenbarung. Vielmehr sucht er - bewusst doppelt gesetzt - „Gewißheit; Gewißheit“, und sie ist es, so meint Pascal, die nicht durch gelehrige Philosophie, sondern allein im sich offenbarenden Gott erreichbar ist. Durchaus offen bleibt damit der Status der erkennenden Vernunft in Bezug auf die Einsicht in diese Gewissheit, auch wenn Pascal selber seine Logik "par le coeur" polemisch gegen die Erkenntnis "par le raison" des Descartes meinte setzen zu müssen. Der sogenannte Gott der Philosophen jedoch muss keineswegs verstanden werden als bloß diskursiv reduzierbares und insofern quasi mathematisch "beweisbares" Produkt unserer Verstandeskonstruktionen; mit Berufung auf gute Tradition lässt sich die Rede vom Gott der Philosophen vielmehr verstehen als geistige Rechenschaft über jene Bedingung, unter der Gott sich von uns in all unserer Beschränktheit überhaupt erfahren lässt; die Rede vom Gott der Philosophen markiert entsprechend die Ebene, empfangenen Glauben auch zu erschließen, weiterzugeben und verantwortlich zu gestalten, also, und damit wäre ich bei einem ersten Verständnis von "Vernunft" angelangt, die Ebene der vernünftigen oder im wörtlichen Sinne intellektuellen Erfahrung Gottes, auf der nämlich die (unmittelbare) Glaubens-Erfahrung zugleich zum Bewusstsein gebracht und insofern eingesehen und überhaupt erst begriffen und weitergegeben werden kann. 6 Wie in Anm.1 erwähnt, ist dieses Kapitel tatsächlich Ende November 1997 entstanden. 7 Blaise Pascal: Le Mémorial. In : Pensées. [Ed.L.Brunschvigg, Paris 1897]. Paris : GarnierFlammarion 1976, p.43. 2-1 Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung 153 Das kann nun ganz und gar nicht gegen den Gott der Bibel gerichtet sein, der selbst in der gleichsam am stärksten verinnerlichenden Zuwendung zu einem Menschen, nämlich zu Ezechiel, diesem auch nicht aufträgt, das Wort Gottes zu essen, um es zu verschlucken, sondern um, seine Süße erfahrend, es verständig und Verständigung ermöglichend weiterzugeben (Ez 3). - Auch Samuel "kennt" Gott noch nicht, obwohl dieser sich ihm bereits geoffenbart hat (1Sam 3). Erst als er sich auf den die Offenbarung erschließenden Dialog mit Gott, seine nicht mehr verheimlichende Kraft der Mitteilung einlässt, vermag er die Kraft des Prophetentums wahrzunehmen. - Gegen Mose und seine (vorgeschobene) Dialogunfähigkeit wird Gott gar zornig, so dass er ihn erinnern muss, dass er in seinem Bruder Aaron sein redefähiges alter ego hat (Ex 4,14). - Und auch Paulus wendet sich in 1Kor 14 vehement gegen die nur zu sich selbst und zu Gott gerichtete Form innerer Gotteserkenntnis und plädiert zum Aufbau der Gemeinde unzweideutig für die dialogisch-reflekierte und insofern verständigende Zuwendung zu Gott. Diesen paulinischen Apell zur erschließenden und vermittelnd weitergebenden Erkenntnis Gottes (1Kor 2), die als solche erst behaupten und sich imstande wissen darf, die Tiefen des göttlichen Geheimnisses zu ergründen, habe ich immer als die tiefere Erklärung für jenen Gott der Philosophen gedeutet. Zugleich darf diese Aufforderung zur intellektuellen Annäherung an die Geheimnisse des Glaubens verstanden werden als Möglichkeitsbedingung für Theologie überhaupt (in der Tat wäre sie als Logos von Gott ohne diesen intellectus nie möglich) wie auch, und damit bin ich beim eigentlichen Thema und einer ersten These zum pädagogischen Verständnis von Vernunft, als Begründung für unsere religionsunterrichtliche Arbeit, die ernst genommen tatsächlich nichts anderes sein kann als Glaubens-Vermittlung (im tieferen Sinn des Wortes „Vermittlung“). Damit wird ein Verständnis von Religionsunterricht behauptet, für das ich in den Jahren des eigenen Unterrichtens stets eingetreten bin: Schon biographisch kam ich selbst zum RU nicht mit dem Gedanken der Unterweisung, sondern auf dem Weg des Gesprächs.8 Dieses Gespräch, an dem ich die Schülerinnen und Schüler zu interessieren mich bemühte, weil es auch mich selbst zutiefst interessierte, hatte zum Grund wie auch zum Ziel nichts anderes, als das, was religiöse Erfahrung ist, zur Sprache zu bringen; und eben dies ist Religion (d.h. die Ebene der sich äußernden, 8 Wenn ich damit für das Gespräch als elementarer Methodik des RU plädiere, dann selbstverständlich nicht, um das Vorurteil von RU als „Laberfach“ zu bestätigen. Vielmehr drängt sich das erschließende Gespräch (darin nicht unverwandt der sokratischen Gesprächsführung) als Methode für den RU schon deshalb auf, weil Glauben selber elementar als Gespräch zu verstehen ist. Das Gespräch ist somit als religionsunterrichtliche Methode aus dem Horizont seines ureigenen Gegenstands angemessen. – Für die konkretere Gestaltung von unterrichtlichen Gesprächsprozessen verweise ich auf das Kapitel 3, insbesondere die ausführlichen Unterrichtsanalysen im 4. Abschnitt. 154 2-1 Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung sich mitteilenden, gestaltenden Erfahrung als Antwort und im Unterschied zur Erfahrung als unmittelbarem religiösen Gefühl). Unterricht in Religion, hatte für mich daher nie eine andere Aufgabe als eben jene Arbeit, die Sprache der Religion, in der religiöse Erfahrungen sich artikuliert und verdichtet haben, verstehen und dechiffrieren zu lernen, um so andererseits damit selber ermutigt zu werden, eigene religiöse Erfahrungen zur Sprache zu bringen. In diesem Sinne RU als vernünftig erschließende Glaubens-Vermittlung zu verstehen, war mir daher stets ein selbstverständlicher Gedanke. Und ich gebe gerne zu, dass die Rolle des Philosophen, der sich der Sache der Religion zuwendet, hier nur graduell etwas anderes zum Ziel haben kann; auch ein Ethik-Unterricht, (und mit seiner Ausbildung und Konzeption werde ich künftig professionell zu tun haben), kann in meinem Verständnis mit dem Unterrichtsgegenstand Religion nur so umgehen, dass er zumindest diesen Sinn von Glauben als sich vermittelndem zur Sprache bringt, will er nicht von vornherein sich allen erziehenden Anspruchs entledigen.9 2 Das Gebet als Aufklärung ? Schon aufgrund des Begriffs von Religion als Gestalt gewordenem und insofern auch je neu vermittelbarem Glauben stehen Aufklärung und Religion nicht im Gegensatz, sondern bedürfen einander, wie unlängst Winfried Kretschmann von den Grünen in einem wegweisenden Referat zum RU betont hat10. Und doch ist genauer zu bedenken, was Aufklärung im Kontext des RU heißt, um Missverständnissen von anderer Seite vorzubeugen. Keineswegs nämlich ist vernünftig aufklärendes Erschließen des Religiösen misszuverstehen als eine quasi äußere Herangehensweise an das Religiöse, die dem Religiösen lediglich nicht schadet und unter Programmen wie "Entmythologisierung" religiöse Traditionen dem Verstandesmenschen mundgerechter in „heutigem Deutsch“ zur Kenntnis zu bringen versucht.11 Insofern habe auch ich mich stets gewehrt gegen eine Reduzierung von Religionsunterricht auf 9 Aus dieser Einstellung heraus ist letztlich der ganze Teil I dieser Arbeit entstanden, was deutlich wird vor allem in der Kritik an einem lediglich religionskundlichen Ethikunterricht in Kapitel 1-2. 10 Kretschmann (1998), veröffentlicht jetzt in R. Ehmann u.a. (Hg.), Religionsunterricht der Zukunft. Freiburg (Herder) 1998, 281ff. Siehe auch meinen Tagungsbericht zu Bad Boll (April 1997) in den Mitteilungen 2/1997 (Petermann 1997b). 11 Als Karikatur solcher Versuche betrachte ich es zum Beispiel, Kindern (!) das Ereignis des brennenden Dornbuschs (Ex 3) über physikalische Spiegelungseffekte in der heißen Wüstensonne erklären zu wollen. Dass damit der religiöse Sinn einer solchen Erfahrung gerade verschlossen und nicht eröffnet wird, liegt auf der Hand. – Die Formulierung von „heutigem Deutsch“ bezieht sich natürlich kritisch auf die Gefahr ähnlich einzuschätzender Missgriffe im Versuch, Verstörendes, damit aber zugleich religiöse Dimensionen Öffnendes in der biblischen Sprache zu glätten. 2-1 Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung 155 bloße Religions-Kunde12: Ebenso wie ein katechetisierender Religionsunterricht, der lediglich anzudozieren sucht, was (angeblich) unmittelbar zu verstehen sei, verwirkt seine Berechtigung ebenso ein RU, der sich auf eine letztlich atheologische Theologie-Wissenschaft beruft, die Wahrheitssuche mit Zugänglichkeit für das postmoderne technische Rezeptionsvermögen verwechselt13. Was aber dann trägt Aufklärung bei zum Nutzen des Religiösen? Ich will dies verdeutlichen an einem der aufklärenden Vernunft scheinbar entgegengesetzten Element: Der große Heilige und Kirchenlehrer Augustinus beginnt seine berühmten Confessiones mit einem Zitat aus dem Ps 147: "Groß bist du, o Herr, und hoch zu preisen, groß ist deine Kraft und unermesslich deine Weisheit". Das Buch beginnt und schließt auch mit einem Gebet, so dass das Gebet dem gesamten Text Rahmen und Form verleiht. Und gleichwohl sind die Confessiones zu verstehen nur, wenn wir sie ernstnehmen als eine außerordentlich differenzierte theologische Reflexion. Liegt da nicht der Gedanke nahe, das Gebet liefere für die theologischen Reflexionen nicht so sehr einen Rahmen, um sie in diesem letztlich aufzuheben, sondern sei vielmehr die innere Form dieser Reflexion selbst, gleichsam als ihre Möglichkeitsbedingung? In der Tat vertrete ich diese These, die einholend ich meinen Essay zum Verhältnis von Vernunft und Religionsunterricht mit einer Reflexion auf das Gebet fortführen möchte.14 Was aber hat eine solche Überlegung zu tun mit mit dem eigentlichen Thema, der Konzeption des Religionsunterrichts? Nun, Beten ist aus dem RU heute weitgehend verschwunden, und wenn wir bedenken warum, so werden uns spontan solche Gründe einfallen, die im Verhältnis von Glaubensvermittlung und dem spezifischen Bildungsverständnis des RU liegen: Um Glauben geht es im RU ohne Zweifel, aber nicht, da werden die meisten zustimmen, um ihn beizubringen, direkt zu vermitteln, sondern um Gründe, Facetten, Traditionen für seine Äußerung zu erschließen. Obwohl auch ich für diese Sicht religiöser Bildung eintrete, möchte ich, vielleicht überraschend, wie bereits angedeutet, ein Plädoyer für das scheinbare Gegenteil vortragen, nämlich für das Element der Glaubensvermittlung als innerstem Anliegen des RU, freilich um gerade so den unverwechselbaren Eigenwert des RU gegenüber anderen Formen des Glaubenszeugnisses wie auch anderen Fächern in der Schule herauszustellen. Die Leser vermuten richtig, wenn ich hier wiederum ein genaueres 12 Vgl. meine entsprechende Kritik an dem zur bloßen Religionskunde verkommenen „R“-Element des brandenburgischen LER-Modells (Petermann 1996b, jetzt als Kapitel 5-4). 13 Aus diesem Grunde halte ich Arbeiten wie die von Gerd Lüdemann für bedenklich, ja un- und a-theologisch, da sie dem Grundanliegen jeder Theologie grundsätzlich zuwiderlaufen. 14 Im Kapitel 4-3 mit dem Unterrichtsmodell zum Thema „Religiöse Sprache“ nehme ich diese Thematik wieder auf. Die „Confessiones“ zitiere ich hier nach der Ed. W. Thimme (1950). 156 2-1 Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung Verständnis von "Vermittlung" voraussetze. Dieses Plädoyer beinhaltet zugleich ein Votum für das Gebet im RU. Das Thema „Gebet im RU“ ist insofern nur vordergründig bloß Anlass für meine im Folgenden zu entwickelnden Gedanken; es wird sich als Exempel erweisen, an dem meine These zur Vernunft im RU sich besonders gut verdeutlichen lässt. Wenn, um auf die Eingangsdiagnose zurückzukommen, das Beten aus dem RU heute weitgehend verschwunden ist, und dies auch akzeptiert wird, so ist das, denke ich, nicht so sehr begründet im Anachronismus eines bloß auf Glaubens- (besser Konfessions-) Rekrutierung abzielenden RU, (und damit verursacht durch ein demgegenüber stärker auf sog. Erfahrungs-Lernen angelegtes Konzept religiöser Bildung). Wenn das Gebet aus dem Unterricht zunehmend verdrängt ist, so vielmehr aufgrund des Vergessens eines wesentlichen Elements im Verständnis von Gebet. (Diese vergessene Dimension wird einen weiteren Zugang zu meinem Plädoyer für Glaubensvermittlung im RU ebnen): Vergessen wird oft die Dimension der Selbstvergewisserung und der Reflexion durch das Gebet, in dem der Betende sich keineswegs bloß im Gefühl unmittelbarer Betroffenheit vor Gott stellt, sondern zunächst einmal sprechend, und wenn schon als Antwort auf eine unmittelbare Erfahrung, dann gerade reflektierend sich an Gott wendet, mithin gerade im Gebet sich so an Gott wendet, dass er wie in vielleicht keiner anderen Form der Auseinandersetzung mit Gott die Auseinandersetzung selbst mitreflektiert. Als Beleg für dieses Gebetsverständnis sei als erstes verwiesen auf eine Form des Betens, wie sie typisch ist für die Urgebete der jüdisch-christlichen Überlieferung, die Psalmen. Der Psalm 4 beginnt in der Einheitsübersetzung eher recht und schlecht mit den Worten "Wenn ich rufe, erhöre mich, Gott, du mein Retter!", was unmittelbar vor allem Gott ins Spiel zu bringen scheint, wie es auch Luther mit seiner Übersetzung gelesen hat: "Erhöre mich, wenn ich rufe, Gott meiner Gerechtigkeit." Diese Lesart ist missverständlich, denn ohne Zweifel steht im Urtext zuerst einmal der Beter da: "rufend ich...", dann erst kommt der Adressat des Rufens dazu "... antworte du". Die Radikalität des Ausgangs vom Ich auf das Du hin ist wesentliche Voraussetzung, die innere Dramatik dieses Psalms (wie vieler weiterer) zum Verständnis zu bringen (und damit in seiner Tiefe auch eigentlich erst beten zu können)15. Natürlich soll mit dieser Lesart nicht die theologische Richtigkeit in Zweifel gezogen werden, dass wir Menschen vor allem Hörer des Wortes sind, die selber zum Sprechen kommen erst als Antwortende auf das zuvor ergangene Wort Gottes. Gleichwohl läuft diese prinzipiell, aber eben nur prinzipiell richtige Sicht Gefahr, den Ausgangspunkt der Einsicht in diese Befindlichkeit zu verschleiern, denn der liegt unhinter15 Diese Deutung verdanke ich bislang noch unveröffentlichten Arbeiten von Horst Folkers, Freiburg. 2-1 Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung 157 gehbar zuerst in meiner Befindlichkeit, die ich dann, und das ist zugleich die erste Ebene von Reflexion, auch äußere, und in deren Äußerung ich im Folgenden erst Stück für Stück merke, dass dies Äußern sich eigentlich dem Ruf verdankt, den ich gehört habe, ohne es gewusst zu haben, und das insofern sich zunehmend als Antwort auf das ergangene Wort erst erweisen wird. Der Beter nun, der diese Dialektik des dialogischen Ich-Du-, Gott-Mensch- und Mensch-Gott-Verhältnisses betend zur Sprache bringt, wie es der Beter des Psalm 4 nun einmal tut, der tut damit zunächst nichts anderes, als dieses Verhältnis zu reflektieren, sonst würde er es ja nicht zur Sprache bringen wollen. Reflexion auf die Grundbefindlichkeit des Glaubens im Sinne des Zur-Sprache-Bringens dieser Grundbefindlichkeit ist somit ein wesentliches Element des Betens. Weitere prominente Belege für dieses Gebetsverständnis lassen sich eigenartigerweise gerade in einer Form des Glaubens finden, die der des Gebets am fernsten zu stehen scheint, nämlich in der Form der theologisch-philosophischen Reflexion. Ob es nun Augustinus ist oder Anselm von Canterbury oder Nikolaus von Kues, all diese Denker sind in erster Linie Denker, haben aber ganz bewusst als Form ihres Denkens immer wieder das Gebet gewählt. Das ist, wie mit Augustinus bereits angedeutet, keineswegs ein Widerspruch: Das Gebet zu Beginn und am Ende hat nämlich, so behaupte ich, vorrangig keineswegs den Sinn, die in es eingeschlossenen Reflexionen durch das Gebet eher zu relativieren und aufzuheben, sondern vielmehr im Gegenteil den Sinn, auch wirklich mit allem Ernst in die Reflexion eintreten zu können. Augustinus jedenfalls überlegt in den folgenden Sätzen weiter, zunächst einen scheinbaren Gegensatz aufmachend, ob es nun besser sei zu wissen und zu erkennen oder besser anzurufen und zu preisen, um diesen Gegensatz unmittelbar wieder aufzulösen durch die Einsicht "Doch wer wollte dich anrufen, ohne dich zu kennen?" Der eigentliche Gehalt des Anrufens ist mithin nicht weniger als Gotteserkenntnis, und die höchste Form der Erkenntnis zeigt sich als Dankpreis gegenüber der Gnade dieser Einsicht. Am vielleicht großartigsten in der Theologiegeschichte hat am Schnittpunkt zwischen Mittelalter und Neuzeit Nikolaus von Kues diese Einsicht zum Thema gemacht in seiner Schrift Vom Sehen Gottes, die ganz bewusst offen lässt, um wessen Sehen es sich hier handelt, wenn er etwa schreibt "Und Dich sehen ist nichts anderes, als dass Du den siehst, der Dich sieht."16 Der Kontext der kleinen Schrift ist jedoch 16 Nikolaus von Kues: De visione Dei (1985), Nr.13. – Bereits der Titel dieser Schrift bringt die hier zur Debatte stehende Dialektik auf den Punkt: Der Genitiv des „Dei" ist sowohl objektiv wie subjektiv gemeint. Von einer Reflexion dieses Sachverhalts ausgehend habe ich vor einigen Jahren eine bislang noch nicht veröffentlicht Studie zum Verhältnis von Wissenschaft und Weisheit beim Cusaner angefertigt. Auch die im Rahmen der vorliegenden Arbeit zentrale Kategorie der Erfahrung lässt sich an genau dieser Dialektik entfalten (vgl. dazu oben in der Einleitung Abs. 2). 158 2-1 Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung bedeutsam, um die Pointe dieser Aussage ganz zu verstehen. Keineswegs nämlich will der Cusaner seine Leser animieren zu unreflektierter mystischer Erhebung zu Gott, wie es die damals aktuelle Bewegung der devotio moderna forderte; vielmehr plädiert er gegen den Missbrauch mystischer Übungen als vorgeblich höherer Glaubensform für eine Mystik, die sich im Akt der Erhebung zu Gott dessen gerade bewusst wird, was sie tut, und nicht der bloßen Entzückung und Entrückung anheim fällt. Deshalb geht er ausdrücklich den Weg der "menschlichen Weise" der Gottesbetrachtung und beginnt, wie der Psalm 4, seine Reflexion bewusst mit unserem Sehen Gottes, das sich in Reflexion auf sich selbst erst erweisen wird als das Sehen Gottes, der uns sieht und unser Sehen damit überhaupt erst ermöglicht. Nochmals daher meine zweite These: Reflexion auf die Grundbefindlichkeit des Glaubens im Sinne des Zur-Sprache-Bringens dieser Grundbefindlichkeit ist wesentliches Element des Betens und zugleich Indiz für den Zusammenhang von Religion und Aufklärung. In diesem Sinn gehört das Gebet notwendig mit in einen RU, der sich nicht nur nicht im Gegensatz gegen Aufklärung versteht, sondern Aufklärung als wesentliches Element beinhaltet. 3 fides quae oder fides qua ? Eine kleine Reflexion auf die während meiner Unterrichtstätigkeit tragenden religionspädagogischen Konzepte, den problemorientierten, den korrelativen und den erfahrungsdimensionierten RU, mag diese These von der Verträglichkeit, ja gegenseitigen Bedingung von Religion und Aufklärung verdeutlichen und entfalten: • Ende der 60er-Jahre wurde durch die Anregungen des II. Vatikanischen Konzils der bis dahin bestimmende Katechismus-Unterricht abgelöst von der Überlegung, Religion nicht länger als Bereich unabhängig vom „weltlichen“ Kontext begreifen zu dürfen, sondern an Lebensbezügen und darin sich artikulierenden Problemfeldern zu orientieren. Das daraus resultierende "curriculare" Vorgehen gewann am prägnantesten Gestalt im sog. "Zielfelderplan" von 1973.17 Schon die Übersicht über die einzelnen Zielfelder verdeutlicht, dass es hier von vorneherein nicht, wie zuweilen böswillig unterstellt, um ein Aufgehen des Religiösen im Lebenskundlichen und Ethischen ging oder gar um eine Ablösung der Orthodoxie durch bloße Orthopraxie, wenngleich die curriculare Lernzielorientierung hier und da gewiss zu Missgriffen bloßer Orientierung an Schülerbefindlichkeiten führte. 17 Zielfelderplan (1974). 2-1 Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung 159 • Dass die Problemorientierung hier vielmehr die unhintergehbare Ebene der Vermittlung (letztlich anthropologisch dimensionierter) theologischer Inhalte liefern sollte, stellte der sog. “Grundlagenplan“ von 198418 unmissverständlich heraus mit seiner These vom wechselseitigen Bezug anthropologischer und theologischer Akzente der einzelnen Lerninhalte. Die baden-württembergischen Lehrplanrevisionen von 198419 versuchten, diesem als Lehrplanfortschreibung intendierten Gedanken gerecht zu werden. Die daraus sich ergebende sog. Korrelationsdidaktik hat ihre Begründung letztlich auch in nichts Anderem als in der vorhin am Gebet verdeutlichten Verschränkung der Beziehungen Gott-Mensch und Mensch-Gott; umgekehrt verliert sie ihren Sinn, wenn sie Korrelation auf ein äußerlich bleibendes Bezugsystem reduziert, so als hätten sog. theologische Inhalte nicht von vornherein eine anthropologische Bedeutung oder als müssten zu sog. anthropologischen Fragen eher dazukommend theologische Bezüge erst hergestellt werden. • Auch die dritte von mir durchlebte Form religionsunterrichtlichen Selbstverständnisses, die Didaktik sog. Erfahrungslernens, die dieses Missverständnis zu vermeiden sucht, darf darum nicht fehlverstanden werden als bloß noch bedürfnisorientierter, audiovisuell und kinästhetisch angereicherter, lebenstherapeutisch ausgerichteter Erlebnisunterricht; natürlich steht eine solche ErfahrungsOrientierung von vorneherein nicht für sich selbst, sondern soll für religiöse Ebenen sensibilisieren und öffnen, eben weil Religiosität selbst nichts anderes ist als geronnene und verdichtete Erfahrung von Orientierung und Sinngebung, die es ihrerseits im Kontext unserer heutigen Lebenswelt zu entschlüsseln gilt.20 Hier wird mithin, wie in den beiden ersten Ansätzen letztlich auch, jenes Verhältnis betont und weiter entfaltet, von dem meine Überlegung ausgegangen ist: das Verhältnis, das Glauben wesentlich als ein dialogisches Geschehen begreift, und dessen Vermittlung, ja auch nur dessen Thematisierung ihrerseits gar nicht anders als dialogisch greifen kann.21 Darin liegt letztlich die inhaltliche Begründung für die Vereinbarkeit von Religion und Aufklärung. Nun ist zwar Vernunft der Begriff der Aufklärung; vermag aber ausgerechnet die Vernunft jene Dialogizität nicht nur zu erklären, sondern auch für sie zu öffnen, die 18 Grundlagenplan (1984). 19 Lehrplan (1984). 20 Zur genaueren Erläuterung der Kategorie der Erfahrung verweise ich erneut auf die entsprechenden Passagen in der Einleitung dieser Arbeit. An dieser Stelle wird deutlich, dass neuerliche Kritik an einem erfahrungsdimensionierten RU (vgl. Halbfas/Ruster 2001) das eben Beschriebene gerade verfehlt. 21 Weitere Argumente für diese Ansicht bietet insbesondere das Kapitel 3. 160 2-1 Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung Vernunft, die doch das dialogische Geschehen einseitig in den Horizont des verstehenden Subjekts aufzulösen scheint? Ein weiterer Blick in die Geschichte, nämlich in die Philosophie der Aufklärung, hilft diese Frage zu klären: Ein wesentlicher Hintergrund der oft zu schnell als bloßer Rationalismus inkriminierten aufklärerischen Vernunftreligion ist, so meine ich, die Klärung jener dialogischen Beziehung im Glauben. Der Vorwurf, der gängigerweise gegen die Vernunftreligion erhoben wird, lautet auf Depotenzierung der Religiosität von einer den Menschen zutiefst und zuinnerst betreffenden Dimension zu einer bloß äußeren Verstandessache, der aus rationalen Gründen nicht nur zugestimmt, sondern von der aufgrund ihrer bloß rationalen Struktur eben auch abgesehen werden könne. Religion würde dann aufgelöst zu einem bloßen Gedankenkonzept oder einem lediglich kontingenten Phänomen, das für den Menschen zwar Bedeutung haben könne, ebenso aber auch nicht. Die Auswirkungen dieser Sicht sind bis heute erheblich: Die vielzitierte jugendliche Befindlichkeit „Ich glaub nix, mir fehlt nix“ wird ja nicht selten zurückgeführt auf eine bloß noch rational gestaltete Bildung, deren mangelnde Tragkraft dann jenem rationalistischen Aufklärungsappell in die Schuhe geschoben wird. Der Verweis auf die Aufklärung und ihre Vernunftphilosophie ist aber ungeeignet, um die These von der angeblichen philosophischen Ausdünnung des Gottesglaubens zu einem bloßen gedanklichen Konzept zu belegen. Vielmehr entlarvt ein genauerer Rückgriff diese These als Unterstellung und sogar Unterschlagung wichtiger aufklärerischer Einsichten.22 Dazu drei Thesen, die die Wirkkraft der Vernunft besser ins Licht zu rücken sich bemühen: 1. Zunächst einmal wandte sich die Vernunftreligion gegen die „gläubige“ im Sinne einer nur unvermittelt internalisierenden Annahme bloßer Vorgaben (sog. rein „positiver“ Gehalte) von Glauben und bot als Kriterium tragfähigen Glaubens (wie Erkennens) die Autonomie menschlicher Vernunft auf. Darum plädierte sie für die je subjektiv zu realisierende fides qua creditur, den je persönlichen Glaubensvollzug, gegen die für sich zu sehr im Korsett des rein Positiven verharrende fides quae creditur, das Bekenntnis bestimmter Glaubenswahrheiten. Entscheidend für die Verhältnisbestimmung beider Glaubensformen ist aber nicht ihr Gegensatz, sondern die Einsicht, dass die subjektive Seite eine unhintergehbar notwendige Grundbedingung ist für die positiv-objektive. Theologisch formuliert: Das Plädoyer für Autonomie ist kein Einspruch gegen die theonome Bestimmung des Menschen, sondern die Ebene, auf der letztere allein zur Einsicht gebracht werden kann und zugleich ihre Erfüllung findet. 22 Sicher wird deutlich, dass dieser hier essayistisch entwickelte Gedankengang in enger Verbindung zu lesen ist mit jenen religionsphilosophischen Grundlegungen, wie ich sie im Kapitel 1-3 vornehme. 2-1 Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung 161 2. Der Gedanke dieser Autonomie der Vernunft wehrt somit sowohl einen reinen Objektivismus wie bloßen Subjektivismus ab. Antiobjektivistisch ist Vernunft durch ihre explizite Positivismus- und Historismus-Kritik. Sie bietet eher ein Gegenbild zu rationalistisch-technischer Weltsicht. Konkret: Zwar litt das ganze 19. Jahrhundert im Zuge des Historismus in der Theologie unter der Aporie, den historischen Gründen des Glaubens, insbesondere der Person Jesu in glaubensbegründender Weise niemals näherkommen zu können; doch ist es falsch, dafür Lessings Einblick in historisch-kritische Methode als Grund anzugeben. Vielmehr führte die von Leibniz zuerst geäußerte Differenzierung zwischen kontingenten historischen Tatsachen-Wahrheiten und ewig geltenden Vernunft-Wahrheiten bei Lessing zu der Erkenntnis, dass aus historischen Begebenheiten eben keine ewigen VernunftWahrheiten abgeleitet werden können und somit auch nicht aus der positiv vorgegebenen fides quae die innere Wahrheit des Glaubens, die nicht ohne ihre Verwurzelung in der fides qua Bestand haben kann.23 3. Die Vernunft ist somit kritisches Potential gegen bloß übernommenen und somit nicht glaubwürdigen Glauben. Daraus folgt aber umgekehrt keineswegs, dass historische Entwicklungen für Wahrheit und für Glauben deshalb unwichtig wären. Gegen bloßen Subjektivismus legt die Vernunft zugleich die Kraft frei, sich auf die je eigene Glaubenstradition als das jeweils uns Tragende einzulassen. In diesem Sinne will Nathan zwar nicht stehen bleiben „wo der Zufall der Geburt ihn hingeworfen“, aber die Wahl der rechten Religion „aus Einsicht, Gründen, Wahl des Bessern“ ist deshalb nicht der subjektiven Willkür unterworfen, sondern gründet sich „auf Geschichte“; „und Geschichte muss doch wohl allein auf Treu und Glauben angenommen werden“, und am ehesten doch wohl die eigene24. Ergänzt werden muss diese Sicht freilich um eine weitere Erläuterung des dialogischen Charakters von Glauben: In biblischer Sicht ist Glauben nie ein abstraktes depositum fidei, sondern stets die konkrete Beziehung zwischen göttlicher Sinngebung und menschlicher Existenz, welcher sich in der Realisierung dieser Beziehung in der Religion als Antwort auf den Ruf Gottes versteht. Vernunft erweist sich in diesem Zusammenhang als Organ, das Religion und den ihr vorgängigen Glauben klären hilft in ihren originär dialogischen Strukturen, gegen Reduktion auf einen sich selbst gegenüber unkritischen Subjektivismus und Fundamentalismus und gegen ihr Erstarren zu einem bloß äußeren und letztlich abergläubischen Positivismus. Wenn die Vernunftreligion für die fides qua plädierte, dann für die je subjektive 23 24 Vgl. Lessing: Axiomata, insbes. die Nummern VII. und X. – Auf die hier angesprochene Geschichte der Leben-Jesu-Forschung kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Vgl. dazu das scharfsinnige Werk von Schweitzer (1906). Vgl. Lessing: Nathan, Verse 1845ff, 1975ff 162 2-1 Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung Realisierung des Glaubens; diese steht aber in ihrer Selbstvergewisserung notwendig in einem Verhältnis zu dem Glauben, der als Geschenk Gottes ihr notwendig voraus geht. Jener dem Menschen von Gott geschenkte Glaube hat aber als Möglichkeitsbedingung menschlicher Existenz ebenfalls die Struktur von fides qua creditur, wohingegen die fides quae creditur nun deutlicher sich fassen lässt als jener in Religion Gestalt gewordener und verdichteter Glaube, welcher nie für sich selbst steht, weder aus anthropologischer, noch aus theologischer Perspektive. 4 Mit Vernunft Religion unterrichten Die letzten Hinweise zur Unterscheidung von fides qua und fides quae haben erhebliche religionspädagogische und konkret RU-didaktische Konsequenzen. Das Papier der Deutschen Bischöfe zur bildenden Kraft des RU hält fest an der traditionellen Trias von Lehre, Lehrer und Schüler; dem ist insofern zuzustimmen, als mit „Lehre“ jenes Glaubensgeschehen als Inhalt und Gegenstand des RU bezeichnet wird, das nicht in der schlichten Lehrer-Schüler-Beziehung aufgeht. Problematisch wird die Behauptung der Trias, wenn einseitig Lehre und fides quae identifiziert werden, als zudem wesentliches Element konfessionellen RU. Ich halte an meiner eigenen Kritik fest und behaupte wiederholt: Wäre vor allem dies gemeint, geriete der RU katholischer Prägung tatsächlich in Gefahr zu einer anachronistischen Marginalie zu verkommen, vor allem aber seinen bildungstheoretischen Aufgaben in der Schule von heute nicht mehr gerecht zu werden.25 Aber: Diese Deutung von „Lehre“ ist nicht zwingend, wenn man die eben erläuterte Differenzierung von fides quae und fides qua erinnert. Der schulische Religionsunterricht, auch der von heute, hat m.E. seinen unverwechselbare Ort wie auch seine innere Tragfähigkeit in Aufnahme der drei von mir entwickelten Aspekte der Vernunft vielmehr 1. in der Bindung an die dialogisch strukturierte fides qua, die seinen eigentümlichen Inhalt (und insofern wesentlich das Element „Lehre“) ausmacht, 2. in der Reflexion auf die Grundbefindlichkeit dieses Glaubens, um diesen Inhalt zur Sprache zu bringen und zum Thema von Bildung zu machen, 3. in der Vernunft als dem Organ, jenen Glauben erschließen zu können und damit konkret werden zu lassen. 25 Vgl. dazu meine kritischen Anmerkungen zum Bischofspapier in: IRP-Mitt.1/97 (Petermann 1997a) und meine Thesenreihe in: Mitt.2/96 (Petermann 1996a) 2-1 Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung 163 Die fides quae als kirchliche Glaubenstradition bildet für diese Ebenen „lediglich“ (hierin aber unverzichtbar!) den Horizont, an und in dem sie entfaltet werden. Daraus ergibt sich für mich ein klares Votum für einen originären Religions-Unterricht (also weder bloße Religions- und Religionen-Kunde noch direkte GlaubensUnterweisung, sondern Glaubens- und Religions-Vermittlung) auch in heutiger Zeit unter auch künftig tragfähigen Bildungsüberlegungen. Dazu abschließend thesenartig drei Anregungen: 4.1 Zum Proprium des Religionsunterrichts im schulischen Fächerkanon Sieht man als Zentrum der Lehre die fides qua, ergibt sich das Bild: Sein Proprium hat der Religionsunterricht im Vergleich zu anderen Schulfächern dann insofern in Orientierung an der kirchlichen Lehre, als diese wiederum nur ist, was sie sein soll, in Bindung an jenes Glaubensgeschehen, das in der Glaubensform der fides qua zum Ausdruck kommt. Als entscheidendes Proprium des RU erweist sich somit der Glaube als fides qua, der im RU zur Sprache kommt und in dem was er ist, erschlossen werden soll. Insofern ist es missverständlich, das Spezifikum des RU im Fächerkanon, speziell aber im Verhältnis zu den Fächern Philosophie und Ethik in der Orientierung an der Offenbarung zu sehen. Zwar hat der RU „seine unveräußerlichen Grundlagen in den geschichtlichen Überlieferungen und gegenwärtigen Ausdrucksformen des christlichen Glaubens“ (wie die EKD-Denkschrift mit Bedacht formuliert), dies darf aber nicht als eine der Vernunft enthobene Grundlage verstanden werden26: Erstens ist der Glaube, wie erläutert, in seiner dialogischen Struktur 26 Mit diesem Hinweis übe ich ausdrücklich Kritik an der EKD-Denkschrift „Identität und Verständigung“ von 1994; sie plädiert zwar ausdrücklich für RU und EU „als Dialogpartner“ einerseits (78) und hebt andererseits „die unverwechselbare Eigenständigkeit jedes Fachs“ heraus(ebd.), vermag diese Spannung aber m.E. inhaltlich und argumentativ nicht einzulösen. So klar die Grundlagen des RU beschrieben sind, wie oben zitiert (S.79), so sehr wird diese Beschreibung verunklärt, wenn sie explizit als differentia specifica gegen die Orientierung an der philosophischen Vernunft im EU gesetzt wird: Zwei Sätze später versucht man, diese Differenz genauer zu bestimmen durch die Unterscheidung zwischen „Gotteserfahrung“ und der bloßen „ Frage nach Gott“ ; wie aber jene Gotteserfahrung im schulischen RU zur Sprache kommen soll, darüber schweigt sich die Denkschrift aus. Somit bleibt ihr gesamtes Konzept einer Fächergruppe eigentümlich konturlos. Noch heftiger richtet sich meine Deutung freilich gegen Stimmen aus dem Ethik-Unterricht, wenn etwa die reine Vernunft gegen die durch die Autorität Gottes geoffenbarte Gültigkeit von Glaubenswahrheiten ausgespielt wird. Hier herrscht m.E. dringender Klärungsbedarf darüber, was „philosophische Vernunft“ (als ausschließlichem (?) Bezugspunkt für den EU) wirklich meint und was „Offenbarung von Glaubenswahrheiten“ entsprechend für den RU. - Der Vorschlag von H. A. Veraart (1998) (in: Ehmann (1998), S.117f.), den RU auf die „Positivität“ „identifizierbarer Inhalte“ und „Annahme einer transzendenten Wirklichkeit“ festzulegen, den EU hingegen „ausschließlich auf Vernunft“ rekurrieren zu lassen, muss hier zumindest weitergedacht werden. 164 2-1 Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung wesentlich auch ein vernünftiger; und zweitens geht es in der schulischen GlaubensVermittlung m.E. eben gerade nicht um eine unmittelbare Einübung in Glaubenstraditionen und -vollzüge, sondern darum, den Glauben in dem, was er ist (wozu natürlich wesentlich sein Vollzug gehört!) zur Sprache zu bringen, zu erfassen und zu reflektieren27; dass dies alles dem Glauben nicht äußerlich oder fremd ist, war Thema meiner Ausführungen oben. 4.2 Zum Proprium des Religionsunterrichts gegenüber anderen Ebenen der Glaubensvermittlung Wenn ich behaupte, dass die Vernunft dem Glauben nicht äußerlich ist, sondern wesentliches Element, heißt das natürlich nicht, dass Glaube und Vernunft ineinander aufgehen. Für den schulischen RU habe ich deshalb mit Bedacht davon gesprochen, dass Glaube und Religion hier zur Sprache kommen, erschlossen und reflektiert werden sollen. Zu ergänzen ist dies nun durch den Hinweis, und dies unterscheidet den RU in der Tat vom EU, dass so zugleich Wege geöffnet werden sollen, die dem einzelnen je subjektiven Glaubensvollzug ermöglichen und so zum konkret gelebten Glauben in Gemeinschaft führen können. Die fides quae ist eben deshalb nicht der Inhalt des schulischen RU, sondern allenfalls sein Gegenstand bzw. der Horizont, an dem Glauben erschlossen werden soll, gegebenenfalls kann er sein je persönliches (aber nicht mehr im Bereich des Unterrichts liegendes!) Ergebnis sein. Damit bleibt theologisch gewahrt, dass eigentliche Akteure des RU letztlich nicht Schüler und Lehrer sind, auch wenn es sich auf der diskursiv-unterrichtlichen Ebene so darstellt. In diesem Sinne hat der RU aus kirchlicher Perspektive durchaus diakonischen Charakter. Das ist zu erläutern: Zunächst unterscheidet sich der RU aus Sicht der Kirche von anderen Glaubens-Vermittlungen dadurch, dass er Glauben weder verkündet, noch feiert, noch im unmittelbaren Sinne gegenüber dem hilfsbedürftigen Nächsten lebt. Hilfreicher scheint mir die Formulierung aus dem Entwurf für die Fächergruppe in MecklenburgVorpommern: „Im Fach Religion geschieht Sinnentdeckung in der Auseinandersetzung und Begegnung mit der Glaubensoffenbarung und ihren Wirkungen. Das Fach Philosophieren mit Kindern richtet sich auf Sinnentdeckung in der Selbstvergewisserung durch Vernunft. Das schließt für den Religionsunterricht den rationalen Diskurs und für die Philosophie die Artikulation der Bedingungen und die Erfahrung der Grenzen dieser Rationalität ein. In beiden Fächern bedingen Öffnung für das Unbedingte und Vernunftorientierung einander.“ (Kultusministerium (1996), Hervorhebungen H.B.P.) . Über diesen m.E. wegweisenden, weil auch brandenburgische Irrläufer bewusst vermeidenden Entwurf ist an anderer Stelle ausführlicher zu referieren. (Vgl. Kapitel 5-4). 27 Diese Überlegung bildet den Hintergrund für meine Abhandlung Petermann 2000 und ihren programmatischen Titel „Religion zur Sprache bringen“, die, wie in Abschnitt 2 der Einleitung erläutert, den Grundbestand des Teil I der vorliegenden Arbeit ausmacht. Zur Entfaltung des Themas „Sprache“ vgl. auch das folgende Kapitel 2-2 sowie das Kapitel 4-3. 2-1 Vernunft als wesentliches Element religionsunterrichtlicher Bildung 165 Sondern in erster Linie bedenkt er den Glauben, indem er ihn auf unterschiedlichen Ebenen zur Sprache bringt, erschließt, reflektiert. Das ist gewiss nicht die primäre Aufgabe der kirchlichen Wesensvollzüge von martyria, leitourgia, diakonia. Zugleich aber macht der RU ja durch jenes Bedenken mit dem Glauben auch vertraut. Und insofern stellt er sich durchaus als Dienst, diakonia, am Menschen dar: Er zeigt ihm im Horizont seiner Glaubenstradition für Menschsein wesentliche Sinnhorizonte auf und leistet insofern konkrete Hilfe zu Lebensorientierung und konkreter Lebensgestaltung.28 4.3 Die dem RU eigentümliche Unterrichtsgestaltung Aus dem Proprium des RU im schulischen Fächerkanon einerseits und im kirchlichen Glaubensvollzug andererseits ergibt sich eine für das Fach Religion ganz spezifische Unterrichtsgestaltung.29 Auch sie ist m.E. deutlich an Vernunft zu orientieren. Vernunft darf hier freilich nicht verwechselt werden mit bloß mentaler Intellektualität oder gar kognitiver Fähigkeit. Vernunft kommt zum Tragen auch in der Fähigkeit zum Vernehmen, nämlich des Transzendenten im Alltäglichen, der Zwischentöne im Satzgefüge, der intellektuellen (nämlich die Tiefendimension einsehenden) Anschauung von Lebenswelten und Existenzvollzügen. Dieses Vernehmen findet elementar statt als Sprach-Lernen, als Erfahrungs-Lernen und als Verantwortungs-Lernen. Somit kommen kognitive, affektive, soziale und handlungsorientierte Dimensionen in einem tragfähigen RU gleichermaßen zur Geltung. Die Tradition des biblisch-christlichen Glaubens gilt dabei als der Horizont, unter dem mit dem Organ menschlicher Vernunft (die differenzierende Wahrnehmung und kritischen Verstand einschließt) die für Menschsein lebenswichtigen Fragen gestellt werden30: Wer bin ich? Wohin reicht mein Wissen? Aus welchem Grund soll heraus soll und muss ich Verantwortung übernehmen? Worauf darf ich als Horizont meines Lebens hoffen und vertrauen? 28 Die Rede von der diakonischen Aufgabe des RU ist in diesem, aber auch nur in diesem umfassenden Sinne zu unterstützen. Missverständlich würde sie, wenn der RU durch Qualifizierung als diakonisch als bloße Lebenshilfe instrumentalisiert würde. Vgl. dazu Nastainczyk (1991) oder Fuchs (1989). 29 Vgl. dazu parallel die Ausführungen in Kap. 5-4. 30 In bewusster auf religionsunterrichtliche Zusammenhänge abgestimmter Abänderung der berühmten Kantischen Grundfragen: Was ist der Mensch? Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Kapitel 2-2 „…was werde ich euch nützen, wenn ich nicht mit einer Erkenntnis zu euch rede…“ Religiöse Sprache verstehen 1 1 Problemaufriss Im 14. Kapitel seines ersten Korintherbriefs geht Paulus heftig ins Gericht mit einer Form religiöser Rede, die verzückt von der eigenen Glaubenseinsicht völlig in sich verharrt und so für alle anderen unverständlich bleibt: „Wer mit verzückter Zunge redet, der redet für Gott, nicht für Menschen; denn keiner hört es … Wer mit verzückter Zunge redet, baut nur sich auf … [Doch:] Gebt ihr durch eure Rede mit verzückter Zunge kein deutliches Wort zu verstehen, wie sollte man erkennen, was geredet wird? Dann redet ihr bloß Luft!“ 2 Paulus hat Recht. Und was er sagt, gilt nicht nur für die durch Glauben verzückte Rede, sondern auch für die unreflektierte, das heißt Sinnerschließung aussparende Benutzung religiöser Gehalte und Worte überhaupt. Denn wer versteht schon, was gemeint ist, wenn Mose Gott darum bittet, ihn sehen zu dürfen, Gott ihm aber nur seine Rückseite zur Schau gibt (Gen 33,18ff) oder wenn Joseph im Traum erfährt, er solle die schwangere Maria zur Frau nehmen (Mt 1,20) oder wenn der des Lesens unkundige Prophet Mohammed nach dreima1 Dieses Kapitel nährt sich aus dem ersten Teil meines Beitrags zum Thema „Religiöse Sprache“, der unter dem Titel „’Wer Ohren hat zu hören, der höre!’ - Religiöse Sprache verstehen“ 2002 im bsv-Verlag erscheinen wird in dem von Ekkehard Martens und Philipp Thomas herausgegebenen Band „Religionsphilosophie“ des vierbändigen „Praxishandbuch Philosophie“. (Der zweite Teil dieses Beitrags mit Vorschlägen zur Unterrichtspraxis bildet den Grundstock für das Kapitel 4-2.) Dieser Beitrag wurde unter der Zielsetzung elementarer Informationen, Orientierungen und Praxisimpulse für Philosophie- und Ethik-Lehrerinnen und –Lehrer verfasst. Systematisch ist er darum ausdrücklich nicht in theologischer, sondern philosophischer Perspektive geschrieben, baut sich aber gerade darum gut in den Kontext der vorliegenden Arbeit ein, weil das in den Kapiteln 1-3 und 1-4 erläuterte Motiv einer philosophisch begründeten Didaktik des Religiösen hier konsequent aufgenommen und weiterverfolgt wird. Den für den genannten Beitrag erforderlichen Informationen eher komprimiert und lexikalischen bietenden Stil habe ich für das vorliegende Kapitel beibehalten, inhaltlich gleichwohl einige erläuternde Passagen hinzugenommen, die aus Platzgründen in dem bsv-Beitrag gestrichen oder gekürzt werden mussten. Zudem bieten die Fußnoten Querverweise auf andere Kapitel der vorliegenden Arbeit sowie einige Nachweise, die in dem genannten Beitrag nur pauschal gegeben werden konnten. 2 Ich zitiere nach der Übersetzung von Fridolin Stier (1989), hier in Auszügen 1 Kor 14, 2.4.9. 2-2 Religiöse Sprache verstehen 167 liger Aufforderung durch den Engel schließlich doch die 97.Sure gelesen haben soll? Und wer versteht wirklich Ausdrücke wie „Jesus lebt“ oder „Töte den Buddha“ oder „geboren aus der Jungfrau“ oder „gestorben im Herrn“? Sicher auch solche Fragen hat Paulus im Ohr, wenn er seiner glaubensverzückten Gemeinde weiter schreibt: Nun aber, Brüder, wenn ich zu euch komme und mit verzückter Zunge rede, was werde ich euch nützen, wenn ich nicht mit einer Offenbarung oder einer Erkenntnis, einer Prophetenrede oder einer Lehre zu euch rede? … Deshalb bete der mit verzückter Zunge Redende, dass er auch auslegen könne. Denn: Bete ich mit verzückter Zunge, so betet mein Geist; mein Verstand aber trägt keine Frucht. Was gilt nun? Ich will geistergriffen beten; ich will aber auch verständlich beten. Lobsingen will ich geistergriffen; lobsingen aber auch mit dem Verstand. Denn: Sprichst du die Preisung geistergriffen, wie sollte der, der den Platz des Ungeschulten ausfüllt, das ‚Wahr ists’ zu deiner Danksagung sprechen, da er gar nicht weiß, was du sagst? … in der Gemeinde will ich – um andere zu unterweisen – lieber fünf Worte mit meinem Verstand als tausend Worte mit verzückter Zunge sagen.3 Mit diesem Zitat lassen sich sehr genau sachliche Problematik wie Zielsetzung einer philosophischen Auseinandersetzung mit religiöser Sprache umreißen: 1. Ganz grundsätzlich wird religiöse Rede hier unter dem Horizont verständiger Auslegung thematisiert. Der griechische Urtext gibt das Thema genauer an: Für die Auslegung finden wir hier das Wort dihermeneuein. Hermeneutik aber ist der Begriff schlechthin für eine philosophisch dimensionierte Auslegung und Deutung. Zum zweiten finden wir das Wort nous, im Zitat wiedergegeben mit „verständig“. Gemeint ist vom Griechischen her aber nicht eine technische Kenntnis von Bedeutungsgehalten, sondern eine den Sinn vernehmende, für den Verstehenszusammenhang sensible und darum auch mitteilungsfähige Einsicht und Deutung.4 Damit ist philosophische Hermeneutik zugleich in ihren Grundzügen umrissen. In ihren Horizont stellt Paulus religiöse Rede. 2. Paulus drängt den religiös sprechenden Menschen darum zu beten, dass er seinen Glauben auch auslegen könne. Sinn macht diese Aufforderung nur, wenn wir 3 Ebd., hier 1Kor 14, 6.13-16.19. 4 Mit die Unterscheidung von „Bedeutung“ und „Sinn“ beziehe ich mich auf die seit Frege (1892) übliche Unterscheidung von dem, auf das als Referenzobjekt sich einen Wort oder Satz bezieht, das ist die Bedeutung, und dem, was mit einem Wort oder Satz (eigentlich und für mich) gemeint ist, das ist der Sinn. Diese Unterscheidung wird wichtig auch im Abschnitt 4 dieses Kapitels zum Problem der Intensionalität. 168 2-2 Religiöse Sprache verstehen religiösem Glauben unterstellen, nicht in sich selbst zu verharren, sondern auf verständige Auslegung angelegt zu sein. Unzweideutig polemisiert Paulus gegen ein hermetisches oder esoterisches Verständnis von Religion, deren Inhalte und auch Sprache nur Eingeweihten vorbehalten seien. Gegen unreflektierte Deklamation drängt Paulus auf verständige Auslegung; genauer ist die vernehmende und mitteilungsfähige Deutung gemeint, im Griechischen steht wie gesagt der Begriff no/uj. Und Paulus plädiert nicht nur dafür, dass religiöser Glaubens sich philosophischer Auslegung öffne, sondern sieht diese Auslegung sogar als notwendig an, damit der Glaube wirksam werde. Religiöser Glaube ist insofern auf philosophische Auslegung auch angewiesen, nicht nur angelegt. Diese Ansicht gilt sicher nicht, zumindest nicht in diesem Maße, für alle religiösen Traditionen, doch gewiss für die Tradition des Judentums, die Paulus hier repräsentiert, wie auch für die des Christentums, dessen Theologie mit den Überlegungen des Paulus als ersten auch christlichen Theologen eingeleitet wird. Doch auch weite Teile der chinesischen Religionen (insbesondere der Konfuzianismus) wie auch der indischen Religionen (die gerade in ihren stark meditativen Zügen einen ganz eigenen Logos des Göttlichen ausgebildet haben) dürfen zu den hier interessanten theologisch geprägten Traditionen gezählt werden. Dass umgekehrt nahezu alle Religionen andererseits esoterisch-hermetische Tendenzen kennen, bedürfte einer besonderen Erklärung; sie interessieren hier jedoch nicht, da ihre Sprache gar nicht als zu Menschen gesprochene verstanden sein will. 3. Mit den Worten ich will aber auch verständlich beten und lobsingen will ich aber auch mit dem Verstand ebnet Paulus andererseits auch der philosophischen Vernunft der Weg zur Erschließung des religiösen Worts. Das meint: Nicht nur ist Glaube auf vernünftige Auslegung hin angelegt, sondern kann auch authentisch geäußert werden in Form verständig-vernünftiger Sprache. Ist dies aber möglich, so ist philosophische Sprache eine Form, die religiöser Erfahrung nicht fremd bleibt, sondern sie sogar in ihrem Innersten zur Sprache bringen kann. Wenn dieser Weg auch nicht universalisiert werden kann, so ist er doch sinnvoll, nicht nur um Glaube verständlich zu machen, sondern auch weil Glaube und Reflexion als letztlich nicht widersprechende, sondern korrelierende Ebenen aufzufassen sind.5 5 Eine Bestätigung findet auch diese Überlegung bei Paulus: In der berühmten Aufzählung der verschiedenen Charismen in 1 Kor 12, die allesamt auf ihre je besondere Weise zum Aufbau des Einen Leibes beitragen, differenziert Paulus bekanntlich nicht nur zwischen matryriologischen, diakonischen und leitourgischen Geistesgaben, sondern benennt gleich zu Beginn (v.7ff) mit swfi,a, gnw/sij und pneu/ma drei unterschiedliche Formen eher intellektueller Natur. Damit wird die im Text aufgestellte These vom Denken als authentischer Form des Glaubens nicht nur bestätigt, sondern könnte, durch konkretere Erläuterung dieser Differenzierung auch entfaltet werden. 2-2 Religiöse Sprache verstehen 169 4. Mit den gleichen Worten deutet Paulus jedoch an, dass weder religiöses Wort und seine Auslegung unmittelbar zu identifizieren wären, noch dass das geisterfüllte Beten und Lobsingen auf das verständige Beten und Lobsingen eingeschliffen werden könne. Vielmehr scheint es weiterhin einen Überschuss des Worts über seine Auslegung geben zu müssen. Glaube kann zwar zur Sprache gebracht, doch damit nicht vollständig eingeholt werden; seine verständige Auslegung ist zwar ein ihm wesentliches Element, ersetzt ihn aber nicht. Somit scheint Glaube selbst, obgleich er zur verständigen Sprache gebracht werden kann, nicht mehr eigens vernünftig begriffen werden zu können, sondern weist die Vernunft seinerseits in ihre Grenzen.6 Mit diesem eigentümlichen Spannungsverhältnis ist unsere Themenstellung, die Frage nach philosophischer Deutung religiöser Sprache recht genau skizziert. Zugleich ist die Vorgehensweise angedeutet, die (im Bewusstsein möglicher Einwände) sich ganz der hermeneutischen Tradition zurechnet: Auch das vorliegende Kapitel macht sich die religionsphilosophischen Grundannahmen zu eigen, die im Teil I entwickelt wurden. Wenn die Wahrheit der einzelnen Religionen, genauer Religion in ihrem Wahrheitsanspruch ernstgenommen werden soll, gehört dazu die Fähigkeit, sich diese vernünftig und das heißt kritisch erschließen zu können; der entscheidende Weg dazu aber ist die Fähigkeit zur sprachlichen Reflexion bzw. der Reflexion auf die Sprache der Religion. Damit ist zugleich die wichtigste didaktische wie auch die grundlegende hermeneutische Anforderung für jede Auseinandersetzung mit Religion benannt: Ohne die religiöse Sprache zu verstehen, verstehen wir von Religion nahezu nichts, jedenfalls nicht das originär Religiöse.7 Als auch didaktisch relevante Voraussetzung dafür kann die These gelten, dass Religion keine andere Sprache spricht in dem Sinne, dass damit eine andere Wirklichkeit bezeichnet würde, sondern dass ihre Sprache Wirklichkeit vor allem anders erfasst als etwa die 6 Auch dieser Gedanke, der in den philosophischen Überlegungen beispielsweise von Cusanus, Hegel, Schelling, Adorno, Heidegger als denkende Auslotung der Grenzen des Denkens eine große Rolle gespielt hat, kann an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Ich verweise dazu im Rahmen der vorliegenden Arbeit jedenfalls auf den Abschnitt 5 dieses Kapitels zum Thema Sprachtranszendierung. 7 Das gilt natürlich in gleicher Weise auch für andere Gegenstände möglicher Erfahrung. Für die Sprache der Naturwissenschaften wird diese Voraussetzung ganz selbstverständlich anerkannt: Mitreden kann nur, wer sich auf die spezifische Terminologie versteht, die Wirklichkeit bewusst isoliert betrachtet. Auch für das Verstehen von Kunst, der bildende Kunst, der Musik, und mit Abstrichen der Literatur, wird das Verstehen der je eigentümlichen Formensprache als notwendige Voraussetzung akzeptiert. Die Religion hat es da schwerer, weil das Gefühl für das besondere Symbolsystem des Religiösen, wohl nicht zuletzt aufgrund der von den Religionen selbst verursachten Säkularisierung, auch der Sprache, verloren gegangen ist, was dann leicht zur Verwechslung von Glaubensaussagen mit (in naturwissenschaftlicher Sicht gesehenen) Wirklichkeitsaussagen u.ä. führt. Grundlegend zu einer entsprechend differenzierenden Verwendung der Sprache hat sich Hans-Georg Gadamer geäußert, etwa in: Sprache und Verstehen (1970), in: GW Bd.2, 21990, 184-198. 170 2-2 Religiöse Sprache verstehen weitgehend üblich gewordene Wissenschaftssprache. Im Horizont solcher anderen Form der Erfassung von Wirklichkeit mag dann, aber auch nur so, auch die Möglichkeit anderer Wirklichkeit aufscheinen. Damit wird an dieser Stelle die These vertreten: Auseinandersetzung mit religiöser Sprache führt elementar in die religionsphilosophische Grundfrage ein.8 Zugleich bildet die Auseinandersetzung mit religiöser Sprache ein notwendiges Element eines jeden philosophisch ausgewiesenen didaktischen Umgangs mit Religion. Ein besonderer Stellenwert kommt ihr schließlich zu, und auch das rechtfertigt ein eigenes Kapitel, weil hier die Grenzen vernünftiger Erschließung zugleich gesprengt werden, wie sonst vielleicht nur auf dem Gebiet des Ästhetischen. Zum weiteren Vorgehen sei nur so viel angemerkt: Im Unterschied zu manch anderen philosophischen Gegenständen kann sich die Auseinandersetzung mit Religion im allgemeinen kaum an sog. klassischen Positionen orientieren, nicht zuletzt weil das Gebiet der Religionsphilosophie in der Geschichte der Philosophie, zumindest der neueren, keinen klassischen Ort hat und auch die Grenzen zur Theologie nicht immer deutlich zu bezeichnen sind. Ich wähle daher den Weg einer nicht historischen, sondern systematischen Herangehensweise, um zentrale Kategorien der Erschließung religiöser Sprache zu benennen; in diesem Rahmen werden natürlich auch wichtige Positionen der Tradition zu skizzieren sein.9 2 Welche Sprache ist überhaupt gemeint, wenn es um die Erschließung religiöser Sprache geht? Zunächst ist in einer vordergründig eher religionsphänomenologischen Perspektive zu fragen, wo uns religiöse Sprache begegnet. Zuerst sind da die kanonisierten Texte der unterschiedlichen religiösen Traditionen zu nennen. Für die jeweilige Religion haben sie heiligen Status, zunächst weil in ihnen die elementaren Glaubensaussagen versammelt sind, die orientierende Botschaften über, nicht informierende Aussagen zu Wirklichkeit darstellen; aufgrund ihrer grundlegenden Orientierungsleistung gelten sie darum für göttliches Wort, das heißt obwohl von Menschen verfasst, unantastbar in Geltung aber auch letztlich unüberbietbar gegenüber jeder Auslegung. Doch auch für nichtreligiöse oder einer bestimmten Religion nicht angehörende 8 Dies war, wie oben angemerkt, die ursprüngliche und hier nicht veränderte Zielsetzung des vorliegenden Kapitels. – Zum Zusammenhang mit Teil I vgl. hier insbesondere die Erläuterung des Elements „heilige Wirklichkeit“ im Abschnitt 4 des Kapitels 1-3. 9 Für diese Zielsetzung erinnere ich daran, dass dieses Kapitel ursprünglich als grundlegende Orientierung für die Hand der Philosophie und Ethik Unterrichtenden konzipiert ist. 2-2 Religiöse Sprache verstehen 171 Menschen haben diese Texte höchsten Stellenwert. Es gibt kaum vergleichbare Textbestände aus älterer Zeit, in ihnen sind wertvollste Kulturgüter überliefert. Ihre Auslegung wirft jedoch für Gläubige wie Nichtgläubige gleichermaßen Probleme auf. Vor allem handelt es sich um sehr alte, meist in anderen Kulturen und Sprachen entstandene Texte, die nicht einmal in sich ohne weiteres verständlich sind und schon gar nicht ohne Probleme auf die Gegenwart übertragbar. An diesen Texten insbesondere und ihrer sprachlichen Eigenart orientiert sich die vorliegende Einführung. Texte späterer religiöser Tradition sind demgegenüber nur bedingt von Interesse, obwohl für sie z.T. ähnliche Verständnis- und Auslegungsschwierigkeiten gelten. Doch treten Schwierigkeiten hier eher dann auf, wenn ohne das Bemühen um Deutung oder Auslegung Traditionsgüter aus heiligen Schriften schlicht zusammengefasst, kompiliert und in die gegenwärtige Situation hineingesprochen werden. In solchen Fällen nimmt Theologie eher die Rolle einer vergegenwärtigenden Botschaft ein, nicht die der wissenschaftlichen Auslegung. Das gilt oft für verbindliche Erklärungen der religiösen Autorität; Erklärungen etwa der Kurie der römisch-katholischen Kirche kleiden sich nicht selten in eine Sprache, die eher in Imitation kanonisierter Texte der Tradition formuliert ist. Das macht ihre Vermittlung nicht leichter, zumal wenn damit der Anspruch verbunden wird, solche Äußerungen bedürften deswegen hier auch keiner gesonderten Erläuterung mehr.10 Versteht sich Theologie demgegenüber in einem eher wissenschaftlichen Sinne, muss sie sich dem Anspruch auch exoterischer Deutung und Kritik aussetzen, kann also eine besondere religiöse Sprache für sich nicht beanspruchen, da es gerade im Gegenteil ihr Anliegen sein muss, religiöse Sprache in der Sprache des Alltags auszulegen, und sei es (im Unterschied zur Religionsphilosophie) nicht für die Nichtgläubigen, sondern in glaubensvermittelnder Absicht für die Gläubigen der eigenen religiösen Tradition. Weiter sind in unserem Zusammenhang zu nennen meist mündlich geäußerte, z.T. aber auch schriftlich fixierte Homilien, also Auslegungen religiöser Traditionen oder Glaubensgüter zur spirituellen Erbauung oder Aufbauung, wie sie vor allem in gottesdienstlichen Predigten stattfinden. Auch hier findet man zwar jene eigentümlich religiöse Sprache, doch wiederum gilt einerseits wie für die Theologie im Sinne von Glaubenserklärung, dass diese Form religiöser Sprache i.d.R. ihre Vorbilder in den heiligen Texten hat, so dass auch hier eine gesonderte Erläuterung den Platz sprengen würde. Zudem sind solche Texte bewusst in den Innenraum des Glaubens gesprochen und nicht zu seiner möglichen verständigen Auslegung. Das gilt auch für eine letzte Dimension religiöser Sprache, das Gebet. Sie muss jedoch aus anderen Gründen unser Interesse wecken: Zwar enthalten auch die 10 Zur Kritik solcher Erläuterungen vgl. z.B. meine eigene Stellungnahme (Petermann 1991) zu einer vatikanischen Instruktion zum Thema Glaubensverkündigung. 172 2-2 Religiöse Sprache verstehen heiligen Texte der einzelnen Religionen selbst Gebete oder zumindest gebetsartige Passagen, so dass mit heute geäußerten Gebeten auch nichts strukturell Neues zu berücksichtigen wäre. Gleichwohl handelt es sich um eine sprachlich ganz besondere Gattung, da in der schriftlichen Fixierung von Gebeten die Innenseite religiöser Äußerung und die Außenseite der Reflexion auf Religiosität in intensiver Weise zusammenfallen, was zu erläutern sein wird.11 Im Unterschied zu nichtsprachlichen Äußerungen, also ritualisierten Vollzügen religiöser Praktiken, von sakramentalen Handlungen wie Waschungen oder auch Gemeindeversammlungen bis hin zur völlig wortlosen Versenkung, gewährt das Gebet über das Phänomenologische hinausgehende Einblicke in die Struktur von Religiosität, so dass von seiner Dechiffrierung Kriterien erwartet werden können, die übertragbar sind, um auch nichtsprachliche religiöse Äußerungen nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu verstehen. Damit ist in anderer Weise die Zielsetzung einer philosophischen Auseinandersetzung mit religiöser Sprache beschrieben. 3 Die Tradition der Hermeneutik Kein anderes Stichwort ist so eng verknüpft mit der Frage nach der Auslegung von in Texten fixierter religiöser Sprache wie das der „Hermeneutik“. Wie sehr darüber hinaus „Hermeneutik“ nicht nur den möglichen Horizont der Erschließung religiöser Texte anzeigt, sondern umgekehrt einer theologischen Herkunft die Möglichkeit der philosophischen Erschließung religiöser Texte sich verdankt, ja der philosophischen Erschließung von Texten überhaupt, verdeutlicht Heideggers Bekenntnis: „Ohne diese theologische Herkunft wäre ich nie auf den Weg des Denkens gelangt.“ Denn unter dem theologisch konnotierten Titel „Hermeneutik“ sei er „besonders von der Frage des Verhältnisses zwischen dem Wort der Heiligen Schrift und dem theologisch-spekulativen Denken umgetrieben [gewesen]. Es war, wenn Sie wollen, dasselbe Verhältnis, nämlich zwischen Sprache und Sein, nur verhüllt“.12 – Im folgenden ist daher zunächst über wesentliche Hintergründe von Hermeneutik als philosophischer wie speziell religionsphilosophischer Disziplin zu orientieren.13 11 Diese Erläuterungen findet sich jetzt gesondert und ausgeführt im Kapitel 4-3 zur religiösen Sprache. 12 Martin Heidegger: Aus einem Gespräch von der Sprache, in: Unterwegs zur Sprache. Stuttgart (Neske): 1959, S.96. 13 Die folgende Übersicht erfolgt bewusst eher lexikalisch und nicht einzelne Positionen weiter erläuternd. Ich beziehe mich dabei vor allem auch die Darstellungen Gadamer (1974) und Berger (1999). 2-2 Religiöse Sprache verstehen 173 Hinsichtlich der Frage möglicher Gegenstände hat Hermeneutik ihr Herz in vier Bereichen, der Auslegung von Rechtsnormen, von Kunst, von religiösen Texten und Äußerungen philosophischer Natur. Diesen Bereichen eigen (wenngleich nicht ausschließlich ihnen) ist die über bloßes Zur-Kenntnis-Nehmen hinausgehende Struktur, „einen Sinnzusammenhang aus einer anderen ‚Welt’ in die eigene zu übertragen“ (Gadamer), d.h. in der Übersetzungsleistung kann nicht nur von einer in eine andere Sprache übertragen werden, so dass quasi abbildlich der Sinngehalt der gleiche bliebe. Vielmehr muss zugleich die Art des Übersetzens mitbedacht werden, weil beide Sprachebenen hinsichtlich ihres Sinngehalts nicht ineinander übergehen. Konkret: Es gäbe keine Kunst, könnte ich ihren Sinn völlig in (Alltags-)Sprache überführen könnte, es gäbe keine Rechtsnormen, wäre Konfliktlösung im zwischenmenschliches Zusammenleben selbst ohne Probleme zu bewältigen, es gäbe keine Religion, ließe sich das, was hier zum Ausdruck kommt, auch anders sagen (also auch wäre sie eine bloße Projektion), es gäbe keine Philosophie, es wäre der no/uj noh.sewj ein sinnloses Unterfangen, gäbe es nicht die Ebene eines Bedenken des Denkens, eines Zur-Sprache-Bringens der grundsätzlichen Möglichkeit aller Sprachäußerung.14 Unabhängig von dem aristotelischen Verständnis von Auslegungskunst15 hat die hier zur Debatte stehende Hermeneutik ihren notwendigen Bezugspunkt daher an der Erschließung eines sog. „Hintersinns“ (~upo,noia) in einem weiten Verständnis dieses Wortes. In ihrer Geschichte hat die Hermeneutik freilich z.T. auch divergierende Stationen durchlaufen, die im folgenden nur kurz in ihren Zielbegriffen zu markieren sind.16 Lag der Schwerpunkt des antiken Verständnisses eher auf der Herausstellung jenes Hintersinns, im Sinne einer sowohl dem unmittelbaren Verständnis wie auch der eindeutigen Deutung je überlegenen Sinndimension, wurde durch das Problem rechter und verbindlicher Schriftauslegung im christlichen Bereich zunehmend der Zugang zum eigentlich maßgebenden Sinn gegen mögliche Missverständnisse das entscheidende hermeneutische Motiv. Dadurch gewann Hermeneutik einen eher 14 15 16 Der mögliche Einwand, mit eben dieser Annahme werde bereits unzulässigerweise Metaphysik betrieben, ist zwar ernst zu nehmen, muss sich aber seinerseits dem Problem aussetzen, wie denn überhaupt sinnvoll eine Reflexion auf Sprache möglich sein soll ohne eine solche Annahme. Der Verweis auf Wittgenstein hilft nicht aus diesem Dilemma, weil Sätze wie „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenze meiner Welt.“ Sprache gerade nicht dogmatisch auf eine Beschreibung von Welt als „Gesamtheit der (naturwissenschaftlichen) Tatsachen“ festlegen, sondern zunächst einmal das Problem eines solchen Bezugs anzeigen. Auf die lange Tradition von Aristoteles’ Schrift „Peri Hermeneias“ kann hier nicht näher eingegangen werden, nicht zuletzt weil sie gar nicht die Hermeneutik in einer hier für uns zur Debatte stehenden Bedeutung im Sinn hat, sondern eine Art logischer Grammatik entwickelt (Gadamer). Aus diesem Grunde verzichte ich dafür hier und im folgenden Absatz auch auf ausführlichere oder gar erläuternde Nachweise. Wichtige Hinweise dazu finden sich, wie angegeben, bei Gadamer (1974) und Berger (1999). 174 2-2 Religiöse Sprache verstehen dogmatischen Charakter, auch wenn der lutherische Grundsatz „sacra sciptura sui ipsius interpres“ einen jede Dogmatik transzendierenden Kern aufweist. Doch erst Schleiermacher löste auch die protestantische Bibelauslegung aus ihrem dogmatischapologetischen Rahmen, indem er alles Verstehen auf das zwischenmenschliche Gespräch gründete und so in der Einholung jenes Gesprächs die eigentliche Aufgabe der Hermeneutik sah. Diltheys Versuch, Hermeneutik im Nach-Erleben zu begründen, führte bei Heidegger zu einer Ausweitung des Hermeneutik -Begriffs: Die Einholung eines Vorverständnisses erweiterte er auf das Verstehen als Grundbefindlichkeit des Menschen. Darin ist auch Gadamers These vom Universalitätsanspruch der Hermeneutik begründet: Alles Verstehen ist letztlich darauf ausgerichtet, im Verstehen auch „zu begreifen, was uns ergreift“ (E.Staiger). Neuere Versuche einer Dekonstruktion des Verstehensvorgangs, wie sie etwa Derrida oder Hörisch vornehmen17, lösen diese Unvordenklichkeit eines in der Sprache uns zugewandten Anspruchs wieder auf in eine subjektive Rezeptionsästhetik bzw. ein spielerisches Sich-Einfinden in die Schichten des Verstehens. Durch die gesamte Geschichte der Hermeneutik ziehen sich jedoch auch grundlegende Kategorien bzw. Ebenen der Auslegung, auch wenn sie nicht immer für sich reflektiert werden. - So hat die hermeneutische Tradition von J.J. Rambach die Unterscheidung übernommen zwischen intellectio, explicatio, applicatio, also erstens dem Verstehen, das ganz auf den Text sich einlässt, um die in ihm enthaltenen Aussagen zu entfalten und so Missverständnisse ganz grundlegend zu vermeiden, zweitens der Erläuterung, also das Ernstnehmen des Textes als eines Subjekts, das je etwas zu sagen hat, wodurch ich selbst als je aktueller Ausleger zum Gegenstand der Auslegung werde, und schließlich der Anwendung, die aus dem Text eine Veränderung oder zumindest Bewusstwerdung eigener Lebensführung generiert. - In eine vergleichbare Richtung zielt die noch ältere Unterscheidung zwischen literarischem, allegorischem, moralischem und anagogischem Wortsinn. Hier wird die schlichte Unterscheidung von wörtlichem und geistlichem (= allegorischmystischem) Sinn weiter differenziert, nicht zuletzt um dem Missverständnis vorzubeugen, als sei der wörtliche auch der eigentliche Sinn, alle anderen dagegen „nur“ übertragen; vielmehr hat jede Ebene die Aufgabe, eine eben nicht offen zu Tage liegende Wahrheit aus einem Text herauszuarbeiten: Geht es der literarischen um die Frage der sprachlichen Struktur, dass etwas gerade so und nicht anders gesagt wird, so der allegorischen um den aus dem Text „aufzulesenden“ Sinngehalt, der moralischen um die mich als Leser treffende (nicht nur normativ-moralische) 17 Weil sich dazu in den gängigen Lexika (noch) keine Hinweise finden, sei für diese Richtung exemplarisch verwiesen auf Jaques Derridas programmatisches Buch: Die Schrift und die Differenz (1972) sowie Jochen Hörisch: Die Wut des Verstehens (1998). 2-2 Religiöse Sprache verstehen 175 Botschaft, der anagogischen um das, was ich angeregt durch den Text tatsächlich für Konsequenzen für meine Lebensauffassung und -gestaltung ziehe. 4 Intensionalität und Verdichtung als Formen religiöser Sprache Auf der Basis der eher methodisch zu verstehenden hermeneutischen Kriterien kann nun weiter auch inhaltlich die Eigenart religiöser Sprache in den Blick genommen werden. Eine erste Struktur lässt sich mithilfe der Logik als eine besondere Form des Zugriffs auf Wirklichkeit erläutern: Wie von einigen Autoren in jüngeren Veröffentlichungen angedeutet, erfasst religiöse Sprache Wirklichkeit zunächst intensional, d.h. als Herangehensweise, und nicht extensional, also bestimmte (andere) Wirklichkeiten ausmachend und bezeichnend.18 Die Konsequenzen dieser Einschätzung sind erheblich. Sind alle religiösen Aussagen zunächst einmal intensional zu verstehen, so wird zugleich behauptet, dass sie, gleich welchen Inhalts sie sind und worauf sie sich beziehen mögen, als Intention ihrer Aussage stets das menschliche Verhältnis zu seiner Wirklichkeit im Auge haben. Auch Aussagen über Gott, über Götter, über Paradies oder ewige Gerechtigkeit oder Wiedergeburt müssen stets gelesen werden als Aussagen über menschliche und menschlich erfahrbare Wirklichkeit, sonst können sie nicht verstanden werden.19 Damit ist nicht behauptet, religiöse Aussagen seien nichts anderes als intensionale Ausdrücke. Im Gegenteil: Nordhofen betont mit Recht: „Intensionen sind immer 18 Auf diese fundamentale Unterscheidung hat im Anschluss an Hermann Schrödters religionsphilosophische Überlegungen (Analytische Religionsphilosophie. Hauptstandpunkte und Grundprobleme. Freiburg/München: Alber, 1979) aufmerksam gemacht Eckhard Nordhofen, besonders deutlich in Nordhofen: Glaube; in: Ethik. Ein Grundkurs, hg.v. H.Hastedt/E.Martens, Reinbek: Rowohlt, 1994, S.275ff. – Nordhofen versteht religiösen Glauben grundsätzlich intensional als besondere „Art und Weise, mit der ein Mensch an die Dinge der Welt herangeht“ und nicht extensional, d.h. als Aussage über einen Bereich, auf den sich die Sprache gegenständlich bezieht. – Ihren philosophischen Bezug hat die Unterscheidung zwischen intensionaler und extensionaler Sprache in der Philosophie Rudolf Carnaps (1947). Sie wiederum verdankt sich der Unterscheidung von Sinn und Bedeutung bei Frege (1892). 19 Aus dieser Forderung ergibt sich ein für eine philosophische Didaktik der Religion wichtiges Kriterium zur Unterscheidung zwischen Wirklichkeit erschließendem Glauben und Wirklichkeit verkennenden, zum Fundamentalismus mit all seinen Gefahren hin tendierendem Aberglauben. In einer polemisch vielleicht zugespitzten Form (da mit der Kritik zugleich die Psychologie entlarvend, die zu solchem Aberglauben führt), sachlich gleichwohl völlig richtig, hat darauf wiederholt Eugen Drewermann hingewiesen, etwa in seinen Einlassungen zu Themen wie „Jungfrauengeburt“ oder „Auferstehung“. Vgl. nur Drewermann 1984 und 1989. Dass Drewermann jedenfalls damit Glauben keineswegs zerstört, was ihm in der Kritik wiederholt vorgeworfen worden ist, sondern vielmehr Wege zu seiner Entfaltung öffnet, dafür bieten seine Predigten eindrucksvolle Belege (Drewermann 1990ff). 176 2-2 Religiöse Sprache verstehen Intensionen von Extensionen.“20 Mit dieser Formulierung wird unmittelbar deutlich: Religiöse Sprache „weiß“ sehr wohl, dass sie über eigentümlich religiöse „Gegenstände“ wie Gott oder Auferstehung nicht extensional sprechen kann. Und doch hat sie letztlich keinen anderen Zweck, als Rede über diese Gegenstände möglich zu machen, aber eben stets so, dass sie darüber spricht, wie diese Gegenstände hier und jetzt für uns zur Erfahrung werden können. Das aber geht nur auf intensionalem Weg. Als einen Weg, etwas im strengen Sinne nicht Aussagbares, apophantisch nicht Festzumachendes21, gleichwohl sprachlich erfassen, besser „markieren“ zu können, hat die religiöse Tradition des Monotheismus sich die Form der privativen Negation zu eigen gemacht22: Die biblischen Offenbarungsgeschichten etwa beschreiben eine Realität, die die Realität, wie sie sich zeigt, zugleich bestreitet: Zugleich wird das, was sie als eigentlichen (extensionalen) Gegenstand haben, also Gott, „benannt“, und zwar im Bestreiten seiner möglichen Benennung; gerade darin gewinnt dieser Gegenstand die ihm eigentümliche Wirklichkeit, eine (intensional) für uns bedeutsame Wirklichkeit, die aber die Dimension unsrer alltäglichen Wirklichkeit sprengt. Hier liegt eine besonders schwierige, aber entscheidende Ebene zum Verständnis religiöser Sprache. Darum sei es an dem vielleicht klarsten Beispiel für das Problem religiöser Sprache erläutert: Die drei abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum, Islam, kennen zur Bezeichnung des von ihnen verehrten höchsten Guts gleichermaßen die neutrale Bezeichnung „Gott“ (hebr. „El“, arab. „Allah“). Dieses Wort eignet sich jedoch kaum zur Benennung, ja Ansprache des auch persönlichen Dialogpartners, der nicht bloß ein Gegenstand religiöser Äußerung ist. Damit stellt sich das Problem noch dichter, wie etwas sich bezeichnen lässt, dem gegenständliche Qualität nicht zukommt, aber auch nicht zukommen kann, das aber gleichzeitig Partner einer Erfahrung, ja existentiell bedeutsamen und uns darin sogar ansprechenden Erfahrung ist. Das Judentum überliefert dazu den unaussprechlichen Gottesnamen JHWH (hwhy). Zwar lässt sich aus der entsprechenden Offenbarungsgeschichte Ex 3 leicht der (intensionale) Sinngehalt dieses Gottes erschließen: Er ist der, der herausruft (v.4), der als verlässlicher Bezug bereits bekannt ist (v.6), der mit uns bis zur Identifikation (v.8) mitleidend ist (v.7.9), der in Befreiung konkret Hilfe bietet23 (v.8), der zu Konsequenzen in der Lebensführung provoziert (v.10) und der 20 Nordhofen (1994), S. 280. 21 Gemeint ist im Sinne der Aussagenlogik, paradoxerweise etwas über etwas sagen zu wollen, was sich als Gegenstand einer Aussage, nämlich als etwas, was gegenständlich sich zeigen kann, nicht fassen lässt, worüber sich apophantisch, im Modus von Aussagen, nichts sagen lassen kann. 22 Vgl. Nordhofen (1994), S.278f., sowie Nordhofen (1999), S.828ff. 23 Der Ursprung christlichen Glaubens, Jesus Christus, ist im Grunde nichts mehr als eine personale Ausdeutung dieser Grundbedeutung: „Jesus“ meint bekanntlich soviel wie „ER, JHWH hilft“ und 2-2 Religiöse Sprache verstehen 177 dialogischer Ansprechpartner zur Auseinandersetzung ist (v.11 ff). Auf diese Sinngehalte lässt er sich jedoch (extensional) nicht wiederum namentlich festlegen, so dass ihm als dem Lebendigen oder Lebenskraft spendenden eine bestimmte Funktion zukäme. Vielmehr entzieht er sich aller Möglichkeit, ihn nur als personalisierte innere Kraft oder Lebensantrieb zu sehen, offenbart sich vielmehr durch das etymologische Spiel mit dem lebensdynamisch zu verstehenden Verb sein (hjh) als je vorgängiger Ursprung all dieser Sinngebungen. Der aus diesem verb hyh gebildete Name hwhy entzieht sich daher zugleich der möglichen Benennung: Das Wort bleibt unaussprechbar. Tauchen in einem Text diese Buchstaben auf, werden sie sofort als Chiffre identifiziert, was nur anders sich sagen lässt, was sich diesem Sagen jedoch durch die anderen, dem nicht entsprechenden Zeichen entzieht: Im Anruf sagt und liest der Jude hier adonai (Herr), in der Rede über ihn haschem (der Name).24 Eine weitere Möglichkeit der Sprachgestaltung, die sich religiöse Sprache zu eigen macht, ist die der Verdichtung25. Ziel dieses sprachlichen Mittels ist es, das Beschreiben einer religiösen Erfahrung von einer gleichsam historischen Wiedergabe zu lösen und zu verbinden und zu reduzieren auf ihren über diese konkrete Erfahrung hinausgehenden applikativen Gehalt. In der Relektüre eines solchen Textes kann ich mithin nie die Information über eine ihm zugrundeliegende Erfahrung oder eine theologische Überlegung trennen von der damit an den möglichen Leser zugleich ergehenden Heils-Botschaft, die ihrerseits nur in Sprache zu gießen versucht, was als Zuspruch ihr selbst je vorausgegangen ist, was daher nicht durch den Versuch schlichter Abbildung oder Wiedergabe erfolgen kann, sondern nur auf dem Weg „Christus“ ist die Übersetzung von „Messias“, wörtlich der Gesalbte Gottes, gemeint ist derjenige, der Gottes Heil offenbar macht. Die soteriologische Grunddimension von JHWH wird insofern nur entfaltet. Freilich kann dieser Name ausgesprochen werden und wird zur geradezu dreifach tautologischen Glaubensformel, wenn Markus sein Buch mit den Worten beginnt: Evangelium Jesu Christi, also „Heilszusage des Heil bringenden JHWH, der die Offenbarung des Heils ist.“ – Mit der Möglichkeit des Aussprechens wird theologisch zugleich realisiert, dass, so das christliche Grunddogma, Gott wirklich sich geoffenbart hat. 24 Vielleicht nicht mehr allgemein bekannt ist es, dass das Wort „Jehova“ sich aus der fehlerhaft wörtlichen Lesung des mit den Vokalzeichen für „adonai“ punktierten Zeichens hwhy (jhwh) ergeben hat, ohne Kenntnis darüber, dass diese Punktierung erst im Mittelalter als Lesehilfe des ursprünglich rein konsonantischen hebräischen Textes erfunden wurde. 25 Eigentümlicherweise findet diese Struktur in der Literatur kaum Erwähnung. In einer sich freilich auf den tiefenpsychischen Gehalt archetypischer Symbole konzentrierenden Weise hat Eugen Drewermann dieses Mittel als „Zeitraffelregel“ in den zumeist mythischen Texten selbst sowie als „Zeitzerdehnungsregel“ für ihre angemessene, Interpretation beschrieben: Tiefenpsychologie und Exegese, Bd.1, Olten: Walter 1984, S.226f.; später (S.447) fasst er dies als „Verdichtungsregel“ zusammen. Vgl. auch die Bemerkungen zu den johanneischen Auferstehungstexten: „Man kann die nachfolgenden Texte des Johannes-Evangeliums nur wirklich verstehen, wenn man sie liest als Verdichtung menschlicher Erfahrungen und als Antwort auf alles, was seit alters her den Glauben und das Vertrauen der Menschen in die Macht der Liebe, den Tod zu besiegen, infrage stellen konnte…“ (Drewermann 1989, S.154). 178 2-2 Religiöse Sprache verstehen einer diese Erfahrung in Bilder verdichtenden Beschreibung. Im Bedenken dieser Struktur können religiöse Texte, selbst wenn sie scheinbar historiografischen Charakter haben, nie als bloß chronistischer Bericht gelesen werden, sondern stets als sinnerhellende Zusammenbindung von Ereignissen oder Erfahrungen auf ihren zu vermittelnden Sinngehalt. Im oben erläuterten Sinn kann sich insofern keine Verständigung mit der intellectio begnügen. Umgekehrt ist der Sinngehalt ebenso sehr von sich her ausgerichtet auf die Botschaft, die der jeweilige Leser als applicatio für sich aus dem Text herausliest. Nach Martin Buber ist daher jeder religiöse Text immer auch Botschaft, weil durch die Konfrontation mit Existenzerschließung, die in den Texten selbst verdichtet zur Darstellung kommt, sich Dimensionen der je eigenen Erschließung von Existenz ergeben.26 Am deutlichsten wird dies bei den vielen direkt als Existenzerschließung komponierten Texten der Bibel, etwa Berufungs- oder Heilungsgeschichten, wenn man sich auf den Versuch einlässt, die unausgesprochenen biografischen Hintergründe, die inneren Gefühle der beteiligten Personen und vor allem die offenkundig ausgelassenen zeitlichen Zwischenspiele, Einwände, Wendungen, Diskussionen usw. in eine solche Geschichte „hineinzutragen“, um von daher das faktisch in Worte Gefasste eben als Zusammendrängung, Verdichtung eines oder mehrerer Geschehnisse zu einem Ereignis zu verstehen, wie auch anders herum die Botschaft solcher Texte applikativ aufzulösen in die je mögliche konkrete Lebensgestaltung der Leser und Hörer.27 5 Religiöse Sprache als Sprachtranszendierung Manchen religiösen Texten eignet noch intensiver der Charakter eines „dichten“ Worts, wie es sich sonst allenfalls in der Lyrik findet. Auch für ihre Auslegung gilt die (nur auf den ersten Blick kryptische) Anweisung Heideggers an die Philosophie, in ein „Entsprechen“ zu gelangen, indem man auf den Zuspruch des Seins des Seienden hört, das in der Überlieferung zu uns spricht.28 Religiös gewendet macht 26 Vgl. Buber (1954). Zur genaueren Erschließung dieses Gedankens verweise ich auf die entsprechenden Passagen im Kapitel 4-3. 27 Hinweise zu einer solchen, Verdichtungen entschlüsselnden und neu verlebendigenden „Relektüre“ von biblischen Geschichten existentieller Erfahrungen entwickle ich in den Kapiteln 4-2 und 4-3 auch unterrichtsbezogen. 28 Damit dieser Gedanke nicht ein kryptischer Einschub bleibt, sei er zumindest per Anmerkung in Kürze erläutert: In seinen späteren philosophischen Gedanken nach der sog. „Kehre“ tendiert Heidegger in der Tat dazu, sich von der Philosophie als vernünftigem Ergründen des Seins des Seienden abzuwenden, und sich demgegenüber ausdrücklich zu orientieren an dem „kaum bedachten Wort des Aristoteles, dass das Dichten wahrer sei als das Erkunden von Seiendem“ (Heidegger 1949, S.53). Diese höchst eigentümliche Wendung von Philosophie zur Dichtung hat ihren Grund einerseits in einer Kritik rationalistischer Philosophie (vgl. Heidegger 1956, S.5), 2-2 Religiöse Sprache verstehen 179 eine dermaßen „entsprechende“ Auslegung Ernst damit, dass in religiösen Texten immer auch die Erfahrung göttlichen Zuspruchs Gestalt gewinnt. Das ist nicht esoterisch zu verstehen. Doch zerbricht hier der Versuch letztgültiger Auslegung, die hinter dem Anspruchscharakter eines Wortes stets zurückbleibt. Diese für philosophische Ansprüche unangenehme Konsequenz ist zu bedenken, wenn es um den Versuch reflexiver Entschlüsselung z.B. zen-buddhistischer Koans geht, den ein Zen-Meister von vorneherein als unangemessen zurückweisen würde. Auch der ästhetische Charakter religiöser Schriften entzieht sich zuweilen bewusst einer verständigen Auslegung; das ist wiederum ein wichtiger Faktor, den es in der deutenden Lektüre des Koran zu berücksichtigen gilt.29 andererseits in einem zumindest kryptotheologisch zu deutenden veränderten Verständnis von „Denken“ und „Sprechen“. Von ihrem Ursprung her, so meint Heidegger, sei Philosophie ohnehin lediglich ein Sprechen im Einklang mit dem Logos des Sophon (1956, S.13), das von diesem Sophon, dem Sein, in dem alles Seiende zusammenkommt, nahezu pathologisch in Erstaunen gesetzt werde (1956, 24ff). Sein Sprechen hat philosophierendes Denken dann nicht als Erkunden des Seins aufzufassen, sondern als ein auf diese Disposition antwortendes Ent-Sprechen (1956, S.21). Und wenn es dies „zur Sprache bringt“, bleibt es, so die entscheidende Wendung im sog. „Humanismusbrief“, von diesem Sein „in den Anspruch genommen.“ Und explizit theologisch fährt Heidegger dann fort: „Das Denken ist auf das Sein als das Ankommende (l’avenant) bezogen. Das Denken ist als Denken in die Ankunft des Seins, in das Sein als die Ankunft gebunden.“ (1949, S.53). Zweifelsfrei verdankt sich ein solcher Gedanke einer Reflexion auf das, was Theologie ist bzw. sein muss: Eine (menschliche) Rede von und über Gott, die aber gebunden ist und bleibt an den Zuspruch, den sie selbst durch Gottes Wort erfahren hat, welches sie in eben jener von Heidegger als „Ent-Sprechung“ gekennzeichneten Weise zur Sprache zu bringen hat (Vgl. dazu oben in Kapitel 1-3 meine entsprechende Erläuterung der Wissenschaft der Theologie.) Biblisch wäre dieser Zusammenhang genauer zu erhellen an einer entsprechenden philosophischen Auslegung des Johannesprologs, der nichts anderes als eben dies zur Sprache bringt und daran zugleich den Sinn des Christusereignisses erläutert. Dass Heidegger hier einen (zumindest im weiten Sinne) theologischen Gedanken denkt, verdeutlicht auch die Einbindung dieses eher epistemologischen und ontologischen Gedankens in einen anthropologischen, den er, freilich gedehnt interpretierend, bei Heraklit findet: „Der Mensch wohnt, insofern er Mensch ist, in der Nähe des Gottes“ (1949, S. 45). Nur von dieser theologischen Anthropologie versteht sich dann seine sog. „Destruktion“ traditioneller Philosophie, die damit an letztlich Religiösem die Grenze ihrer eigenen Vernunft und Sprache erfährt, was für unseren Zusammenhang daher den am besten geeigneten Kommentar liefert: „Destruktion heißt: unser Ohr öffnen, freimachen für das, was sich uns in der Überlieferung als Sein des Seienden zuspricht. Indem wir auf diesen Zuspruch hören, gelangen wir in die Entsprechung.“ (1956, S.22). 29 Vgl. dazu Kermani (1999) und die entsprechenden Hinweise in meinem Kapitel 4-2. 180 6 2-2 Religiöse Sprache verstehen Differenzierung religiöser Sprachebenen Konkretere Entfaltung wird die bislang erläuterte Struktur religiöser Sprache finden müssen in einer Sprachlehre konkreter religiöser Symbole.30 Insbesondere die Sprachformen der Metapher, des Symbols, des Gleichnisses, des Wunders, der Legende, des Mythos, aber auch des Glaubensbekenntnisses, des Dogmas usf. müssen zuerst als Sprachformen erkannt werden, um überhaupt „verstanden“ werden zu können. So ist etwa die beliebte Umfrage „Glauben Sie an die Jungfrau Maria?“ zumindest unklar, wahrscheinlich eher unsinnig31, weil weder der Sinn von „glauben“ noch von „Jungfrau Maria“ mit der Frage verständlich gemacht ist oder sogar ein „falscher“ Sinn unterstellt wird.32 - Auf religionspädagogischem Gebiet hat sich für eine die urtümliche religiöse Sprache erschließende Didaktik in den letzten Jahrzehnten vor allem Hubertus Halbfas stark gemacht.33 Eine Religionsdidaktik aus Sicht der Philosophie sollte auf solche Grundlagen zurückgreifen.34 30 Auch die Ausführungen zu diesem Punkt müssen sich nachfolgend auf einige wenige zentrale Hinweise beschränken. 31 Diese Redeweise mag gewisse religiöse Kreise schockieren. Doch muss aus philosophischer Sicht klar gesagt werden: Wer in fundamentalistischer oder ultraorthodoxer Meinung Symbolsprachliches für Tatsachenbeschreibungen (im aussagenlogischen Sinne) hält, hat den religiösen Sinn solcher Ausdrücke nicht verstanden und macht sich, so diese Meinung anderen offeriert wird, der Verbreitung von Aberglauben schuldig. In die Gefahr eines solchen Missverständnisses gerieten und geraten leider auch immer wieder bestimmte kirchliche Äußerungen, leider auch zu grundlegenden Glaubensaussagen. (Vgl. dazu etwa Fuchs 1990 und Petermann 1991). 32 Auch hier liegen die didaktischen Konsequenzen auf der Hand: In Seminaren und Unterrichtsbesuchen ist immer wieder zu erleben, wie leichtfertig auch Studierende der Theologie, denen ein verantwortbarer Unterricht in Religion ja ein Anliegen sein müsste (und im Selbstverständnis gewiss auch ist), mit sprachlich nicht unmittelbar zu fassenden Ausdrücken „hantieren“. Natürlich ist es außerordentlich schwer, für Erzählstoffe wie „Erschaffung der Welt“ oder „Auferstehung Christi“ die rechte Sprache zu finden, nicht selten fehlt aber zudem grundsätzlich die Fähigkeit, sich mit der Eigenart dieser Sprache auseinander zu setzen, so dass die Verwechslung mit historischen oder naturwissenschaftlichen Ereignissen in Kauf genommen und so Aberglaube erzeugt wird. Hier hat bereits die Lehrerausbildung, in den Fächern Theologie wie auch Philosophie/Ethik eine unverzichtbare Aufgabe. 33 Zu nennen sind die strikte an einer religiösen Sprachlehre orientierten und fortlaufend aufbauenden Unterrichtswerke für die Grundschule und die Sekundarstufe I („Religionsbuch“) Düsseldorf: Patmos 1983 bis 1991 mit den entsprechenden Kommentarbänden („Religionsunterricht in der Grundschule“, Bd.1 ff, bzw. „…in Sekundarschulen“, Bd. 5ff, Düsseldorf: Patmos 1983 bis 1997) sowie in Halbfas: Das dritte Auge. Düsseldorf 1987. - Vgl. dazu meine jetzt als Kapitel 5-1 in den Kontext dieser Arbeit aufgenommene Auseinandersetzung Petermann 1992. 34 Sie nähren sich im übrigen auch bei Halbfas aus eher philosophischen Überlegungen. Pate für die religionspädagogische Symboldidaktik haben vor allem Ernst Cassirer und Paul Ricoeur gestanden. 2-2 Religiöse Sprache verstehen 181 Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass religiöse Sprachformen ebenso ihrer Eigenwert und ihre eigene Wahrheit enthalten wie es etwa bei künstlerischen, aber auch fachspezifischen Sprachformen i.d.R. ohne Probleme anerkannt wird. Freilich hat die Auseinandersetzung mit religiösen Sprachformen unter der historisch verschuldeten Konfrontation mit der Sprache der neuzeitlichen Naturwissenschaft zu leiden. Die berühmte Äußerung Galileis, die Sprache der Natur sei in sich klar und habe sich nie der Meinung der Menschen angepasst, hingegen sei die Sprache der Bibel stets interpretationsbedürftig und insofern sekundär, diese Meinung meinte er zwar vertreten zu müssen lediglich zur Verteidigung seiner in sich stimmigen Sicht von Welt. Freilich hat sich ihre Verallgemeinerung bis heute zu der falschen Ansicht manifestiert, die naturwissenschaftlich-technische Wissenschaftssprache sei eineindeutig und klar, literarische, künstlerische oder gar religiöse Sprachformen hingegen bedeuteten stets etwas anderes als sie sagten.35 Denn ein Symbol oder eine Metapher ist nie „nur“ ein Symbol oder eine Metapher für etwas, was man auch anders sagen könne, sondern steht eben an solchen Stellen, in denen sich das zu Sagende nicht anders sagen lässt als in der Figur eines Symbols oder einer Metapher. Im einzelnen: Unabhängig vom Umgang mit Metaphern in der Alltagssprache zum Zwecke ihrer spielerisch-vergnüglichen Ausgestaltung hat die Metapher ihren ernsthaften Ort genau dort, wo es um die (vorhin im Punkt „Hermeneutik“ skizzierte) Übertragungsleistung von einer in eine andere Ebene geht, die zugleich das Problem und die Begrenztheit völliger Übertragung zur Sprache bringt.36 Ein gut geeignetes Beispiel zur Erklärung sind sog. Anthropomorphismen. Absurd wäre es, sie dahingehend auflösen zu wollen, dass man das „eigentlich“ in ihnen Gemeinte versuchen würde in Sprache zu fassen, da sie sich erst einstellen, wenn eben dies nicht möglich ist. Andererseits ist metaphorischer Sprachgebrauch auch davon überzeugt, dass die Sprache angesichts der Einsicht in diese ihre Grenze (also der epistemologischen Unmöglichkeit, etwa über das Ansichsein der Dinge, vor allem aber über das die Grenzen unserer Welt Übersteigende etwas aus-sagen zu wollen) nicht verstummen muss, sondern zum metaphorischen Bild greifen kann, das alle Religionen vor allem anwenden, wenn es um Beschreibungen oder sprachlich zu fassende Attribute ihres Gottes (etwa die Rede vom Arm Gottes oder auch der Güte Gottes) geht: Stets sind dies nichts anderes als anthropomorphe Ausdrücke, verlieren aber aufgrund ihres metaphorischen Sinns (nicht Bedeutung!, s.o.) nichts von ihrer Wahrheit, damit Göttliches im Bewusstsein zu bezeichnen, dass dies apophantisch nicht möglich ist. 35 Zum wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund dieser Meinung vgl. Kapitel 1-1. 36 Die Einbindung der religiösen Metapher in das Philosophische würde hier den Raum sprengen; daher sei nur verwiesen auf die ausführlichen Studien etwa von Hans Blumenberg zu einer philosophischen Metaphorologie; bes. etwa: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt: Suhrkamp. 182 2-2 Religiöse Sprache verstehen Das Symbol 37 hat eine andere Aufgabe: Hier wird ganz wörtlich „verdichtet“ (s.o.), natürlich nicht nur sprachlich, was ebenfalls über eine apophantische Beschreibung sich nicht einholen lässt, wenn nämlich über ein Wort oder eine Geste oder eine Handlung ein existentieller Zuspruch erfolgt, der an eben diesen bloßen Augenblick des Erlebens gekoppelt ist, sich mithin durch sprachliche Nachgestaltung nie wird einholen lassen. Im Unterschied zum Zeichen, das bloß auf anderes verweist und insofern auch dechiffriert werden kann, ist das Symbol ein Zeichen, das auf eine wesentlich nicht sagbare intensionale Struktur (s.o.) nicht nur verweist, sondern diese selbst mit zum Ausdruck bringt, im Raum des Religiösen eng verbunden mit einer im Augenblick der Erfahrung selbst geschehenen existentiellen Verdichtung, die die/den Betroffene(n) in diesem Augenblick in einer (metaphorisch gesprochen) eher vertikale Zeiterfahrung sich vollzieht. In diesem Zusammenhang muss ein in religionspädagogischen Entwürfen bis hin zur Unterrichtspraxis zuweilen inflationärer Umgang mit dem Symbolischen zurückgewiesen werden. Natürlich kennen alle Religionen heilige Zeichen, heilige Dinge, heilige Vollzüge. Ihnen kommt aber aufgrund ihres Verwendungszusammenhangs nicht automatisch symbolischer Charakter zu, selbst, selbst wenn er Alltagsvollzüge sprengende Qualität aufweist. Ansonsten wäre jedes Stück Literatur und jedes Kunstwerk von vorneherein symbolisch. Demgegenüber plädiere ich dafür, den Begriff des Symbolischen in einem emphatischen Sinne für solche Begriffe, Dinge, Vollzüge zu reservieren, die a) Erfahrungen verdichten (und nicht bloß abbilden), b) in dieser Verdichtung zugleich auf eine in den Erfahrungen zur Erfahrung gekommene Tiefenstruktur verweisen (intensionaler Charakter), vor allem aber c) in der Form ihres Ausdrucks (also in diesem symbolischen Begriff, Ding, Vollzug) etwas ausdrücken, was sich anders nicht ausdrücken ließe (chiffrenhaft privativer Charakter).38 Die Struktur des Symbolischen kennzeichnet über das Sprachliche hinaus auch viele nichtsprachliche Erscheinungsweisen des Religiösen. Die Notwendigkeit symbolischer Deutung ist insofern für jede Begegnung mit Religiösem Voraussetzung. Ereignisse oder Handlungen wie etwa Taufe, Wallfahrt, 37 Religionspädagogisch grundlegend für diesen Zusammenhang sind diverse Einlassungen von Hubertus Halbfas zur Symboldidaktik, so vor allem in: Das dritte Auge (1987), S.84-129; Rel’U i.d. Grundsch. Lehrerhdb.1 (1983), S.253-332; Rel’U i.d. Grundsch. Lehrerhdb.3 (1985), S.511ff; Rel’U. in Sek’Sch. Lehrerhdb. 6 (1993, S.69-178. 38 Dieser emphatische Gebrauch von „Symbol“ nährt sich aus den philosophisch-theologischen Überlegungen der pseudodionysischen Tradition einerseits (insbesondere bei Hugo und Richard von St.Victor) sowie den Spekulationen des Nicolaus Cusanus, die beide darauf abzielen, dass im Symbol etwas repräsentiert wird, das anders als in dieser Form unserer sinnlichen Erfahrung nicht zugänglich wäre. (Vgl. dazu Meier-Oeser 1998; auch Ricoeur (1969, S.505ff) scheint mit einem solch emphatischen Sinn von „Symbol“ zu arbeiten.) 2-2 Religiöse Sprache verstehen 183 gemeinsames Mahl, Hochzeit, Beerdigung (selbstverständlich nicht nur im christlichen Kontext, sondern etwa auch die Ganges-Waschungen im Hinduismus, die Reinigungen vor dem Gebet im Islam usw.) machen auch für den Beobachter, nicht nur die Gläubigen, nur als sakramentale Hervorhebungen oder Verdichtungen von Lebenswegen einen Sinn, dem bloß äußeren phänomenal-diagnostischen Blick bleiben sie verschlossen. Elementare religiöse Symbole in diesem Sinne sind auch religiöse Heilungen oder Ereignisse wie Auferstehung bzw. Reinkarnation. Der innerreligiöse Einwand, mit dieser Deutung würden zentrale religiöse Elemente nicht ernstgenommen, da ja hier etwa „Auferstehung“ „nur“ symbolisch und eben nicht real gedeutet würde, versteht nicht, was er sagt: Extensional-apophantisch macht eben „Auferstehung“ keinen Sinn; die innerreligiös mit Auferstehung völlig zu Recht als fundamental behauptete neue Wirklichkeit erschließt sich nur intensional-symbolisch, eben weil eine andere als die von uns erfahrbare Wirklichkeit darin sich zeigt und nach religiöser Vorstellung sich als die eigentlich lebenserschließende. Nichts anderes wird im übrigen in den entsprechenden biblischen Texten gesagt. Aber zuweilen auch ausdrücklich weisen religiöse Texte auf solche Symbole hin, wenn etwa besonders in den von Markus aufgezeichneten Heilungshandlungen von einem „sofort“ die Rede ist. Diese Komplexität wird häufig auch nicht bedacht bei einer Frage wie: „Glauben Sie an die Auferstehung?“, was schon als Frage ohne weiteres gar nicht verstanden werden kann. Dass der Mythos eine nicht nur religiös, sondern auch philosophisch gebräuchliche Sprachform ist, hat bereits Platon durch Protagoras thematisiert: Leichter zu hören und daher verständlicher scheint es, eine Geschichte mit vielen Ausschmückungen und Bildern zu erzählen, und nicht in diskursiv-logischer Form darzustellen und zu erörtern, um einen Sinngehalt dem Hörer oder Leser im Hinblick auf eigene Sinngebung nahezubringen. Setzt der Logos bewusst auf reflexive Distanz zu dem durch ihn dargestellten Gegenstand und will auch den Leser zu der reflexiven Auseinandersetzung mit diesem Gegenstand bringen, so zielt der Mythos auf eine Einbindung seines Hörers mit dessen existentieller Sinnfrage in die je schon gestellte Sinnfrage, in der sich wiederfindend der Hörer sich nun auf den Weg machen kann zur konkreten sinnvollen Lebensgestaltung, von der ihre logisch-diskursive Erörterung jedoch nur eine Möglichkeit ist. Als sprachliches Mittel greift der Mythos zu Bildern und nicht zu Begriffen, nicht zuletzt weil Bilder den Blick weiten und defokussieren und nicht wie der Begriff konzentrieren und fokussieren. Mythisch wird daher vor allem in Sprache gesetzt, was nach dem je vorgängigen Woher und nach dem uneinholbaren Wohin fragt. Ursprungsmythen (wie biblisch die Texte Gen 1-11) oder Endzeit- bzw. Ewigkeitsmythen (wie biblisch etwa die apokalyptische Literatur) sind 184 2-2 Religiöse Sprache verstehen entsprechend die häufigsten Beispiele der Verwendung des Mythos im religiösen Raum. Eher aus Gründen einer langen Geschichte von auch pädagogisch unheilvoll wirksamen Missverständnissen sei darauf hingewiesen, dass solche Mythen natürlich nicht historisch oder als Tatsachenberichte gelesen werden dürfen und auch wollen. Im christlichen Raum hat sich jedoch bis heute der angesichts dieser Feststellung falsche Terminus „Schöpfungsberichte“ für die Texte am Anfang der Bibel gehalten. Natürlich versteht auch hier nichts von den nicht nur theologisch, sondern auch philosophisch bedeutsamen kosmologischen und anthropologischen Überlegungen dieser Texte, wer meint, sie fundamentalistisch lesen zu können. Leichter ist der Umgang mit der Legende. Neben der berühmten Sammlung von Heiligenlegenden in den Legenda aurea39 sind das bekannteste Einzelbeispiel im mitteleuropäischen Raum die sog. fioretti über Francesco D’Assisi40; aber bereits die Bibel kennt Legenden, am bekanntesten ist die sog. Josefslegende Gen 37ff. Und auch in anderen Religionen ist Legendarisches mannigfaltig überliefert, etwa zur Jugend Siddhartas im Buddhismus, oder die breite Literatur zur Person des Mohammad. An der Nennung dieser Beispiele wird deutlich: Im Unterschied zum Mythos, der sich eher allgemein auf Ursprüngliches und Ewiges bezieht, versucht die Legende, diese veränderte Sinndimension in die Gestaltung persönlich gelebter konkreter Gegenwart einzuziehen und zur Sprache zu bringen, etwa unter der Perspektive: Wie wäre es, wenn wir im vollen Erleben und Fühlen unseres Woher und Wohin Gegenwart auskosten würden? Erlebnisse, die eher innerlich und durch ein einmaliges Erleben die Erfahrung von Lebenssinn für einen einzelnen Menschen auf eine andere, tiefere Ebene haben stellen können, werden zu einer Lebensgeschichte unter der Perspektive nicht mehr konkret zu durchlebenden, sondern erfüllten Sinns ausgesponnen, um das tägliche Leben eben wie mit Blumen, fioretti, auszuschmücken und zu verschönern und so für die Hörer zumindest in Ansätzen unter dieser veränderten Perspektive lebbar zu machen. Jedem Hörer von Legenden ist klar, dass die Frage, ob das wirklich passiert sei, unsinnig ist. Entscheidender ist die Erfahrung von Gelingen und Schönheit von Leben, das mir als Hörer die Möglichkeit gibt, selbst im Detail in diesem Sinne anders durchs Leben zu gehen. Schließlich ein kurzes Wort zu Dogmen: Nicht alle Religionen kennen sie, im christlichen Raum aber haben sie bis in den Raum des Öffentlich-Rechtlichen hinein Wirkung gezeigt. Sollte in späterer Zeit mit ihnen Sagbares von Nichtsagbarem als 39 Die Leganda aurea des Jacobus de Voragine (1263-73). Aus d.Lat.übers.v.R.Benz, Heidelberg : L.Schneider 10.1984. 40 Entstanden sind die fioretti im 14. Jh., etwa 100 Jahre nach dem Tod des Francesco 1226; dt. Ausgabe etwa in: Franz von Assisi: Die Werke. Zürich: Diogenes 1979. 2-2 Religiöse Sprache verstehen 185 Rahmen für Lebensordnungen unterschieden und festgelegt werden, so ist ihr Sinn ursprünglich als Versuch zu verstehen, eine generalisierbare Formel zu finden, die immer und überall alle, die sie aussprechen wie ein Erkennungszeichen verbindet, als „symbolon“, gedrängte Zusammenfassung ihres gemeinsamen Glaubens. Daraufhin auch inkriminierte neuere Dogmen zu überprüfen, kann ihnen durchaus zuweilen etwas Erhellendes abgewinnen. III Gesprächsführung Kapitel 3 Theologisieren mit Kindern? Bemerkungen aus philosophischer Perspektive1 „…der Mann (war) jetzt traurig. Er sollte zu Gott beten und ihn fragen, warum er das gemacht hat. Dann würde Gott es ihm bestimmt sagen. Und er würde Gottes Sage annehmen. Er sollte dann das tun, was er sagt.“2 Keine Frage, in diesem Votum eines 10-jährigen Mädchens vollzieht sich theologisches Denken, - in unmittelbarer Betroffenheit geäußert und nicht bewusst einen Gedankenprozess konstruierend, aber doch in aller Ernsthaftigkeit und in einem zumindest für uns klar strukturierten Gang der Gedanken: • Auf eine Erfahrung (1) folgt • als erste Ebene der Auseinandersetzung (2), diese Erfahrung vor Gott zu tragen, sagen wir zunächst vor eine unsere Erfahrungen übersteigende Instanz, die für diese Erfahrung die Verantwortung zu tragen scheint, weil eine unmittelbar greifbare Verantwortung nicht auszumachen ist. • In dieser Auseinandersetzung scheint drittens die Begegnung mit Gott dialogische Züge (3) anzunehmen; von Frage und Sage ist die Rede: In der Frage 1 2 Das vorliegende Kapitel ist bis auf wenige durchgesehene Anmerkungen identisch mit meinem Beitrag: Wie können Kinder Theologen sein? Bemerkungen aus philosophischer Perspektive, in dem Band: Gerhard Büttner & Hartmut Rupp (Hg.): Theologisieren mit Kindern. Stuttgart: Kohlhammer 2002, S. 95-127. - Das Buch wie auch mein Beitrag gehen zurück auf ein Symposion zum Thema „Theologisieren mit Kindern“ am 1. Oktober 1998 in Heidelberg. Als Besonderheit dieses Unternehmens darf sicher herausgestellt werden, dass nicht einfach Theorien zum Philosophieren und Theologisieren mit Kindern vorgetragen wurden. Die Diskussionen nehmen vielmehr ihren Ausgang in konkreten Unterrichtsbeispielen, die zunächst weitgehend in dem genannten Band mit abgedruckt sind. Aus ihnen werden Möglichkeiten eines Theologisierens mit Kindern entwickelt. Und erst zuletzt werden an ihnen auch Theorien zum Theologisieren mit Kindern überprüft. In meinem gegenüber dem ursprünglichen Symposions-Vortrag erheblich erweiterten schriftlichen Beitrag hatte ich Gelegenheit, die mir vorliegenden Unterrichtsprotokolle genauer zu studieren und zu kommentieren. - Damit meine Kommentare an den Protokollen selbst nachvollzogen werden können, war es sinnvoll, sie in das vorliegende Kapitel einzubinden, woraus sich die Überlänge erklärt. Ich danke den Herausgebern für die Zustimmung, die beiden Unterrichtsprotokolle zur Theodizee-Frage (Abschnitt 4.1) und zum Problem des freien Willens (Abschnitt 4.3) abzudrucken; die Aussagen zum Michaels-Mythos konnten aus technischen Gründen nur in die Anmerkungen aufgenommen werden. Büttner/Rupp (2002), S. 27 (Protokoll „Theodizee“, Notiz Mädchen 1). 3 Theologisieren mit Kindern? 189 erfahre ich einen Widerpart, dem ich meine Frage stellen kann, und mit dieser weiteren Erfahrung widerfährt mir ein Sagen, als Antwort auf mein Fragen, aber auch als Horizont, unter dem Fragen überhaupt nur möglich und sinnvoll ist und sich als Anfragen erweist. • Damit ist mir viertens die Möglichkeit eröffnet, die „Sage“ anzunehmen (4) und so meine ursprüngliche Erfahrung zu integrieren, also als ein Widerfahrnis in Bezug auf mich selbst zu verstehen. • Das heißt noch nicht, diese ursprüngliche Erfahrung auch schon akzeptieren oder gar mit ihr fertig werden zu können; dazu folgt noch die letzte Ebene: Wenn ich nun tue, was mir gesagt wurde, bin ich bereits unterwegs, gehe einen Weg der Auseinandersetzung (5). Diese Rekonstruktion ordnet die Antwort des Mädchens bewusst nicht in ein bestimmtes Theodizee-Schema ein.3 Mich interessiert zunächst vielmehr, a) dass sich hier ein theologisch interessanter und differenzierter Gedankengang herauslesen lässt, b) dass und warum dieser Gedankengang von einem Kind als unmittelbarer Gedanke geäußert wurde, und c) dass bzw. wie und warum Kinder zu solchen Gedanken einerseits motiviert und andererseits mit ihnen ihr Gedanke weitergedacht werden könnte. Mit diesem kurzen Aufriss ist eigentlich schon alles gesagt: Kinder sind Theologen. Nun steht neben dem pädagogischen Sinn dieser Behauptung auch ihr philosophischer Gehalt zur Debatte; zu fragen ist daher auch, was genauer gemeint ist, wenn Kinder theologisieren, also inwiefern, auf welcher Ebene sie theologische Gedanken zu äußern in der Lage sind, bzw. wie denn Kinder Theologen sein können. Einige Blicke in diese Richtung zu werfen, dieser Aufgabe stellt sich das folgende Kapitel, mit dem Ziel, Grundlagen, Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Gesprächsführung im Religionsunterricht bzw. Ethikunterricht zu theologisch interessanten Themen zu erörtern. • Dazu ist es in einem ersten Abschnitt (1) wichtig, sich genauer des Titels „Theologisieren mit Kindern“ zu vergewissern. Das wird geschehen (1.1) durch eine Skizze der Bewegung des Philosophierens mit Kindern, die den Hintergrund für unser Thema bietet, (1.2) durch eine kurze Klarstellung der Pointe der Rede von einer Theologie der Kinder. 3 Vgl. dazu die entsprechenden Bemerkungen von Gerhard Büttner, in: Büttner/Rupp (2002), S. 30f. Büttner macht in dieser Untersuchung das Theologisieren mit Kindern fest an der Einordnung kindlicher Antworten in die von Piaget und Kohlberg entwickelten Stufen kognitiver bzw. moralischer Entwicklung. Damit nimmt er ausdrücklich Bezug auf diverse Untersuchungen von Anton A.Bucher (insbesondere Bucher (1992a)). Auf eine solche Einordnung beziehe ich mich mit meinem Ausdruck „Theodizee-Schema“. 190 3 Theologisieren mit Kindern? • In einem zweiten Abschnitt (2) geht es um eine knappe systematische Orientierung zur Frage, warum und inwiefern Philosophie im kindlichen Denken eine Grundlage hat; damit wird der Horizont abgesteckt, an dem sich auch ein Theologisieren mit Kindern zu messen hat. • Ein dritter Abschnitt (3) entwickelt dann in wenigen Andeutungen Perspektiven zu einer Theologie der Kinder. • Mit den in (2) und (3) zusammengestellten Kriterien werden dann im vierten Abschnitt (4) die Unterrichtsbeispiele kommentiert, um Sinnvolles und Machbares für Formen theologisierender Unterrichtsgespräche festzuhalten, sowie kritisch einige Perspektiven für eine Fortbildung des Theologisierens mit Kindern zu entwerfen, • was in thesenhafter Form den Abschluss (5) dieses Kapitels bildet. 3 Theologisieren mit Kindern? 1 191 Was heißt „Theologisieren mit Kindern“? Bedenkt man die Fragestellung Wie können Kinder Theologen sein?, so ist das Thema damit noch nicht genau genug umrissen. Der hier unterstellte Zusammenhang von Kinderfragen und Theologie lässt mehrere Deutungen zu: Geht es um eine Theologie für Kinder, eine Theologie der Kinder, ein Theologisieren mit Kindern? Dahinter verbergen sich spezifischere Fragestellungen: Sind Kinder eigenständig und kindgemäß in der Lage, theologische Gedanken zu fassen und zu formulieren? Inwiefern hängen sog. elementare Fragen, wie in besonderem Maße Kinder sie zu stellen scheinen, mit Grundfragen der Theologie zusammen? Warum macht es insofern Sinn, nicht von einer Theologie für Kinder, sondern von einer Theologie der Kinder zu sprechen? Sind dann Kinder als Theologen anzusehen, bzw. inwiefern sind sie als Theologen anzusehen? Und wie, auf welchen Ebenen, mit welchen Mitteln kann es gelingen, mit Kindern in einen Gedankenaustausch über theologische Fragen zu kommen, die auch ihre eigenen theologischen Fragen sind? Und hat das schließlich Konsequenzen für das Selbstverständnis von Theologie? 1.1 Philosophieren mit Kindern als Hintergrund der Fragestellung Die Formulierung der eben aufgeworfenen Fragen lässt erkennen, dass sie im Horizont der Bewegung des Philosophierens mit Kindern entwickelt worden sind. Ich will daher kurz über wichtige Richtungen orientieren, um so die Akzentsetzung des Titels „Theologisieren mit Kinder“ zu verdeutlichen. Als neuere Erscheinung geht das Philosophieren mit Kindern zurück auf Initiativen von Matthew Lipman und sein 1970 in den USA gegründetes „Institute for the Advancement of Philosophy for Children“ (IAPC). Lipman konnte dabei auf reformpädagogische Erfahrungen in Deutschland zu Beginn des 20. Jh. zurückgreifen, namentlich auf Hermann Nohl4 und Leonard Nelson5, aber auch auf Überlegungen im Pragmatismus von John Dewey6. Von ihnen übernahm er vor allem die Zielsetzung, das logische Denken, die Verstandestätigkeit der Kinder zu stärken, sowohl was Gegenstände der Erkenntnis angeht als auch Gegenstände des (moralischen) 4 5 6 Nohl, Herman: Die Philosophie in der Schule (1922); in: Nohl: Pädagogik aus dreißig Jahren. Frankfurt/M. 1949. Nelson, Leonard: Die sokratische Methode (1922). Hg. v. G. Raupach-Strey. Kassel 1996. Vgl. etwa Dewey, John: Wie wir denken. Eine Untersuchung über die Beziehung des reflexiven Denkens zum Prozeß der Erziehung. Zürich (Morgarten) 1951 (amerik.: How we Think. Boston 1910); und: Demokratie und Erziehung (amerik.: 1915). Weinheim 1993. 192 3 Theologisieren mit Kindern? Handelns. In seiner Didaktik bleibt Lipman jedoch eher dem traditionellen Muster des Beibringens und Unterweisens verhaftet, so dass sein Ansatz nicht unberechtigt als eine „Philosophie für Kinder“7 eingeordnet wird. Inzwischen hat diese Bewegung Schüler in aller Welt hervorgebracht. International bekannt geworden ist vor allem das österreichische Institut in Graz mit Daniela Camhy8 und die Bewegung in Australien mit Phil Cam9. In der Fortentwicklung des Lipmanschen Ansatzes wurde das Missverständnis einer verkindlichten Form von Philosophie für die Unterweisung lediglich in der Schule relativiert bzw. aufgehoben, zumal Lipmans wegweisende Materialien10 selbst keineswegs einen bloß unterweisenden Charakter haben, sondern sowohl in der Anlage der Texte als auch hinsichtlich der Möglichkeiten ihrer Aufarbeitung deutlich dialogisch-interaktiv ausgerichtet sind. In Deutschland hat seit Beginn der 80er-Jahre vor allem Ekkehard Martens in Hamburg das Philosophieren mit Kindern gefördert. Von vorneherein verstand er dabei Kinder als Subjekte des Philosophierens und legte entsprechend Wert darauf, bei ihnen auch die „Haltung der Neugier und Offenheit“, aber auch die Dialogfähigkeit zu fördern.11 Unter dieser Zielsetzung hat dann Barbara Brüning seit 1984 in Hamburg Philosophie-Gruppen mit Kindern geleitet.12 Mit der Einführung der „Verlässlichen Halbtagsgrundschule“ wurde Philosophieren mit Kindern 1997 sogar (Wahl-)Schulfach in Hamburg.13 Schon zuvor hatte, ausgehend von den Hamburger Überlegungen, das Land Mecklenburg-Vorpommern „Philosophieren mit Kindern“ 7 8 9 10 11 12 13 Bezeichnend dafür ist auch der gleichnamige programmatische Aufsatz Lipmans aus dem Jahr 1970 sowie die unter dem Titel „Thinking. The Journal of Philosophy for Children.“ seit 1979 von Lipman herausgegebene Zeitschrift (Montclair / New Jerses / USA). Camhy, Daniela (Hg): Wenn Kinder philosophieren. Graz 1990; und Camhy (Hg.): Das philosophische Denken von Kindern. St.Augustin 1994. Auf deutsch ist eine Reihe von Titeln erschienen im Verlag an der Ruhr, z.B. Phil Cam: Können Augen sehen? Mülheim (Vlg.a.d.Ruhr) 1997. Lipman, Matthew: Pixie. dt.: Wien 1986 [für die Primarstufe] und: Harry Stottlemeiers Entdeckung [für die S I]. dt.: Wien (Hölder) 1990. Martens, Ekkehard: Sich im Denken orientieren. Philosophische Anfangsschritte mit Kindern. Hannover (Schroedel) 1990, S.6. Das Buch ist in einer revidierten Fassung neu aufgelegt unter dem Titel: Philosophieren mit Kindern. Eine Einführung in die Philosophie. Stuttgart (reclam) 1999. Brüning, Barbara: Mit dem Kompass durch das Labyrinth der Welt. Wie Kinder wichtigen Lebensfragen auf die Spur kommen. Bad Münder (Bücherwarte) 1990. – Jetzt auch: Brüning 2001. Philosophieren in der Verläßlichen Halbtagsgrundschule. Eine Dokumentation von Praxiserfahrungen. Erarbeitet vom Arbeitskreis Kristina Calvert, Evelina Ivanova, Cristine Kipping, Angelika Maier, Ekkehard Martens, Eberhard Ritz (Leitung), Markus Tiedemann. Hamburg 1997. Vgl. dazu auch das Lese-Buch von Markus Tiedemann: Prinzessin Metaphysika. Eine fantastische Reise durch die Philosophie. Hildesheim (Olms) 1999. 3 Theologisieren mit Kindern? 193 als ordentliches Unterrichtsfach ab der Klasse 1 projektiert und inzwischen auch eingeführt.14 Über die Insider hinaus bekannt gemacht hat das Philosophieren mit Kindern dann der Berliner Pädagogikprofessor Hans-Ludwig Freese, vor allem mit seinem programmatischen Buch „Kinder sind Philosophen“15, das den bislang vielleicht besten Überblick und auch eine sehr gute Einführung in die Thematik bietet; weitere Bänden mit Material für die Praxis folgten.16 Freese geht in seinem Verständnis aus vom ganz naiven kindlichen Staunen, hinter dem er jene Fragen vermutet, die auch die metaphysische Tradition der Philosophie bewegt haben. Dieses Staunen nicht entwicklungspsychologisch als Vorstufe zum Denken anzusehen, es vielmehr als eigenständige Denkform ernst zu nehmen und durch Gespräche zu fördern und zu entwickeln, ist ebenso das Anliegen des Amerikaners Gareth B. Matthews, dessen erste Bücher Freese in Deutschland bekannt gemacht hat.17 Matthews beginnt seine Gespräche mit Kindern durch kleine dialogisch und interaktiv angelegte Impulsgeschichten, die überzeugend die Eigentätigkeit kindlichen Denkens und das Gespräch auch unter den Kindern selbst freisetzen. Natürlich kann, auch darauf hat Freese hingewiesen, das Philosophieren mit Kindern auf eine lange Tradition zurückblicken: Nicht erst in der Reformpädagogik zu Beginn des 20. Jh., bereits in der Aufklärungszeit hat es entsprechende Erziehungsprogramme gegeben. Zu nennen sind vor allem die Namen John Locke, Jean-Jacques Rousseau und Karl-Philipp Moritz18. Aber auch schon in der Antike scheint beispielsweise Epikur das Philosophieren mit Kindern ausdrücklich unterstützt zu haben. Unter den besonderen Perspektiven des staunenden, beobachtenden und entdeckenden Lernens im Sachunterrichts hat Helmut Schreier wichtige Materialien für 14 15 16 17 18 Namentlich zu nennen sind in diesem Zusammenhang Barbara Brüning, Michael Fröhlich, Heiner Hastedt und Silke Pfeiffer. Vgl. dazu: Philosophieren in der Grundschule. Rostocker Philos. Manuskripte. NF,Heft 7, Hg. v. H.Hastedt u.a.. Rostock 1999; sowie in der gleichen Reihe das Heft 3: Philosophieren mit Kindern. Rostock 1996. Freese, Hans-Ludwig: Kinder sind Philosophen. Weinheim (Quadriga) 1989 [inzwischen mehrere Nachdrucke]. Freese, Hans-Ludwig (Hg.): Gedankenreisen. Philosophische Texte für Jugendliche und Neugierige. Reinbek (rowohlt) 1990, und Freese: Abenteuer im Kopf. Philosophische Gedankenexperimente. Weinheim (Beltz) 1995. Matthews, Gareth B.: Philosophische Gespräche mit Kindern. Berlin (Freese) 1989 (amerik: 1984), und Matthews: Denkproben. Berlin (Freese) 1991 (amerik: Philosophy and the Young Child 1980). Vgl. dazu jetzt neu als Bilderbuch von Wolf Erlbruch bearbeitet: Moritz, Karl Philipp: Neues ABC-Buch. München (Kunstmann) 2000 (original 1790). 194 3 Theologisieren mit Kindern? das Philosophieren mit Kindern zusammengestellt.19 - Das Staunen über die Dinge der unmittelbaren Erfahrung, nicht zuletzt über die Schulung der sinnlichen Wahrnehmung ist ein wichtiges Element auch für die Eva Zoller, die seit 1987 in der Schweiz eine Dokumentationsstelle für das Philosophieren vor allem mit Vorschulkindern aufgebaut hat.20 - Gleichwohl kann nicht jede Auseinandersetzung mit kindlichem Fragen schon Philosophie genannt werden; viele Publikationen sind eher (durchaus wertvolle) pädagogische Ratgeber oder Problembücher.21- Dass neben philosophischen Texten und Geschichten auch literarische Texte und sogar Bilder Impulse für das Philosophieren bieten, das haben vor allem Jutta Kähler und Susanne Nordhofen wiederholt herausgestellt.22 Zu Möglichkeiten des Philosophierens in und mit Bilderbüchern habe ich selbst diverse Seminare durchgeführt.23 Im Bereich der Kinderliteratur sind in den letzten Jahren in der Tat relativ viele philosophisch interessante, zuweilen auch direkt philosophisch gestaltete Titel auf den Markt gekommen. Für ein Philosophieren mit Kindern sind dabei weniger interessant Bücher, die eher auf Sachbuchebene Philosophie zum Thema machen, so insbesondere der weithin überschätzte Bestseller „Sofies Welt“24; bedeutender sind Versuche, die Philosophie, besser Philosophieren in der Textgestalt selbst anlegen und so den Leser zum 19 20 21 22 23 24 Schreier, Helmut: Himmel, Erde und ich. Geschichten zum Nachdenken über den Sinn des Lebens, den Wert der Dinge und die Erkenntnis der Welt. Heinsberg (Dieck) 1993, sowie der entsprechende Kommentarband. - Zu nennen sind in diesem Zusammenhang auch die didaktischen Überlegungen des Reformpädagogen Martin Wagenschein für den Bereich der Physik, gut zugänglich etwa in dem Bändchen: Verstehen lernen. Genetisch - Sokratisch - Exemplarisch. Beltz (Weinheim) 1968 (als TB 1999). Am bekanntesten ist ihr anregendes Buch: Zoller, Eva: Die kleinen Philosophen. Vom Umgang mit „schwierigen“ Fragen. Zürich (Orell F.) 1991 (als Herder-TB 1995). Zu nennen wären hier Bücher wie: Glage, Benita: „Warum bleibt der Gott im Himmel?“ Mit Kindern über das Leben nachdenken. München (Kösel) 1992; oder: Schuster-Brink, Carola: Kinderfragen kennen kein Tabu. Ravensburg (O.Maier) 1991; oder auch Pousset, Raimund: Sicher antworten auf Kinderfragen. Wuppertal (Hammer) 1993. - Nicht gilt das für das verdienstvolle Buch von Rainer Oberthür: Kinder und die großen Fragen. Ein Praxisbuch für den Religionsunterricht. München (Kösel) 1995; Oberthür hat sich nicht nur mit philosophischen Hintergründen auseinandergesetzt, sondern arbeitet in seinen Praxismodellen durchaus mit philosophischen Rastern. Kähler, Jutta / Nordhofen, Susanne: Geschichten zum Philosophieren. Stuttgart (reclam) 1994. Vgl. auch diverse einschlägige Aufsätze der Autorinnen in der „Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik“. In Vorbereitung ist das Buch: Petermann: „Kann ein Hering ertrinken?“ Philosophieren mit Bilderbüchern. Weinheim: Beltz 2002. – In die vorliegende Buch ist daraus das 11.Kapitel zur Frage nach Gott in leicht veränderter Form als Kapitel 4-1 aufgenommen worden. Gaarder, Jostein: Sofies Welt. München (Hanser) 1993 (norw. 1991). Das Buch bleibt entgegen seinem Anspruch eher auf der informierenden Sachebene, dringt kaum vor zu einem dialogischen Philosophieren. Geeigneter für das eigenständige Philosophieren, wenngleich erst für Fortgeschrittene, ist demgegenüber ein Buch wie das von Nora K. und Vittorio Hösle: Das Café der toten Philosophen. Ein philosophischer Briefwechsel für Kinder und Erwachsene. München: Beck 1996. 3 Theologisieren mit Kindern? 195 philosophischen Mitdenken animieren. Zu nennen ist hier an vorderster Stelle ein Autor wie Jürg Schubiger.25 Fest institutionalisiert ist das Philosophieren mit Kindern in Deutschland bislang in Mecklenburg-Vorpommern als ordentliches Schulfach, als Philosophie für die Sekundarstufe I auch in Schleswig-Holstein, für die Grundschule im Ergänzungsbereich in Hamburg. Andere Bundesländer, auch Baden-Württemberg, das bislang einen Ethik-Unterricht erst ab Klasse 8 vorsieht, überlegen jedoch, Ansätze des Philosophierens mit Kindern in die Curricula der Philosophie- bzw. Ethik-Lehrpläne einzubauen. An Hochschulen werden Lehramtsstudierende freilich nur sehr sporadisch auf solche Aufgaben vorbereitet. Regelmäßig und auf der Grundlage curricularer Konzepte bieten Veranstaltungen zum Philosophieren mit Kindern zur Zeit wohl nur die Universität Rostock im Rahmen der Lehrerfortbildung (Barbara Brüning/Silke Pfeiffer/Michael Fröhlich) und bereits seit 1991 die Pädagogische Hochschule Heidelberg (Hans-Bernhard Petermann) an. Außerschulisch gibt es demgegenüber eine Vielzahl von Initiativen von Eltern und Erzieherinnen.26 - 1997 hat sich in Bremen im „Fachverband Philosophie“ eine „Kommission Philosophieren mit Kindern“ konstituiert27, die 1998 in Heidelberg eine erste Fachtagung durchführte, an der die meisten genannten Personen direkt oder mittelbar teilnahmen.28 Das Ergebnis: Zumindest in Deutschland hat sich inzwischen die Nomenklatur „Philosophieren mit Kindern“ durchgesetzt, einerseits um gegen das Missverständnis einer bloß unterweisenden Philosophie für Kinder die philosophische Eigentätigkeit der Kinder hervorzuheben, andererseits um gegen ein bloßes Zur-Kenntnis-Nehmen philosophischer Gedanken den dialogischen, interaktiven und prozessualen Charakter des Philosophierens hervorzuheben, der gerade im Umgang mit Kindern die notwendige Bedingung bietet, dass sie philosophisches Denken zur Entfaltung bringen können. 25 26 27 28 Schubiger, Jürg: Als die Welt noch jung war. Weinheim: Beltz 1996; und Schubiger: Mutter, Vater, ich und sie. Weinheim: Beltz 1997. Zum Unterschied zwischen Philosophie als Thema in der Kinderliteratur und Philosophie(ren) in der Kinderliteratur vgl. auch Bernhard Rank: Philosophie als Thema von Kinder- und Jugendliteratur; in: Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Hg.v. Günter Lange. Bd. 2, Hohengehren: Schneider 2000, S.799ff. Seit vielen Jahren bereits hält etwa Mechthild Ralla in Achern regelmäßig Kurse zum Thema; vgl. dazu H.J.Werner/E.Marsal/M.Ralla: Philosophieren mit Kindern? Begriff, Konzepte, Erfahrungen; in: Lehren und Lernen 6/1997, S.16ff. Sprecherin ist Jutta Kähler, Lübeck. Vgl. den Bericht von Jutta Kähler: Philosophieren mit Kindern; in ZDPE 2/1998, S.143ff. 196 1.2 3 Theologisieren mit Kindern? Warum eine Theologie der Kinder ? Das „Theologisieren mit Kindern“ ist dem beschriebenen Anspruch eines „Philosophierens mit Kindern“ entlehnt: Kinder selbst sind Subjekte und Akteure des Nachdenkens, erhalten von uns dazu lediglich Anregungen und Impulse. Aber auch die philosophische Abwehr gegen das Missverständnis einer (auf kindliches Niveau vereinfachten) Philosophie für Kinder oder gar einer (mit despektierlichem Unterton affizierte) Kinderphilosophie (vgl. dazu unten Abschnitt 2) hat Parallelen in der Theologie, freilich mit innertheologischer Pointe: Wenn von einer Theologie der Kinder und nicht von einer Theologie für Kinder die Rede sein soll, wird damit letztlich gegen eine Theologie der Kleriker eine Theologie der Laien eingeklagt, gegen ein lediglich katechetisch-unterweisendes Verständnis ein dialogisch-interaktives Verständnis von Theologie. Unter Bezug auf Bilder wie die des allgemeinen Priestertums oder von Kirche als Volk Gottes dürfte ein solcher Ansatz eigentlich nahe liegen. Gleichwohl tut sich die Religionspädagogik und Katechetik bis heute nicht so leicht damit, Kinder nicht als Adressaten von Glaubens-Unterweisung anzusehen, sondern ernst zu nehmen als Subjekte des Glaubens.29 Eben dies aber wird vorausgesetzt, wenn zur Debatte steht, wie Kinder Theologen sein können. Denn nicht bzw. weniger um die Frage geht es, inwieweit Kindern theologische Gedanken zuzumuten sind, sondern darum, inwieweit in originär kindlichem Denken und Fragen sich grundlegende theologische Fragestellungen verbergen. Unter dieser Fragestellung vor allem sind auch die in diesem Band wiedergegebenen Gespräche mit Kindern von Interesse bzw. sollten kritisch geprüft werden. 29 Zum pädagogischen Paradigmenwechsel, die Kinder als Subjekte vgl. z.B. Schäfer, Gerd E.: Aus der Perspektive des Kindes; in: Neue Sammlung 3/1997, S.377ff., oder: Honig, M.S. (Hg.): Kindheiten. Bd.7. Juventa 1996. 3 Theologisieren mit Kindern? 2 197 Kinder als Philosophen? Der Zusammenhang von Kindertheologie und Kinderphilosophie liegt in der Annahme eigentümlicher Denkleistungen bzw. Leistungen des Erfassens und der elementaren Erfahrung von Wirklichkeit, die Kinder und Theoretiker miteinander verbinde. Aus philosophischer Sicht ist daher im folgenden Abschnitt zunächst (2.1) Aufklärung darüber geboten, warum überhaupt elementares, grundsätzliches Fragen einerseits und Philosophieren als wissenschaftliches Nachdenken andererseits zusammenhängen, um dann (2.2) einige Ebenen zu beschreiben, auf denen es sinnvoll ist, Kinderäußerungen als solche elementare, grundsätzliche Äußerungen zu verstehen. 2.1 Was haben elementares Fragen und Philosophie miteinander zu tun ? Der Mensch ist ein Fragewesen. Ganz grundlegend ist sein Leben davon gekennzeichnet, nicht nur einfach zu leben, sondern das Gelebte auch zu erleben, in ständiger Auseinandersetzung mit dem Leben zu stehen. Ja, wir würden als Menschen gar nicht leben können ohne diese Auseinandersetzung; unser Leben ist abhängig davon, es auch mehr oder weniger bewusst zu gestalten. Der alte Mythos von Prometheus, den uns Platon überliefert, sieht den Menschen entsprechend nackt und ohne natürliche Mittel zur Lebenserhaltung geboren, so dass nicht die Natur selbst, sondern einzig die Kunst, die Kunst, das Leben zu führen, ihn am Leben zu erhalten vermag.30 Stets stehen wir darum uns selbst, steht uns unsere Mitwelt, die Umwelt und auch ein möglicher Horizont und Grund von Welt zur Frage, zur Disposition. In der Begegnung mit irgendetwas nehmen wir dies nie einfach nur hin, sondern nehmen es immer schon wahr, deuten, ordnen ein, gehen um damit. So drängen sich in alltäglichen Erfahrungen wie von selbst Fragen auf wie: Warum scheint die Sonne, warum verliert der Baum seine Blätter, warum esse ich, warum stirbt der Vogel? Solche Fragen haben elementaren Charakter; elementar sind sie, weil das, was mich fragen lässt, grundlegend ist für mein Leben wie auch solches Fragen selbst; was erfragt wird und das Fragen selbst soll Orientierung bieten. Größere Fragen schließen sich hier erst an: Warum heißt dieses Tisch, jenes Stuhl; gibt es einen oder viele Himmel; wie kommt das Haus da in mein Auge usf.; und auch schwierigere: Wo bin ich, wenn ich schlafe; wo war ich, als die Mama Kind war; kann meine Katze mich verstehen; warum darf ich nicht immer tun, was ich will usf.? Erst ganz spät dagegen 30 Vgl. Platon: Protagoras. 320 b ff. 198 3 Theologisieren mit Kindern? kommen die sog. großen Fragen: Wer bin ich, woher komme ich, wohin gehe ich, was ist Welt …?31 Ist so zu fragen Philosophie? Gewiss (noch) nicht: Obwohl man unmittelbar unterstellen mag, eben dies, elementare Fragen zu stellen, das sei Philosophie, leuchtet bei näherem Betrachten ein, dass ja, wie eben erläutert, eigentlich jeder Mensch so fragt; doch nicht jeder Mensch ist auch Philosoph. Philosophie ist vielmehr von alters her immer (auch) Wissenschaft. Und doch ist es nahezu eine Definition von Philosophie, dass sie die Wissenschaft vom elementaren Fragestellen sei. Wie das? Wissenschaft ist Philosophie in einem ganz eigentümlichen Sinne: Im Unterschied auch zur Theologie ist sie von einem besonderen, allen anderen Wissenschaften zunächst nicht eigenen Wissenschaftsbegriff geprägt. Der Name „Philosophie“ bereits gibt darüber Auskunft: Keineswegs mit einem logos tês sophias, also einer Weisheits-Lehre bzw. einer Lehre von dem, was das letzte Prinzip von allem ist, haben wir es zu tun, sondern mit einer philia, einer Liebe oder einer ständigen Zugewandtheit und Auseinandersetzung mit dem, was denn das sophon sei. In ihrem tiefsten Selbstverständnis also ist Philosophie weder Weisheitslehre im Sinne einer Versammlung bestimmter Weisheiten, noch Weisheitslehre im Sinne einer Systematik oder Enzyklopädie oder begrifflichen Bestimmung dessen, was Weisheit ist, unter Voraussetzung eines als Weisheit klar benennbaren Gegenstandes, sondern die ständige Auseinandersetzung, das elementare Suchen, der Versuch möglicher Antwort, auch das Infragestellen und die Kritik dessen, was überhaupt jenes sophon sei und warum wir uns so gebannt damit auseinandersetzen. Drei Ebenen charakterisieren jenes Fragen genauer: Zuvorderst artikuliert sich Philosophie auf der Ebene des Staunens und des Sich-Wunderns, dass alles so ist, wie es ist. In diesen Kontext gehören auch die Traditionen der Weisheit, die erste eher mythische, symbolisch-bildhaft auf das Geheimnis dieses Fragens bezogene, aber noch nicht bewusst als Erkenntnis, gar begrifflich als Reflexion sich formulierende, sondern unmittelbar der Orientierung dienende Antworten versuchen. Doch auch die Philosophie hat, wie Platon und Aristoteles meinten, in nichts anderem als diesem fragenden, noch ganz in der Geheimnishaftigkeit ihres Gegenstands befangenen Staunen ihren Ursprung.32 Aber an solchen Fragen entzündet sich Philosophie lediglich. Die Fähigkeit sich zu wundern, ist eben noch nicht philosophieren oder gar 31 32 Aus eben diesem Grunde habe ich vorgeschlagen, bei den philosophisch interessanten Fragen nicht von großen (so Oberthür 1995) oder gar schwierigen (so Zoller 1991) und auch nicht von letzten (so Oelmüller, Willi: Philosophische Aufklärung. München: Fink 1994, S.32f.) zu sprechen, sondern von elementaren. Vgl. dazu Petermann: Religion zur Sprache bringen. In: Bubenheimer / Fauth (Hg.): Hochschullehre und Religion. Würzburg 2000, Abschnitt 1.4. [in der vorliegenden Arbeit vgl. Kap. 1-2]. Vgl. Platon: Theaitetos 155d, und Aristoteles: Metaphysik 982b. 3 Theologisieren mit Kindern? 199 das einzige, was wir brauchen, um gute Philosophen zu sein.33 Philosophie im eigentlichen Sinne der philo-sophia, des ausdrücklichen und reflektierten Bezugs auf die Weisheit, ist erst der kritische und der Form des eigenen Fragens bewusste Bezug auf diese Fragen. Dies ist die zweite Ebene philosophischen Fragens. Als Denken des Denkens und nicht nur einfach Nachdenken von etwas Vorgestelltem, ist Philosophie daher wesentlich immer auch Wissenschaft. Der ihr eigentümliche Wissenschaftsbegriff lässt sich zusammenfassen in die vier Ebenen der Kritik: (1) das selbst denkende, (2) das Unterscheidungen, Differenzierungen und Alternativen aufwerfende, (3) das zur Entscheidung fähige, ins Leben eingreifende, sowie (4) das Leben auch konkretisierende und an der Wirklichkeit des Lebens sich je neu brechende Denken. Als Wissenschaft unterscheidet sich Philosophie grundsätzlich von bloßer Weltanschauung, von bereits antwortender Weisheit und Mythologie, aber, und damit kommen wir zur dritten Ebene philosophischen Fragens, auch von jeglicher Form von Ideologie. Denn ihres eigenen Denkens bewusst weiß sie auch um ihre prinzipielle Grenze, die sie hat in einem vom Denken nie einzuholenden dem Denken vorausgesetzten Grund allen Denkens. Darum ist sie immer auch Wissen des Nichtwissens und daher wesentlich skeptisch und kritisch gegen sog. Letztantworten. Dies aber ist sie als wissende und darum Wissen des Nichtwissens. Unüberholt klar hat dieses Verständnis Aristoteles in wenige Worte gebracht34: Weil sie nämlich in Erstaunen gerieten, philosophierten die Menschen zuerst wie jetzt noch von Grund auf; das zufällig zur Hand liegende ist es, was grundsätzlich sie staunen machte, und zwar weil es ihnen unerklärlich ist. - Allmählich machten sie auf diese Weise Fortschritte und stellten sich über größere Zusammenhänge Fragen, etwa über die Affektionen des Mondes und die von Sonne und Sternen und über die Entstehung von Allem. - Der jedoch, der voller Fragen ist und sich wundert, vermeint in Unkenntnis zu sein. (So ist auch ein Liebhaber von Mythen in gewisser Hinsicht ein Liebhaber des Sophon, ein Philosoph, setzt sich doch ein Mythos aus Wunderbarem zusammen.) Philosophierte man also, um der Unwissenheit zu entkommen, so suchte man offenbar das Verstehen, um zur Einsicht zu kommen, keineswegs aber um eines Nutzens willen … Alle nämlich beginnen mit der Verwunderung, dass die Dinge so sind, wie sie sind … Beachtenswert ist dieses Zitat einerseits, weil es als Philosophie den gesamten Prozess der Ebenen vom unmittelbaren erstaunten Fragen über das Verstehen 33 34 Zumindest missverständlich formuliert so Jostein Gaarder an zentraler Stelle sein Verständnis von Philosophie: Gaarder: Sofies Welt. München: Hanser 1993, S.23. Aristoteles: Metaphysik 982b in einer eigenen, die Nuancen des Textes verdeutlichenden Übertragung. 200 3 Theologisieren mit Kindern? von Zusammenhängen zur reflektierten, auch des Nichtwissens bewussten Einsicht beschreibt35 und nicht nur bei der schlichten Behauptung eines Zusammenhangs von Staunen und Philosophieren stehen bleibt. Andererseits fundiert Aristoteles Philosophie in einem Staunen, das dem, was das Staunen erregt, gänzlich ausgeliefert bleibt. Damit gründet Aristoteles Philosophie elementar im Staunen, das jeglichen Akt des Philosophierens wesentlich bestimmt, ohne das Philosophie nicht ist, was sie ist. Und weiterhin bindet er jede Gestalt bzw. jedes System von Philosophie somit an den Akt des Weiterfragens, also an das Philosophieren als Tätigkeit des Denkens, so dass keiner Philosoph genannt werden kann, wer nicht in dieser grundlegenden Weise philosophierend tätig ist. Auf dem Hintergrund dieses Zusammenhangs hat Kant, der wie kaum ein zweiter das Geschäft des Philosophierens auf den Begriff gebracht hat, zwischen einem Schulbegriff und einem Weltbegriff von Philosophie unterschieden.36 Der Schulbegriff zielt, ausgehend von jenem Wissen des Nichtwissens, auf den der kritischen Vernunft zugänglichen Vorrat von Vernunfterkenntnissen sowie auf Möglichkeiten des systematischen Zusammenhangs dieser Vernunfterkenntnisse. Der Weltbegriff der Philosophie hingegen bezieht sich auf jenes grundlegende staunende Fragen, dem alles, auch das Nichtsagbare und Nichterkennbare und auch der Grund allen Denkens, als Gegenstand des Denkens offen steht; in diesem ihrem Weltbegriff fragt die Philosophie, so Kant, immer nach den letzten Zwecken der menschlichen Vernunft, aus denen sich überhaupt erst alles Philosophieren ergibt. Diese Zwecke aber lassen sich in die vier berühmten Grundfragen fassen, 1. nach den Quellen des menschlichen Wissens: Was kann ich wissen?, 2. nach dem möglichen und nützlichen Gebrauch allen Wissens: Was soll ich tun?, 3. nach den Grenzen der Vernunft: Was darf ich hoffen?, welche drei Grundfragen in der vierten zusammenlaufen: Was ist der Mensch? - Auch diese Fragen aber sind, obgleich in der elementaren Erfahrung aller Menschen fundiert, komplizierter als sie auf den ersten Blick scheinen: So fragt die erste nicht nach dem Umfang und konkreten Gegenständen menschlichen Wissens, sondern nach der Möglichkeit und der eigentümlichen Struktur von Wissen überhaupt und insofern nach der Bedeutung von sog. Gegenständen des Wissens. Die Frage lautet also eher: Was ist es, dass wir als wissende uns zu uns selbst und zu Welt verhalten? - Ebenso strebt die zweite Frage keine 35 36 In meinen Seminaren habe ich diese Auslegung in Ebenen vom Staunen zum Denken einer weiteren Differenzierung unterzogen. Zwei Arbeiten zum Begriff der Naivität sowie zur Grundlegung einer Philosophie der Kinder, die auf diese Differenzierung eingehen, sind in Vorbereitung. Vgl. Kant, Immanuel: Logik (1800) A 23ff. Neben der Philosophie als Wissenschaft und dem Philosophieren als Weltweisheit hat Kant als dritte Form von Philosophie Philosophie auch als Lebensform verstanden, worauf wiederholt Gernot Böhme hingewiesen hat. Vgl. G. Böhme: Einführung in die Philosophie. Weltweisheit, Lebensform, Wissenschaft. Frankfurt:Suhrkamp 1998 (11993). 3 Theologisieren mit Kindern? 201 normativen Antworten an, was wir denn nun zu tun oder zu lassen hätten. Vielmehr geht es um die grundlegendere Auseinandersetzung mit der Erfahrung, dass wir handelnd uns auf uns selbst und auf Welt beziehen, so dass es gilt, die Bedeutung und die Grundlagen dieses Handelns auszuloten. - Auch die dritte Frage fällt zwar, so Kant, in den Bereich der Religion, will aber nicht bestimmte Hoffnungsbilder aufstellen, an denen wir dann Orientierung fänden, sondern fragt grundlegend, was es denn ist, dass wir über uns und die Möglichkeiten unserer Vernunft hinausgreifend uns auf Zukunft, auf Geschichte, auf Transzendenz, auf Hoffnungsbilder beziehen. Und so intendiert auch die Frage nach dem Menschen kein bestimmtes Menschenbild, so dass dann in einer Konkurrenz von Menschenbildern gar von verschiedenen Philosophien geredet werden könnte; Philosophie fragt vielmehr grundsätzlich, was es ist, dass der Mensch sich selbst zum Gegenstand seines Fragens und seines Lebensentwurfs macht und machen kann. Schelling hat diese Einsicht wenige Jahre nach Kant ausformuliert, indem er die Aufgabe der Philosophie als Anamnese einer uns Menschen wesentlich verloren gegangen Einheit zwischen Welt und Ich, wir dürfen in unserem Zusammenhang ergänzen, auch zwischen Gott und Ich, bestimmt hat.37 Philosophie beruht, so Schelling, wesentlich auf der Grundlage der Trennung dieser ursprünglichen Einheit. Poetisch hat Ernst Bloch das in den Satz gefasst: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“38 Den Menschen als ein sich selbst wesentlich verborgenes und darum sich selbst aufgegebenes Wesen zu erfassen und darin möglicherweise auch seinen ihm selbst entzogenen Ursprung zu ahnen, dieses Faktum zu erfassen und es in nachvollziehbare Sprache zu bringen, darin besteht das Geschäft des Philosophen. Voraussetzung für ein solches Geschäft aber ist Reflexion, Reflexion nicht nur auf die Gegenstände unseres Denkens, (und das meint das Bewusstsein darüber, dass wir und die Gegenstände unseres Denkens eben nicht eins sind), sondern auch auf das Denken selbst, mithin Selbstbewusstsein. In diesen kurzen Erläuterungen wird deutlich: Aufgabe und Tätigkeit der Philosophie besteht nicht darin, Fragen allein zu stellen, erst recht nicht, auf sie eine endgültige Antwort zu finden, sondern diese Fragen in dem, was sie meinen und woraus sie sich nähren, als letzten Bezugspunkt allen Menschseins auszuloten. Auch die Unterstellung eines kindlichen Philosophierens muss sich an dieser Ebene messen lassen, um wirklich Philosophie genannt werden zu können. 37 38 Schelling, F.W.J.: Zur Geschichte der neueren Philosophie (Münchner Vorlesungen 1827). Hg.v. M.Buhr. Leipzig:Reclam 1975, 111ff. Bloch, Ernst: Tübinger Einleitung in die Philosophie. Frankfurt: Suhrkamp 1963, S.11. 202 3 Theologisieren mit Kindern? Philosophie Kindern zuzumuten, scheint mit dieser Bestimmung irrelevant geworden zu sein, wenn wir die entwicklungspsychologische Einsicht teilen wollen, dass reflektiertes, also selbstbezügliches und seines Vollzugs bewusstes Denken Kindern noch nicht möglich ist, weil sie noch in der Unbefangenheit der Unmittelbarkeit bloßen Nachdenkens verhaftet sind. Doch Philosophie wagt die Behauptung, dass jeder Mensch auf die Möglichkeit solcher Reflexion angelegt ist, auch wenn er sie aktuell noch nicht ausgebildet hat, wie etwa Kinder, oder nicht mehr besitzt. Und sie weiß auch, dass die Bezugspunkte einer solchen Reflexion nicht allein durchs Denken zu fassen sind, vielleicht durchs Denken gar nicht wesentlich zu fassen sind, sondern dass es neben der begrifflichen andere Ebenen eines solchen Bezugs geben mag; wir finden sie in der Kunst und in der Religion, also in symbolisch bzw. mythisch sich formulierenden Geisteshaltungen. Unter dieser Perspektive werden dann auch theologisch elementare Äußerungen philosophisch interessant, auch wenn sie per se noch keinen philosophische Charakter haben; den gewinnen sie erst im Vollzug ihrer reflexiven Erschließung. Damit wird auch klarer, wie eingangs angedeutet, dass die philosophisch interessanten Fragen nicht die schon komplizierten und voraussetzungsreichen oder großen Fragen sind wie „Wer bin ich?“ oder „Woher kommt die Welt?“, sondern ganz unscheinbar scheinende, leicht übersehbare wie „Was ist Regen?“ oder „Wohin fließt das Wasser?“ oder „Warum verbrennt da etwas?“. In solchen im Alltäglichen und im Vorbeigehen sich aufdrängenden und daher elementaren Fragen verbergen sich philosophische Probleme. Wer solche Fragen stellt, fragt in einer philosophisch interessanten Weise, artikuliert vielleicht eine Ahnung philosophischen Fragens, aber philosophiert noch nicht eigentlich. Das bedeutet, alltägliches Sich-Wundern, auch existentielle Infragestellungen, aber eben auch theologische Fragen haben als solche noch keine philosophische Qualität, doch bieten sie die unverzichtbare Grundlage zu jeder philosophischen Tätigkeit. Daher entzündet sich Philosophie eben nur und erst an solchen Fragen. Andererseits hat alle Philosophie, meine ich, ihren unaufgebbaren Ursprung im unmittelbaren Staunen; beziehen aber kann sie sich auf diesen Ursprung stets nur durch die Reflexion vermittelt. Kinder sind darum philosophisch Fragende und Ahnende, aber nicht Philosophen.39 Der letzte Satz ist weiter zu begründen. Und so komme ich zum nächsten Punkt: 39 Diese These ist nicht notwendig als Kritik zu verstehen an dem schönen Buch von H.L.Freese: Kinder sind Philosophen. Berlin 1989. Die Intention Freeses würde ich vielmehr eben darin sehen, diesen Satz als Provokation zu verstehen, das Philosophische in und mit Kindern zu entdecken. 3 Theologisieren mit Kindern? 203 2. 2 Welchen Sinn macht es genauer, Kinderäußerungen als philosophisch anzusehen? In Aufnahme der Unterscheidung und des Zusammenhangs von elementarem Fragen und philosophischer Wissenschaft hat sich die Rede von der Philosophie als Zweiter oder gelehrter, reflektierter Naivität herausgebildet. Sie meint zunächst einmal den Bezug und die Bindung der Philosophie an jenen Ursprung unmittelbaren Fragens und Staunens, darum ist sie naiv; dessen aber kann und muss sich die Philosophie erinnern und darauf reflektieren, darum ist sie gelehrt.40 Die weitere Überlegung betrifft nun die Möglichkeiten, sich auf eine mit der Rede von Zweiter Naivität unterstellte Erste Naivität zurückzubeziehen bzw. Formen Erster Naivität auf eine Zweite, philosophische zu beziehen. Damit wären wir beim Thema Philosophieren der Kinder bzw. Philosophieren mit Kindern angelangt. Denn naiv sind Kinder, aber in einer ersten, noch ganz unmittelbar in den Ursprung allen Fragens verflochtenen, noch nicht reflektierten Weise. Zunächst zum Rückbezug der Philosophie auf das ihr zugrundeliegende Staunen bzw. die erste Naivität. Aus Sicht der Philosophie steht hier zur Debatte, ob und warum kindliches Fragen mehr ist als bloße Ahnungslosigkeit, sondern vielmehr eine Ahnung der philosophisch elementaren Fragen, so dass das Philosophieren der Kinder mehr wäre als eine Projektion der Philosophie auf der Suche nach Festhalten der eigenen Ursprünge, nämlich jenes ursprüngliche Fragen, was der Philosophie als Impuls zu je neuem eigenen Fragen die Provokation ihres eigenen Lebensimpulses ist. Empirisch lässt sich darauf nicht antworten, sondern nur deutend: Warum Kinderfragen eine Tiefendimension enthalten, ist ihrem Wortlaut nicht abzulesen, sondern 40 Vgl. Spaemann, Robert: Philosophie als institutionalisierte Naivität; in: Phil. JB 81.(1974), S.139ff. Eigene Überlegungen dazu habe ich unter dem Titel: „Kultivierung kindlicher Naivität. Philosophie-Unterricht als Weg von der „Ersten“ Kindlichen Naivität zur „Zweiten“ philosophisch-reflektierten Naivität“ auf der zweiten Tagung der Kommission „Philosophieren mit Kindern“ in Lübeck 1999 vorgetragen (vgl. den Tagungsbericht von Christian Gefert: Wieviele Bilder braucht das Kind? In: ZDPE 1/1999, S.78ff). Eine ausführliche Veröffentlichung dazu ist in Vorbereitung. - Der Begriff von Philosophie als Zweiter Naivität geht letztlich zurück auf Sokrates und sein Verständnis von Philosophie als Wissens des Nichtwissens; im Laufe der Philosophiegeschichte ist er dann am vielleicht entschiedensten aufgenommen worden durch Nikolaus von Kues in seiner Rede von der belehrten Unwissenheit, der Docta Ignorantia, dann, ausgehend von der Dichtung Hölderlins in Heideggers Philosophieverständnis als Entsprechen auf den An- und Zuspruch des Seins. Das hat sicher den Horizont auch abgegeben für die ausdrückliche Rede von Zweiter Naivität bei Paul Ricoeur: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud. Frankfurt: Suhrkamp 1969, S.506f. In der Religionspädagogik hat diesen Gedanken dann Hubertus Halbfas aufgegriffen, ausdrücklich etwa in: Religionsunterricht in Sekundarschulen. Lehrerhandbuch 1, Düsseldorf: Patmos 1985, S.516ff, und 6. 1993, S.91ff.; vgl. dazu auch Petermann: Einwurzelung. Religiöse Sensibilisierung und erfahrungsorientierter Wissenserwerb als Grundlagen heutigen Religionsunterrichts; in: KatBl 7/92, 552-567. 204 3 Theologisieren mit Kindern? das lässt sich nur erschließen durch Interpretation, Hineinlesen einer in ihnen verborgenen Tiefenschicht. Hinweise geliefert hat dazu Paul Ricoeur.41 Ausgehend von der Deutung psychoanalytischer Arbeit als Paradigma für jeden Prozess der Selbstvergewisserung kommt Ricoeur zu dem Ergebnis, dass das Ich stets, indem es sich erfasst, sich zugleich wieder dem Erfassen entzieht. Ricoeur spricht in diesem Zusammenhang davon, dass der Mensch das einzige Wesen ist, das seiner Kindheit verfallen ist und nennt dies die „symbolische Vorgängigkeit“ des Ich. Dieses Wort ist bedeutsam; Ricoeur meint damit, dass alle Interpretation stets eine symbolisch vermittelte ist wie auch das jeweils in ihr Gemeinte. Warum? Nicht nur jede Deutung vollzieht sich grundsätzlich in sprachlichen Symbolen, auch das zu Deutende erweist sich darin als je schon symbolisch Vermitteltes. Indiz dafür mag das urtümliche Staunen selber sein: Staunen können wir nur, wenn uns in der Erfahrung des Staunens etwas widerfährt, das sich dem Staunen zugleich wieder entzieht, also nie das ist, was es im ersten oder unmittelbaren Zugriff zu sein scheint. Das Staunen erweist sich dann bereits als eine Antwort, wenngleich nur eine unmittelbar evozierte, noch nicht bewusste Antwort auf etwas, was in diesem Staunen unzugänglich bleibt. Und darum ist auch das Staunen seinerseits etwas, das wie das Staunenswerte selbst vermittelt, und zwar verschlüsselt, symbolisch vermittelt sich vollzieht. Unmittelbare Äußerungen gegenüber einem nur symbolisch und insofern auch nur annäherungsweise zu entschlüsselnden Gegenstand lassen sich von daher verstehen als ihrerseits faktisch, wenngleich nicht bewusst symbolisch verschlüsselte Antworten auf ein je vorgängiges Infragestehen und keineswegs als ahnungslose Unmittelbarkeit. Von einer Ersten Naivität im strengen Sinne zu sprechen, verbietet sich mit solcher Einsicht. Vielmehr ist jede Naivität, auch die scheinbar ahnungslose als Antwort auf eine ihr vorgängige nicht unmittelbar zugängliche Erfahrung eine stets schon vermittelte. Was bedeutet diese auf den ersten Blick nicht leicht fassbaren Überlegungen? Zum einen: Besonders ergiebig gegenüber elementarem philosophischen Fragen sind bildhafte Erfahrungen, seien es reale Eindrücke von Wirklichkeit, seien es Sprachbilder, seien es bildhaft fassbare Handlungszusammenhänge, weil sie am ehesten eine symbolische Tiefenstruktur enthalten wie auch am entschiedensten nach einer Entschlüsselung verlangen, die ihrerseits je neues Nachfragen ermöglicht. Und auf diesem Hintergrund müssen auch kindliche Äußerungen, und das ist das andere Ergebnis dieses Gedankens, als (wenn auch zumeist unbewusste) Versuche einer Antwort verstanden werden, nicht nur als Frage. In ihnen leuchtet auf, dass, wie Bloch es ausdrückt, etwas zu Fragendes gesagt wird und somit das zu Sagende in 41 Ich beziehe mich im folgenden auf Ausführungen in Ricoeur (1969) (wie Anm. 40). 3 Theologisieren mit Kindern? 205 Frage steht.42 Als Frage und Sage zugleich aber drängt eine solche Äußerung stets zu einer Nachfrage. Die Annahme kindlichen Staunens führt daher notwendig zur Frage des Umgangs mit kindlichem Philosophieren. Der Kinderphilosoph G. B. Matthews hat Momente solchen Staunens „Augenblicke reiner Reflexion“ genannt.43 Der Ausdruck suggeriert, als handle es sich um Akte einer von sinnlichen Qualitäten freien, nur als Reflexion sich äußernde Reflexion. Ich denke nicht, dass das gemeint ist. Vielmehr geht es um gleichsam unverstellte oder unmittelbare Reflexionen bzw. Momente heller Einsicht. Matthews kritisiert, dass uns Erwachsenen solche Augenblicke reiner Reflexion im kindlichen Denken „so oft entgehen“, weil wir sie nicht als das, was sie sind“ erkennen. Was aber sind sie? Matthews meint, keinesfalls ein primitives Denken, das „auf die Erwachsenennorm hin entwickelt werden“ oder „durch unsere Annahmen über die Entwicklung des kindlichen Denkens“ gefiltert werden müsse. Dann bräuchten wir „den philosophischen Gehalt solcher Äußerungen nicht ernstzunehmen.“ Kindlichen Sichtweisen stattdessen den von Matthews unterstellten Ernst zuzuerkennen, setzt voraus, in ihnen mehr zu sehen, als ihnen auf den ersten Blick hin anzumerken ist, mehr also auch als bloß ahnungsloses Staunen, sondern bereits ahnendes SichWundern.44 Aus dieser Lesart kindlicher Äußerungen folgt, dass sie dann auch entschlüsselt werden wollen, und zwar entschlüsselt hin auf das Konkrete, das in ihnen sich Form gesucht hat. Das bedeutet: Solche kindliche Äußerungen sind zunächst einmal immer auf einen möglichen Bezug auf jene vorhin benannten Grundfragen menschlicher Vernunft hin zu untersuchen: Ist in ihnen ahnend eine solche Frage ausgesprochen? Gibt es dafür aber Indizien oder will ich den Versuch machen sie als eine solche Äußerung ernst zu nehmen, drängen sie zur Dechiffrierung. Wie aber soll das anders gehen als das Nachfragen, was damit gemeint sein könnte; anders: durch die Nachfrage: Was willst du sagen, wenn du solches sagst? Damit wird eine weitere Differenzierung deutlich: Kinder, so behaupte ich, können sich zu elementaren Fragen nach Menschsein, Welt und Gott äußern. Sie tun dies, wenn ihnen im Alltag unvermittelt etwas widerfährt, was sie staunen und dann verwundert nachfragen lässt. Für den Philosophen verbirgt sich hinter solchem staunenden Fragen die strukturelle Frage: Was ist dies, dass es ist; oder auch: Was ist dies, dass es ist, was es ist. Auf solche Augenblicke als Erwachsener sensibel und 42 43 44 Einen grundlegenden Text zum Thema Kinderphilosophie hat Ernst Bloch vorgelegt in den ersten Abschnitten seiner: Tübinger Einleitung in die Philosophie. Frankfurt: Suhrkamp 1963. Matthews, Gareth B.: Philosophische Gespräche mit Kindern. Berlin: Freese 1989, S.80. Eine Differenzierung der Ebenen des Staunens habe ich selbst vorgenommen durch genauere Interpretation der zitierten Stelle von Aristoteles; vgl. demnächst in meinem Buch zum Philosophieren mit Bilderbüchern: Petermann (wie Anm. 23). 206 3 Theologisieren mit Kindern? nachfragend zu reagieren, kann Kindern Wege zum Philosophieren ebnen. Das philosophische Gespräch mit Kindern würde dann auf dem Zur-Sprache-Bringen solcher Erfahrungen aufbauen. Ich denke, ein solches Gespräch lässt sich nicht erzwingen, und es sollte auch nicht erzwungen werden. Gewiss gibt es viele kindliche Äußerungen, die als solche unhinterfragt stehen bleiben wollen und müssen. Kindliches Philosophieren und auch Theologisieren aber findet nur statt, wenn sie auch tatsächlich erschlossen werden. Im übrigen gäbe es gar keine Theologie oder Philosophie, wenn nicht das darin Gemeinte als Erfahrung wesentlich darauf drängen würde, sich mitzuteilen. Dieses Erschließen meint freilich wiederum nicht ein Erklären und vollständiges Dechiffrieren ihres Symbolgehalts, sondern nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Eröffnung der Möglichkeit, Grunderfahrungen auch zur Sprache zu bringen. Zur Sprache bringen ist hier in einem weiten, sprachliche Artikulation, bildhafte Gestaltung oder Interaktion einschließenden Weise verstanden. Damit ist ein Weg angedeutet, mit Kindern zu philosophieren (und auch zu theologisieren), auch ohne von einem nicht planbaren kindlichen Widerfahrnis elementarer Qualität auszugehen, nämlich wenn es gelänge, durch Bilder, Geschichten, Problemfragen, Handlungssituationen Kinder in die Ebene einer solchen elementaren Erfahrung zu versetzen, um dann daraus gleichsam wie auf einer Folie Wege der Erschließung elementarer Erfahrung zu eröffnen. Das muss Kriterium sein auch für unterrichtliche Versuche, mit Kindern in ein Gespräch bzw. in einen Erfahrungszusammenhang zu kommen.45 45 Hierin hat auch jede Symboldidaktik ihre kritische Bedingung. Unter dieser Perspektive wäre es interessant, die von A.A.Bucher angezettelte Auseinandersetzung um das Bewahren der sog. Ersten Naivität neu zu überdenken. Vgl. Bucher, Anton A.: „Wenn wir immer tiefer graben … kommt vielleicht die Hölle“; in: KatBl 9/1989, sowie der daran sich anschließenden Diskussion, kritisch kommentiert z.B. durch Allmen, Jacques-Antoine von: Symboltheorie und Symboldidaktik am Beispiel von P.Biehl und H.Halbfas. Zürich 1992. 3 Theologisieren mit Kindern? 3 207 Kinder als Theologen? Elementare und existentielle Erfahrungen, die zu philosophisch relevanten Fragen führen, haben nicht notwendig auch theologischen Charakter. Wenn es in dem uns hier interessierenden Zusammenhang aber nicht um eine Philosophie der Kinder, sondern eine Theologie der Kinder geht, ist weiter zu fragen, worin einerseits der Zusammenhang philosophischen Fragens zur Theologie besteht, und worin andererseits das Eigentümliche theologischer Auseinandersetzung auch im Unterschied zur philosophischen besteht. Der Zusammenhang wie auch der Unterschied von Theologie und Philosophie erschließt sich vielleicht am besten durch das Verhältnis von Theologie und Glaube.46 Im Unterschied zur Philosophie, die stets auf der Ebene kritischen Nachfragens bleibt, ist Theologie nämlich immer schon Auslegung von Glaubenserfahrung und darum so notwendig an den ausgelegten Glauben gebunden, dass sie als Auslegung selbst eine bestimmte Gestalt von Glauben darstellt. Das Eigentümliche ihrer Wissenschaftlichkeit im Unterschied zu anderen Wissenschaften, die sich als Logos von etwas verstehen, ist darin zu sehen, dass Theologie nie nur der Vernunft zugängliche Lehren zum Verständnis oder zur Einordnung von Glauben äußert, im Sinne einer exoterischen Systematisierung und Verständigung über Glaubensdinge, sondern stets auch den Gegenstand ihrer Tätigkeit weitergibt, den Glauben. Ihr Wissenschaftsverständnis ist also gekoppelt an den prozessualen Glaubensvollzug, insofern ihre Wissenschaftlichkeit als letzte Konsequenz des Glaubens selbst zu verstehen ist, der auf Vermittlung aus ist. Eine davon losgelöste, nur Phänomene oder historische Zusammenhänge oder sprachliche Eigenheiten reflektierende Wissenschaft kann sich nicht mehr als Theologie betrachten, sondern muss sich Religionswissenschaft, vielleicht Theologiewissenschaft nennen. In der Bindung der (wissenschaftlichen) Theologie an den Glauben wird zugleich umgekehrt die Ausrichtung des Glaubens auf Theologie deutlich, die jeder Glaubensäußerung eigen ist, will sie denn sagen, zur Sprache bringen, was sie erfahren hat. Von daher ist Theologie wesentlich immer auch Botschaft. Auf der anderen Seite ist Theologie mit Glauben selbst wiederum nicht zu verwechseln, weil der in Gebet oder Feier oder im Handeln oder in der Verkündigung Gestalt gewinnende Glaube zwar Wort von Gott und Wort Gottes, nicht aber Logos als vernünftige, reflexive Erschließung des Glaubens sein muss. Allemal muss nicht jeder Glaubende auch Theologe sein. Gleichwohl ist Glaube genauer betrachtet nicht allein das Gefühl der unmittelbaren religiösen Erfahrung, sondern auch seine 46 Genauer zu dieser Frage vgl. meine Ausführungen in Kapitel 1-3. 208 3 Theologisieren mit Kindern? Artikulation und Gestaltwerdung im Lebensvollzug. Als somit immer auch sich im Leben konkretisierender Glaube ist Glaube im weiteren Sinne daher stets auf den logos tou Theou, auf die Auskunft, Vermittlung und Weitergabe des Erfahrenen angelegt. Theologie im engeren Sinne wird dieser Glaube erst, wenn er die ihr zugrundeliegenden Erfahrungen nicht nur weitergeben, sondern auch der Selbstreflexion, dem menschlichen Denken zu erschließen versucht, Glauben also der Vernunft zugänglich macht, um ihn sich oder auch anderen verständlicher zu machen. Und genau an dieser Stelle wird die philosophische Reflexion interessant für die Theologie. Wenn nun dergestalt Gott, Glaube, Theologie zum Gegenstand des Denkens gemacht werden, lautet die Frage wie bei allen Gegenständen philosophischen Denkens: Was ist dies? und: Was ist dies, dass es zum Bezugspunkt menschlicher Auseinandersetzung wird? Als theologische Reflexion aber beinhaltet solches Fragen zugleich eine Erschließung des Glaubens, das unterscheidet Theologie von Religionsphilosophie. In biblischer, also jüdischer wie christlicher Sicht ist es Tradition, dass Theologie als ein Element von Glauben verstanden wird, Glaube also wesentlich auf Erschließung angelegt ist. Jüdische und auch christliche Glaubensüberlieferung haben insofern stets auch Formen angemessener Erschließung von Glauben thematisiert. Und in eben diesem Kontext wird die Frage nach einer Theologie der Kinder interessant: Enthalten, so kann nun theologisch genauer gefragt werden, theologische Äußerungen von Kindern nicht nur philosophisch elementare Fragen, sondern auch eine eigentümliche Ebene der Glaubenserschließung? Eine Antwort kann hier nur skizziert werden, doch geschieht dies in exemplarischer Weise. Der wichtigste Zeuge nämlich für die Frage nach der theologischen Qualität kindlichen Denkens ist der biblisch bezeugte Jesus.47 Einerseits kann Jesus selbst in die Reihe von Menschen eingereiht werden, die in frühen Jahren nicht nur besondere Gotteserfahrungen gemacht haben, sondern auch zu einer reflektierten und vermittlungsoffenen Auslegung dieser Erfahrung gefunden haben. Der nach jüdischer Tradition noch übliche Auftritt des Zwölfjährigen im Tempel erfährt eine Steigerung dadurch, dass Jesus die Schrift nicht nur liest, sondern auch mit Verständnis auslegt (Lk 2, 46f). Lukas selbst stellt diese Begebenheit explizit in die Reihe alttestamentlicher Vorbilder, wenn er in v.52 auf den jungen Samuel verweist. 47 Die Frage der Historizität biblischer Aussagen ist für unsere systematische Fragestellung nicht unmittelbar von Belang und wird daher aus meinen Überlegungen ausgeklammert. Daher die etwas umständliche Rede vom „biblisch bezeugten“ Jesus. 3 Theologisieren mit Kindern? 209 Wie Jesus selbst schon in frühen Jahren als Theologe galt, so sah er umgekehrt gerade in Kindern eine besondere theologische Qualität, auf die ihm alles ankam. Eine kurze Übersicht über die bezeugten Begegnungen mit Kindern verdeutlicht, dass er Kindern nicht nur besonders zugeneigt war oder sie lediglich als Beispiele für seine (erwachsenen) Hörer hingestellt hat, sondern dass in diesen Begegnungen auch Ansätze einer Art Kindertheologie Gestalt gewinnen. Die Begegnungen Jesu mit Kindern lassen sich auf drei Situationen konzentrieren, in denen jeweils ein ganz besonderer Aspekt kindlicher Theologie deutlich wird: In den synoptischen Perikopen zum Jüngerstreit (Mk 9,33) werden die Kinder als Beispiele wahrer Jüngerschaft hingestellt, was Matthäus in den Satz gießt: „…wenn ihr nicht werdet wie die Kinder…“. In den Perikopen zur sog. Kindersegnung (Mk 10,13ff) stellt Jesus darüber hinaus Kindlichkeit als eine besondere Qualität heraus, die fähig macht, das Reich Gottes anzunehmen. Und schließlich hebt Jesus unter Zitierung von Ps 8,3 die Kinder, die ihn beim Einzug nach Jerusalem begrüßen (Mt 21,15f.), hervor als diejenigen, die Gott in rechter Weise loben können. Warum nun ist die Behauptung berechtigt, Kinder würden hier nicht allein als Beispiele gläubigen Verhaltens hingestellt, sondern hier veranschauliche Jesus zugleich eine Art Theologie der Kinder? Diese Frage beantwortet sich durch einen genaueren Blick auf die genannten Situationen: Es handelt sich keineswegs um drei zufällig von den Evangelisten in ihr Buch aufgenommene Begegnungen Jesu mit Kindern, sondern gezielt an entscheidenden Wegpunkten eingebaut in Jesu Gang nach Jerusalem, sprich in den Prozess, in dem sich seine Gottessohnschaft und seine Heilssendung herauskristallisiert. Das kann an dieser Stelle nicht weiter entfaltet werden, mag aber als Hinweis reichen für die Annahme, dass Jesus in diesen Begegnungen mit Kindern nicht einfach dargestellt wird als Freund der Kinder, sondern als jemand, der darin zugleich verschiedene Ebenen einer Theologie entfaltet: 1. Jesus verdeutlicht in den Kindern erstens die Struktur der Öffnung und Aufnahmefähigkeit für den Glauben als erstem Element von Theologie, als Voraussetzung für das Hören des Reiches Gottes. Matthäus macht es am deutlichsten, indem er Jesus sagen lässt: „…wenn ihr nicht werdet wie die Kinder…“ Im Zusammenhang ist hier offensichtlich eine Haltung gemeint, die in völliger Offenheit, unverstellt von Vorurteilen, Reflexionen, Einordnungen nach Stand, Vermögen u.ä. die Botschaft aufzunehmen in der Lage ist. Als Theologie ist diese Haltung insofern zu verstehen, als sich jeder Logos von Gott einzuordnen hat als Antwort auf eine vorhergehende Beanspruchung, die im Logos zur Geltung kommt. Den Logos und auch die Reflexion daher nicht als subjektiv initiierte Frage, sondern als Reflex auf eine Beanspruchung zu verstehen, das macht diesen Glaubensakt, der hier von Jesus als kindlicher herausgestellt wird, zu einem zugleich auch theologischen Akt. 210 3 Theologisieren mit Kindern? 2. Zweitens stellt Jesus die Kinder heraus als diejenigen, die in besonderer Weise auch zur Annahme, nicht nur Aufnahme, also zur Apperzeption, nicht allein Perzeption des Gehörten in der Lage sind: Menschen wie ihnen gehöre das Reich Gottes (Mk 10,14ψ), so die Argumentation, denn wie sie solle das Reich Gottes auch angenommen werden. Was meint dies? Die Kinder werden hier von Jesus angerührt, umarmt, durch Handauflegen gesegnet. Die Annahme scheint hier eine ganz unmittelbar sinnlich fassbare Struktur zu gewinnen (wie im übrigen bei vielen weiteren in Heilungsgeschichten verpackten Glaubensgeschichten in der Begegnung mit Jesus ebenso!). Zur Annahme, also der je persönlichen Realisierung eines Anspruchs, gehört mithin wesentlicher als die Reflexion die unmittelbar sinnliche Erfahrung, die Ausdruck dafür zu sein scheint, dass es um eine Annahme ganz und gar geht, mit Haut und Haar, Herz und Nieren, nicht nur in je durch das annehmende Subjekt wieder zu relativierender Weise. Insbesondere in den Kindern wird als Glaubensstruktur deutlich: Glaube betrifft nicht nur das Leben, sondern greift ganz und gar ins Leben ein, bestimmt es als eine neu dieses tragende Struktur. Theologie ist dieser Glaube, insofern auch die wissenschaftliche Reflexion stets verwiesen bleibt darauf, dass sie eine mögliche Antwort ist, die Leben ganz in Besitz nimmt, sich nicht nur als je wieder zurückziehende Reflexion auf ihren Gegenstand bezieht. 3. Aus der auf die Aufnahme folgenden Annahme ergibt sich als dritte Struktur die Antwort. Auch sie verdeutlicht Jesus nicht nur als Glaubenselement, sondern zugleich als Struktur von Theologie wiederum an den Kindern: Sie sind es, die ohne Angst vor möglichem Ärger, ohne Scheu und Skrupel vor einem Missverständnis Jesus zurufen: „Hosanna, dem Sohn Davids.“ (Mt 21,15). Jesus lässt diese Äußerung zu und beglaubigt sie ausdrücklich unter Verweis auf den Ps 8,3: „Aus dem Mund der Kinder und Säuglinge schaffst du dir Lob!“ - Die Kinder machen damit unmittelbar deutlich: Der Mensch steht immer schon, gleichsam nativ und insofern auch naiv im Anspruch Gottes. Existenzerhellende Glaubenserfahrungen von Erwachsenen erweisen sich damit als Erinnerungen, Anamnesen einer stets schon vorhandenen Befindlichkeit. Und zum andern wird Theologie hier über die reine Ebene der Reflexion hinausgetrieben: Säuglinge sprechen reine klaren Worte, doch auch unmittelbare Äußerungen vorsprachlicher Art können sich als Antworten erweisen, womit alle theologische Reflexion in die Dimension einer Antwort auf einen zuvor ergangenen Anspruch eingebunden wird. Theologie ist nur, was sie ist, wenn sie sich als eine solche Antwort versteht. Eine solche Rekonstruktion jesuanischer Theologie der Kinder ist keineswegs willkürlich. Hält man sich vor Augen, dass die paradigmatischen, da prägenden Glaubensgeschichten der Bibel stets diese drei Strukturelemente Hören bzw. Öffnung, Annahme und Antwort bzw. Tun enthalten, reiht sich Jesu Erläuterung 3 Theologisieren mit Kindern? 211 kindlichen Glaubens völlig in diese Tradition ein.48 Am stärksten ausdifferenziert ist dies wohl überliefert in der Berufung des Mose Ex 3f.. Jesus aber appliziert diese Struktur keineswegs bloß auf Kinder, sondern stellt in der Begegnung mit ihnen, an ihrem Verhalten und ihren Äußerungen die Pointen eines auf Erschließung angelegten Glaubens heraus. Eben darum sind Kinder nicht nur Glaubende, sondern auch Theologen. Gespräche mit Kindern, die beanspruchen, mit Kindern zu theologisieren, müssen sich offen halten für diese an und mit Kindern zu entdeckende Dimension. 48 Der Klarheit halber sollte festgehalten sein: Ganz bewusst erfolgt diese Deutung nicht in den Deutemodellen historisch-kritischer Bibelexegese, sondern in der Voraussetzung, dass es sich zumindest bei den hier zur Debatte stehenden biblischen Texten immer auch um theologische, das heißt bewusst so und nicht anders gefügte handelt. Allein eine solche Perspektive macht es im übrigen sinnvoll, sich philosophisch auf biblische Texte einzulassen. Dass es sinnvoll erscheint, dafür auch historisch-kritische Gesichtspunkte zu Hilfe zu nehmen, ergibt sich selbstverständlich. 212 4 3 Theologisieren mit Kindern? Deutung konkreter Unterrichts-Gespräche Wie sind nun auf dieser Grundlage konkrete Unterrichtsgespräche einzuschätzen, wie sie zum Beispiel dem Buch „Theologisieren mit Kindern“49 zugrunde liegen und als Anlage protokolliert sind? Inwiefern liefern sie Argumente für unsere Annahme, dass Kinder in der Lage sind, theologische Gedanken zu fassen? Und inwiefern bieten sie Modelle für das Theologisieren mit Kindern? Das sind zwei Fragen zunächst nach den Inhalten, dann nach den Formen des kindlichen Theologisierens. Auf beiden Ebenen bieten uns die Unterrichtsprotokolle Beispiele: Auf der inhaltlichen Ebene geht es um die Fragen (1) der Theodizee, (2) der Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse und (3) der Frage des freien Willens. Das Theodizee-Beispiel arbeitet (A) mit einer Dilemmageschichte, die den Einstieg für eine Schreibübung und ein kurzes Unterrichtsgespräch liefert; und das Gut-BöseBeispiel arbeitet (B) mit einer mythischen Impulsgeschichte, die Anlass bietet für das Gespräch; und das Freiheits-Beispiel arbeitet (C) mit der Auslotung eines kleinen Alltagsbeispiels durch ein ausführliches Unterrichtsgespräch, in das zwei handlungsorientierte Veranschaulichungen paradigmatischer theologischer Positionen eingebaut werden.50 Ich kommentiere die Beispiele in dieser Reihenfolge, weil sie von der Länge wie auch inhaltlich unterschiedlich komplex sind, so dass ich mit dem einfachsten beginne. Eigentümlicherweise ergibt sich bei genauerem Hinsehen aber auch eine inhaltlich aufbauende Reihenfolge: Nicht ohne Zufall gehen, meine ich, allen Unterrichtsstunden auf die Frage nach Gott, genauer auf das Verhältnis Gott-Mensch ein und fragen, in welches Bild dieses Verhältnis am besten zu fassen sei, um damit helfen zu können, konkrete Erfahrungssituationen zu deuten und zu bewältigen. Dabei geht das Theodizee-Beispiel von der Fundamentalerfahrung nicht fassbarer Ungerechtigkeit aus und fragt von daher nach Gott. Das Gut-Böse-Beispiel trägt diese Frage wie von selbst hinüber in das Problem von menschlicher Autonomie (angesichts der nicht ganz gelösten Gottesfrage). Und das Freiheitsbeispiel entfaltet und differenziert die Problematik von Autonomie und Heteronomie, um am Ende sich zu öffnen zur Frage nach der Moral. 49 Gemeint ist das Buch Büttner&Rupp (2002), dessen Konzept, wie oben Anm.1 erläutert, seine Pointe in der Auseinandersetzung mit drei konkreten Unterrichtsprotokollen hat. 50 Wie in Anm.1 erwähnt, werden die Protokolle zum freien Willen und zur Theodizee-Frage im Anhang dokumentiert, die Zitate aus dem Protokoll zum Mythos werden aus technischen Gründen per Anmerkung nachgewiesen. 3 Theologisieren mit Kindern? 213 Gut vergleichbar sind die Unterrichtsbeispiele, weil es sich um Kinder ähnlichen Alters handelt, im ersten Beispiel um eine vierte, in den anderen jeweils um eine fünfte Klasse. Ich will, um den Rahmen nicht zu sprengen, im folgenden zu den einzelnen Protokollen nur verstreute Bemerkungen machen und mich aus philosophischer Perspektive kritische auf einige die Frage nach Möglichkeiten des Theologisierens mit Kindern weiterführende Punkte konzentrieren. 4.1 „…warum hat Gott es zugelassen…“ 51: Die Theodizee-Frage (1) Es handelt sich hier um ein dreiteilig angelegtes Unterrichts-Geschehen: In einem ersten Teil wird den Kindern das sog. Richter-Dilemma von Fritz Oser vorgelegt. Die zweite Phase des Unterrichts stellt den Kindern die Aufgabe, schriftlich einige Sätze zu formulieren, was „dem Mann durch den Kopf“ gehen könnte, der solches erlebt habe; die Kinder sind geraume Zeit mit ihren Formulierungen beschäftigt und dürfen am Ende daraus vorlesen (acht schriftliche Äußerungen sind protokolliert). Drittens folgt ein kurzes, keine 10 Minuten laufendes Gespräch zu einigen hier aufgeworfenen Fragen: a) „Was soll man da sagen“ (zu solchen Widerfahrnissen von Unglück) ? (TH 1), b) „Warum lässt Gott so etwas zu?“ (TH 6) und c) „Gibt es überhaupt Gott?“ (TH 20). Im nicht mehr protokollierten vierten Teil des Unterrichts entwirft der Lehrer noch kurz einen positiven Schluss der Geschichte und schließt mit der offenen Frage, was der Mann jetzt wohl über Gott gedacht habe. (2) Zunächst ist festzuhalten, dass die drei Themenstellungen des Gesprächs nicht von Kinderseite kommen, sondern durch den Lehrer; doch bezieht er sich dabei auf zuvor schriftlich geäußerte Antworten: a) zu 1,2,3; b) zu 5, aber auch 3,6,8; c) zu 7. Insofern haben in der Tat die Kinder die theologischen Impulse für das Gespräch geliefert. Sie formulieren sogar unterschiedliche Antworten auf die Theodizeefrage: Gott als Ansprechpartner in der Not (1,8) - Enttäuschung über ausgebliebene Hilfe (3,6,7) - Gott als Ursache meiner Not (1,5) - Leiden als Strafe Gottes (4) - (die klassische Formulierung:) Gottes Gerechtigkeit angesichts konkreter Ungerechtigkeit (5,7) - Zweifel an der Existenz Gottes (7) - Impuls zur Eigenverantwortung (2,8). Bewusst habe ich auf eine Wertung der Beiträge verzichtet, um zunächst nur zu verdeutlichen, dass von den Kindern die wesentlichen Fragen der Theodizee genannt werden. Dass sich in einigen dieser Antworten für uns zudem eine ganze Theologie, 51 Unterrichtsprotokoll „Das Richter-Dilemma in einer 4.Klasse“ (im Anhang dieses Abschnitts), Mädchen 5. Ich zitiere im folgenden mit der Abkürzung „TH“ für „Theodizee“ und der Nummer der Gesprächsbeiträge. 214 3 Theologisieren mit Kindern? sprich die reflektierte Entwicklung eines theologischen Gedankengangs zeigt, habe ich in der Eingangspassage dieses Aufsatzes exemplarisch zu zeigen versucht. (3) Kinder sind also zweifelsohne in der Lage, theologische Fragen und Positionen zu fassen. Offen bleibt, inwiefern hier auch eigenständiges theologisches Denken vorliegt. Über die entwicklungspsychologischen Möglichkeiten dazu und die entsprechende Einordnung der Antworten orientiert Gerhard Büttner in seinem Beitrag. Meinerseits würde ich gegen eine vorschnelle Einordnung der vorliegenden Kinderantworten als Theologie einwenden, dass viele entweder der Diktion der Geschichte entlehnt sind oder mit Versatzstücken arbeiten, die nicht aus der unmittelbaren Reaktion der Kinder zu stammen scheinen, sondern bereits irgendwie gehörten Schemata; besonders auffällig ist das im dritten Teil des Gesprächs, aber auch in der Selbstverständlichkeit der Übernahme eines bereits vorgeprägten Gottesbezugs in den schriftlichen Antworten. Das mag an der Richter-Geschichte liegen (s.u.), vielleicht auch an der Einstiegsfrage, die keine Auskunft darüber gibt, ob der Gottesbezug bereits durch den Lehrer hergestellt wurde (s.u.). Als unmittelbare, unverstellte Auseinandersetzungen mit der Theodizee- und der Gottesfrage sind die Antworten insofern nur bedingt anzusehen. Ich meine gleichwohl, eigenständiges theologisches Denken findet statt, doch, und das ist entscheidend, eher hinter der Folie vorgegebener Diktionen, in denen sich die meisten Kinder äußern. Und diese Dimension müsste erst einmal herausgearbeitet werden, um wirklich zu einem Theologisieren mit Kindern zu kommen. (4) Dieser „Mangel“ liegt zunächst einmal an der Form des Impulses: Um eine Dilemmageschichte im engeren Sinne nämlich handelt es sich bei der von Oser vorgelegten m.E. nicht. Zum einen ist die erzählte Welt dieser Geschichte in ihren Details relativ abstrakt gegenüber der konkreten Erfahrungswelt unserer Kinder. Konkretheit aber ist für ein philosophisch wie auch theologisch fruchtbares Gespräch eine unverzichtbare Grundbedingung, da sonst ich selbst in dem Verhandelten nicht vorkomme. Zum andern entwickelt Oser mit der Geschichte kein eigentliches Dilemma, also einen Handlungs- oder zumindest Einschätzungskonflikt, sondern viel abstrakter werden wir konfrontiert mit der Seelenlage eines geschlagenen Menschen. Warum dies für uns eine Herausforderung sein kann, wird nur verdeckt zur Sprache gebracht. Schon deshalb bedarf es auch im protokollierten Unterricht einer Zusatzfrage durch den Lehrer, um kindliche Äußerungen zu evozieren.52 52 In Weiterführung der Idee, Dilemmageschichten als Impulse für ein philosophisches Gespräch zu nutzen, habe ich selbst einen Versuch vorgelegt zur Konkretisierung einiger Elemente, die mir notwendig erscheinen für eine Dilemmageschichte, die sich wirklich als Impuls für ein philosophisches Gespräch eignet: Neben dem konkreten Erfahrungsbezug sind das insbesondere die Elemente Pointiertheit der Geschichte - innere Dichte - offenes Ende - Themenzentrierung - 3 Theologisieren mit Kindern? 215 (5) Eine weitere Schwierigkeit entdecke ich in der Impulsfrage zur Aufarbeitung der Geschichte: Mit der Frage „Was geht dem Mann durch den Kopf“ scheint die andere bereits verbunden gewesen zu sein: „Was denkt er jetzt über Gott?“53. Dadurch werden die Kinder von vornherein darauf gelenkt, die Geschichte als Auseinandersetzung mit Gott zu deuten. Interessanter und für die Eigentätigkeit kindlichen Theologisierens bedeutsamer wäre die Frage, ob aus der geschilderten Erfahrung heraus die Kinder die Auseinandersetzung des Mannes mit seinem Lebensschicksal von selbst als Gottesfrage gedeutet hätten.54 Das wäre eine Bestätigung auch für die These (die ich vertreten würde, auch weil sie spannender ist): Die Auseinandersetzung mit Gott ergibt sich durch die Erfahrung einer Tiefendimension in einer konkreten Lebenssituation. - Dafür wird im Gespräch durch die Eingangsfrage „Was soll man da sagen?“ (TH 1) eigentlich eine gute Voraussetzung geschaffen: Die Kinder versuchen in ihren Antworten diese Situation durch Konkretisierungen (TH 2: Autounfall, TH 4: Erreger) auszuloten. Eine Vertiefung erfährt dieser Versuch jedoch nicht, so dass wiederum von Lehrerseite (TH 6) Gott ins Spiel gebracht wird. Auch der dritte Teil des Gesprächs wird mit der Frage „Gibt es Gott überhaupt?“ (TH 20) nicht aus dem Gespräch heraus gestellt, sondern vom Lehrer als neuer Impuls eingebracht. (6) Damit wirklich ein ein Philosophieren bzw. Theologisieren mit den Kindern und auch der Kinder selbst gelänge, käme es m.E. stärker darauf an, eine die Äußerungen der Kinder weiter in ihren Schichten auszuloten und zu problematisieren. Das müsste zunächst durch Nachfragen geschehen, etwa zu der ersten Kinderantwort: Was heißt denn das, dass ein Mensch Gott fragt; geht das, und wie geht so etwas? Oder: Wie stellst du dir vor, dass „Gott es ihm bestimmt sagen würde“? Redet Gott, hören wir ihn, wie hören wir ihn? - Erst durch Aufwerfen solcher Nachfragen würde ein Gespräch entstehen, das auch die hinter solchen Äußerungen versteckten elementaren Fragen etwa nach dem Menschen als Polarisierung des Konflikts - Aporie der jeweiligen Einzelpositionen - dialogische Anlage - zur Entscheidung drängend - weitere Meinungen evozierend - Offenheit der Entscheidung. Vgl. Petermann: Philosophieren lernen als Konzept gegen Lebensresignation? Leben und Philosophieren lernen mit Montaigne, in: ZDPE 2/1999, S.101ff. 53 Das Protokoll gibt hierüber keine klare Auskunft, zumindest die Antwort 7 scheint aber darauf hinzudeuten, dass die Kinder die Geschichte von vorneherein unter dieser Perspektive des Gottesbezugs gehört haben und auch deuten sollten. 54 Möglichkeiten eines differenzierteren, zunächst die konkrete Erfahrung auslotenden Arbeitsauftrags sind leicht zu überlegen. So könnten die Kinder aufgefordert werden, Briefe unterschiedlicher Personen zu schreiben, etwa der Menschen, die den Richter als zu hart empfinden, oder des Richters, der begründet, warum er gerecht aber hart urteilen muss, oder des Richters an einen Freund, dem er seine Geschichte erzählt, oder des Freundes an den Richter, der ihn in seiner Lage zu stützen versucht usf. Einige Möglichkeiten habe ich in dem genannten Aufsatz entwickelt: Petermann (1999) (wie Anm. 52). 216 3 Theologisieren mit Kindern? scheiterndem, fragendem, verzweifelnden, der Orientierung und des Schutzes bedürftigen Wesens zur Erfahrungen bringen könnte. Auch die erste Lehrernachfrage im Gespräch „Was soll man da sagen, warum so etwas in der Welt passiert?“ wird in ihrem Gewicht eigentlich nicht weiter aufgenommen. Warum denn „kann eigentlich niemand etwas dafür“ - wer kann denn dann etwas dafür - gibt es so etwas wie ein hinter allem stehendes Prinzip? Oder gibt es vielmehr Erfahrungen, an denen grundsätzlich Erklärungen versagen? Was aber bedeutet das dann, wenn man vor solchen Erfahrungen nicht schlicht verstummen will - epistemologisch wie ethisch? Auch hier belässt es dieser Unterrichtsversuch dabei, dass Kinder theologisch für uns und für sie selbst nur möglicherweise interessante Gedanken äußern. Damit es wirklich zu einem Theologisieren der Kinder käme, müsste ihnen ein Raum eröffnet werden, der sie diese Gedanken auch a) als ihre eigenen, b) als von ihnen selbst mit anderen weiterzuführende und c) als möglicherweise auch in ihr konkretes Leben eingreifende erfahren ließe. (7) Der für mich inhaltlich interessanteste Teil des kurzen Gesprächs ist der zweite, beginnend mit der Frage, warum Gott so etwas zulasse: Die Kinder liefern mit ihren Antworten tiefsinnige Versuche, die Frage in einer uns verständlichen und unser Leben betreffenden Weise zu beantworten. Auch hier würde ich mir erhebliche Vertiefungen erwarten, wenn nachgefragt würde: Wie stellst du dir das vor, sonst könnte etwas Schlimmeres passieren? (TH 7) Solches Nachfragen erst würde die komplizierte Thematik von Freiheit und Notwendigkeit, von Verantwortung und Determination in kindlicher Sprache entfalten können. - Insbesondere gilt das für die Schlussbemerkung dieser Gesprächsphase: Gott, der auch nicht immer in die Zukunft sehen kann (TH 19). Diese Bemerkung könnte bei Nachfrage zu einer Entwicklung der gesamten Problematik von Teleologie führen: Hat unser Leben, hat Geschichte, hat die Zeit ein Ziel? Was ist Vergänglichkeit? Warum gibt es so etwas wie Zukunft? usw. (8) Der letzte Gesprächsteil („Gibt es überhaupt Gott“) ist philosophisch weniger bedeutsam. Theologisch finde ich aber von außen betrachtet daran auffällig eine fast selbstverständliche Tendenz, diese Frage nicht abstrakt per Definition, sondern anthropozentrisch und erfahrungsorientiert zu beantworten. Wenn wir bedenken, dass die biblischen Glaubens-Summen stets als verdichtete Glaubens-Geschichten, also -erfahrungen sich darstellen, ist es m.E. aufregend, dass die Kinder ganz unmittelbar antworten, dass also Gott zunächst und vor allem in und durch Geschichten und in menschlichen Erfahrungen bzw. Erfahrungen mit Menschen wie Jesus für uns zur Frage wird. Darin liegt für mich eine Bestätigung einer anthropozentrisch und erfahrungsorientiert fundierten Theologie bzw. eines Wortes wie Heilsgeschichte. 3 Theologisieren mit Kindern? Anhang zu 4.1: Das Richter-Dilemma in einer 4. Klasse 217 55 Um herauszufinden, wie Grundschulkinder selber Theologie treiben, haben Gerhard Büttner und Hartmut Rupp einen Ansatz von Anton A. Bucher56 aufgenommen und versucht, Kinder einer vierten Klasse in Karlsruhe mithilfe einer Dilemmageschichte in ein theologisches Nachdenken über die Theodizeefrage zu verwickeln. Die Unterrichtsstunde war folgendermaßen aufgebaut: 1. Sorgfältige Vorstellung der Dilemma-Geschichte 2. Gespräch zum Verständnis 3. Schriftliche Einzelarbeit am Gruppentisch 4. Rundgespräch Die Dilemma-Geschichte hat folgenden Wortlaut:57 In einer kleinen Stadt lebte einst ein wohlhabender Mann. Er war glücklich verheiratet, hatte vier Kinder und besaß ein großes Haus. In seinem Beruf als Oberrichter war er sehr erfolgreich. Der Mann betete regelmäßig und vergaß dabei nicht, Gott für sein glückliches Leben zu danken. Er spendete auch viel Geld für soziale Projekte. Für die armen Leute setzte er sich persönlich ein. Doch viele Leute in der Stadt fürchteten den Richter, weil er zwar gerecht, aber doch sehr streng war. Deshalb sprachen gewisse Kreise in der Stadt schlecht über ihn und verleumdeten ihn. So verlor er unverschuldet seinen guten Ruf. Nach einer gewissen Zeit musste er deshalb auch sein Amt als Oberrichter aufgeben. Das war aber nicht alles: Eines Tages wurde sein Tochter sehr krank. Sie bekam eine eigenartige Lähmung, die jeden Tag schlimmer wurde. Der Ex-Richter konnte die Kosten für eine Heilung nicht mehr aufbringen. So musste er sein schönes Haus verkaufen und all sein Geld für Arztrechnungen aufbrauchen. Seine Tochter aber wurde dennoch nicht gesund. Das folgende Unterrichtsprotokoll gibt zunächst die schriftlichen Aufzeichnungen (3. Teil der Stunde) wieder, die die Kinder vorgelesen haben:58 L: Was geht dem Mann durch den Kopf? Mädchen 1: Dass Gott ihm nicht mehr geholfen hat und dass der Mann jetzt traurig war. Er sollte zu Gott beten und ihn fragen, warum er das gemacht hat. Dann würde Gott es ihm bestimmt sagen. Und er würde Gottes Sage annehmen. Er sollte dann das tun, was er sagt. Mädchen 2: Er sollte weiterbeten. Er sollte fest daran denken, dass seine Tochter gesund und vielleicht wird sie ja wieder gesund. Er sollte auch sparen, um mit seiner Tochter zum Arzt [zu] gehen. Junge: Ist die Geschichte echt? Mädchen 3: Er ist enttäuscht über Gott, denn er hat jeden Tag gebetet, dass er von Gott beschützt wird und alle anderen, die er kennt. Er ist sehr enttäuscht von Gott, denn er hat ihm nicht aus einer Not geholfen und seine Tochter und ihn beschützt. Seine Tochter musste ohne seine Hilfe in Not und mit schwerem Leiden von ihm, seinen anderen drei Kindern und seiner Ehefrau mit Kummer und Leid gehen. Mädchen 4: Warum hat Gott mich bestraft, ich habe doch regelmäßig gebetet. Soll ich überhaupt noch beten? Außerdem, ich habe doch soviel für soziale Projekte gemacht. Warum haben die Leute mich verleumdet? Mädchen 5: Warum hat Gott es zugelassen, dass alles so gelaufen ist? Warum hat Gott meine Tochter nicht gesund gemacht? So sollte es wenigstens sein, dass sie gesund ist. Warum habe ich mein Haus verkauft, wenn die Ärzte doch nichts ausrichten konnten? Findet Gott mich nicht gut, zu streng oder ungerecht? Mädchen 6: Warum hilft Gott mir nicht? Ich habe immer gebetet. Und war fromm. Er hilft doch so vielen, warum mir nicht. Junge 7: Was soll der Oberrichter über Gott denken? Er war sonst immer so gerecht, warum hat er mir das angetan? Ich habe so gut gelebt, und jetzt das! Gibt es dich überhaupt. Warum kann man meine Tochter nicht heilen. Warum hat Gott mir nicht geholfen? Wieso habe ich alles verloren, was ich früher gehabt habe? 55 Der Text des Richter-Dilemmas und des Unterrichtsprotokoll sind dem Beitrag entnommen von Büttner, Gerd / Rupp, Hartmut: Theodizee als Dilemma. Möglichkeiten und Grenzen der Dilemmadiskussion als Medium kindlichen Theologisierens. In: Büttner&Rupp (2002), S.22-34. 56 Büttner und Rupp beziehen sich hier auf Bucher, Anton A.: Kinder und die Rechtfertigung Gottes? – Ein Stück Kindertheologie. In: Schweizer Schule 10 (1992), S. 7-12. 57 Oser, Fritz / Gmünder, Paul: Der Mensch, Stufen seiner religiösen Entwicklung. Gütersloh 31992. 58 In den von den Kindern verfassten Texten, die sie hier vorlesen, wurde die Rechtschreibung verändert. 218 3 Theologisieren mit Kindern? Mädchen 8: Warum hilfst du uns nicht, meine Tochter zu heilen? Ich habe mein ganzes Haus verkauft und besitze nur noch drei gesunde Kinder und ein gelähmtes, wie lange halten wir denn noch durch? Wir leben ja nur in einem alten Schuppen. Hoffentlich geht alles gut! Es folgt das Protokoll des anschließenden knapp 10-minütigen Rundgesprächs (4. Teil der Stunde)59: (1) L: Ihr habt jetzt aufgeschrieben, was dem Mann durch den Kopf geht, worüber er nachdenkt ... Das ist ja etwas, was man immer wieder hören muss, das kann man sogar in der Zeitung lesen: Ein Mensch, der gar nichts dafür kann, wird eines Tages schwer krank, gelähmt vielleicht, ein Unfall... Habt ihr eine Erklärung, (warum so etwas passiert in der Welt)? Was soll man da sagen? - Da steht man manchmal da und weiß gar nichts zu sagen. (2) Sch: Oft sind auch andere schuld, wie bei unserem Autounfall, die einfach woanders hingucken, einem mit 50 hinten rein fahren. (3) L: Warum passiert so ein Autounfall [...], aber wie ist es bei einer schweren Krankheit? (4) Sch: Da kann eigentlich niemand was dafür. Manche haben diese Erreger einfach in sich und wenn die dann irgendwann anfangen zu wirken. Menschen können auch nichts dafür, wenn ein Kind behindert geboren wird. Die Leute können auch nichts dafür. (5) [Lachen] (6) L: Aber warum lässt Gott so etwas zu? Findet ihr da einen Weg beim Nachdenken? (7) Sch: Irgendwann würde vielleicht noch etwas Schlimmeres passieren. (8) Sch: Vielleicht hat der Mann auch einmal etwas gemacht, was er nicht machen sollte und da hat Gott gedacht, dass er ihn jetzt bestraft dafür. (9) L: [...] Wie denken darüber andere? Könnt ihr euch das vorstellen? (10) Sch: Hat soviel Gutes getan... (11) Sch: So schlimm hätte es auch nicht kommen können. Wenn, dann wär´s auch etwas übertrieben. (12) L: Auf jeden Fall zu viel? [...] (13) Sch: Vielleicht wäre hinterher etwas viel Schlimmeres passiert, das wollte er ja vermeiden. (14) L: Das war wie ein Stoppschild. (15) Sch: Oder seiner Tochter wäre etwas viel Schlimmeres passiert, (dass sie noch mehr leiden müsste), wie die Lähmung. (16) Sch: Aber er hat doch nicht ihn, sondern die Tochter bestraft. (17) L: Kann das sein, dass der Vater etwas macht und das Kind krank wird? Kann man sich so etwas vorstellen? [...] (18) Sch: Vielleicht hat das Kind ja was gemacht, falsch gemacht oder ihn beleidigt. (19) Sch: Man kann ja nicht immer in die Zukunft sehen, das kann Gott auch nicht immer, (oder warten, was kommt). (20) L: [...] Gibt es überhaupt Gott? Könnte der Mann zu dem Ergebnis kommen, es gibt Gott nicht? (21) Sch: Es gibt Gott. In den Erzählungen... aber keiner hat Gott je wirklich echt gesehen. Keiner hat ihn je echt gesehen, weil sich keiner ein Bild von ihm machen sollte. [...] (22) Sch: [...] Ich hab ein Lexikon, Kinderlexikon, unter „G“ da hab ich einfach mal geguckt und da steht Gott drin. Da steht Gott drin, das ist ein alter Mann mit so einem ganz langen, wie bei Asterix, mit einem langen Bart, graue Haare und was ganz Komisches an, ein Gewand. (23) L: Was hast du gedacht, wie du das Bild zum ersten Mal gesehen hast? (24) Sch: Ich habe erstmal gelacht. (25) L: Hat jemand eine Vorstellung? (26) Sch: Normaler Mensch. (27) Sch: Ein bisschen älter als wir, 100 Jahre, dass er nicht so viel an hat wie wir auch. (28) L: [...] (29) Sch: Gott als eine große Kraft im Weltall... (30) Sch: Mit Bart. (31) Sch: ... so ist wie ein junger Mann, der aber nicht älter wird, immer gleich ist. (32) Matthias: Er hat früher gelebt, deshalb hat er nicht so neue Kleider. (33) Claudia: So ähnlich wie Jesus. (34) L: Wie sieht Jesus aus? (35) Sch: Wie ein normaler Mensch. 59 Die Äußerungen in ( ) – Klammern sind Ergänzungen meinerseits, die ich aus der per Video zugänglichen Unterrichtsaufzeichnung entnommen habe. 3 Theologisieren mit Kindern? 4.2 219 „…der Satan kann doch nicht in die Seele hineingehen…“ 60: Der Kampf zwischen Gut und Böse (1) Auch in diesem Unterrichtsbeispiel sind drei Phasen zu unterscheiden: Mit der expliziten Zielsetzung, die Auseinandersetzung um das Richter-Dilemma61 und die Theodizeefrage fortzusetzen, wird zu Beginn eine die mythischen Elementen der Originale aufnehmende und entfaltende Geschichte von der Erschaffung der Welt und dem Engelskampf erzählt.62 Zur Verarbeitung dieses Impulses kolorieren die 60 61 62 Unterrichtsprotokoll „Das Richter-Dilemma und der Kampf Michaels gegen Satan“, Nr. 2. Das Protokoll lag mir in ausführlicher Form schriftlich vor. Dabei waren die Äußerungen durchnummeriert. Ich zitiere im folgenden unter dem Kürzel „GB“ für „Gut-Böse“ und der Nummer des Gesprächsbeitrags, wobei ich aus Gründen der Lesbarkeit vorgenommene geringfügige Ergänzungen in [ ]-Klammern gesetzt habe. In den Band Büttner&Rupp (2002) ist dieses Protokoll nicht vollständig aufgenommen worden, vielmehr sind große Teile eingebaut in den Beitrag von Hartmut Rupp: Kinder brauchen Mythen. In: Büttner&Rupp (2002), S.79-93. Der Transparenz halber gebe ich daher die von mir jeweils gemeinten Äußerungen in einer Anmerkung wieder. Gemeint ist das oben im Anhang zum Abschnitt 4.1 wiedergegebene Dilemma von Oser. Die Geschichte stammt von Hartmut Rupp, unter „Bearbeitung des Mythos vom Engelsturz und vom Chaosdrachenkampf in Aufnahme von Gen 1,16ff und Offb 12,4-9 sowie jüdischen Elementen (A.Rosenberg: Engel und Dämonen. München 1986, S.49, 92-101, 153-168)“ (Rupp in: Büttner&Rupp 2002, S.88). Rupp hat die Kinder „darauf hingewiesen, dass es sich hier um eine zwar frei nacherzählte, aber uralte Geschichte handelt, die zwar nicht vom Richter handelt, aber ‚irgendwie’ doch etwas mit der Richter-Geschichte zu tun habe“ (ebd. S.86). Ich zitiere die Geschicht hier wegen meiner nachfolgenden Analyse vollständig aus seinem Aufsatz „Kinder brauchen Mythen“ (in: Büttner&Rupp 2002, S.86ff): Es ist ganz am Anfang. Da sagt sich Gott: Ich möchte die Welt erschaffen. Ich möchte nicht alleine sein. Und Gott beginnt Himmel und Erde zu machen. Als erstes macht er das Licht. Dabei sagt er sich: Ich brauche Helfer bei der Erschaffung der Welt. Ich brauche Wesen, die ganz nahe bei mir sind, die mich umgeben, die meinen Willen ausführen, die einen Teil von mir in sich haben. Ich brauche Engel, ganz verschiedene. Und deshalb machte Gott mit dem Licht die Engel. Engel sind deshalb fast ganz aus Licht. Wenn man sie sieht, tragen sie meistens ein weißes Kleid. Die Engel helfen Gott bei der Erschaffung der Sterne, der Tiere und der Bäume. Am sechsten Tag ruft Gott alle Engel zu sich und er sagt: Ich danke euch für eure Hilfe bei der Erschaffung der Welt. Nun habe ich etwas ganz Besonderes vor. Ich möchte ein Ebenbild von mir selbst erschaffen. Ich möchte die Menschen erschaffen. Sie sollen nur etwas geringer als ihr sein, als meine Engel. Sie sollen in der Welt, in der Schöpfung zeigen, wie ich bin. Sie sollen herrschen, wie ich, mir ähnlich, freundlich und immer an die Pflanzen und Tiere denkend, an Luft Erde und Wasser. Sie sollen die Welt gestalten und erhalten. Sie sollen sie bebauen und bewahren. Ich will, dass sie wie Könige und Königinnen durch das Leben gehen. Sie sollen stolz sein, weil ich sie gern habe. Und sie sollen alle Lebewesen spüren lassen, dass ich Gott es gut mit der Welt meine. Die meisten Engel nicken beifällig. Nur Satanael, der Anführer der himmlischen Heerscharen und himmlischer Oberstaatsanwalt ist damit nicht einverstanden. „Was soll das? Die werden sich von dir lossagen und machen, was sie wollen. Sie werden sich einander umbringen und Pflanzen und Tiere und Luft und Wasser zerstören. Sie werden Menschen verleumden und fertig machen. Sie werden schlecht übereinander reden und lügen. Und wir, sollen wir da auch noch mitmachen? Das darf doch nicht wahr sein.“ Satanael ist sauer und gekränkt. 220 3 Theologisieren mit Kindern? Kinder dann zweitens einen Ausschnitt des Dürerbildes zum Engelskampf. Wiederum folgt als dritte Phase ein Unterrichtsgespräch, diesmal länger (18 Minuten) und mit wesentlich mehr Wendungen: (2) Folgende Themen werden im Gespräch nacheinander verhandelt: (a) Wie kann der Satan in die Seele hineinschlüpfen?, (b) Welche verunsichernde Wirkung übt der Teufel in der Seele aus?, (c) Was mag sich Gott gedacht haben bei der Opposition des Satan?, (d) Welche Hilfen bietet das Hören und Lesen der Geschichte: Hoffnungsbilder - Nachdenklichkeit - Gott als Vorbild, (e) Bietet die Geschichte einen Aufruf zu selbständig und eigenverantwortlicher Lebensgestaltung?, (f) Birgt ein Mythos auch Gefahren? - Einige Fragen werden durch die Lehrperson aufgeworfen, einige, auffälligerweise auch die komplexeren und interessanteren (a,c,e,f) Bis jetzt waren sie, die Engel, die besonderen Geschöpfe Gottes. Gott lächelt und sagt dann ganz ernst: „Ja, all das kann so sein. Aber ich möchte keine Automaten, die nur das tun, was ihnen einprogrammiert wird. Ich möchte Menschen, die freiwillig das Gute tun.“ Satanael wird zornig. „Nein, das darf nicht sein. Sie werden nur Böses tun und nichts von dir erzählen.“ Gott sagt: „Dann ich werde selbst zu ihnen gehen als Mensch, wie sie. Und werde ihnen zeigen, wie Gott ist und wie es ist, ein guter Mensch zu sein.“ Satanael hält Gott für verrückt. "Sie werden dich umbringen!“ „Das kann sein, doch ich werde die Menschen nicht sich selbst überlassen.“ Satanael gibt Gott auf. Ein Drittel der Engel steht zu ihm. Er will diesen Plan verhindern. Er beginnt einen Kampf gegen Gott. Gott kommt in Schwierigkeiten. So leicht wird man gegen seine eigenen Engel nicht fertig. Er sucht einen neuen Anführer. Er findet Micha und wählt ihn aus zum Chef der himmlischen Heerscharen. Er nimmt Satanael das „El“ aus dem Namen und gibt es Micha. So wird aus Micha Michael. Im Himmel beginnt ein wilder Kampf. Er wogt hin und her. Manchmal sieht es so aus, als müsse Gott verlieren und den Himmel dem Satan überlassen. Doch schließlich gelingt es Michael, den bösen Engel, den Drachen, den Teufel aus dem Himmel hinaus und auf die Erde hinunterzuwerfen - mitten in das Leben der Menschen hinein. Durch die Niederlage wird der Satan nur noch wütender. Er rennt jetzt auf der Erde hin und her und versucht alles, die Menschen von Gott abzubringen und die Herrschaft gewinnen. Ganz besonders hat er es auf die abgesehen, die an Jesus glauben, die zu Gott beten und auf Gott vertrauen. Er will alles durcheinander bringen, die ganze Welt, das persönliche Leben und die Seele innen drin. Immer wenn der Satan, der Diabolos, der Teufel auftritt, geht alles drunter und drüber, es gibt Unglück, es gibt Enttäuschung und Tränen und Menschen fangen an Gott zu zweifeln. Sie fragen sich, ob sie noch an Gott glauben sollen. Der Teufel, der Satan kann ganz verschiedene Gestalten annehmen. Er kann sich ganz klein und auch ganz unsichtbar machen. Er kann in die Seele eines Menschen hineinschlüpfen und ihn ganz durcheinander bringen, so dass er nicht mehr weiß, was er glauben soll. Er kann sogar machen, dass Menschen nichts mehr von Gott halten. Der Satan kann sich auch ganz groß machen. Dann begegnet er als Krieg, der die Menschen glauben lässt, die Welt sei total schlecht. Der Teufel kann sich auch hinter einer schlimmen Krankheit verstecken und Menschen ganz mutlos machen. So leicht wird man mit ihm nicht fertig. Gott muss gegen diesen Satan kämpfen. Deshalb schickt er immer wieder den Erzengel Michael und andere Engel auf die Erde, um Menschen zu schützen und ihnen zu helfen, mit dem Teufel fertig zu werden. Allein schaffen sie es nicht, aber auch ihre Kräfte werden gebraucht. Es gibt jedes Mal einen Kampf und es sieht immer wieder so aus, als müsste Gott und seine Engel verlieren. Es geht immer wieder hin und her in den Menschen innen drin, im Leben eines Menschen und in der großen Welt. Aber so wie Gott es mithilfe der guten Engel und vor allem Michael geschafft hat, im Himmel den Satan hinauszuwerfen, so wird er es immer wieder auch auf der Erde schaffen, den Durcheinanderbringer zu besiegen und alles tun, dass irgendwann Himmel und Erde so werden, wie Gott sie ursprünglich gewollt hat. 3 Theologisieren mit Kindern? 221 werden durch die Kinder selbst zur Sprache gebracht. Insofern wird durch diesen Unterricht unsere Annahme bestätigt und verstärkt: Kinder sind in der Lage, theologische Gedanken zu formulieren und auch unterschiedliche Positionen miteinander zu diskutieren. (3) Seine Prägung erhält dieser Unterricht durch den Versuch, mit einer Eingangserzählung mit mythischen Elementen zu arbeiten. Nun fallen zunächst hinsichtlich der Geschichte selbst einige Elemente auf, die daran zweifeln lassen, dass es sich hier um einen wirklichen Mythos handelt: Zum ersten werden zwar Elemente eines überindividuellen, sinnstiftenden Geschehens63 in die Geschichte eingebunden, aber immer wieder mit recht alltäglichen Dialogen, Gefühlsschilderungen, Auseinandersetzungen verwoben. Dadurch wird die Geschichte zwar vordergründig konkreter, da erfahrungsnäher, verliert aber tendenziell ihren gegenüber alltäglichen Erfahrungen sinnstiftenden Charakter. Diese Konstruktion wirkt sich zweitens auch auf die Form aus: Wenn Mythen sich auf der Handlungsebene auszeichnen durch ein pointiert verdichtetes Geschehen oder durch beeindruckende und tiefgründig-geheimnishafte Schilderungen, wird dieses der unmittelbaren Deutung sich entziehende Faszinosum relativiert durch eingeflochtene Begründungen und Erklärungen. Auch die sprachliche Form des Mythos, das Arbeiten mit Bildern, Ausschmückungen, Symbolen, wird durch solche eher logisch-diskursiven Elemente immer wieder durchbrochen. Das fällt insbesondere beim Schluss auf, der durch seinen erklärenden und auch parainetischen Charakter am Ende ganz aus der mythischen Struktur ausbricht. Auch wenn das bewusst geschieht64, wird dem Mythos dadurch von seiner Wirkung, und damit sind wir beim dritten Element, meine ich eher etwas genommen als dass er gewönne: Mit diesen Erklärungen erhält die Geschichte eher den Charakter einer Beispielerzählung, vielleicht eines Gleichnisses, der über das Beispiel hinausgehende prägende Charakter des Paradigmatischen geht darüber, meine ich, eher verloren. Und viertens: Zwar haben Mythos und Mythe eine orientierende Funktionen. Doch liegt diese Orientierungsleistung eher auf einer fundamentalen Ebene, also für unser Beispiel etwa auf der Ebene, dass die Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse ein Grundproblem menschlicher Existenz ist und was das für unser Leben überhaupt bedeutet, nicht aber auf der Ebene einer konkreten Handlungsanweisung oder einer konkreten Lebenshilfe. Wird damit gearbeitet, und das scheint mir die vorliegende Geschichte zumindest am Schluss zu tun, birgt das aus mythischer Sicht die Gefahr einer vorschnellen Besetzung und Deutung, der gegenüber der Mythos gerade durch Offenheit gegenüber Deutungen geprägt ist. 63 Ich halte mich dabei an die sehr einleuchtend von Hartmut Rupp in seinem Beitrag „Kinder brauchen Mythen“ (in: Büttner&Rupp 2002) entwickelten Elemente (S.88f.). 64 So Hartmut Rupp in der Erklärung in seinem Beitrag in Büttner&Rupp (2002), S.88. 222 3 Theologisieren mit Kindern? (4) Allgemein ist gegen eine solche mit logischen und parainetischen Elementen durchsetzte Konstruktion eines Mythos zunächst nichts einzuwenden, zumal sie ja bewusst so geschieht. Doch sind, meine ich, die eigentümliche Wirkung und Funktion eines Mythos eng an die grundsätzlich deutungsoffene Form gebunden. Jeder Mythos steht zwar ohne Dechiffrierung wie ein erratischer Block da, drängt also nach Deutung. Doch die Dechiffrierung findet auf einer anderen Ebene statt als der Mythos, und das muss so sein. Wird die Dechiffrierung in den Mythos selbst eingebunden, entsteht die Gefahr, die Deutung selbst zu mythisieren. Am eindrücklichsten wird diese Gefahr im Bereich der Politisierung des Mythos.65 Davon ist der vorliegende Versuch natürlich völlig frei. Doch der aus pädagogischen Gründen vielleicht einsichtige Versuche, eine Parainese in mythische Strukturen einzubinden, läuft, meine ich, Gefahr, die Chance zu übersehen, den Mythos als je neu brauchbare Folie zu verstehen, auf der Alltagserfahrungen thematisiert werden können, so dass diese nicht gezwungen sind, ihren Sinn ganz aus sich selbst zu entwickeln. Die Dechiffrierung des Mythos betrifft dann andererseits nur die Folie und bietet somit wiederum nur ein Bild, das für eigene Erfahrungen sich nutzen lässt, überlässt die Konkretisierung der Erfahrung aber der je eigenen Lebensgestaltung. (5) Im Gespräch selbst sind es vor allem wieder die Kinder, die ihre Gedanken weiter auf einer mythischen Ebene äußern: So tauchen etwa Stefan (GB 2) und Maxi (GB 10), aber auch Thekla am Ende mit dem Bild des Hauses für die Hölle (GB 48) ganz in die mythische Bildwelt ein.66 Ähnlich wie beim Theodizee-Beispiel würde 65 66 Am massivsten hat damit bekanntlich der Faschismus gearbeitet. Das sei in seinen Strukturprinzipien jedenfalls kurz per Anmerkung skizziert, um so die Gefahr der Mythisierung deutlich zu machen: Die Einbindung von mythisierenden Licht- und Wellen-Inszenierungen in die politisierende Massenbewegung hat einerseits die ansonsten krude, da vereinfachende und insofern menschenverachtende Politik in den Glanz eines überirdischen Faszinosums gepackt und ihr insofern künstlich den Schein von Allgemeinheit, Orientierung und Verbindlichkeit gegeben; andererseits wurde das Wunder elementarer Naturmächte so mit einer sehr bestimmten Deutung, nämlich der des Politischen belegt, so dass die Natur ihrerseits das Offene des Mythischen verloren hat und an die Politik als neuem Mythos abgegeben hat. Kritisch hat diese Gefahr eindrücklich Charlie Chaplin auf den Punkt gebracht, wenn er zur lichthaft mythischen Musik aus dem Vorspiel zu Wagners „Lohengrin“ Hinkel alias Hitler mit der Weltkugel als Luftballon tanzen lässt: Unmittelbar deutlich wird darin das zugleich Anrührende, als habe auch Hinkel jene von ihm verachtete menschliche Ader in sich, und das Abstoßende der Ästhetisierung einer Vernichtungspolitik. Der Mythos selbst kann sich gegen solche Adaptionen nicht wehren, denn er enthält keine Deutungsanweisungen; gerade dies schützt ihn aber umgekehrt vor einer unmittelbaren Adaptation, insofern seine Deutung stets außerhalb seiner selbst liegt, er also immer zu einer kritischen Dechiffrierung drängt. Das war an diesem Beispiel strukturell zu verdeutlichen. (GB 2): [Satan] kann doch nicht in die Seele hineingehen … (GB 10): Dass also, sagen wir einmal, der Satan bei dem Richter auf der Erde war und in die Tochter geschlüpft ist und in die Leute, die das Gerücht verbreitet haben ja … (GB 48): Und bei dieser Geschichte kann man ja auch merken, das er [Gott] manchmal gegen die Menschen ungerecht war und dass das der Satan gleich ausgenutzt hat und ist dann in die Seele rein gegangen und hat die dann noch unsicherer gemacht die Menschen und hat dann irgendwie immer heimlich gesagt, der bestraft euch, der will euch ins Gefängnis stecken und haben die dann irgendwie Gerüchte gemacht und dass er [der 3 Theologisieren mit Kindern? 223 ich mir an diesen Stellen zunächst einmal ein verstärktes Auskosten des gerade geöffneten Bildes erwarten. Das würde den paradigmatischen und insofern auch (im o.a. Sinne) orientierenden Charakter solcher Bilder für das tägliche Leben verdeutlichen und dann auch tragfähiger machen. Was gäbe denn das für eine Kraft, wenn wir dem Teufel tatsächlich ein Haus bauen könnten, in den wir ihn hineinstecken? Er bliebe dann da - wir gehen ja an diesem Haus vorbei, aber er wäre gebannt, denn erst einmal ist er drin, und wenn er herauswill, hätten wir vielleicht einen gewissen Einfluss darauf.67 In solcher oder ähnlicher Weise würde es, meine ich Sinn machen, auf genannte Bilder genauer einzugehen, um über ihre Ausformulierung ihre orientierende Wirkung zu erfahren. (6) Ebenso auffällig ist die Tendenz zur narrativen Ausgestaltung der Geschichte und auch von Gedanken, die den Kindern durch die Geschichte kommen, so etwa ganz deutlich Linda (GB 22) in Bezug auf die Gedanken des Richters68, aber auch Thekla (GB 24) und (GB 26) in den sehr interessanten Versuchen, die Gedanken Gottes nachzuempfinden69, oder (GB 44) und Max (GB 71) mit der Idee, narrativ Konsequenzen zu ziehen.70 Das bedeutet: Das Arbeiten mit mythischen Elementen Mann] dann glauben konnte, dass Gott/ es war so schlimm, er denkt, so schlimm kann er gar nicht sein, er hätte ihn ja nicht geschaffen, wenn er so was Schlimmes machen würde und wenn er dann die Geschichte, der Satan doch besiegbar ist, könnte er [der Mann] denken, wenn ich jetzt ganz toll an Gott glaube, vielleicht könnten wird dem so was wie ein kleines Haus bauen, so eine Art Hölle, wo er nur rein soll. 67 Vgl. dazu die eindrucksvolle Bannungsgeschichte Mk 5, in der Jesus den Besessenen dazu bringt, endlich einmal „die Sau rauszulassen“, um wieder er selbst sein zu können. 68 (GB 22): Der Richter hatte ja vorher so ein großes Haus, [daher] geglaubt, jetzt hab ich dem Richter, äh Gott, recht gemacht, der findet es bestimmt jetzt gut, jetzt könnt ich eigentlich so weiterleben; jetzt hat es der Satan wahrscheinlich gesehen und will, dass er nicht mehr an den Gott glaubt, jetzt hat er die Tochter krank gemacht, jetzt geht es dem Richter so wie den armen Leuten ... wie die leben, so geht es ihm jetzt. Jetzt verunsichert er den Richter so, dass er denkt, vielleicht bete ich doch nicht mehr weiter, jetzt hat sich der Gott das anders überlegt, und hat gedacht, jetzt denkt er vielleicht, das bringt einfach nichts mehr, weil er ihn nicht mehr mag. 69 (GB 24): [Richter] könnte ja auch denken, dass auch so ein Krieg im Himmel war und dass der Gott aus Versehen den Engel, also die hatten ja den Krieg, und dass Gott den Ding runter geschmissen hat aus dem Himmel und dass Gott aus Versehen einen Teufel erschaffen hat und dass er jetzt auch denken könnte, der Teufel verunsichert ihn jetzt im Leben. Und dann muss er sich denken, ich glaub an Gott, er kann so etwas Böses nicht tun und er muss weiter beten und wenn er stark ist, kann er den Teufel wieder auch aus seinem Leben verschwinden. (GB 26): Der J. hat vorhin gesagt, dass der Teufel sich ins Leben einmischt und sich den Glauben verwirrt, und das kann ja auch stimmen, dass er sich klein und unsichtbar gemacht hat und unsichtbar in die Seele ´reingegangen ist und so dass alle Menschen nicht mehr an Gott glauben und dass dann Gott denkt, er sei überflüssig, dass er was ganz Falsches gemacht hat und wieder in den Himmel holt und wieder von vorne anfängt. (GB 44): Er [der Richter] wird auch erfahren, dass nicht nur er, also dass nicht nur er - er hat ja gemeint, dass er Oberrichter [ist] - das ist ja schon ein hoher Beruf -, dass es Gott auch mal so erging wie ihm, dass es ihm eine Hilfe gibt, dass es Gott auch mal so ging wie dem Richter; jetzt weiß er auch halt, dass es gar nicht Gott war, jetzt lernt er auch halt, ich kann auch mal mit anderen gegen Satan kämpfen, ihn aus seinem Leben hinwegzubringen. (GB 71): Vielleicht müsste der Richter, wenn der Gott wieder weg wäre, einfach auf die Idee kommen, er könnte das vielleicht auch, und [wenn] der Satan immer noch da wäre, einfach den Leuten, die gegen ihn da waren, die Geschichte auch erzählen, ihnen dann auch erzählen, dass es richtig wahr war, weil die Tochter 70 224 3 Theologisieren mit Kindern? provoziert offensichtlich dazu, auf bildhafter Ebene einerseits und in narrativ ausgestaltender Form andererseits Gedanken eigenständig weiterzuführen. Wie das Element des Mythischen kann auch die Form des Narrativen eine geeignete Folie bieten, tief existenzielle, verunsichernde, beängstigende, ureigene, vielleicht sogar intime oder auch abgründige Gefühle zu artikulieren, gleichsam verpackt zur Sprache zu bringen und so einen Weg zu finden mit ihnen zurechtzukommen. Narrative Sprache ist demnach nicht etwas nur oder bloß Kindliches, was auf eine Erwachsenensprache hin gebildet werden müsste, sondern eine ganz eigene Form der Verarbeitung, Auseinandersetzung, Orientierung. Wenn gerade Kinder sie wählen, setzen sie sich auseinander, denken, gestalten. Das ernst zu nehmen, gebietet schon der Blick auf Literatur, bildende Kunst und Musik, wenn denn auch sie Orientierung und nicht nur Unterhaltung bieten. (7) Im Umgang mit mythischen und narrativen Elementen dokumentiert das Unterrichtsprotokoll freilich auch die Schwierigkeiten: Die Lehrperson greift nicht nur relativ häufig lenkend in den Unterricht ein, sondern macht nicht selten den Versuch, eher bildhafte Äußerungen relativ unvermittelt in eine logische Erklärungsstruktur einzubinden, so schon in (GB 3)71, obwohl mit der ersten Aufforderung „Fühl mal...“ sich ein sehr schöner Ansatz geboten hätte, auf der eher bildlich-affektiven Ebene zu bleiben. Das hätte zugleich die Möglichkeit gesteigert, mit dem Kind (GB 2) und von daher auch mit anderen in einen wirklichen Dialog zu treten, der so eher unterbrochen wird. Auffällig ist auch das mehrmalige Arbeiten mit der Kausalitätskategorie (z.B. GB 29, 43, 64)72, was den Gedankengang der Kinder jeweils eher abbricht oder in logisches Denken einbindet, statt für weitere Ideen zu öffnen. krank war, und das war ja vorher nie, und der Haushalt nicht mehr hat, und dann einfach mit den Leuten zusammen gegen den Satan einfach zu kämpfen und den dann auch einfach ja, wie T. gesagt hat, in so ein Haus bringen, da wo dann nur die bösen Menschen hinkommen. 71 Es handelt sich um die erste, recht ausführliche Einlassung seitens der Lehrperson, mit der das Unterrichtsgespräch nach einem ersten Einwurf von einem Kind (s.o. Anm 66) eingeleitet wird: (GB 2): [Satan] kann doch nicht in die Seele hineingehen. Und Gott hat doch den Menschen geschaffen … (GB 3): Ach so, du hast doch gesagt, dass der Satan erst mal besiegt wurde. Gott hat ihn aus dem Himmel hinausgeworfen. Gott hat den Menschen geschaffen: Fühl mal, du bist doch da. - Aber den Satan, den gibt’s noch. Und die Geschichte sagt, der kann sich total verändern. Er sieht nicht mehr aus wie da so ein rotes Wesen. Er kann sich ganz anders machen, sagt die Geschichte. Er kann sich dann so klein machen, das er ins Herz schlüpfen kann, in die Seele, ja. - Noch eine Frage zu der Geschichte? - Eine alte Geschichte. Können wir anfangen darüber nachzudenken, indem ihr sagt, was ihr euch gedacht habt? 72 Jeweils handelt es dabei sich um Lehrerantworten bzw. –nachfragen, die freilich alle dokumentieren, dass die Lehrkraft sich ganz auch selbst in das Gespräch einbinden lässt: (GB 29): Und weil die zusammenhängen [beide Geschichten], tröstet es. Könntest du noch genauer erklären, was würde den Richter denn trösten in der Geschichte? (GB 43): Weil, er würde merken, es ist nicht Gott, der dahinter steckt, hinter dem Bösen, sondern Satan. (GB 64): Das heißt der Richter darf ein bisschen sagen, ja ich habe vielleicht ein falsches Urteil gemacht, aber Gott wollte, dass ich eine eigene Entscheidung treffe …; dass er merkt, dass er nicht als Automat geschaffen wurde … 3 Theologisieren mit Kindern? 225 (8) Doch auch die Kinder brechen selbst aus aus dem Raster des Mythos. Aber sie tun dies, um den Mythos mehr oder weniger offen und auch eigenständig zu dechiffrieren als bloße Folie zur Anregung eigenen Denkens (so in überzeugender Weise Maxi (GB 59) und vor allem Linda (GB 71)73) oder auch in skeptischaufklärerischer Kritik an seiner Sprachform, welche Eigenverantwortung mythisierend beschränke (so GB 83 und 8574). Das könnte unsere Idee bestätigen, dass über die Dechiffrierung mythischer Sprache vielleicht besser als über den direkt logisch-reflexiven Diskurs es gelingen kann, gerade existenzielle Fragen von Angst, Freiheit, Verantwortung und Schuld zur Sprache und zur Auseinandersetzung zu bringen. Die in die Form des Mythos gehüllte Grundfrage nach gut und böse würde somit eine Folie und einen Einstieg liefern zur intellektuellen, eigenständigen und dialogischen Auseinandersetzung mit komplexeren Themen konkreter Lebensgestaltung. Insofern würde ich die These von Hartmut Rupp gern variieren: Kinder brauchen Mythen75, ja, aber um sie dechiffrieren zu können. Der Wert von Mythos und Mythen und das Programm der Entmythologisierung hängen insofern unmittelbar zusammen. 73 (GB 59): Die T. hat ja gesagt, dass uns Gott nicht einfach so erschaffen hat. Er hat uns ja auch nicht einfach so erschaffen. Er wollte uns ja nicht als Spielzeug, als Zerstörungsmaschine haben, er wollte ja Leben auf der Erde schaffen und nicht, dass das alles unter seinem Kommando läuft, sondern selbständig auch macht. (GB 71): Vielleicht müsste der Richter, wenn der Gott wieder weg wäre, einfach auf die Idee kommen, er könnte das vielleicht auch, und der Satan immer noch da wäre, einfach den Leuten, die gegen ihn da waren, die Geschichte auch erzählen, ihnen dann auch erzählen, dass es richtig wahr war, weil die Tochter krank war und das war ja vorher nie und der Haushalt nicht mehr hat und dann einfach mit den Leuten zusammen gegen den Satan einfach zu kämpfen und den dann auch einfach ja wie T. gesagt hat in so ein Haus bringen, da wo dann nur die bösen Menschen hinkommen. 74 (GB 83): Vielleicht glauben die ihm dann halt nicht mehr [wenn der Richter den Satans-Mythos anderen Leuten erzählen würde], gerade weil sie … Irgendwann glauben sie immer mehr, was sie selbst erfunden haben … (GB 85): [Der Richter] könnte ja auch Angst haben, dass die Leute sagen, der lügt, der erzählt bloß schlechte Sachen, der möchte bloß, dass er dann seinen guten Ruf wieder her kriegt und so… 75 Rupp in Büttner&Rupp (2002), S.79ff, insbesondere S.92. 226 4.3 3 Theologisieren mit Kindern? „…weil man da sich selbst steuert…“ 76: Das Problem des freien Willens (1) Grundsätzlich: Dieses letzte Protokoll ist unter philosophischer, aber auch theologischer Perspektive und auch unter der Frage eines Modells für ein Theologisieren mit Kindern für mich das mit Abstand interessanteste. Das liegt weniger an der elaborierten Thematik, vielmehr an den ungewöhnlichen Fähigkeiten dieser Kinder, sich auf diese Thematik einzulassen, gewiss aber auch an einer ausgezeichnet geglückten Mischung von Gesprächsimpulsen, Angeboten zum SelberDenken, Strategie der Nachfragen, Dialogbereitschaft und natürlich auch Sachkompetenz von Seiten der Lehrerin. (2) Eine gliedernde Übersicht über den Unterrichtsverlauf ist hier von besonderem Interesse, weil sowohl im Fortschritt der Gedanken als auch in den eingebauten Elementen zur Gesprächssteuerung sich klare Strukturen erkennen lassen, die für ein philosophisches und theologisches Gespräch mit Kindern als modellhaft angesehen werden können: Das Protokoll beginnt bereits in Minute 25. Für unseren Zusammenhang, die Diskussion des freien Willens, ist es wichtig, zwei Voraussetzungen zu benennen: Zum einen hatten die Kinder sich offenkundig in einer der vorausliegenden Stunden mit Gottesbildern auseinandergesetzt, und zwar nicht mit der viel zu allgemeinen Frage, welches Bild die Kinder denn von Gott haben, sondern mit der sehr viel konkreteren, wie das Verhältnis Gottes zu den Menschen in ein Bild zu fassen wäre. Darauf nimmt die Lehrerin mit ihren Kindern ab Minute 44 (FW 77) Bezug. Insofern ist die Stunde eingebunden in einen größeren Zusammenhang; auch von daher erhält sie die ihr eigentümliche Spannung.77 - Den Impuls zur Auseinandersetzung um den freien Willen im engeren Sinn liefert das (noch nicht protokollierte) Beispiel von Gabi, die aus Verärgerung den Walkman ihres Bruders heruntergeworfen hat (vgl. FW 65,68). Mit der konkret erfahrungsbezogenen Frage, wodurch unser Tun im unmittelbaren Affekt gesteuert werde, beginnt der protokollierte Teil der Stunde: Was mag Gabi „geritten“ habe, dies zu tun (FW 4)? Die Stunde ist damit eingebunden in eine ethische Fragestellung, mit der sie auch wieder schließt. Sie liefert den notwendigen Rahmen, die schwierige Frage nach Freiheit erfahrungsorientiert verhandeln zu können. 76 Unterrichtsprotokoll „Freier oder unfreier Wille?“ (im Anhang), Nr.33. Ich zitiere im folgenden unter dem Kürzel „FW“ für „Freier Wille“ und der Nummer des Gesprächsbeitrags. 77 Vielleicht gehört es zu den Eigentümlichkeiten des Religionsunterrichts wie auch des Philosophieund Ethik-Unterrichts, dass, jedenfalls nach meinen Erfahrungen, das Arbeiten in größeren Sinnzusammenhängen nicht nur zur Klimaverbesserung beiträgt, sondern auch die je persönliche Wirkung verstärken hilft. Als sehr förderlich auch für die tieferen Ziele des Religionsunterrichts, zu einer bewussten Auseinandersetzung und Entscheidungsfähigkeit mit „Glaubensdingen“ zu befähigen, ist in meinen Augen der Versuch, im Katholischen Religionsunterricht in BadenWürttemberg für die einzelnen Klassen jeweils ein Jahrgangsthema vorzugeben, an das alle Einzelthemen angebunden werden können, so dass etwas wie ein roter Faden entsteht. 3 Theologisieren mit Kindern? 227 (3) Die Stunde verläuft dann weiter in gut abgrenzbaren 6 Teilen: Im 1.Teil (Minuten 25-41) erläutern die Kinder, ausgehend von der Skizze der Position Luthers (FW 4,6,10) mit ihrer Lehrerin dieses Bild, zunächst (a) in einer kurzen Verständigung (FW 10-23), dann (b) in einer die Frage Gott oder Teufel entfaltenden Erörterung (FW 24-64). In einem unmittelbar anschließenden kürzeren 2.Teil (Minuten 41-43) wird dann die Stimmigkeit des Lutherschen Bildes überprüft (FW 65-76). Einen Übergang bildet der 3.Teil (Minuten 44-48), der diese Auseinandersetzung nun einbindet in die bereits früher von den Kindern herstellten Bilder zum Verhältnis „GottMensch“ (FW 77-102). Die kritische Überprüfung der Bilder mit den jetzt erreichten Ergebnissen eröffnet zugleich den 4.Teil (Minuten 49-54), nämlich die Konfrontation mit dem Gegenmodell zu Luther, nämlich Erasmus. Zunächst geschieht ganz entsprechend zum ersten Teil eine Verständigung über dieses neue Bild (FW 103116), während der 5.Teil entsprechend dem zweiten (Minuten 55-64) im unmittelbaren Anschluss das Bild auf seine Stimmigkeit überprüft. Mit einem kurzen 6.Teil (Minuten 64-66) schließt die Stunde, indem das kritische Ergebnis der ErasmusDiskussion in die eher nur noch als Frage formulierte Problematisierung einer Ethik über Erasmus und Luther hinaus überführt wird (FW 157-168). (4) Die (Über-)Länge des Gesprächs ist nur insofern ein Einwand gegen die Durchführung, als sie in dieser Form nicht planbar ist. Aufgewogen wird dieser Einwand, da die Stunde getragen ist von der außergewöhnlichen Bereitschaft jüngerer Kinder, sich über 60 Minuten auf einen dichten Diskurs78 einzulassen. Zudem leistet die Lehrerin eine sehr geschickte Gesprächsführung: Die Rekonstruktion hat verdeutlicht, dass planerisch die Stunde getragen ist a) von einer klaren Anbindung an einen größeren Horizont, nämlich unser Bild zum Verhältnis Gottes zu den Menschen, b) einer zu Beginn und am Ende sehr klar im Zentrum stehenden Thematik, nämlich der Frage nach der Autonomie moralischen Verhaltens (angesichts dieses Gottesbildes, hier aber ausgehend von einer ganz konkreten Alltagssituation), welche c) entfaltet wird durch das die Stunde ebenso klar strukturierende Material, nämlich die Konfrontation der Positionen von Luther und von Erasmus als Folie zur Erörterung der Frage der Freiheit der Moral. Auch diese Entfaltung folgt einem deutlich rekonstruierbaren logischen Muster, nämlich zunächst jeweils die quaestio facti zur Erschließung der jeweiligen Position zu stellen (Teile 1 und 4), dann die quaestio iuris zur Erörterung ihrer Stimmigkeit (Teile 2 und 5). (5) Zudem arbeitet die Lehrerin für die einzelnen Teile nie auf der gleichen Ebene, sondern mit stets wechselnden Methoden, wodurch es gelingt, je neu einen 78 Von Diskurs rede ich bewusst, weil es sich um mehr als ein schlichtes Unterrichtsgespräch handelt. Vgl. unten zur Analyse der Gesprächsform. 228 3 Theologisieren mit Kindern? Spannungspunkt zu setzen, so dass die Stunde zwar lang, aber nie langweilig wird. Wie gelingt das? Die Einführung der Lutherschen These zum gebundenen Willen (Teil 1) geschieht bewusst nicht über den Text oder auch den umgeschriebenen Text von Luther79, sondern a) durch eine Mischung aus Visualisierung des Lutherschen Bildes vom Reittier Mensch und aus narrativem Nachempfinden der Nuancen dieses Bildes, sowie b) der Erschließung des Bildes über die Frage nach entsprechenden konkreten Erfahrungssituationen (FW 10). Konkreter Erfahrungsbezug und das Arbeiten mit Bildern (die Box, FW 27, später der Traum, FW 43) ist Merkmal auch der konzentrierten sich daran anschließenden Diskussion (s.u.). Die Übergangsphase (3) bleibt zwar wie der gesamte Unterricht gesprächsorientiert, bezieht sich als Quellen des Gesprächs nun jedoch auf von den Kindern zuvor gemalte Bilder. Die Erasmus-Teile (4) und (5) greifen dann zu einem ganz neuem Mittel: Der Textvorlage entsprechend, die wiederum als solche nicht Gegenstand wird, greift die Lehrerin zum Spiel mit Puppe und Apfel (FW 103 sowie 107) und lässt dann die Kinder die These durch kommentierendes und erläuterndes Nachspielen erfassen. (6) Basis für diese Fähigkeit der Unterrichtsgestaltung ist zunächst einmal ein solide theologische Sachkenntnis. Gerade die visuelle, narrative und spielerische Umsetzung der Texte von Luther und Erasmus kann nur gelingen und als Gesprächsimpuls wirksam werden, wenn diese in der Vorbereitung detailliert überlegt und nach Möglichkeiten ihrer Deutung hin entfaltet worden sind. Das aber setzt wiederum die Fähigkeit voraus, Ergebnisse auch in theologische Kategorien wie Gottesbild, menschliche Freiheit und Bindung, Soteriologie, moralische Verantwortung usw. einordnen zu können. Dass dies auch im vorliegenden Fall geschehen ist, dokumentiert die Sensibilität, mit der die Lehrerin auf Äußerungen ihrer Kinder einzugehen und sie (implizit) einzuordnen in der Lage ist. Oder: Diese Lehrerin ist in der Lage, mit den Kindern zu sprechen, weil sie zugleich ihre Theologie im Hinterkopf hat.80 (7) Die andere Basis für diese unterrichtliche Fähigkeit ist das Vermögen zu einer interaktiven Gesprächsführung: Die Steuerungen durch die Lehrerin erweisen sich immer als Impulse, die nicht für sich selbst stehen, sondern sowohl in völliger 79 80 Die Philosophiedidaktik arbeitet heute mit recht differenzierten Möglichkeiten eines kreativen Umgangs mit Vorlagen, so dass die Lesung und Interpretation eines Textes keineswegs mehr das vorrangige Unterrichtsmittel ist. Vgl dazu neuerdings das Heft 2/2000 der ZDPE unter dem Titel „Transformationen: Denkrichtungen der Philosophie und Methoden des Unterrichts. Diese Methodendiskussion soll im Zweiten Jahrbuch für Didaktik der Philosophie (Dresden 2001) entfaltet werden. Vom Autor vgl. dazu auch: Petermann: Philosophieren als Konzept gegen Lebensresignation? Leben und Philosophieren lernen mit Montaigne; in: ZDPE 2/99, 101-109; sowie Petermann: „Sei ein Philosoph, doch bleibe, bei all deiner Philosophie stets Mensch.“(zu D.Hume); in: ZDPE 3/2000. So Gerhard Büttner in einem Gespräch mit mir über dieses Unterrichtsbeispiel. 3 Theologisieren mit Kindern? 229 Angemessenheit gegenüber der zur Debatte stehenden Sache, als auch so, dass sie die Eigentätigkeit der Kinder anregen. Dazu zählen immer wieder eingestreute Nachfragen, wie denn etwas gemeint sei (z.B. FW 20, 41, 85) oder eine Äußerung genauer zu erklären (z.B. FW 16, 30!!, wo L den Impuls der Schülerin aufgreift, 44, 63, 93) oder auch mit Gegenfragen zu konterkarieren (z.B. FW 24, 78, 129ff) oder auch in Bestätigung einer Aussage (z.B. FW 20, 56, 101, 150). Diese Steuerungstechniken lassen sich ohne Umstände als Elemente des sokratischen Gesprächs deuten, auch wenn die Lehrerin nicht bewusst damit gearbeitet hat. Verblüffende Parallelen zeigen sich zu den folgenden Elementen: Das Gebot der Zurückhaltung der eigenen Einsicht, um sie den Teilnehmern selbst zu ermöglichen; das Gebot, im Konkreten Fuß zu fassen, seien es Beispiele, konkrete Erfahrungen oder Handlungsbezüge; das Gebot, das Gespräch als Hilfsmittel des Denkens voll auszuschöpfen, d.h. durch Nachfragen einen Gedanken auch möglichst vollständig aussprechen zu lassen; das Gebot, an einer erörterten Frage festzuhalten, etwa durch Nachfragen zu dem gerade zur Verhandlung stehenden Thema; das Gebot, Konsens anzustreben, - hier etwa durch das Nachfragen, ob etwas von einem anderen auch wirklich so gemeint ist (z.B. FW 150 u.ö.); und das Gebot der expliziten Lenkung, das heißt stets als Lehrer selber zu wissen, wo man im Gespräch steht.81 - Ein anderes Merkmal ist das der wahrhaften Dialogbereitschaft. Nie geht es hier um ein schlichtes Frage-AntwortSpiel, sondern stets um die gemeinsame Entfaltung von Gedanken und Ideen. Dazu gehört auch die Fähigkeit, sich in die Ideen der Kinder einzufinden und zu versuchen, sie mit ihnen gemeinsam weiter zu entfalten. Eindrückliches Beispiel dafür ist das Bild von der Box, das Elisabeth eingebracht hat (FW 27) und das nun von der Lehrerin aufgegriffen wird, um die Stunde mit einer neuen Thematik zu beleben: Man wird nicht nur geritten vom Teufel oder von Gott, sondern steht auch in der Box, reitet sich also selbst (FW 30ff). (8) Nun ließe sich einwenden: Das alles sind Inszenierungen durch die Lehrerin; wo aber agieren die Kinder selbst? Also doch eher ein Beispiel für eine Theologie (bloß) für, nicht aber der Kinder? Das Gegenteil ist der Fall: Das behauptete Lehrerverhalten bietet eine notwenige Basis, so meine These, mit deren Impulsen die Eigentätigkeit der Kinder angeregt und zur Entfaltung gebracht wird. Das geschieht vieldimensional: Es geht (a) um das eigene Denken, (b) um das Denken im Dialog, auch (c) das Denken im und durch den Erfahrungs- und Handlungsbezug und 81 Die genannten Kriterien sind der Zusammenfassung bei Gustav Heckmann: Das sokratische Gespräch. Frankfurt (dipa) 1993, S.84ff, entnommen und von mir auf die hier zur Debatte stehende Situation entfaltet worden. In einer genaueren Analyse wäre es sicher ohne Probleme möglich, diese These zu erhärten und auch durch vergleichenden Bezug auf die von Platon überlieferten historischen sokratischen Dialoge zu ergänzen. 230 3 Theologisieren mit Kindern? schließlich (d) auch um das Denken in logischer Konsistenz.82 - Exemplarisch beschränke ich mich dabei auf den ersten Teil und nenne zu den einzelnen Dimension jeweils Beispiele mit kurzer Erläuterung: (a) Mehrfach bringen die Kinder eigene Ideen in das Gespräch ein und antworten nicht schlicht auf die Lehrerfragen. Am klarsten wird das vielleicht durch die Idee von Elisabeth (FW 27), mit dem Bild der Box nicht nur eine Antwort auf die Frage FW 24 zu geben, sondern die darin angesprochene Problematik, wer uns denn nun reite, der Teufel oder Gott, eigenständig weiterzuentwickeln durch die Antwort „meistens keiner“; darüber hinaus gelingt es Elisabeth sogar, damit den Impuls geliefert zu haben, der das Gespräch weiter bestimmt und sogar später wieder aufgegriffen wird (FW 75 und 120ff). - Einen ganz neuen und tiefsinnigen Gedanken liefert auch Martin mit dem Hinweis der Selbststeuerung (FW33). Und auch Hendrik etwa bringt mit dem Thema Traum-Schlaf nicht nur ein neues Beispiel, sondern ein ganz neues Denkelement ins Gespräch (FW 43). (b) Die Kinder nehmen nicht nur Ideen anderer Kinder auf, sondern entwickeln sie auch dialogisch weiter, so etwa Larissa FW 19 unter Bezug auf die schon länger zurückliegende Äußerung von Kevin (FW 13), die in ihrem Beitrag zugleich weitergedacht und mit den zwischenzeitlich geäußerten Meinungen verknüpft wird. Ebenso bezieht sich Tillmann(FW 23) auf Niko (FW 17) oder Elisabeth (FW 74) auf Julia (FW 72). (c) Durch Erfahrungsbezug ist das ganze Gespräch gekennzeichnet. Gleich zu Beginn greifen die Kinder den Impuls der Lehrerin (FW 10) bereitwillig auf. Am interessantesten sind wiederum die Beispiele von Elisabeth (FW 27) und Hendrik (FW 43), die die Sachthematik auf der Ebene eines anschaulichen Beispiels aus der alltäglichen Erfahrung diskutieren. Elisabeth ist durch ihre erfahrungsorientierte Antwort sogar genauer als die eher abstrakte Frage der Lehrerin, ob uns Gott oder Teufel reite (FW 26): Lebendig wird diese Frage dadurch, dass sie erfahrungsbezogen durch die Kinder selbst zur Frage umformuliert wird, an Situationen zu diskutieren, inwiefern man wie geritten wird. - Der Handlungsbezug im Sinne der Applikation des eher theoretisch Erörterten auf das eigene Leben durchzieht das Gespräch in gleicher Weise und wird keinesfalls nur durch die Lehrerin (mit dem Beispiel der Entscheidung FW 52) eingebracht: So argumentiert Larissa (FW 68) 82 Damit sind Grundelemente einer Didaktik des Philosophieren mit Kindern benannt, die deren Entfaltung ich z.Zt. arbeite; vgl. die Hinweise in Petermann (2000c), Anm. 127. Diese Elemente orientieren sich an den Kantischen „Vorschriften“ zum selbsttätigen Philosophieren: „1) Selbstdenken, 2) sich (in der Mitteilung mit Menschen) an die Stelle des anderen zu denken, 3) jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken.“ [Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798). I. Didaktik, A 123]. Als didaktische und sogar curriculare Struktur wurden diese Elemente auch in die Lehrpläne der Fächer „Philosophie“ bzw. „Philosophieren mit Kindern“ in Schleswig-Holstein bzw. Mecklenburg-Vorpommern übernommen. 3 Theologisieren mit Kindern? 231 ganz auf das eigene Leben bezogen. Die Folie des Erasmus-Beispiels im 4. und 5. Gesprächsteil wird dann von den Kindern sehr lebendig genutzt, handlungsorientiert sich dem Problem des freien Willens zu nähern. (d) Am auffälligsten aus philosophischer Sicht ist dann die innere Konsistenz und Logik gerade des ersten Gesprächsteils: Keineswegs nur durch Assoziationen oder gar zufällige Einfälle bleibt das Gespräch in Gang. Schon die Situationen, die anfangs genannt werden zur Überprüfung, dass wir zuweilen geritten werden (FW 11ff) liefern Beispiele auf ganz unterschiedlichem Niveau, das durch die Antworten hindurch gesteigert wird: Man tut, was halt so passiert (FW 15), man tut, was man eigentlich nicht will (FW 11,13), man tut, was einem gleich wieder leid tut (FW 19), man tut etwas, um die eigene Haut zu retten (FW 23). Ein Fortschritt des Gedankens ist noch deutlicher im Folgenden zu erkennen: Die Idee der Box als Erläuterung dafür, dass man normalerweise nicht geritten werde, wird entfaltet durch die Reihung: quantitativ (nicht jeden Tag: FW 27) - qualitativ (nur bei Wut, nicht normalerweise: FW 29) - strukturell (in der Regel selbstgesteuert: FW 33); damit ist (von Kinderseite aus!) die Idee der Autonomie ins Spiel gebracht, die nun weiter differenziert wird: normalerweise (FW 35) - in Bewegung befindlich (FW 37) - im Ruhezustand, im Schlaf (FW 39); dieser letzte Gedanke erregt sofort Widerspruch bei Hendrik: Im Traum werde man ja doch gesteuert (FW 43) - wiederum ein neuer, aber logisch an das Bisherige sich anschließender Gedanke.83 (9) Schließlich ist die Eigenständigkeit theologischen Denkens hervorzuheben. Auch hier unterscheide ich gemäß der oben entwickelten Kriterien zwischen der theologischen Sach-Ebene und der persönlichen Glaubens-Ebene. Sachlich zunächst denken die Kinder dieser Stunde nicht nur alle Themen mit, sondern entwickeln selbständig theologische Sachprobleme. So wird die Frage menschlicher Autonomie angesichts grundlegender Steuerung durch Gott durch die Kinder selbst angesprochen (FW 33ff!!). In der Differenzierung dieser Frage merken die Kinder dann schnell, dass eine alltägliche Entscheidungsfrage, wie etwa die zwischen Mars oder Bounty eben keine Glaubensfrage ist (FW 53), also auch keine moralische Qualität besitzt oder nicht mit einer Gewissensentscheidung verwechselt werden darf. In dieser Einsicht ist ein ganzes moraltheologisches Konzept angelegt, das bereits im Gespräch fruchtbar entfaltet wird: Ganz konsequent wird (mit Verweis auf diese 83 In seinem Buch „Philosophische Gespräche mit Kindern“ kommt Matthews 1989 zu ganz ähnlichen Ergebnissen: Entgegen entwicklungspsychologischen Modellen sind, so M., Kinder durchaus zu in sich konsistenten Gedankenführungen, ja sogar logischen Operationen in der Lage. Eindrucksvoll verdeutlicht er das am Beispiel der kindgemäßen Anwendung des Transitivitätsprinzips (S. 56f.); kindgemäß wird dies nur insofern zur Sprache gebracht, als Kinder offensichtlich (und so auch in der vorliegenden Unterrichtsstunde) stärker in bildhafter und phantasievoller Weise philosophieren (vgl. S. 40ff). 232 3 Theologisieren mit Kindern? Autonomie!) die Mentalität des Abschiebens von Verantwortung auf Strukturen oder Gott oder Teufel kritisiert, ja lächerlich gemacht (FW 66ff, besonders 70). Dass Gott deswegen nicht aus dem Spiel fällt, überlegen wiederum die Kinder selbst, und zwar (natürlich!) nicht durch abstrakte Antworten, sondern konkret durch Entwicklung einer Soteriologie: Gott ist der Nothelfer (FW 82). Von daher wird sogar ein außerordentlich differenziertes Gottesbild gezeichnet: Die Metapher der Durchsichtigkeit (FW 84) kann durchaus stehen für einen Ansatz negativer Theologie („wir können ihn nicht sehen“!, FW 86), der gleichwohl wiederum nicht agnostisch missverstanden wird, sondern in Konfrontation mit Gottes „Unfertigkeit“ (Er kann Fehler machen! FW 90ff!!) wieder als Impuls zur Eigenverantwortung gedeutet wird („…damit wir uns selbst aus dieser Situation rausbringen“ FW 98). Und ganz konsequent wird dieser Gedanke am Ende heilsdimensioniert aufgenommen, wenn Gott als „Gott für die Armen“ (FW 165!!) nicht allein gedacht, sondern eben als Handlungsimpuls auch geglaubt und somit in gewisser Hinsicht auch verkündet wird. (10) Damit ist das Wesentliche auch hinsichtlich der Glaubensdimension der kindlichen Äußerungen gesagt: Nirgends gesteuert, sondern nur motiviert durch Lehrerimpulse gelingt es den Kindern dieser Klasse, nicht allein reflexiv theologisch interessante Gedanken zu fassen, sondern sie auch eigenständig weiterzutreiben, gemeinsam zu entfalten, an der konkreten Lebensführung zu prüfen, so dass ihr theologisches Denken letztlich zu einer Weitergabe froher Botschaft an andere führt: Glaubst du an Gott, so fasse Mut, du selbst zu sein und selbständig Verantwortung zu tragen, auch für andere, denen Gott darin sichtbar werden kann. - Wenn das kein authentisches und eindrucksvolles Zeugnis kindlichen Theologisierens und kindlicher Glaubensbezeugung ist! 3 Theologisieren mit Kindern? Anhang zu 4.3: Freier oder unfreier Wille? Ein Unterrichtsprotokoll 233 84 Zu Beginn der Stunde hatte Frau von Choltitz die Geschichte von Gabi erzählt, die in Wut auf ihren Bruder in dessen Zimmer stürzt und dessen Walkman zerstört. Nach ersten Versuchen, diese Handlungsweise einzuholen 85 und auf eigene Erfahrungen zu beziehen , steht nun die Frage im Zentrum, was wohl Menschen zu solchen letztlich unüberlegten Affekthandlungen treibe. 24:53 (1) Tillmann: Es gibt ja zwei Gehirne, also das eine ist das gutmütige Gehirn und das andere ist ja das äh/äh das nicht gutmütig ist, [L: Mhm.] und das ist meistens schneller, das das nicht güt/gutmütig ist, der/also die Reaktion sind meistens schneller als das andere, und dann kommt das andere später an, und dann tut´s einem wieder leid. Weil/ 25:10 (2) L: Ach so, du meinst dieses limbische System [T: Ja, genau.], das viel schneller ist und das dann schon en Befehl gibt und jetzt sozusagen einfach Hauen zum Beispiel oder was runterschmeißen, und wenn man dann wieder denkt, äh dann ist das andere, die andere Gehirnhälfte, ach ja, der Neo cortex ist des, ja genau. Ja! Hendrik! 25:24 (3) Hendrik: Sie haben uns ja mal gesagt, bevor man jetzt auf jemand losgehen soll, soll man immer bis hundert zählen 25:30 (4) L: Zähl` mindestens mit zehn ja oder bis auf zehn. Ja, das heißt also, man hat mindestens ein paar Sekunden gespart, daß man eventuell nachdenkt. Warum/warum passiert`s trotzdem, des ist zumindest eine Erklärung. Der Martin Luther hat sich/hat/hat was/´ne andere/einen anderen Eindruck gehabt und zwar, der hat gesagt: Tja ist eigentlich auch nicht unbedingt ein Wunder, warum einem so was passiert. Der findet ähm Menschen, die reitet manchmal einfach was, da reitet einen der Teufel. Ganz einfach. ((L lacht kurz)) Es passiert einfach was. Und warum? Der hat folgendes gedacht: Ich mal`/ich kann nicht so gut malen, aber ich probier` des mal. Also, hoffentlich klappt des jetzt ((beginnt ein Pferd an die Tafel zu malen und und vollendet die Zeichnung während ihren nachfolgenden Erläuterungen)), Pferd/Pferd zu malen.* Der hat gesagt, er glaubt, daß Menschen, also in dem Fall, also grundsätzlich sind eigentlich eher so wie/wie en Reittier, also wie en Pferd, ( ), die/die Pferde haben auch ihre Trense an. So und sind fertig, Sattel drauf alles/alles bereit nur, wer bestimmt normalerweise, wo ein Pferd hingeht, wenn auf ihm geritten wird? Keine Frage. Natürlich logisch. Sara! 26:42 (5) Sara: Der Reiter 26:43 (6) L: Genau, der Reiter. Und der äh der Martin Luther sagt, Menschen sind wirklich wie Reittiere, die bestimmen nicht selber unbedingt, wo sie hingehen, sondern da gibt`s jemand. Seiner Eindruck nach ist es folgendermaßen: Wenn das Pferd noch in der Box steht, den Sattel schon äh der Sattel ist schon drauf, alles ist fertig, dann kommt einer, nimmt ihn/nimmt den Pferd an den Zügeln und führt´s raus. Und dann sagt er: Und wenn es der Teufel ist, dann hmm s`schwingt er sich drauf, und dann passieren genau die Sachen, die nicht passieren sollen, zum Beispiel, dann rennt/rast das Pferd über alle Hürden und reißt sie runter, oder es rast in Gärten rein, zertrampelt alles, rennt weiter oder zum Beispiel wenn im Reitstall dann zum Bei/kleine/kleine/kleine/kleine Katzen da sind, dann wenn die nicht so schnell so/schnell genug wegkommen können, dann würden die auch noch zertrampelt. Das heißt also, wenn da der Teufel ist und der ein/diesen/dieses Pferd da sich schnappt, den Menschen und ähm loslegt, dann passiert einfach/einfach die/ einfach alle die Sachen, die einem nicht passieren sollten, dann sagt er: Nein, so ist es nicht immer/so ist es nicht immer sondern er hat en anderen Eindruck, daß is ach was, daß is zwar theoretisch auch der Teufel einen am Zügel greifen könnte, aber er denkt, nee eigentlich is es so, dass Teufel und Gott sich immer streiten, Teufel will irgendwo wegreiten, dann kommt Gott und sagt: Moment halt hier, wenn hier jemand reitet, dann bin ich es. Und dann streiten sie sich sozusagen um die Zügel und äh wenn Gott dann den Zügel hat, und er sich da draufschwingt, na ja, das kann man sich dann schon vorstellen, was nach Martin Luther dann wieder passiert, beim Teufel geht alles schief, 84 Das Protokoll stellte mir freundlicherweise Gerhard Büttner zur Verfügung. Es wurde ebenfalls in dem Band Büttner&Rupp 2002 abgedruckt (S. 53-69). Für die Abdruckgenehmigung danke ich Herrn Büttner ebenso, wie der Lehrerin, Frau von Choltitz, Dank zu sagen ist für eine solche nicht nur engagierte und mutige, sondern auch vom Standpunkt der philosophiedidaktischen Analyse aus durchweg gelungenen Stunde, was noch stärker in der entsprechenden Video-Aufzeichnung deutlich wird. Dorothea von Choltitz hat ihre Stunde unter dem Titel „Kommentar zu meinem Unterricht über den freien bzw. unfreien Willen“ ebenfalls in dem Band Büttner&Rupp 2002, S.71-78 kommentiert. 85 Zur Einbindung des Unterrichtsgesprächs in einen größeren Rahmen vgl. Büttner&Rupp 2002, S.53 und oben den Teil (2) meiner Analyse. 234 3 Theologisieren mit Kindern? restlos alles, da ist alles passiert, was nicht passieren sollte, es tut jemand weh, es geht etwas kaputt und,und. Und Kevin! 28:39 (7) Kevin: Bei Gott da passiert´s dann nichts, also da/der reit´s/der reitet das Pferd immer ganz gerade. Und da wo der Gott auch hin will und trampelt keine Tiere tot. 28:52 (8) L: Ja. Ganz genau. Was wolltest du noch sagen. 28:54 (9) Elisabeth: Also ich wollte noch dazu, was Ähnliches gibt´s auch immer bei Donald Duck oder so, da is jetzt immer so en so ähm en Teufel und dann noch so en Engel, und der Engel der streitet sich dann immer mit dem Teufel, was der machen soll. 29:05 (10) L: Aha. Ja, des is ganz ähnlich. Also und dann äh Luther sagt: Gut, wenn Gott den Zügel hat, dann wird alles gut, und wenn der Teufel den Zügel hat, dann ist es aus, dann ist/der schwingt der sich drauf und, der Mensch macht wirklich restlos all das, was ähm ja, was der will oder dann geht ihm einfach alles schief. Des war sozusagen mal die/des war die Idee, da können wir jetzt mal überlegen, ob ihr/ob ihr denkt, daß des ´ne gu/eine gute Idee`s/ist, ((L schreibt über die Pferdezeichnung: Martin Luther)) das nun relativ viel erklärt oder nicht. Stimmt des, daß es Situationen gibt, in denen man denkt: Oh nee, ich hab was gemacht, aber eigentlich wollte ich das nicht. Des is doch kaputtgegangen Ich weiß nicht. Mh stimmt des oder stimmt des nicht. Elisabeth, was würdest du sagen. 29:56 (11) Elisabeth: Ja also ich würd` sagen schon, also wenigstens manchmal, weil wenn man dann wirklich was Schlimmes getan hat, also dann/dann/dann ist man ja wirklich danach. irgendwie schon geschockt, will man sowas überhaupt tut also wo/was man eigentlich gar nicht die Idee dazu hätte. 30:17 (12) L: Mhm. Also fast wie wenn man/irgendein anderer hätte das Gefühl, ein anderer hätte die Idee gehabt oder so, daß man´s nicht richtig selber macht. [Elisabeth: Ja, so ungefähr.] Was meint ihr gibt´s sowas oder gibt´s sowas nicht. Ist des `ne gute Erklärung oder/oder würdet ihr das einfach anders erklären? Kevin! 30:36 (13) Kevin: Ja, also ich würd` sagen, des ist schon so. Weil wenn man was kaputt macht, also nur was/eigentlich ganz arg wütend ist zum Beispiel ,daß einer jetzt ähm ein Buch vollgekritzelt hat oder die das Buchzeichen rausgemacht hat ja dann kann man ja auch/also aus `nem ganz dicken Buch dann (dann macht man ja auch sowas) im ersten Moment, aber im zweiten dann nimmer. 31:09 (14) L: Ach so, ja vielleicht kann man sogar überlegen, wann sowas passiert. Kevin gerade gesagt, im ersten Moment vielleicht, dann könnt man schon fast denken: Ach stimmt das ja. Nikolas! 31:20 (15) Nikolas: Ja, des is` genauso, als ob man/wenn man jemanden fragt: Hast du schon mal gelogen? Nö. Des ist ja des gleiche des hat schon/schon bestimmt jeder schon mal gemacht, also öfters bestimmt, des is ja/des passiert auf jeden Fall. 31:30 (16) L: Ach so. Würdest du jetzt sagen, selber, also Martin Luther, der hat früher gelebt hat einfach auch andere, ja andere Erlebnisse gehabt, würdest du jetzt in dem Fall sagen, wenn einer sagt: Nö. Ich hab noch nie gelogen. Würdest du dann eher sagen: Ja, des war jetzt [Nikolas: Des war gelogen. ] war des ja/des war gelogen (war des gelogen). Des is` klar. Würdest du sagen, es/er, es is` ´ne gute Erklärung, daß da schon der Teufel da mitgespielt hat. Oder würdest du sagen: Na ja, andere Erziehung ist (auch ganz gut.)? 31:55 (17) Nikolas: Ich weiß nicht, des is` normal irgendwie. Keine Ahnung. 31:59 (18) L: Also, des gibt´s einfach auch öfters, daß man so schnelle Reaktionen hat, die halt/die nicht immer so ganz in Ordnung sind. Joa, Larissa. 32:05 (19) Larissa: Ja, also ich würd` auch dasselbe sagen wie der Kevin, weil im (ersten) Moment denkt man immer Rache ja, da muß man halt irgendwas dagegen tun, und dann, wenn man`s getan hat, und Wut dann da/da ausgelassen hat, dann/dann tut`s einem schon wieder leid. 32:14 (20) L: Aha. Daß es einfach was Normales ist. Daß, so/so sind Menschen halt einfach, kann man das so sagen? (Sonst is` es/) 32:25 (21) Larissa: Weil, daß passiert eigentlich ja jedem Menschen. 32:27 (22) L: Aha. Ja. 32:28 (23) Tillmann: Ja, ähm mitdem/mit dem Lügen sage, wie der Niko, ja, und wenn er zum Beispiel seine eigene Haut damit retten kann, manche/also, dann/dann sagt man das automatisch zum Beispiel wenn ha/wenn man jetzt einen ermordet hat, angenommen. ((MitschülerInnen lachen.)) Und dann fragt/fragt die Polizei hast du ihn ermordet, dann sagt man automatisch Nein, weil/ 32:49 (24) L: Also bei dem/wenn jemand einen ermordet hat, da ist es auch sehr oft ((Lacht)) ( ) das war jetzt zwar was anderes, aber man denkt da auch: O wei , hab ich das gewollt, oder hab ich das eigentlich 3 Theologisieren mit Kindern? 235 nicht gewollt. Wenn der Martin Luther jetzt sich so vorstellt, daß der Mensch fast/ist nur so wie ein Pferd, wo einfach immer jemand draufsitzt, was denkt ihr, wie würde er äh s/würde er sagen meistens reitet die Menschen der Teufel oder eher meistens eher Gott? Wenn man schon so überlegt, wie würdet denn ihr des dann einschätzen? Ja. 33:12 (25) S: Ich würd` sagen beides gleichzeitig, manchmal der Teufel und manchmal auch der Gott. [L: Mhm. Würdeste sagen/]. Manchmal machen sie was Gutes, manchmal auch was Böses. 33:32 (27) Elisabeth: Ich würd` sagen, meistens steht`s in der Box. Also, wird von keinem geritten. [L: Aha.] Weil, ich mein, es passiert ja nicht jeden Tag, daß man gleich so ausflippt, oder auch [L: Mhm.] oder gleich/gleich ganz ruhig bleibt. 33:42 (28) L: Ja. Das find ich auch sehr interessant. Ja, Sara. 33:46 (29) Sara: Ähm, ja, ich denk` eigentlich, wenn man so im normalen Leben, wenn nichts passiert, is` schon der Gott, aber wenn/wenn da jetzt/wenn man jetzt wütend ist, dann ist es halt der Teufel. Also, des glaub ich ( ) 33:59 (30) L: Ha das ist doch interessant. Also normalerweise steht man in der Box. Was heißt/was würde wenn man´s überträgt/was heißt des? Normalerweise wird man weder vom Teufel geritten noch vom/noch vom Gott, sondern normalerweise steht man in der Box. Wie würde/ich bin mal ganz gespannt, die Elisabeth weiß natürlich genau, wie se des gemeint hat. Was glaubt ihr, äh was/wie man des übertragen kann? Wann steht man in der Box. Selbständig sozusagen? (Man kann ja nicht)Also es ist immer so, also, es hat immer ´ne Trense an und so en Sattel, aber gut, steht in ´ner Box. Martin! (26) L: Elisabeth. 34:32 (31) Martin: (Wenn man in der ( ) ist.) 34:35 (32) L.: Und warum steht man in dem Fall in der Box? 34:37 (33) Martin: Ja, weil man da ja/ja weil man da sich selbst steuert sozusagen. 34:43 (34) L: Man steuert sich selbst. In der Box steuert man sich selbst. Wann würdet ihr sagen, wann ste/wann steht man normalerweise in der Box. Tillmann! 34:49 (35) Tillmann: Zum Beispiel jetzt im Moment, in diesem Moment ( ) [L: Und warum?] weil wir ganz normal sind, weil wir nicht wütend aufein/aufeinander sind oder/oder weil wir uns auch nicht äh groß jetzt also andren so ganz lieb sind ah lieber Junge und so (( Streicht seinem Nachbarn über die Schultern - Lachen der MitschülerInnen)) also ganz normal eben. 35:09 (36) L: Aha. Ja. Larissa, wie würdest du´s denken? 35:11 (37) Larissa: Also ich denk´ halt, wenn man was macht, was einem Spaß macht, also wenn man grad` irgendwie in Bewegung ist, Sport macht oder sonst irgendwas anderes oder malt oder irgendwas macht, dann steht man auch in der Box, weil da macht man ja nichts, sagt man ja zum Beispiel net ähm zu seiner: Oh du bist heute mein Schatz oder was, oder man/man zer/zerreißt auch nicht das Bild, weil da ist man ganz normal. 35:32 (38) L: Mhm. Und noch/noch vielleicht noch Nikolas. Und dann. 35:35 (39) Nikolas: Ja also wenn man ganz ruhig ist, wenn man zum Beispiel schlafen würde, wenn dann/dann ist es ja auch äh macht man ja gar nichts, oder wenn man zum Beispiel/wenn man jetzt zum Beispiel ähm spielen würde draußen mit ´nem Freund oder sowas, dann ist man ja auch ganz normal sowas ganz normal halt. Da ist es auch so, denk ich jetzt mal, meine Meinung. 35:52 (40) L: Bin ich gespannt. Haben die alle genau dasselbe gesagt, hast du das gemeint, steht man dann in der Box? 35:56 (41) Elisabeth: Ja, also ich würd` auch sagen, ja, des auch, aber wenn man in der Box steht, dann verhindert man auch Streit manchmal so. [L: Ah. Erklär´mal.] Ja, also, wenn´s jetzt en bissl brenzlig ist sozusagen, also dann ähm daß man da/da nicht gleich also dann eher den Streit verhindert als gleich äh los/also loszubrüllen oder so, ja. 36:25 (42) L: Das ist jetzt spannend. Ähm wenn jetzt/also stellt euch vor, da/die Gabi äh sieht ihre Bescherung, was auch immer da passiert ist, und sie steht da und denkt: Moment, ich geh jetzt nicht rüber, ich mach jetzt keinen Ärger, ich geh` jetzt rüber und sag`: Moment, warum hast du das gemacht? Wir reden miteinander. Hat Gabi das ganz alleine gedacht, selbständig, hat sie selber entschieden oder war das doch Gott? Der sie da praktisch da unterstützt hat? Wie ist denn des, glaubt ihr wirklich/also Nikolas hat nämlich gesagt, wenn man schläft, dann steuert einen niemand, würd/glaubt ihr das eigentlich wirklich? Hendrik, ich glaub du (bist dran)! 37:04 (43) Hendrik: Wenn man schläft, dann wird man ja auch irgendwie gesteuert, träumt man ja auch was. 236 3 Theologisieren mit Kindern? 37:09 (44) L: Aha. Was würdst denn du sagen, wenn jemand nichts macht, oder normale Sachen macht, wer/wer oder was steuert denn wer/wer steuert dann? 37:17 (45) Hendrik: Da streiten die sich grad. [L: Hä?] Da streiten sich der Gott und der Teufel grad`? 37:23 (46) L: So, wenn sie sich streiten. Ah ja, hat da, gut/des ist also erstmal deine Idee. Was/was würdest du sagen, wenn man schläft oder wenn man selber so (entscheidet). 37:33 (47) Lars: Dann steuert man sich selber. und so en bisschen halt der Gott, so en bissel abwechselnd. 37:37 (48) L: Mhm. Ah hast du ´ne Ahnung wie abwechselnd? 37:40 (49) Lars: Also des Träumen vielleicht der Gott oder so, [L: Mhm.] und wenn man einschläft ( ) man sich selber. 37:47 (50) L: Mhm. ( ) Eben jetzt grad zum Beispiel ist doch ziemlich interessant so, wenn man so abends daliegt und häufig nachdenkt und so wer steuert. Da kann man ganz verschiedene Meinungen haben. Des ist klar, ne. Ja! 37:57 (51) Anna: Ich würd` sagen, beim schlechten Träumen steuert einen der Teufel und bei guten irgendwie Gott. 38:03 (52) L: Und wenn jetzt zum Beispiel/ich/also ich nehme an man /man geht zum Kiosk und sagt, ich überleg` mir: Nehm` ich jetzt en Mars oder en Bounty. Elisabeth würde sagen also es wird bestimmt sowas, da steht man in der Box. Wird man da gesteuert oder wird man da nicht gesteuert? (Des is` immer spannend.). Elisabeth. 38:21 (53) Elisabeth: Jo, also ich würd` sagen eigentlich, daß man da nicht gesteuert wird, weil äh, ich mein, ist ja selber der eigene Geschmack, ob man jetzt einem das Bounty oder lecker schmeckt mehr schmeckt oder das Mars, also ich mein, das entscheidet ja wohl nicht Gott oder der Teufel. 38:39 (54) L: Aha. Sara, was würdest du sagen? 38:40 (55) Sara: Ja, mit dem/ähm/wenn man normal ist, wer da steuert, des is eigentlich ganz verschieden, wenn Leute, die irgendwie ähm stehlen oder so, da steuert halt, wenn se normal sind der Teufel und bei anderen, die ja eigentlich nicht sowas machen, is es halt der Gott. Des kommt eigentlich ganz auf die Menschen dann an. 38:57 (56) L: Mhm. Du hast jetzt eigentlich grad` so ne Antwort gegeben, der Luther würde das auch sagen, also, bei manchen Leuten ist normal ähm ja, daß sie immer viel Unfug machen, paßt zu ihnen und des wäre dann der Teufel, und bei anderen Leuten, die machen relativ viel/also sind halt auch normal, und da passiert nicht so viel, äh, da geht nicht soviel schief, da/da läuft alles ungefähr, da/da ist Gott dabei, also Luther würde sagen, ähm, und das ist jetzt die Frage ob`s stimmt ne, wenn jemand ganz normal entscheidet, und des geht ganz gut aus, da ist immer noch trotzdem der Teufel oder Gott dabei. Elisabeth hat gesagt: Nee, das ist mein Geschmack. Das entscheide ich. So, Larissa, was denkst du? 39:42 (57) Larissa: Also, ich hab mal so ´ne wenn/wenn ich als dann so dastehe, und meine Mutter fragt: Willst du lieber ein Bounty zum Beispiel oder en Mars und irgendwie zum Beispiel und dann irgendwie denkt man s`is egal sagt man dann halt automatisch, und dann denkt man aber lieber, oh ich hätt` doch lieber des Mars oder so, wenn sie dann mit dem Bounty ankommt, dann irgendwie stellt man sich auch schon irgendwie vor. Ich stell´ mir des auch immer schon vor, w/wie ich des haben will oder so und dann, wenn ich sag s`is mir egal, dann will ich halt doch lieber des eine, und da denk` ich halt, daß des der Körper macht also net Gott und der Teufel (des entscheidet man selber). 40:15 (58) L: Also, manche würden jetzt sagen, da streitet sich jetzt irgendwas und du sagst, es ist einfach dein Körper, der da mal des nicht weiß und des. (59) L: Das ist der/entweder der Körper steuert einen oder man selbst steuert einen. Tillmann! 40:28 (60) Tillmann: Ja, ich wollt` sagen, wenn man schläft, dann ich glaub`, dann steuert man sich und auch irgendwie manchmal Gott und manchmal auch der Teufel, weil man kann sich ja auch/ man kann ja auch irgendwie überlegen im Traum, was man jetzt tut auch und wo man hingeht oder so im Traum. 40:46 (61) L: Und/noch ja/und du. 40:48 (62) Nikolas: Ja, ich hab` mal so ein Buch gehabt, also das war über/das war über so die Seele und so weiter für Kinder so erk/wie des erklärt ist, und da haben die gesagt, daß im Traum die Seele wandern tut und daß der Körper und die Seele mit einem silbernen Band s/verbunden ist, das nie reißt, äh reißen kann und daß die Seele entweder dann äh in ein anderes Land geht irgendwann des sieht man oder es geht in die Zukunft oder in die Vergangenheit. 41:11 (63) L: Mhm. Wurde da auch gesagt, obdes/ist das von Gott erlaubt oder gemacht oder/ 3 Theologisieren mit Kindern? 237 41:15 (64) Nikolas: Es heißt nur die Seele und so, der Körper und so. 41:18 (65) L: Aha. Ja, des is` auf jeden Fall ähm was glaubt wenn jetzt einer/wenn einem was passiert ist, wenn der Gabi des passiert ist und sie sagt, der Walkman liegt da: Oh, des war jetzt der Teufel, der mich geritten hat. Hm, wie klingt das? Vorhin haben wir nämlich gesagt: Nun ja, vielleicht kann man`s ja ab und zu sagen, (so interpretieren) was ist daran vielleicht/vielleicht doch merkwürdig oder nicht. Ja, was würdest du sagen? 41:49 (66) Julia: Das klingt irgendwie albern, also der Teufel hat mich geritten, jetzt bin ich, also jetzt ist der Teufel daran schuld oder ich, also irgendwie halt albern, daß man so denkt. 42:01 (67) L: Larissa. 42:02 (68) Larissa: Wenn die des jetzt zu ihrem Bruder sagt, dann denkt der: Boah, bist du bescheuert, du hast mir eben meinen Walkman kaputtgemacht, ja, dann brauchst net mit Teufel oder Gott anzukommen, des hilft dir jetzt ja auch nicht mehr weiter, oder so. Und ähm ich denk`, die hat schon recht, aber man kann des net einem dann sagen. Die denken halt alle, du bist bescheuert, wenn du sowas sagst, du hast es ja selbst gemacht. 42:21 (69) L: Ah, wir sind da jetzt/also äh einerseits hat se recht, andererseits sagt man des is äh/des is bescheuert, wie paßt denn das zusammen. Ja, Tillmann! 42:31 (70) Tillmann: Na ja, also ich glaub äh, wenn/wenn man dann sagt ähm, der Teufel hat mich geritten, man ist da schon selbst dran schuld, find´ich, auch, weil man kann ja nicht immer alles auf den Teufel schieben, oder so ((MitschülerInnen lachen)). 42:42 (71) L: Mhm. Ja. Das heißt also, wir ähm ist der Mensch/wenn ihr jetzt entscheiden müßt, ist der Mensch jetzt ein wirklich so ein Reittier, das immer nur entweder geritten wird von dem und von dem und äh gar nicht bestimmen kann, welche Ideen oder welchen (Wut) oder welche Gefühle einen reiten, oder ist es nicht so, wenn man/wenn ihr euch entscheiden dürft. Was würdet ihr sagen, stimmt das jetzt eher oder stimmt das nicht? Ja, schwierig. Julia. 43:16 (72) Julia: Ich würd` sagen von jedem ein bißchen, also, daß man Entscheidungen trifft, die eigentlich von Gott und vom Teufel geführt werden und auch ohne, also, daß man alleine die entscheidet, wenn´s um wichtige Sachen geht, (Privates oder so). 43:28 (73) L: Dann entscheidet man alleine. [Julia: Ja.]. Elisabeth! 43:32 (74) Elisabeth: Ja also, ich würd` auch so ähnlich wie die Julia sagen, also weil, man wird ja nicht immer/entweder steuert man sich nicht immer alleine oder man wird aber denk` ich auch nicht immer vom Gott oder vom Teufel gesteuert. Das is` schon irgendwie so en/so en Mischmasch. Ja, vielleicht en bißchen näher (am Teufel und am Gott). 43:54 (75) L: Dein/dein Modell war sowieso es gibt ´ne Box und/oder man wird ausgeritten. Ja? Okay. Und in der Box äh entscheidet man selbst. Lars. 44:03 (76) Lars: (Es ist ja nicht immer so), weil wenn man sich jetzt ein Auto kaufen will, dann sagt haja und Gott: Nö, des kaufst dir nicht, des ist ein schlechtes Auto, oder so ((MitschülerInnen lachen)). 44:14 (77) L: ( ) Ja, sagt mal, aber gestern oder wie lang war das vor/vor ein paar Tagen haben einige Leute, wie habt ihr das gemalt, wie Gott und der Mensch zusammenhängen. In fast allen euren Bildern, ist es schon ähm beschrieben, würd` ich mal sagen. Wie hängt Gott und Mensch zusammen? Schau/Schaut ihr mal euch eure eigenen Bilder nochmal an.* Ah, jetzt könnt ihr also Künstler interpretieren ihre Bilder selbständig. Wie hängen die zusammen, Gott und Mensch? Hm auch mal/mal gucken, wer hat/wen haben wir heute noch nicht so range/ ( ) hast schon aufgeschlagen? . Nee, okay. Nachher kommst du dran. Ähm, ja. Hendrik. 44:54 (78) Hendrik: Äh, daß Gott uns steuert und als ein/ also, daß jeder Mensch halt von Gott gesteuert wird. [L: Wie hast du das gemalt?] Des is/steht Gott halt oben auf ´ner Wolke und hat so en Steuerknüppel und unten steht ein Mann, und der sagt: Ich wird` von Gott gesteuert. 45:10 (79) L: Ja. Findest du`s/ähm würdest du`s jetzt nochmal was Zusätzliches reinmalen? Nachdem wir jetzt überlegt haben. Grundsätzlich findest du schon, das es so ist? Is interessant, ne! Achtung, jetzt hast du`s wirklich schwer. Was/wie würdest du sagen, wenn jemand entscheidet welches Bounty, welches Twixx? Oder so. Würdest du sagen, da ist in/im Hintergrund ganz im Geheimen ist irgendwie Gott da, der steuert ihn so allgemein. Und wie [Hendrik: En bißchen.] würdest des sehen? So en bißchen Wie`n/ 45:41 (80) Hendrik: En bißchen entscheidet man auch selbst. 45:46 (81) L: Aha. Eine Dame Elisabeth! Wie hast du`s gemalt? 238 45:49 3 Theologisieren mit Kindern? (82) Eliabeth: Ja, ich hab`s so gemalt, daß er mich so halt versteht, daß Gott sozusagen ein Vater von uns allen ist [L: Mhm.] Ja und daß er uns in Notsituationen helft und so, also der Vater auch von den Tieren ist, und so von allen Lebenden. 46:07 (83) L: Also, wie hast du`s gemalt? Damit man des/ 46:09 (84) Elisabeth: Ja, ich hab` einfach den ähm also damit man auch merkt, der ist ja nicht so wie en Mensch wie uns also hier daß er da steht da irgendwo, sondern ich hab` einfach ähm da den Gott halt gemalt, und dann anschließend mit blau drüber, daß es so en bissel durchsichtig ist. 46:26 (85) L: Und was bedeutet des Blaue dann? 46:29 (86) Elisabeth: Ja, also, daß er durchsichtiger ist, daß wir ihn nicht sehen können, aber daß er also trotzdem dann sozusagen unser Vater ist. 46:37 (87) L: Ist das jetzt fast das Gleiche wie der Hendrik gesagt hat, daß so en bißchen im so im Hintergrund oder so ist Gott dann schon da mit dem Blau. Vornedran sind die Menschen. Oder is` des wieder was anderes? 46:50 (88) Elisabeth: Ich würd sagen, des was der Hendrik gemeint hat, ist schon was anderes.[L: Mhm.] Weil also naja, ich mein` die Menschen tun ja auch schon Sachen, also die, wo Gott nicht gesagt hat. Ja tu` des jetzt und ich steuer´ dich so ja [L: Mhm.] sondern die machen ja auch mal was, was dem Gott halt zum Beispiel jetzt nicht so gefällt, oder so. Aber trotzdem denk` ich, ist Gott immer und überall. So irgendwie unter uns. 47:19 (89) L: Mhm. Gott ist immer und überall. Patrick. 47:22 (90) Patrick: Also ich hab` jetzt gemalt, daß der Gott ähm also, daß unten en Mensch ist, der halt auch nicht gut ist, also der schlechte Sachen gemacht hat und der Gott steuert den trotzdem, also der Gott steuert manchmal einen, manchmal einen schlecht, ja. 47:38 (91) L: Stimmt. Des is doch intre/stimmt des, daß Gott ( ) wenn Gott die Menschen steuert, s`is eigentlich logisch, dann muß er sie eigentlich auch manchmal schlecht steuern. Kann sowas sein? Meinung! S´is auch interessant ne? Ja. 47:55 (92) Anna: Ja, wenn , daß er auch mal en Fehler macht. 47:58 (93) L: Ach, Gott macht auch mal en Fehler? Würdest/ja/oder man macht was extra, macht er`s aus Versehen oder macht er`s extra? Was würdest du sagen? 48:07 (94) S: Ja, ich denk auch, aus Versehen, er kann ja auch nicht immer in die Zukunft blicken. 48:14 (95) L: Aha. S`strecken jetzt so viele/ Julia was glaubst du? 48:17 (96) Julia: Also, ich denk´, daß ähm ähm ja also/* (Jetzt is` es weg.) 48:29 (97) L: Also, ma/macht Gott das extra, manchmal, daß er jemand böse steuert? Oder wie is` es, wie kann man`s verstehen. Ja, Tillmann. 48:37 (98) Tillmann: Ja, also ich glaub´ schon, daß er das er das manchmal extra macht, damit wir uns selbst aus dieser Situation rausbringen, vielleicht. Daß wir auch s/daß wir uns nicht immer auf ihn verlassen sollen und so. 48:47 (99) L: So eine Art Erziehung. 48:49 (100) S: Ja, genau. 48:50 (101) L: Also, wenn mal was schiefgeht, ist es auch vielleicht einfach Erziehung. 48:52 (102) Tillmann: Ja, also ich hab` hier gemalt, dann Gott auch auf ´ner Wolke und das eben das er da eben da Briefe liest, also die Gebete, die wir zu ihm gesprochen haben und so.[L: Mhm.] Und, daß er uns auch steuert, aber eben auch manchmal schlecht, daß wir uns selbst/also selbst aus was rausbringen müssen und so. Uns nicht immer auf ihn verlassen müssen. Und so. 49:12 (103) L: Aha. Paß mal auf. Ja, jetzt/jetzt nachdem ähm ich zeig` euch mal ´ne andere System. Der Luther hat ja gesagt, Menschen werden immer, immer gesteuert. Es gibt den Erasmus von Rotterdam, ((L schreibt Erasmus an die Tafel.)) der hat zur gleichen Zeit gelebt hat, aber was anderes gesagt hat. Der hat gesagt: Nee, nee, nee, also Menschen sind keine Reittiere, Menschen sind auch keine Pferde, äh Menschen können durchaus schon selber entscheiden. Jawohl. Und zwar, hat er das folgendermaßen gezeigt und auch erzählt, daß es mit Menschen so ist, wie mit einem Kleinkind, ((L packt Babypuppe aus)) und zwar, das muß jetzt schon fast ein Jahr sein, denn es kann zwar schon en bißchen laufen, aber noch nicht so richtig. Und zwar, der sagt: Beim Menschen ist es eigentlich immer, wenn sie wirklich erstmal alleine gelassen sind, dann fallen sie hin. ((L legt Babypuppe auf den Boden)) Klappt nichts 3 Theologisieren mit Kindern? 239 mehr. Und dann kommt, also, ich spiel` jetzt im Moment mal da Gott, dann kommt Gott. Jetzt mal ´ne Frage, was könnte der machen, was könnte jetzt Gott einfach machen. Vorschläge! Nikolas! 50:14 (104) Nikolas: Des äh, oft wieder so aufrecht hinstellen und dann daß es dann so helfen, wie wenn Mutter des macht oder so, die Hände so festhalten, und dann so en bissle mitlaufen, daß des auch so macht, (des is der Anfang) dann geht der wieder weg, und des kann dann wieder weiterlaufen. 50:27 (105) L: Ah. Unterstützen. Okay. Hat jemand noch ´ne andere, ´ne ganz/eine ganz/eine andere Idee? Der will nicht mehr, is` was schiefgelaufen, keine Lust mehr. Keine Lust mehr sich zu bewegen, ach nee, Larissa! 50:37 (106) Larissa: Also mit dem reden halt und streicheln vielleicht, und dann halt auch helfen. 50:42 (107) L: Ah so. Also wenn wenn`s/jetzt nur en ganz Kleines wär`, und es fängt an zu reden und man versteht`s vielleicht gar nicht so richtig. Der Erasmus hat gesagt, der Gott macht des immer so. Eigentlich könnt er`s ja natürlich aufheben so ((L nimmt Babypuppe auf den Arm)) und helfen und tragen. Macht der aber nicht. ((L legt Babypuppe wieder auf den Boden)) Der macht was anderes. Es liegt frustriert da, schiefgelaufen, der nimmt en Apfel, en ganz tollen und legt ihn hier hin. ((L legt in einiger Entfernung zur Babypuppe einen Apfel auf den Boden)) So, und dann wer kann schon mal en bißchen weitererzählen? Was könnte jetzt passieren? Also Gott hat auf jeden Fall schon mal etwas gemacht. Nächster Vorschlag. Ja! 51:20 (108) Britta: Vielleicht riecht das Baby irgendwie den Apfel und geht dann dem Geruch nach. [L: Geht`s dann dem/?] Geruch nach ( ) 50:30 (109) L: Okay. Wie geht en Baby dem Geruch/also, wenn en Apfel da ist und das Baby liegt da wie geht es [S: Krabbelt.] Krabbelt, fängt an zu krabbeln, gut. Des müssen wir jetzt mal spielen. Also es könnte so sein, daß Erasmus sagt: Also (Baby/richtet sich/)sieht den und richtet sich auf und krabbelt dahin. (L führt Babypuppe zum Apfel)) Was würde das dann heißen? Wieviel äh/wieviel ähm macht en Mensch dann alleine, und wieviel macht Gott? Wie/macht Gott sehr viel oder schaffen die Menschen/entscheiden die Menschen sich meistens alleine und schaffen (meistens alles alleine). Wenn des jetzt so wär`, was wär`s dann. Lars. 52:04 (110) Lars: Vielleicht nur so ´ne kleine Starthilfe. 52:06 (111) L: (Von wo?) Elisabeth würdest du`s auch so sagen? Oder. 52:09 (112) Elisabeth: Ja, doch so ähnlich. Also, daß er den sozusagen en Tip gibt oder so und daß es dann klappt. 52:17 (113) L: Ja, genau. Erasmus sagt: Nee, nee, so ist es auch nicht. Des/ so/ so gut sind die Menschen so gut und so intelligent und sagen wir mal so schaffen`s die Menschen eigentlich nicht, sondern, fangen wir wieder an. ((L setzt Babypuppe wieder an Ausgangspunkt.)) Er sagt, er findet beim Menschen is` es immer so. (Is` platt) , is alles schief gegangen und Gott hat hier den Apfel hingelegt und der duftet und ah schön und das Baby guckt natürlich zuerst rüber. So und dann will sich`s aufrichten. Ah will (nämlich eigentlich laufen), und es klappt nicht richtig. Da kommt Gott und hilft ihm so en bißchen, so erstmal stehen.((L gibt Babypuppe Laufhilfe)) Gut. Baby versucht`s und guckt den Apfel an, und dann klappt´s na, geh` schonmal Ah. Versucht`s en bißchen (( Lachen der SchülerInnen)) klappt wieder nicht richtig und da kommt Gott und sagt so alles gut, probieren wir des mal. ((L läuft mit Babypuppe, SchülerInnen lachen)) S´kann sein, daß es ein bißchen fast schon vergessen hat, dann will´s da rumlaufen und dann sagt er ((L flüstert)) Guck` mal. Da, guck` doch mal den Apfel. Da läuft´s wieder hin ((Lachen)) so und dann ist es gepackt. Der Erasmus glaubt, genau so/genau so ist es/ er macht´s/macht es Gott mit den Menschen, und genauso funktioniert´s. Und jetzt ähm jetzt ist nämlich die Frage, was sagt denn der Erasmus. Macht´s der Mensch/entscheidet sich der Mensch alleine ents/ macht Gott alles so wie bei diesem Reittier oder/oder wie ist es, was macht jetzt Gott, was macht der Mensch? Wer? Larissa? 53:48 (114) Larissa: Also ich wollt noch was zu dieser Starthilfe sagen, also ich denk`, ähm, wenn/daß der den Apfel dahinlegt, um halt sagen: Komm, des macht doch Spaß zu laufen, da kriegste auch immer was, da kannste dir ja Ziele machen und so. Wenn du dir was vornimmst, kannst du da immer hingehen und dir des holen und dann bist du auch wieder glücklich dann kannst er den anderen glücklich machen, also ich denk`/ 54:09 (115) L: Apfel als gute Idee, so/so gute Ideen, was man alles machen kann. Ja, ähm, macht jetzt der Mensch was oder macht Gott was oder wie würden wird`n des/wie kann man das jetzt so auseinandernehmen. Nikolas! 240 54:20 3 Theologisieren mit Kindern? (116) Nikolas: Ja, daß der erstmal den Apfel hingelegt hat und dann find` der, des ist dann auch wie ´ne Starthilfe, aber nicht des, wie der Martin Luther des sagt, daß der Gott äh des sagt, hopp, da ist en Apfel, hol´ ihn dir oder sowas äh da ähm ich finde, das müßte wie der Erasmus es macht, daß der sagt, äh, daß der da ähm en Apfel hinlegt und dann guckt des Baby ja des schon an und versucht es ja schon, aber es schafft net/es schaftt es nicht, und dann kommt erst Gott an, also nur mal und hilft es dem nochmal. 54:47 (117) L: Ja, wann macht denn des Baby was alleine und wann macht´s Gott? 54:50 (118) Nikolas: Ja, es guckt zuerst den Apfel an und dann versucht es halt hinzulaufen und schafft`s aber nicht. 54:54 (119) L: Also eigentlich macht das Baby ja schon was (eigentlich s`guckt, wenn´s aufsteht) und was macht´s noch? [Nikolas: Umkippen.] Umkippen. Und was macht`s noch? 55:02 (120) S: Ha ja, es geht ja mit den Füßen, oder. 55:04 (121) L: Natürlich probiert`s so gut es es packt. Ja, gut. Gott/Gott macht also mal Gott was draus, und der Mensch macht was, so findet des jetzt Erasmus. Wenn ihr euch jetzt überlegt wenn jetzt ganz normal in eurem eigenen Leben überlegt/überlegt. Habt ihr den Eindruck, daß des stimmt. Die Elisabeth hat vorhin gesagt, sie denkt erstmal, da gibt´s ´ne ganz große Box, in den entscheidet man allein. Was würde jetzt der Erasmus sei/sagen, gibt`s bei/gibt`s bei Erasmus ´ne Box, wo der Mensch ganz alleine entscheidet oder nicht? Sara! 55:42 (122) Sara: Ja, ich glaub` eher nicht, weil ähm der Apfel war ja schon mal da, und dann/da hat er ja schonmal geholfen und ich glaub` eher, der/der will damit sagen, daß Gott uns eigentlich immer leitet und net/und net, daß wir alles alleine machen, oder so. 55:58 (123) L: Sagt das ähm also gut/ des sagt der Luther eigentlich auch. Gell. Gott leitet uns immer. Also jedenfalls, wenn der (S: Ja, aber der)) wo ist der Unterschied? 56:06 (124) Sara: Ja, bei dem gibt`s jetzt sozusagen Erasmus gibt sozusagen keine Box, wo das Pferd da ist und zum Beispiel noch auf den Reiter wartet oder so, sondern, da is, da wär`/ bei wenn der Erasmus (des so sagen würde) wär` der Reiter praktisch immer da. 56:24 (125) L: Ja. Is der/is der. Ja. Tillmann! 56:27 (126) Tillmann: Also vielleicht steht das Pferd doch im/in der Box, aber eben kümmrt sich der Reiter um das Pferd. Macht`s/also Hufeisen sauber oder bürstet so. 56:37 (127) L: Mhm. Also Gott kümmert sich immer en bißchen. Jetzt hat jeder eine Chance und zwar, jeder von euch hat ein Bild gemalt ((SchülerInnen stimmen zu)) So ist Gott mit den Menschen und jetzt könnt ihr mal äh könnt` ihr mal überlegen, wie wäre des, wenn ihr euer Bild sozusagen zeigt. Also zuerst mal ist hier ein Mensch, der ist erledigt. (L legt Babypuppe wieder auf den Boden) Der ist/hat keine Lust, der Apfel liegt immer noch da. Was glaubt ihr jetzt eigentlich, was macht en Mensch wie entsch/entscheidet der sich, wenn er sich ganz/ganz alleine entscheiden würde, was wäre dann, wenn Gott mithilft, wie hilft er mit oder wenn Gott alles alleine macht, wie wär`s. Jetzt darf jeder erst mal überlegen, gut, wie glaub` ich das eigentlich. Macht der Mensch alles allein oder nur manchmal oder nur en bißchen oder gemischt oder ähm eben total alleine? Und dann ihr dürft/ihr könnt euch überlegen wie macht ihr des könnt anfangen und mal zeigen, was ihr glaubt, wie das eigentlich ist mit Gott und den Menschen. Wer fängt mal an? Geht in die Mitte, und zeigt des mal also /wie könnt/ wir haben Apfel, (das kann/kann der) Gott hinlegen, des kann ´ne Idee sein, wir haben irgendwie noch sowas und wir haben das Baby. Wer macht mal? Wer hat ´ne Idee dazu? (Wer kommt mal) Erklärt des mal, die erste. Okay, dann/komm mal vor und/und mach` das einfach mal. 58:03 (128) Larissa: Also, ähm das Baby, das sieht da hinten den Apfel schon mal (Larissa legt Apfel auf den Boden) und des is dann am/des sieht den halt da und will halt dann zu dem hingehen (Larissa geht mit Babypuppe in Richtung Apfel) und irgendwann denkt`s : oh des is` aber zu weit weg und so und dann denkt´s: Oh Gott, jetzt will ich nimmer und dann legt`s sich hin (Larissa legt Babypuppe auf den Boden) und irgendwann ähm kommt dann Gott und hilft ihm dann weiter vorzugehen zum Apfel. (Larissa geht mit Babypuppe zum Apfel) Und dann hat sie den Apfel und dann ißt sie ihn auch selbst. 58:31 (129) L: Aha. Okay. Also des ist ganz schön selb/also des is selbständiger als der Erasmus. Oder [S: Ja.] bei Erasmus. Kann das Kind selber aufstehen und/und ißt auch selber. Okay. Selbständiger. Die nächste Idee. Hendrik, wie glaubst du`s? Mach ma´s wieder weg. 58:49 (130) Hendrik: Also ich hätt´ jetzt gedacht, daß der Gott dann also der legt auch en Apfel hin und das Kind will da ((Lautes Lachen der MitschülerInnen, weil Patrick den Apfel kickt)) will da halt auch hin und des schafft´s halt nicht und dann steuert der Gott (mit so Fäden) [L: Ah. ( )] daß der Gott des dann 3 Theologisieren mit Kindern? 241 irgendwie so steuert. (Lachen der Mitschülerinnen). (und es läuft dann halt selbst hin) [L: Und dann?] Und dann ißt`s den Apfel. [L: Selbständig, oder auch mit als Marionette?] Selbständig. 59:16 (131) L: Ähm. Würdeste jetzt sagen, bei dir is es/is es Baby weniger selbständig oder gleich selbständig wie bei der Larissa. 59:22 (132) Hendrik: Joa, eigentlich auch gleich. 59:25 (133) L: Ja, gleich? Meinen die anderen das auch? Larissa würdest du jetzt sagen, das ist ganz ähnlich selbständig? 59:31 (134) Larissa: Also en bissl hilft dann Gott schon mehr mit wegen den Fäden denk` ich schon, weil´s macht´s ja dann auch selbst. 59:37 (135) L: Ja. Gut, der Mensch als Marionette. Ja, jetzt haben wir ein weibliches Wesen, ein männliches Wesen, wer macht jetzt noch? Gut, Kevin. Zeig mal, wie glaubst du des? 59:51 (136) Kevin: Also (der kommt von oben, so mit Steuerknüppel) Steh/steh`ma`auf (Kevin imitiert kurzes Wimmern, MitschülerInnen lachen.)) Und dann sagt`s: Will aber zum Apfel ((Kevin richtet Babypuppe auf und führt sie) Dann sagt der Gott: Okay, dann geh` mer dahin. Geht`s, denkt` s: Ich will aber den Apfel doch net. Kehrt`s wieder um. Legt`s sich wieder hin. Sagt der : Du wolltest doch en Apfel. Dann geht`s wieder hoch und sagt: Okay, jetzt geh` ich. Und dann geht`s hier (Kevin führt Babypuppe zum Apfel) und ißt. 00:32 (137) L: Toll., danke. ((MitschülerInnen klatschen)) 00:36 (138) L: Jetzt bin ich mal gespannt, jetzt probieren wir des mal zu interpretieren, bevor du sagst, wie du das gemeint hast. Warum sagt der K/warum hat das Baby zuerst gesagt: Ja, ich will den Apfel. Und dann will es wieder nicht. Wie würdet ihr das verstehen? Was hat der Kevin damit gemeint? Lars! 00:52 (139) Lars: Vielleicht war`s dem Baby zu anstrengend. Weil`s hat ja auch gesagt, der Weg also wär` en bissl weit oder so. 00:57 (140) L: Wie würd` man des übertragen so im Normalen bei den Menschen. 01:02 (141) Lars: Keine Lust mehr. ((Lachen der MitschülerInnen)) 01:05 (142) L: Also, man verliert also die Lust. 01:06 (143) Lars: Ja, man will hin, aber dann hat man keine Lust mehr. 01:09 (144) L: Ah ja, okay. Nächster Vorschlag. Was würdest du sagen? 01:11 (145) Anna: Gott fordert ihn wieder auf hinzugehen. Ähm, also sagt: Komm mach`s nochmal, das schaffst du schon. Also sowas wie ´ne Prüfung. Also, wenn man irgendwie ´ne Prüfung abschließt. Oh, ich schaff´` des nicht, ich mach` des doch lieber/doch lieb/doch lieber nicht und ja, daß er dann wieder sagt: Komm mach`s dann hast`es hinter dir. 01:32 (146) L: Ach so kommen die da gerannt, also ich hab ´keine Lust oder der nächste Gedanke: iIch schaff`s nicht. Ja, und dann ist wieder Gott und der sagt: Komm, hopp, hopp. Gut, wer würd` noch was sagen? 01:44 (147) Tillmann: Also, ich glaub`, daß Gott äh also man hat/man geht los, aber dann ähm is` man/denkt man: Ach das ist der Weg nicht wert. Und so und dann kommt Gott und macht einen wieder stark. 01:55 (148) L: Mhm. Heißt das jetzt eigentlich, daß der Mensch/also bis jetzt hat ja jeder gesagt, der Mensch braucht ähm/is` nicht so ganz selbständig. Der will mal was und, dann kippt der Wille wieder um, also ist der Wille nicht so richtig frei.* Er will mal und dann gibt er`s auf, dann kommt, er hat keine Lust, dann er schafft`s nicht. Ja, jetzt haben wir des wieder, die Frage, ähm, glaubt das jetzt jeder, daß der Mensch eigentlich haa mal was eigentlich entscheiden wollt, mal auch was frei entscheidet, aber das dann doch nicht so richtig kann oder gibt`s da jemand der sagt: Nö, nö (des is doch irgendwie anders). Larissa! 02:31 (150) Larissa: Ich wollt` des noch sagen, also, ähm ich denk halt, das Baby, das sieht halt dann den Apfel und denkt: Oah, des würd` ich jetzt auch gern haben, weil ich hab` Hunger und so. Und dann/dann geht`s halt schon mal und wandert halt da mal en halben Weg dahin oder en Stückchen, und dann denkt`s: Oah, mir tun die Beine weh. Ich hab` keine Lust mehr, diesen kack Apfel, der kann da auch liegenbleiben. Wart` ich halt, bis meine Mama kommt. Oder so, ja. Und dann/dann/dann bleibt der da, und dann kommt halt Gott und sagt: Komm, deine Mama kommt erst später, oder so, geh` doch da jetzt hin, du hast doch schon bald den ganzen Weg, oder so. Und hilft ihm halt. 03:06 (151) L: Guck` emol, wie Kevin/wie hast du das gemeint? Haben/haben die dich richtig so interpretiert? Ja, Tillmann! 242 3 Theologisieren mit Kindern? 03:11 (152) Kevin: Ja, also ich hab`/weiß eigentlich gar nicht net irgendwie so, wie`s ich gemeint hab`, weil, der Gott hat`s einfach gesteuert und hat`s Kind halt gedacht: Ach, der ist ja eigentlich gar nicht so rot und ist wieder umgekehrt. [L: Aha.] Und dann hat`s halt gedacht: Oh, jetzt hätt` ich ihn doch lieber, deshalb wär` ich halt gleich hin, dann ist es halt doch hin. 03:31 (153) L: Aha. Da gibt`s so en Wort, da heißt es: Gott/äh, der Mensch denkt, aber Gott lenkt. [S: Ja, kenn` ich.]. Würdet ihr sagen, des stimmt immer. So als/als letzten Abschluß. Wie frei/Ja, Ma/äh Julia. 03:51 (154) Julia: Nicht immer, aber immer öfter. (Lachen der MitschülerInnen). 03:55 (155) L: Gott denkt aber, nee, der/der Mensch denkt, aber Gott lenkt, immer öfter, also Gott muß immer mehr. 03:59 (156) Julia: Ja, aber nicht immer, aber manchmal schon. 04:02 (157) L: Ah ja. 04:03 (158) S: Ich denk`, das ist abwechselnd, manchmal denkt der Gott oder der Mensch, des is halt abwechselnd. 04:09 (159) L: Wenn jetzt noch jemand käme. Nicht der Luther, nicht der Erasmus sagt: Nö, der Mensch ist überhaupt gar kein Baby, der Mensch ist ja erwachsen und der Mensch geht rum, überlegt sich was holt/ißt sie/ißt dann einfach den Apfel. Findet ihr das besser? Stimmt das eher? Oder was würdet ihr denn ihm sagen? ( ). Tillmann. 04:39 (160) Tillmann: Wenn man zum Beispiel jetzt in der Stadt ist und sieht, also so vielleicht en Stück weiter entfernt zehn Pfennig liegen, dann geht man ja auch nicht hin, weil man denkt, des/der loh/ der Weg lohnt sich nicht, oder so. ( ) [Kevin: Aber ich würd` da hingehen. ( )] 05:26 (161) L: Mhm. Okay. Larissa. 05.27 (162) Larissa: Ja, also Menschen sind schon faul, aber ich denk` manche die arm sind, die gehen auch wegen ´nem Ein-Pfennig-Stück dahin, also ich denk` des is` halt die Reichen denen ist des ja schnuppe, ob da jetzt en Zehn-Mark-Schein liegt, weil die sind halt dann Millionär und haben halt genug ZehnMark-Scheine zuhause und die denken: Oh komm`, ich geh` lieber wieder in mei/meine Limusine und laß mich da durch die Stadt fahren als wenn ich da jetzt austeig` und da den/den Zehn-Mark-Schein hol`. 05:53 (163) L: Also hier, eigentlich von der von dem/äh von der Uhr aus hat die Schulglocke schon geklingelt. Will jetzt jemand nochmal kurz was sagen, was er selber denkt, also/nochmal erklären wie ma/was macht Gott, was macht der Mensch oder gibt`s auch en Teufel, der da mitmacht. Ja. 06:06 (164) Tillmann: Deswegen galub` ich arme Leute [L: Mhm.] also die haben viel mehr irgendwie von Leben überhaupt. [L: Warum?] Weil/weil sie bemühen sich den Weg zu gehen oder des/und so. [L: Aha.] Sie machen des und die Reichen, die denken dann erst gar nicht erst dadrüber nach und so und dann ja und haben als halb/haben halt genug und die Armen , die dann die hol/die holen sich dann die zehn Mark und dann sind sie froh, daß sie zehn Mark haben und sowas. 06:34 (165) L: Is` des dann Gott, wenn die Armen arm sind? Die Armut hilft denen ja natürlich dann zu bemühen, (würdest du dann schon sagen) sogar Gott ist so ( ) Armut, des wär` ja schon fast so, wie wenn Gott schon irgendwas Böses also was nicht Schönes hat und würdest du sagen, is` des übertrieben? 06:52 (166) Tillmann: Na ja, ich glaub` schon, also, daß also daß Gott schon also für die Armen eher ist, also. 07:00 (167) L: Mhm. Ja, okay, letzter Abschlußsatz: Nikolas. 07:03 (168) Nikolas: Also, wenn man das überlegt, also zum Beispiel ein Steinzeitmensch, ich weiß nicht, ob`s da auch schon Äpfel gab und wenn /der würd` dann da kriegen die ja nicht so oft was zu essen, die müssen zur jagen gehen wenn die da en Apfel sehen, die würden sich den da auch holen, aber in heutiger Zeit die würden, da würden( ) anstatt zum Apfel oder sowas. (Also auch, daß die durch die Zeit der Entwicklung) auch en bissle faul geworden sind. Das die/das die immer was zum essen haben und nichts dafür machen müssen. ((L schließt die Stunde ab.)) 3 Theologisieren mit Kindern? 5 243 Schlussfolgerungen Ausgehend von unserer Grundfrage: Warum und inwiefern sind kindliche Äußerungen von philosophischer und theologischer Qualität? kann ich zusammenfassen: 1. Grundsätzlich sollte nicht von einer (verkindlichenden) Theologie für Kinder, sondern von einer Theologie der Kinder die Rede sein. Erst das eröffnet die Frage nach eigenständigen theologischen Gedanken von Kindern sowie nach möglichen Formen kommunikativer Auseinandersetzung mit solchen Gedanken. 2. Philosophie und Theologie weisen als Bereiche menschlicher Erfahrung und Erkenntnis einen wesentlichen Unterschied auf: a) Philosophie vollzieht sich als empathetischer Bezug auf Weisheit (im Unterschied zu Weisheit wie auch zu Weisheitslehre) stets in Form eines sich seiner selbst bewussten also reflektierenden Denkens. b) Theologie aber lässt sich vom Wortsinn her weiter fassen: jede Äußerung von Glauben, so er sich mitteilt, - in vielfältigen Formen -, kann mit gutem Grund als Theologie verstanden werden. 3. a) In diesem Sinne sind Kinder keine Philosophen, wohl aber (mehr als mancher Erwachsene) philosophisch Ahnende. b) Aufgabe eines Philosophierens mit Kindern ist es daher, mit den Kindern philosophisches Fragen zu kultivieren und darin Wege zu ebnen hin zu Ebenen philosophischer Reflexion. 4. a) Theologen sind Kinder viel eher, insofern sie sich und uns originäre Glaubenserfahrungen mitteilen. Theologisieren mit Kindern erinnert daher die Theologie an die eigene Basis, die sie in Glaubens-Erfahrungen hat, und ermöglicht andererseits Kindern, Wege zu beschreiten, im Glauben zu wachsen, Glauben auch bewusst zu leben. b) Philosophische Auseinandersetzung mit kindlicher Theologie hat in diesem Zusammenhang die Aufgabe, Glaube (in seinem auch Mitteilung einschließenden Sinn) als elementare Dimension menschlicher Erfahrung zur Reflexion zu bringen. Was bedeutet es demnach für die Theologie, wenn Kinder Theologen sind, und zu welchen religionspädagogischen Konsequenzen für ein Theologisieren mit Kindern muss eine solche Sicht führen ? Ich schließe aus meinen Bemerkungen: 244 3 Theologisieren mit Kindern? 5. Eine Theologie der Kinder gibt es. • Kinder formulieren sie erfahrungsbezogen, aber nicht immer direkt, sondern meist verborgen hinter einer vorgegebenen oder bildhaften oder narrativen Sprachform. Das erinnert uns daran, dass jede Theologie ihren Wert verliert, wenn sie nicht in konkreten Lebenserfahrungen verortet wird. • Traditionen der Theologie einschließlich ihrer Dogmen sind ebenso nichts anderes als verdichtete Glaubenserfahrungen. Nur als solche haben sie bleibenden Wert für heute und über das Heute hinaus. • Theologie ist Theologie nur im Hinblick auf gelebtes Leben; theologisch ausgedrückt: Orthodoxie hat ihr notwendiges Korrelat in Orthopraxie. 6. Für das theologische Gespräch mit Kindern folgt für mich: • Impulse für ein solches Gespräch liefern nur solche Medien, seien es Texte, Bilder oder Aktionen, die als symbolisch vermittelte auf Dechiffrierung drängen. • Dilemma-Geschichten sind ein geeignetes Mittel, solche Gespräche in Gang zu bringen. Kriterium für eine gute Dilemma-Geschichte aber ist ihr konkreter Erfahrungsbezug wie die in ihr selbst angelegte Provokation zu unterschiedlichen Antworten. • Mythische Elemente können Folien bieten, narrativ ein Problem zur Erfahrung zu bringen sowie in der Dechiffrierung Wege zu eigenverantwortlichem Denken und Handeln zu eröffnen. • Ebenso können spielerische und interaktionelle Elemente geeignete Impulse liefern, dass Kinder erfahrungsorientiert in eine Fragestellung eingebunden werden, um so für sich Wege der Auseinandersetzung freizulegen. • Das theologische Gespräch mit Kindern lebt davon, zunächst einmal die Kinder selbst sich äußern zu lassen, dann aber auch durch gezieltes Nachfragen mit dem Geäußerten ins Gespräch zu bringen. Wege zu einem solchen Gespräch können Formeln bieten wie: Was meinst du mit ...? oder: Beschreibe mir deinen Gedanken noch mal genauer... oder auch kommunikativ: Wer hat verstanden, was N. gerade gemeint hat, und könnte das versuchen auszuformulieren...? usf. - Doch läuft ein solches Gespräch nicht von selbst; die Kenntnis philosophischer Gesprächsführungsformen, etwa des Sokratischen Gesprächs, liefert eine gute Voraussetzung, solche Gespräche führen zu können. Die kommentierten Unterrichtsbeispiele bieten aus meiner Sicht genügend Belege für diese Thesen. IV Unterrichtsmodelle Kapitel 4-1 „Kannst Du nicht schlafen?" Die Frage nach Gott im Bilderbuch 1 Die Frage nach Gott ist deswegen besonders schwer, weil gar nicht so klar ist, nach was eigentlich gefragt wird, wenn wir nach Gott fragen. Zunächst einmal sind viele Menschen geprägt durch das, was von den Religionen im Laufe der Jahrtausende überliefert ist, die Bilder über das, was „Gott“ meint, beinhaltet und für unser Leben bedeutet. Darum könnte man versucht sein, schlicht nach dem Inhalt dieser Bilder zu fragen, um damit zu verstehen, was Gott ist. Doch zumindest die tiefere Bedeutung der Bilder, nicht nur ihre oberflächliche Bezeichnung, erschließt sich erst mit der Zusatzbedingung, dass sie für uns auch einen Sinn machen. Das heißt diese Bilder bezeichnen nicht nur bestimmte Inhalte, die die Religionen überliefern, sondern bringen auch den Bezug, den sie für uns gewinnen können, zum Ausdruck; sie sind für ihre Hörer und Betrachter eingebunden in den Kontext einer bereits vollzogenen Gotteserfahrung oder zumindest einer Tradition, die mehr oder weniger selbstverständlich Verlässlichkeit bürgt. Wenn wir aber erst einmal wissen wollen, was Religion und Religiosität, Gotteserfahrung und Glauben überhaupt sind, müssen wir auch diese Voraussetzungen bedenken. Wer dies tut, nähert sich einer philosophischen Auseinandersetzung mit Gott und Religion. Von der philosophischen Frage nach Gott unterscheidet sich die religiöse insofern, als sie den Sinn einer solchen Erfahrung nicht mehr hinterfragt, während für die Philosophie das Grundlegendere von Interesse ist, was es ist, dass wir überhaupt nach Gott fragen und was wir darin zur Erfahrung bringen könnten; erst von daher und nach Bedenken dieser Frage kommt für die Philosophie in den Blick, was Gott ist. Die Bilder, in denen die Religionen von Gott sprechen, bleiben aufgrund dieser Einschränkung in ihren Gehalten nicht unberücksichtigt, doch das philosophische Fragen zielt in erster 1 Dieses Kapitel bietet die um wenige den Kontext erläuternde Passagen ergänzte Rohfassung des Kapitels 11 meines Buchs zum Thema „Philosophieren mit Bilderbüchern“, das 2002 im BeltzVerlag erscheinen wird. Das Buch ist konzipiert sowohl als Einführung ins Philosophieren über Bilderbücher; in diesem Zusammenhang fragt das Kapitel 11 nach Religion und Gott. Zugleich gibt es Hinweise zur Erschließung von Bilderbüchern unter philosophischen Aspekten. In beiden Zielsetzungen richtet es sich nicht zuerst an Fachphilosophen, sondern an Eltern, Erzieherinnen und Lehrer/innen. Der für eine solche Einführung notwendige Stil wurde für die vorliegende Fassung beibehalten. 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch 249 Linie darauf, in ihnen und aus ihnen herauszulesen, was überhaupt Religiosität für den Menschen bedeutet. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkung soll nachfolgend gleichwohl der Versuch gemacht werden, die Frage nach Gott über Bilderbücher zu erschließen. Hintergrund dafür ist ein doppeltes Interesse. Zum einen: Zur Auseinandersetzung mit dieser fundamentaleren Frage sind ausdrücklich religiöse Kinder- und Bilderbücher nur bedingt geeignet. Die meisten dieser Titel haben religiöse Traditionsgüter, insbesondere biblische Geschichten zum Thema und wollen mit ihnen bekannt machen, richten aber dabei ihr Augenmerk zumindest nicht vorrangig und häufig gar nicht auf die philosophisch entscheidende Frage, was denn an diesen Überlieferungen überhaupt religiös sei, genauer, warum und wie Menschen in solchen Bildern ihre religiösen Urerfahrungen festgehalten haben. Dies aber setzt eben eine andere Fragehaltung voraus als die eher historische, wer oder was denn nun den „liebe Gott“ sei, oder was denn dieser Jesus gesagt und getan habe; vielmehr geht es um die elementare anthropologische Ebene, welche Rolle das Religiöse für Menschsein spielt, d.h. es ist von urmenschlichen Erfahrungen auszugehen, um in ihnen das Religiöse auszumachen, was dann erst nach Gott fragen lässt. Das andere Interesse gilt der Form der Erkundung von Gott und Religion. Wenn Religiosität nicht irgendeine beliebige Ebene menschlicher Lebenserfahrung ist, sondern eine elementare, die Tiefen seiner Existenz betreffende, wird es kaum möglich sein, dies in faktische Sprache zu fassen. Religiöse Überlieferungen arbeiten daher vor allem mit dem Modus der Verdichtung, griechisch der Symbolisierung solcher elementarer Erfahrungen.2 Neben dichter Sprache sind es aber insbesondere Bilder, die solche Verdichtungen auszudrücken in der Lage sind. Freilich sind dann bloß äußere Illustrationen letztlich uninteressant. Bedeutsam sind für die Ebene des Religiösen nur solche Bilder, in die es sich lohnt hineinzugehen und den Erfahrungen, die in ihnen versammelt sind, nachzuspüren. Mit diesem doppelten Interesse sollen nachfolgend nur vier Bücher betrachtet werden, um mit ihnen vier ganz grundlegenden Fragen von Religiosität zu erläutern. Indirekt werden wir damit jedoch auch Kriterien in Erfahrung bringen können für gelungene Bilderbücher zu konkreteren Themen aus der Tradition des Religiösen. Denn auch bei der Thematisierung z.B. konkreter biblischer Geschichten gewinnen Bilderbücher ihre Qualität dadurch, dass sie, wie erläutert, der in ihnen bewahrten Urerfahrung Ausdruck verschaffen können. 2 Vgl. dazu ausführlicher das Kapitel 2-2. 250 1 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch Religiöse Urerfahrungen Eine solche menschliche Urerfahrung wird durchaus auch in vorderhand nichtreligiösen Bilderbüchern zu Thema gemacht, man muss sie nur als solche zu verstehen wissen. Zum Beispiel macht sie der kleine Bär, der den ganzen Tag mit dem großen Bären gespielt hat und nun, als es dunkel wird, ins Bett gebracht wird; „aber der kleine Bär konnte nicht schlafen“ heißt es dann lapidar in dem Buch Kannst du nicht schlafen kleiner Bär3. Das Bild S.7 braucht diesen erklärenden Satz gar nicht: der kleine Bär turnt unter seinem Bettzeug herum, wirft sich das Kopfkissen über den Kopf, ein zweites Kissen und selbst das Spielmännchen aus Stoff sind schon aus dem Bett gefallen. Und die Augen des kleinen Bären blicken gespannt aus der dunklen Ecke der Bärenhöhle zum großen Bären, der es sich bereits mit einem spannenden Bärenbuch gemütlich gemacht hat. Aber warum kann der kleine Bär nicht schlafen? Die Folgeseite bringt eine Erklärung, die keiner weiteren Erläuterung bedarf und zugleich die Aussichtslosigkeit aller Hilfestellung vor Augen hält: „Ich fürchte mich“, sagt der kleine Bär. Und zwar fürchtet er sich vor der „Dunkelheit rundherum“. Und die kann der große Bär mit allen Anstrengungen nicht beiseite schaffen, weder mit kleinen Lichtchen noch mit den größten Laternen. Die Aussichtslosigkeit wird deutlich durch die völlig hilflose Wendung des kleinen Bären an den großen, der wiederum noch so zugewandt schauen, zureden und auch sich verhalten kann, die Furcht kann er dem kleinen Bären nicht nehmen, die Furcht, die so groß ist, dass der Kleine sich nur noch an seinen Füßchen, an sich selbst festhalten kann. 3 Martin Waddell/Barbara Firth: Kannst du nicht schlafen, kleiner Bär? Wien/München (Betz) 1989 (London 1988) 32 S. 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch 251 Warum? Um zu spüren, dass er noch da ist. Und darum muss er auch nach allen weiteren Versuchen in seinem Bettchen herumturnen, um sich ja nicht zu verlieren an die große Dunkelheit. Und diese große Dunkelheit gibt es, es ist die Nacht, im Buch draußen vor der Bärenhöhle, in unser aller Wirklichkeit im Eindämmern und Schlaf, in dem wir ja nicht mehr wissen noch spüren, dass wir bei uns sind. Mit aller Dramatik, lebensnah konkret und doch in eine vielfältig lesbare Bildergeschichte gepackt und so überhaupt erträglich, ist hier eine existentielle Herausforderung auf Papier gebracht. Es ist doch so: Gerade die vielleicht selbstverständlichste Sache unseres Lebens, dass wir einschlafen und dann auch wieder aufwachen, ist so selbstverständlich nicht. Denn da passiert etwas mit uns, das wir geschehen lassen müssen, dem wir noch elementarer uns ausliefern müssen als dem Hunger oder dem Durst, die wir bis zu einem gewissen Grad aufschieben können. Und ausliefern müssen wir uns dem Schlaf, weil der andererseits sich nicht so unwillkürlich vollzieht wie der Atem oder der Herzschlag. Diese können wir zwar, wenn wir acht geben, auch erspüren und ebenfalls in bestimmtem Rahmen steuern, aber im Alltag vollziehen sich Atem und Herzschlag, ohne dass wir es merken. In den Schlaf dagegen sich zu begeben, das merken wir stets, jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir auch einschlafen. Und das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, dass wir es merken, ja dass es uns vollständig bewusst wird, dass unser Bewusstsein und unser Gespür ausgeschaltet werden. Schon die Paradoxie, dieses Phänomen in Sprache zu fassen, muss verunsichern: Beim Einschlafen wird unser Bewusstsein ausgeschaltet, und eben dessen werden wir uns im Akt des Einschlafens bewusst. Und dann haben wir natürlich auch keine absolute Sicherheit wieder aufzuwachen. Das verunsichert nicht nur, das entzieht uns alle Möglichkeiten zu reagieren, macht Angst. Und diese Angst braucht ein Ventil, nämlich in der Furcht vor irgendetwas eher Greifbarem, etwa der Dunkelheit. Darum ist auch nicht ungezogen oder gar krank, wer nicht einschlafen kann. Gewiss, im Alter haben viele Menschen Probleme, und es gibt aufgrund anderer körperlicher Störungen auch pathologische Fälle, in jedem Lebensalter. Aber das 252 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch Nicht-Einschlafen-Wollen kleiner Kinder, das ist weder Krankheit noch Ungezogenheit, sondern dahinter steht jene ganz tief sich äußernde Furcht, sich verlieren zu können, plötzlich, ohne dass man es merkt, nicht mehr da zu sein, und das zu einem Zeitpunkt der Lebensentwicklung, wo man gerade im Begriff ist, für dieses Dasein seiner selbst ein Gespür zu entwickeln. Da helfen keine Ersatzhandlungen wie Vorlesen oder Lichtanlassen oder Auf-den-Arm-Nehmen und Herumlaufen, auch wenn mit ihnen das Einschlafen häufig gelingt; das zugrundeliegende Problem wird damit nur verdeckt oder kurzfristig in Vergessenheit gebracht. Erst recht helfen keine biologischen oder psychologischen Erklärungen, etwa die von unserem physischen Sosein, das uns nun mal wie allen Lebewesen den Schlaf aufzwinge. Nein, im Einschlafen werden wir konfrontiert mit jenem von Leibniz als metaphysisch qualifizierten Übel allen Menschseins. Leibniz unterscheidet in seiner Theodizee zwischen drei Formen des Übels, denen wir Menschen unterworfen sind, dem physischen Übel von Krankheit und Gebrechlichkeit, dem moralischen Übel, das Böse zu erleben und auch es selbst tun zu können, und dem metaphysischen Übel der Endlichkeit.4 Einen Satz von Bloch abgewandelt ließe sich sagen: Ich bin, aber ich habe mich nicht, sondern werde mir im Einschlafen auch selbst entzogen, darum müssen wir das Vertrauen des Einschlafens lernen, das die Zuversicht des Wiederaufwachens einschließt.5 4 5 Vgl. Leibniz (1985 [1720]), I,21, S.241. “Man kann”, so Leibniz im Abschnitt 21 seiner Theodizee, „das Übel [le mal] metaphysisch, physisch und moralisch auffassen. Das metaphysische Übel besteht in der bloßen Unvollkommenheit [imperfection], das physische Übel im Leiden [souffrance]und das moralische Übel in der Sünden [péché].“ – Im Folgesatz macht Leibniz einen qualitativen Unterschied zwischen dem metaphysischen Übel einerseits, das es „schon vor der [Ur]Sünde“ als „eine ursprüngliche Unvollkommenheit im Geschöpf“ gebe, und andererseits dem physischen und dem moralischen Übel, die „nicht notwendig“ seien. Das heißt, das physische Übel des Leidens und der Krankheit wie auch das moralische Übel des Bösen sind durch die Kontingenz menschlichen Daseins bzw. die böse Tat des Menschen verursacht. Das metaphysische Übel hingegen bezeichnet so etwas wie ein ursprüngliches menschliches Sosein, eine conditio humana. Daraus ergibt sich, dass das metaphysische Übel den anderen Übeln als Grundbedingung vorgelagert ist, während umgekehrt die Möglichkeit des physischen Übels und die Gefahr zu moralischem Übel ihren Grund in dieser ursprünglichen Unvollkommenheit haben. – Für unseren Zusammenhang bedeutet das, dass das Nicht-Einschlafen-Können natürlich zunächst einmal als physisches Übel sich darstellt. In der Auseinandersetzung damit aber werden wir mit der metaphysisch zu nennenden Unvollkommenheit als Grund für ein solches Übel konfrontiert. Eben darum geht es im vorliegenden Bilderbuch. Ernst Bloch beginnt seine „Tübinger Einleitung in die Philosophie“ (Bloch (1963)) mit den oft zitierten Sätzen: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ – Mit ihnen ist nicht nur die fundamentale Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit menschlichen Daseins auf einen kurzen Begriff gebracht; eindrücklich bringt Bloch mit ihnen auch die Zwiespältigkeit menschlichen Selbstverhältnisses zum Ausdruck, um die es in unserem Zusammenhang geht: Wollen wir Menschen uns mit uns selbst auseinandersetzen, erfahren wir, dass im Akt der Auseinandersetzung der Gegenstand der Auseinandersetzung, so selbstverständlich wir seiner inne sind, sich uns stets auch entzieht. Darum zählt das „Ich“-Sagen zu den komplexesten philosophischen Problemen, die begrifflich nie eineindeutig zu fassen sind, was Kant gültig klar im Problem der Paralogismen vor Augen geführt hat, die sich aus Problemen einer rationalen Psychologie ergeben, d.h. aus dem 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch 253 Was hat das mit der Frage nach Religion und Gott zu tun? Nun, ich behaupte, eben hier mit dieser Erfahrung beginnt, was die Philosophie die Religiosität oder die religiöse Ebene von Menschsein nennt. Das wissen auch die großen religiösen Traditionen, etwa die Bibel: „Ich lege mich nieder und schlafe ein, ich wache wieder auf, denn ER beschützt mich“, heißt es scheinbar banal in Psalm 3, 9. Lesen wir diesen Satz mit seinen vier Teilen aufmerksam noch einmal. Belanglos mag noch die Beschreibung der ersten drei Satzteile sein, denn wem widerfährt das nicht, sich hinzulegen, einzuschlafen, wieder aufzuwachen. Nicht mehr selbstverständlich ist der letzte Satzteil, der für die Selbstverständlichkeit der ersten drei zunächst behauptet, dass sie keineswegs selbstverständlich sind, sondern dass sie einen Grund haben, einen Grund dafür, dass es so ist, wie es ist, dass ich zeitweise wache und zeitweise schlafe, und des weiteren, dass ich einen Grund haben muss, mich auf diese Befindlichkeit auch einlassen zu können, so dass ich es bin, der einschläft und wieder aufwacht. Zum zweiten liefert der letzte Satzteil diesen Grund gleich mit, indem er versichert, dass ich in diesem Akt, in dem ich mich meiner Befindlichkeit unmittelbar ausgeliefert finde, einem Gegenüber begegne, hier „ER“ genannt, das mich in dieser Erfahrung trägt, so dass ich vertrauensvoll mich darauf einstellen kann, wie es meiner Befindlichkeit entspricht. Der Psalm 91 weiß dies noch genauer: „Wer im Schutz des Höchsten wohnt und ruht im Schatten des Allmächtigen, der sagt zum Herrn: ‘Du bist für mich Zuflucht und Burg, mein Gott, dem ich vertraue.’ … Du brauchst dich vor dem Schrecken der Nacht nicht zu fürchten, noch vor dem Pfeil, der am Tag dahinfliegt … Denn der Herr ist deine Zuflucht, du hast dir den Höchsten als Schutz erwählt … Denn er befiehlt seinen Engeln, dich zu behüten auf all deinen Wegen.“ Nicht mehr und nicht weniger als die Einsicht in die eigene Endlichkeit und das Vertrauen, sich ihr auch stellen zu können, wird hier auf den Begriff gebracht, und zwar in einer Sprache, die mit Bildern, die jeder sich vorstellen kann, das Unvorstellbare bannt und so überhaupt erträglich macht. Diese Bilder haben religiösen Charakter, weil sie benennen, was auf einer ganz elementaren Ebene Vertrauen und Verlässlichkeit schafft, was aber trotzdem oder wohl gerade deswegen nur in Bildern sich ausdrücken lässt. Jene Einsicht aber in die eigene Hinfälligkeit wie dieses Vertrauen, sich ihr auch stellen zu können, die ich religiöse Urerfahrungen nennen würde, brechen nirgends so fundamental auf wie in der Erfahrung des Einschlafens bzw. des (kindlichen, d.h. natürlichen und nicht pathologischen) Nicht-Einschlafen-Könnens, wenn sie denn ernst genommen wird in ihrer uns elementar in Frage stellenden Tiefendimension. (letztlich nie gelingenden) Versuch, festzumachen, was wir als „Ich“ im Ichsagen stets voraussetzen. 254 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch Um es nochmals zu betonen: Damit ist nicht behauptet, dass religiös sei, wer die Erfahrung des NichtEinschlafens mache; vielmehr gewinnt umgekehrt an dieser menschlichen Urerfahrung Religiosität eine für den Menschen fassbare Form. Religiös im engeren Sinne ist erst derjenige Mensch, der zugleich sich auf diese Erfahrung einlässt und um eine sie verlässlich tragende Antwort bemüht ist. Eine solche Antwort, die Lösung des Vertrauens, sich der eigenen Endlichkeit auch stellen zu können, wird in unserem Bilderbuch ebenfalls angeboten: Der Konfrontation mit der großen Dunkelheit „da draußen“ begegnet der große Bär mit dem verblüffenden Vorschlag, doch hinauszugehen in die große Dunkelheit, sich ihr also quasi zu stellen. Und das ist kein psychologischer Taschenspielertrick, denn der kleine Bär darf sich ganz fest an den großen drücken und vermag so zu sehen, was er sich alleine nicht zu sehen getraut hätte: „den großen leuchtenden Mond“, der mitten in der Nacht die Dunkelheit erhellt und der damit, wir ahnen es, einen Vorschein für die wieder kommende Helligkeit des Tages bietet. Möglich gemacht aber hat dies das Vertrauen, das der kleine Bär gegenüber dem großen gewinnen kann, denn „tief und fest und geborgen in den Armen des großen Bären“ kann er einschlafen. 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch 255 Wiederum ist damit nicht behauptet, das Erstaunen im Angesicht des Vollmonds und vor allem die Erfahrung, vom anderen geliebten Menschen getragen zu sein und sich ihm anvertrauen zu dürfen, das seien bereits in sich religiöse Erfahrungen. Und doch dürfen sie als Erfahrungen ernst genommen werden, die eine religiöse Tiefendimension in sich tragen, weil derjenige, der diese Erfahrungen macht, intuitiv weiß, dass sie nicht allein für sich selbst stehen, sondern Bild, Angeld für etwas sind, was dahinter wirkt. Nennen wir dies ruhig eine Kraft oder Macht: Das Erstaunen vor dem Mond oder die Erfahrung des In-den-Arm-Genommen-Werdens verdeutlichen uns, dass so etwas überhaupt möglich ist, dass wir getragen sind, dass wir uns verlassen können. Wer eine solche Erfahrung macht, ist, so behaupte ich, in einem weiten oder elementaren Sinn religiös. Zur Klarheit: Ein solcher Mensch glaubt deswegen noch nicht notwendig oder hätte gar eine bestimmte Religion, meinen doch „eine Religion haben“, „glauben“ und „religiös sein“ keineswegs das Gleiche. Religiös zu sein ist die Voraussetzung für die sehr viel konkreteren anderen beiden Verhältnisse, kann aber auch unabhängig von den anderen sich vorfinden; religiös in solch elementarem Sinne aber ist jeder Mensch, so wie jeder Mensch, zumindest potentiell, fühlen, denken, handeln, genießen kann. Diese Einsicht ist an der Erfahrung des Nicht-Einschlafen-Könnens in unserem Bilderbuch zu gewinnen. Und wie kann dies zusammen mit Kindern erschlossen werden? Nun, Kinder leben zunächst einmal in einer Welt der unmittelbaren Wahrnehmung, in der alle Sinne aktiv sind. Diese Unmittelbarkeit, das stellt sich in der Auseinandersetzung mit verschiedensten Bilderbüchern immer wieder heraus6, kann durch nichts so angemessen in seiner Vielfalt wie auch Eindringlichkeit dargestellt werden wie durch Bilder. Erneut bietet es sich also an, mit den Kindern in die Bilder „hineinzugehen“ und diese Wege miteinander zur Sprache zu bringen. Dazu wieder ein paar Anregungen: • Schon die erste Doppelseite des Buchs bringt das Thema in eindrücklicher Weise zum Ausdruck: Da stehen inmitten des großen weiten Waldes auf einer freien verschneiten Fläche der große und der kleine Bär, ganz klein beide, und trotzdem eingebunden in die weite Welt um sie herum. Und der Kleine schaut, die Ärmchen fragend nach unten und leicht nach hinten gewandt, in vollem Vertrauen den Großen an: Was machen wir jetzt? Bist du auch immer da? Hilfst du mir? Ohne den Großen stünde der Kleine sehr verloren und einsam da. Und doch gibt es ja für beide noch die gemütliche Bärenhöhle, in die sie sich abends zurückziehen; und selbst der Wald ist in seiner Weite nicht unfassbar, sondern in einer geheimen 6 Wie eingangs des Kapitels erwähnt, stellt das vorliegende Kapitel eine leicht veränderte Fassung eines Kapitels meines Buchs zum Thema „Philosophieren mit Bilderbüchern“ dar. 256 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch Ordnung stehen die Bäume da, hinter ihnen wachsen andere, und durch den Nebelschimmer werden sie alle erleuchtet vom Schein der winterlichen Sonne, der durch die lichten Wolken hindurch alles erhellt. Dies und einiges mehr lässt sich gemeinsam durch dieses Bild erzählen, weil in ihm nicht nur einfach etwas abgebildet wird, Wald, Schnee, Sonne, zwei Bären, sondern diese Bilder unmittelbar, ohne dass dies ausgesprochen werden muss, jedoch dadurch dass sie Geschichten freisetzen, für Urerfahrungen von Ausgeliefertsein und Vertrauen stehen. • Oder wir greifen auf das oben abgebildete Bild zurück, auf dem der kleine Bär seine Füßchen hält und der große das Bett-Tuch nimmt, um ihn zuzudecken: Worüber werden sich die beiden unterhalten? Was sagt der kleine, und wie sagt er es? Und ist der große lieb zum kleinen, warum? Woran können wir das sehen? • Oder das drittletzte, ebenfalls oben abgebildete Bild, auf dem der große Bär den kleinen auf dem Arm nach draußen trägt, dem großen die Nacht erleuchtenden Mond entgegen: „‘Ich hab dir den Mond gebracht, kleiner Bär’, sagte der große Bär.“ - so der Text im Buch. Vielleicht sagt der große Bär aber noch mehr? Vielleicht singt er ein Lied: „Weißt du wie viel Sternlein stehen an dem großen Himmelszelt“? Oder vielleicht spricht er ein Gebet, etwa den oben zitierten Psalm? Für die religiösen Leser ist ein solcher Hinweis selbstverständlich. Aber lässt er sich auch für nichtreligiöse Eltern erschließen? Sind nicht alle diese Inszenierungen, die Eltern beim Einschlafen ihrer Kinder aufwenden, sei es das Licht-Anlassen, die Gute-Nacht-Geschichte, das Gute-Nacht-Lied, das Betrachten eines Bildes, das Gebet, das Händchen-Halten, sind nicht all dies Bilder des Vertrauens, eines Vertrauens, das zwar die Eltern vermitteln, das aber seinen Ursprung viel tiefer hat als bloß in ihnen selbst? 2 Glaubenserfahrung Nun lautet das vorliegende Kapitel „Die Frage nach Gott“, und darum ist über die eben benannte Grunderfahrung von Religiosität hinauszugehen zu den anderen bereits angedeuteten Ebenen von Gläubigkeit und Religionszugehörigkeit. Auch hier ist, orientiert man sich jedenfalls an den großen religiösen Traditionen, nicht von Definitionen, sondern von Erfahrungen auszugehen. In ihren Glaubensgeschichten erzählen die heiligen Texte der Religionen ausführlich und eindringlich davon. Eine dieser Glaubensgeschichten ist die von Jona. Sie ist durch ihre Bilderkraft, vor allem das Bild vom großen Fisch, der Jona verschlingt und dann wieder ausspeit, oft zur Darstellung gekommen. Für unseren Zusammenhang, die 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch 257 philosophische Frage nach Gott, ist unter allen Bilderbüchern herauszuheben das von Sekiya Miyoshi7, gerade weil es weder mit dem Text noch vor allem mit seinen Bildern die biblische Vorlage schlicht und damit schlecht bloß illustriert, sondern seine Deutungskraft ganz auf die uns hier interessierende exemplarische und vorbildhafte Glaubens-Erfahrung des Jona konzentriert. Die erste Doppelseite bringt gleich die Pointe dieses Zugangs zum Ausdruck: Wir sehen rechts nicht etwa Jona, wie er in der biblischen Überlieferung gleich im ersten Satz als Adressat eines Handlungsauftrags eingeführt wird, sondern ein lediglich blau-weiß gestaltetes Bild, durch die klare Trennlinie zwischen dem kleineren oberen weißen Teil mit zwei blauen Farbflecken und dem größeren unteren blauen Teil, das ganz unten in Grüntöne übergeht, unmittelbar als Meer mit Himmel auszumachen: 7 Sekiya Miyoshi: Jona. Hamburg (Wittig) 1978 (Tokyo 1977), 28 S. 258 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch Daneben findet sich links der einfache Satz: „Vor langer Zeit lebte ein riesengroßer Fisch, der leuchtete in allen Farben des Regenbogens.“ Nun wissen wir, dass einerseits die Farben des Regenbogens, wenn sie gebündelt werden, Weiß ergeben, andererseits Blau traditionell die Farbe des Transzendenten, Unendlichen und auch Unsichtbaren ist - in die Tiefe des Meeres vermag ja niemand zu blicken. Kein Wunder mithin, dass wir auf dem ersten Bild diesen Riesenfisch nicht sehen, und doch ahnen wir, dass er da ist. Auch auf der zweiten Doppelseite sehen wir den Fisch noch nicht als Fisch, aber immerhin bereits die Farben des Regenbogens, die nun in der Verbindung der Elemente von Wasser und Luft zur lebendigen Erde als bewohntem Raum sichtbar werden. Im Blickzentrum dieses Bildes erblicken wir oben auf einer Klippe liegend, den Kopf zur Ruhe auf einen Arm gestützt, eine Gestalt, offensichtlich Jona. Dem Bild nach zu urteilen hört und sieht er hier weniger, vielmehr vernimmt er, ganz eingebunden ins Zentrum des sich entfaltenden Regenbogens, dessen Glanz, was im Text ausgedeutet wird, er höre im Schlaf eine Stimme. Ganz selbst von diesem Glanz erfüllt, strahlt er quasi hinaus auf das ihn umgebende Land und Meer. Dass er laut biblischem Text den Auftrag erfahren hat, die Botschaft des Guten gegen das Böse zu tragen, braucht durch zusätzlichen Text eigentlich nicht mehr erschlossen werden. 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch 259 Eine solche Erfüllung aber führt nicht notwendig zur sofortigen Umsetzung. Es kommen vielmehr Bedenken, Einwände und Angst, ja vielleicht gehören sie notwendig dazu, damit Handeln nicht fremdgesteuert oder bloß aus einem zufälligen Impuls entstanden geschieht, sondern selbst verantwortet und begründet entschieden: Miyoshi gestaltet das folgende Bild in dunklen Tönen, die wie eine Beklemmung auf den unten rechts gebeugt fliehenden Jona eindrücken: Jona flieht vor Gottes Auftrag, so die biblische Überlieferung; - ist er der Aufgabe wirklich gewachsen, oder bricht er unter der Last zusammen? Das erste Mal taucht der Fisch sichtbar im nächsten Bild auf, das Jona schlafend auf dem Schiff zeigt, auf dem er mitfährt, um ans Ende der Welt zu kommen, ganz weit weg von dem, was er gehört hat. Die weitere Geschichte aus der Bibel dürfte bekannt sein: Das Schiff gerät in einen Sturm, und Jona, dem die Schuld daran gegeben wird, weil er vor seinem Gott davongelaufen ist, wird ins Meer geworfen. Dort aber, mitten in der Tiefe des Wassers, „wartete“ bereits, so der Text bei Miyoshi, „der große Fisch mit offenem Maul. Mit einem Schluck verschlang er Jona.“ Dieses Bild hat natürlich vielfältige Deutungen evoziert. Eine gibt die Bibel selbst, die Jona psalmartig klagen lässt: „Aus der Tiefe der Unterwelt schrie ich um Hilfe … Du hast mich in die Tiefe geworfen, in das Herz der Meere; mich umschlossen die Fluten, all Deine Wellen und Wogen schlugen über mir zusammen … Das Wasser reichte mir bis an die Kehle, die Urflut umschloss mich … Bis zu den Wurzeln der Berge, tief in die Erde kam ich hinab; ihre Riegel schlossen mich ein für immer.“ Nicht nur eine bestimmte Lebensform, sondern die Existenz überhaupt ist hier in Frage gestellt: Wenn wir Menschen dazu in der Lage sind, aus unserem biologischen Daherleben heraus zu treten und so nicht nur da zu sein, sondern selbständig zu 260 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch ek-sistieren (wörtl: herauszutreten, nämlich ins Dasein)8, dann wird diese conditio humana hier auf den Kopf gestellt: Mit den Abgründen der Elemente konfrontiert ist das Leben über Jona zusammengebrochen, der Möglichkeit von Existenz ist im wahrsten Sinne des Wortes der Boden entzogen. Die religiösen Überlieferungen nennen häufig diese Metaphern existentieller Erschütterung, die uns scheinbar aus den Angeln heben, aber so wiederum freilegen, was uns gleichwohl trägt: So ging es Gautama Siddharta bei seiner Erleuchtung, durch diese Abgründe hindurch musste Jesus in der Wüste, und mitten auf dem Meer drohte unterzugehen auch der Fischer Simon. Doch wer das erfahren hat, hat sich selbst nicht verloren, sondern gewinnt sich selbst, so Simon, der in seinem scheinbaren Untergang von Jesus erfahren darf, dass er Petrus, ein Fels und damit Halt sein kann für andere.9 Und so auch Jona: „…Du aber hörtest mein Rufen … Du holtest mich lebendig aus dem Grab herauf.“ Denn die Fluten, die Jona umschlossen, haben sich als die lebensspendenden und die Existenz tragenden Wasser Gottes erwiesen. Auch Jona wendet sich mit neuem Mut seiner zuvor abgewiesenen Aufgabe zu. Für die existentielle Bedrohung im Bauch des Fisches hat Miyoshi in seinem Buch kein Bild gefunden. Der Fisch in dem entscheidenden, die Geschichte wendenden Mittelbild des Bilderbuchs ist durchweg freundlich, eher die Verbildlichung der Energie, die Jona nun gestärkt kommenden Aufgaben entgegen sehen lässt. Wie lustvoll solche Energie sein kann, bringt Miyoshi eindrucksvoll in das Folge-Bild, in dem der Fisch Jona mit aller Farbenvielfalt des Regenbogens ausgestattet in einem hohen Bogen an Land schleudert. 8 9 Diese Deutung des Existenzbegriffs hat am klarsten Martin Heidegger herausgestellt, wenn er in den handschriftlichen Randbemerkungen zu seinem eigenen Exemplar von „Sein und Zeit“ zu dem hervorgehobenen Satz „Das Dasein ist seine Erschlossenheit“ (Heidegger 1979, S.133) notiert: „Dasein existiert und nur es; somit [ist] Existenz das Aus- und Hinaus-stehen in die Offenheit des Da: Ek-sistenz.“ (Heidegger 1979, S.442). Vgl. dazu meine Ausführungen in Kap. 4-2. 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch 261 Welches Kind und welcher Erwachsene ist nicht gern in solcher, uns die Sinne nehmenden wie zugleich sie ganz vereinnahmenden Weise schon einmal eine lange Rutschbahn hinabgerutscht oder mit der Achterbahn gefahren? Jona kommt nun, wie aus der biblischen Geschichte bekannt, seinem Auftrag nach, geht nach Ninive und verkündet Gottes Gerechtigkeit. Die biblische Vorlage eröffnet damit die Diskussion der schwierigen Frage, ob diese Gerechtigkeit Gnade für alle bedeutet oder auch Strafgericht gegen die Bösen, bzw. ob es auch für die Bösen Vergebung geben kann, obwohl damit das Böse nicht ungeschehen gemacht werden kann. Im biblischen Kontext wird diese Diskussion nicht analytisch, sondern subjektiv in den Reaktionen Jonas zur Sprache gebracht. Dies tut auch Miyoshi: Jona predigt voller Energie, hat gleichwohl Angst vor den Reaktionen, fragt sich, ob es Vergebung geben kann, läuft rot an vor Zorn über ausbleibende Vergeltung, doch bei allem weiß er sich letztlich erfüllt vom Auftrag Gottes, der seine subjektiven Reaktionen bestehen lässt wie auch zugleich relativiert: Der Fisch bleibt stets als ausgleichendes Element im Horizont des Geschehens: Auch die gelbe Farbe des Neids und die Röte des Zorns gehören wie zuvor das Grün der Energie zu den Farben des Regenbogens. Und so endet das Bilderbuch auch anders als die biblische Vorlage, nämlich wie es begonnen hatte, mit dem Fisch: Die beiden Abschlussbilder mögen kritische Betrachter kitschig finden, eines machen sie jedoch deutlich, den Versuch Miyoshis, für die alles übersteigende Güte Gottes, die für uns Lebensgrundlage und Vielfalt des Erlebens bedeutet, Bilder zu finden: Das vorletzte Bild zeigt den wieder nach Hause zurückgekehrten Jona inmitten einer friedlichen Landschaft, friedlich, da nicht eindimensional, sondern entfaltet zur Lebendigkeit aller Farben des Regenbogens, die aber in einen Ordnungszusammenhang sich fügen: Stimmigkeit und 262 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch Lebensfreude sollen von diesem Bild ausgehen. Liegt hier der Akzent auf Einheit und Harmonie, so verstärkt das letzte Bild den Aspekt der Differenz und Vielfalt: Gegen eindimensionales Schwarz-Weiß-Denken plädiert es für das Bunte: Inmitten des scheinbar eindimensional blauen Meeres, scheinbar getrennt durch den Horizont vom farblosen Weiß des Himmels bekommt der große Fisch viele Kinder und Kindeskinder in allen Farben des Regenbogens leuchtend. Inwiefern nun kommt mit diesem Bilderbuch eine Antwort zur Darstellung auf die Frage, was nicht nur ein religiöser, sondern ein gläubiger Mensch ist? Dazu sind die im Nachvollzug des Buchs entwickelten Deutungen nur noch einmal kategorial für sich auszusprechen: • Auf einer ersten Ebene geht es um eine den alltäglichen Lebenslauf irritierende Erfahrung; sie wird als Anspruch, Aufruf, Impuls zur Veränderung oder zumindest zum Bedenken wahrgenommen. • Die zweite Ebene ist die Auseinandersetzung mit diesem Anspruch. Natürlich muss ich zunächst einmal mich dafür öffnen, um den Anspruch wahrnehmen zu können. Dies geschieht in einer Öffnung der Sinne. Dann folgt das Fragen und Hinterfragen, auch Infragestellen, das nicht selten, so wie hier bei Jona, eine Erschütterung und das Gefühl existentiellen Verlusts bedeutet. • In dieser Auseinandersetzung spüre ich dann aber, und das ist der entscheidende Schritt, dass es nicht irgendetwas ist, von dem ich mich herausgefordert fühle und mit dem ich mich auseinandersetze, sondern etwas, das mich in meiner Existenz trägt. Nur scheinbar ist diese Erfahrung eine von Fremdbestimmung. In Wahrheit merkt der gläubige Mensch in der elementaren Konfrontation mit seiner Existenz, dass er sich diese nicht selbst gegeben hat, sich ihr aber gleichwohl je neu zu stellen und sie je neu zu verantworten die Kraft hat; insofern erfährt der Glaubende seine Existenz als Geschenk. Die Religionen nennen den Spender dieses Geschenks Gott. • Bei dieser Erfahrung bleibt es aber nicht als einem bloß punktuellen und einmaligen Erleben. Vielmehr greift, da es sich ja um eine existentielle Erfahrung handelt, diese Erfahrung über in die konkrete Lebensgestaltung. Auch dies erfolgt nicht bruchlos, sondern in Freisetzung aller Gefühle, Entschlüsse, Bedenken, Einsichten, also in ständiger Auseinandersetzung, nicht blindem Gehorsam. • Daraus aber erwächst die Kraft, sich immer wieder neuen Lebenssituationen stellen zu können wie auch die lebensentscheidenden Fragen nach Herkunft, Ziel und Gerechtigkeit des Lebens angehen zu können. 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch 263 Die eben genannten Ebenen gläubiger Religiosität haben wir aus der genauen Betrachtung des Bilderbuchs erschlossen, mit der biblischen Bildergeschichte von Jona im Hinterkopf. Diese Ebenen lassen sich in fast allen von den Religionen dokumentierten Glaubens-Erfahrungen wiederfinden. So kann auch eine Formel zur „Definition“ verständlich werden, die mir einleuchtend erscheint, weil sie die genannten Dimensionen genau in Begriffe zu fassen versucht: Der Religionswissenschaftler Gustav Mensching bestimmt Religion „als erlebnishafte Begegnung mit heiliger Wirklichkeit und als antwortendes Handeln des vom Heiligen existentiell bestimmten Menschen“. 10 3 Wer ist Gott? Damit kann unsere Frage nun in eine dritte Richtung gewendet werden: Nachdem wir erstens in Erfahrung gebracht haben, was die Religiosität des Menschen ist, und zweitens was dann ein Mensch ist, der sich dieser Religiosität auch stellt, also seine Existenz als glaubende erfährt, muss es nun drittens um die genauere Bezeichnung dessen gehen, das ich als den meine Existenz tragenden Grund erfahren habe, also um das, was wir Gott nennen. Das aber ist nur in zweierlei Hinsicht möglich: Entweder frage ich nach dem, was hinter allem als alles tragender Grund steht, oder ich frage nach dem, was sich in konkret erfahrbarer Wirklichkeit als das es in seiner Besonderheit Prägende offenbart. Die erste Frage ist eine Frage, in der sich Theologie und traditionelle Metaphysik verbinden, die zweite Frage vollzieht eine Kehre weg von der Frage nach dem Sein als tragendem Grund des Seienden hin zu einer Phänomenologie des konkreten Seienden selbst. Auch für diese beiden komplizierten Fragestellungen gibt es Bilderbücher, mit denen die Richtung dieser Fragen sich erspüren lässt, Hinter dem Hügel11 und Ein Stiefel fiel vom Himmel12. 10 11 12 Mensching (1961); ausführlicher zur Erläuterung der in dieser „Definition“ enthaltenen Elemente siehe oben imKap.1-3. Shigeko Yano: Hinter dem Hügel. Dt.Text v. U.Wölfel. Düsseldorf (Patmos) 1985 (Tokyo 1977), 24 S. Kåre Bluitgen/Chiara Carrer: Ein Stiefel fiel vom Himmel. Wuppertal (P.Hammer) 2001, 32 S. 264 3.1 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch Gott als tragender Grund meiner Existenz Auf dem ersten Bild von Hinter dem Hügel steht ein Kind, uns den Rücken zugewandt, am Horizont einer für uns sichtbaren Landschaft, einer hügeligen ganz in Gelbtönen gehaltenen, Wärme ausstrahlenden, doch spezifisch nicht bestimmbaren Landschaft. In der linken Hand hält es einen Wanderstab, wie Hirten ihn haben, und blickt in die Ferne, die im Bild farblos bzw. weiß bleibt. Es sieht ganz offenkundig in eine unserem Blick verborgene Landschaft (oder das Meer) hinter dem Hügel, und dann werden wir durch den Satz überrascht „Was hinter dem Hügel ist, kann ich nicht sehen.“ Das Bild bringt die Ambivalenz dieser Erfahrung besser zum Ausdruck als die Sprache es zu tun vermag. Natürlich können wir auf einen Hügel laufen, und dann sehen wir, was dahinter ist, werden es zumindest sehen können. Oder ich war schon einmal dort, und darum weiß ich beispielsweise, und so fährt der auch der Text fort: „Da ist eine Wiese.“ Die so erläuterte Erfahrung könnte man erkenntnistheoretisch aufbereiten: Banalerweise weiß ich natürlich von nichts, was mir noch nicht vor die Augen gekommen ist, nichts kann im Verstand sein, was nicht zuvor den Sinnen sich gezeigt hat. Wenn ich aber dann doch von etwas weiß, was gleichwohl hinter dem Sichtbaren meinem Blickfeld verborgen ist, dann wohl deshalb, weil ich die Fähigkeit habe, Erfahrungen, die ich früher einmal gemacht habe, zu speichern und mich später daran zu erinnern. Und so wäre der Satz auf der Ebene physischer Wahrnehmung und psychischer Erinnerungsleistung völlig klar: „Was hinter dem Hügel ist, kann ich nicht sehen. Aber ich weiß doch, ich weiß: Da ist eine Wiese.“ Die Ambivalenz dieser Erfahrung bleibt ihrer kognitionstheoretischen Differenzierung vorbehalten, doch auch ihre sprachliche Gestalt deutet immerhin an, dass das nicht alles ist: „…ich weiß doch, ich weiß…“ repetiert der Text 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch 265 bedeutungsschwanger, - Wissen hat auf unterschiedlichen Ebenen seine Basis, nicht nur auf der der sinnlichen Wahrnehmung des physisch vor uns Liegenden. Worin aber dieses Mehr des Wissens liegt, darüber erfahren wir durch den Text nichts weiter. Mehr aber „sagt“ hier das Bild: • Auf der ersten Ebene der unmittelbaren Betrachtung wird unser Blick ganz in das Bild mit seiner weiten gelben Fläche hinein und zugleich über diese Fläche hinausgetragen, in jenen Horizont, der hinter dem durch die Trennung des gelben Hügels und des weißen Himmels angedeuteten optisch-geografischen Horizont verläuft. • Auf einer zweiten Ebene können wir genauer beobachten: Zunächst fällt die große gelbe Fläche auf, die sich ganz durch den Mittelteil des Bildes zieht. Es ist ein warmer Gelbton, der durch seine rotbraune Färbung und die kleinen Einsprengsel in grünlichen Tönen gleich an eine Wiese oder ein Feld denken lässt. Als Landschaft, Erde, auf der wir stehen können, gibt diese Fläche dem Bild und damit uns als Betrachtern Halt. Im unteren Teil wird das Gelb heller und stärker mit den grünlichen Partikeln durchsetzt und läuft in der Mitte aus dem Bild heraus. An dieser Stelle scheinen wir als Betrachter zu stehen und werden so vom helleren Teil durch den größten dunkleren in der Mitte des Bildes nach oben zum höchsten Punkt der gelben Fläche hingezogen. Das Bild wird im unteren Teil rechts und links begrenzt durch sehr helle, fast weiße Flächen; sie sind nicht weiter strukturiert, und so wird der Blick ins Bild hinein deutlich von der unteren Mitte her gelenkt. Oben aber am Horizont der gelben Fläche geht diese relativ schnell in ein schmales, sehr helles und gleichwohl intensives Gelb über, das sich bruchlos in das Weiß des oberen Teils verliert. Der Horizont, der so markiert wird, ist insofern nicht scharf, sondern als Übergang gezeichnet, wodurch der Effekt, den Blick in jenes nicht mehr als Etwas auszumachende Weiß zu wenden, verstärkt wird. • Wenn wir als Betrachter unseren Blick in der Mitte des Bildes, genauer ganz im rechten Teil der linken Bildhälfte in den Horizont richten, steht das Kind, die Hauptperson des Bildes wie des ganzen Buches, quasi rechts neben uns. Neben ihm blicken wir mit ihm hinter den Hügel. Dieses Kind nun ist einerseits wie wir noch ganz der diesseitigen Welt verbunden, andererseits ebenso sehr schon in die jenseitige Welt aufgenommen. Warum? Seine Füße können wir eigentlich nicht sehen, sie sind wie verwurzelt ganz in den kaum kniehohen Gräsern auf dem Hügel verborgen. Aber auch das uns Sichtbare des Kindes sehen wir eigentlich nur schemenhaft, und doch entdecken wir beim genauen Hinsehen mehr: Das Kind scheint nämlich nicht mehr zu stehen, sondern sich bereits in den Horizont hineinzubewegen, vom Kamm des Hügels zur anderen Seite hinabzusteigen: Das 266 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch rechte Füßchen scheint leicht nach vorn gewandt, jedenfalls suggeriert dies die an dieser Stelle leicht nach rechts oben verlaufende Grasnarbe. Und der linke Arm ist physiologisch ganz entsprechend nach links vorne gewandt, so als ob der Wanderstab schon einen ersten Schritt hinab getan hätte; jedenfalls ahnen wir hier genau die nach rechts hinten leicht zurückgeschwungene rechte Hand. Und dann hat das Kind einen blauen Kittel an. Von der blauen Farbe wissen wir, dass sie ein Symbol der Weite und Unendlichkeit ist, aber mit diesem Bild bringen wir auch sinnlich in Erfahrung, dass es vor allem dieses Blau ist, das unsere Aufmerksamkeit hinter den Horizont zieht. • Und schließlich sehen wir im oberen Teil das Weiß des Himmels. Kein Himmel ist natürlich real so weiß, selbst wenn wir Nebel haben. Nebel anzunehmen, dazu bietet aber die Stimmung des Bildes keinen Anlass. Vielmehr steht das Weiß wohl dafür, dass etwas sichtbar ist, ohne dass wir dies in dem, was es ist, genauer sehen können, ohne dass wir sagen oder gar bezeichnen zu können, was dieses Etwas ist. Da ist schlicht etwas. Und dieses Etwas bestimmt das ganze Bild in dem, was es ist in seinen Details; denn ohne das Weiß des Himmels sähen wir gar nichts von den auf der Diesseite des Bildes uns zugänglichen Dingen. Dieser Bildbefund birgt schon Richtungen seiner Deutung. Sie lassen sich in unsrem Kontext der Frage nach Gott kennzeichnen mit den drei Begriffen Metaphysik, Transzendenz und Negative Theologie: (1) Die erste in unserer genaueren Beobachtung festgestellte Ebene ist die der Metaphysik: Hinter oder auch jenseits des vor uns Liegenden, der sichtbaren gelben Fläche oder des begehbaren Hügels wissen wir um etwas, das nicht mehr physisch-materiell sichtbar ist. Der sichtbare Horizont zwischen dem gelben Hügel und dem weißen Himmel ist der Vordergrund einer nicht mehr sichtbaren Grenze zwischen dem sinnlich vor uns Liegenden und dem dahinter, hinter (griech. „meta“) dem sinnlich Fassbaren (griech. “physika“) sich verbergenden, dessen Vorhandensein uns durch den sichtbaren Horizont gleichwohl intuitiv klar ist. (2) Auf einer zweiten Ebene werden wir mit den Schäferkind über die Kammgrenze hinausgezogen in jene jenseitige Welt. Wir über-schreiten, „trans-zendieren“ (lat.), das vor uns Liegende, Diesseitige, auf etwas nicht mehr konkret Begehbares und Sichtbares hin, einen jenseitigen „Raum“ der Transzendenz. (3) Dieses dem unmittelbaren Zugriff entzogene und verborgene Jenseitige ist aber nicht einfach eine Anderwelt, über die wir wie über die diesseitige TatsachenWelt definierende und sie als ein Etwas artikulierende Aussagen machen können. Sondern nur negativ können wir im Sagen, dass dies nicht eine als Etwas, nicht 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch 267 eine als Tatsache zu bezeichnende Welt ist, Aussagen machen. Solche Aussagen bezeichnen durchaus etwas, aber etwas, das dadurch charakterisiert ist, dass es sich nicht in sprachlich fixierbare, weil Tatsachen beschreibende Ausdrücke fassen lässt. Ein philosophischer Ausdruck zur Bezeichnung eines solchen Etwas ist „Nichtseiendes“. Und der theologische Ausdruck dafür ist nur scheinbar positiver, ist bei Lichte besehen aber auch lediglich eine Chiffre für etwas, was eben nicht sich benennen lassen kann, nämlich „Gott“. Auf dieser Ebene versucht Yano das Bilderbuch weiter zu gestalten: Die vorsichtigen Aquarelltöne mögen Ausdruck sein für die Vorsicht, das in den Bildern „Gezeichnete“ mit der Bezeichnung zugleich wieder aufzuheben, nur als Beispiel für eine auch anders mögliche Erfahrung anzusehen. Die Schafe auf der dritten Doppelseite mögen noch deutlich als Schafe auszumachen sein. Die Sterne einige Seiten später sind es nicht mehr so klar: An einigen Stellen verschwimmt der optische Eindruck von einem gelben Fleck, der als Stern auszumachen wäre, in eine nur noch gelblich schimmernden Tönung, die das Blau des Himmels färbt. Und auch die Blätter der Bäume sind wie durchsichtig gezeichnet: Verschwommen „sehen“ wir zugleich in sie hinein, in ihren feinen Gliederungen erkennen wir Lebenselemente. Und das Bild von der untergegangenen Sonne am Ende des Buchs liefert auch nur den „farbigen Abglanz“ des Lichts (Goethe), den die Atmosphäre uns widerspiegelt von der hinter dem Horizont am Abend bereits verschwundenen Sonne, von der wir aber gerade durch ihr Verschwundensein vielleicht klarer wissen, dass sie da ist, als wenn sie noch „am Himmel“ stünde, weil wir dann nie genau in sie hineinsehen könnten, ohne zu erblinden. 268 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch Manche Betrachter halten das letzte Bild des Buchs, das das Kind mit seinen Eltern grau, fast als Schatten, von hinten zeigt, und seinen Text für überflüssig: „Alles kommt her von Gott, und Gott ist überall. Aber ich sehe ihn nicht. Ich weiß nur, ich weiß: Er ist da.“ Überflüssig scheint mir dieser Text in der Tat, wenn er nur aufschriebe, was durch die Bild-Erfahrung vorher sehr viel offener und zugleich klarer hat erfasst werden können. Aber im Muster der vorangegangenen Sätze leistet vielleicht auch dieser Satz etwas anderes als eine „Erklärung“; möglicherweise gibt er eine gut geeignete Antwort auf die ja immerhin berechtigte Kinderfrage, doch einmal zu sagen, wer oder was Gott ist, von dem die Religionen ja ständig reden. Im Muster der vorangegangenen Sätze verdeutlicht dieses Ende, dass auch für „Gott“ gilt, dass er/sie kein eindeutig zu fassendes Etwas ist, das wir als klare und distinkte sinnliche Erfahrung ausmachen könnten. Aber wir können „Gott“ ausmachen im Erfassen der Durchsichtigkeit von jedem als „etwas“ zu Bezeichnendem. Mit Kindern kann das Buch insgesamt leicht erschlossen werden als Bild-Meditation oder auch als Traumreise unter Hören des Textes mit geschlossenen Augen. Denn seine „Botschaft“ ist nicht das Erfassen der begrifflichen Hintergründe, deren Benennung, wie wir sie vorgenommen haben, für uns Erwachsene die Erschließung dieses Buchs erleichtern sollten, sondern um das unmittelbare Erfassen einer Stimmung, einer Erfahrung, die den Nährboden bieten kann, auf dem später solche Erfahrungen begrifflich gefasst werden können. 3.2 Gott als Alltagserfahrung Die letzte Ebene unser Auseinandersetzung mit der Gottesfrage, die Thematisierung Gottes durch eine genaue und darum tiefgründige Phänomenologie des konkret vor uns liegenden Seienden, ist die Kehrseite der eben geleisteten Auseinandersetzung. Lautete eben die Frage, wie wir über das Diesseits konkreter Erfahrungen hinausgelangen können zu einem Jenseits, das sich als tragender Grund des Diesseits erweist, fragen wir nun, ob und wie sich ein solcher unsere Wirklichkeit tragender Grund auch konkret in der Wirklichkeit des So-Seienden zeigt. Religiös ist das die Frage, wie Gott im Alltag zu erfahren sei. 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch 269 Nun leben wir, sagen Soziologen, in einer patchwork-Gesellschaft.13 Die ermöglicht nicht nur Pluralität, sondern führt immer mehr auch zu einem Auseinanderlaufen der vielfältigen Ebenen von Wirklichkeit, zu Diversifikation. Diversifiziert, so meinen Religionssoziologen, stellt sich in modernen Gesellschaften auch Religion dar: Wir leben nicht nur im Kontext vieler unterschiedlicher Religionen, sondern die Menschen „nutzen“ die Traditionen und Angebote der einzelnen Religionen auch durcheinander. So bedeutet Protestant zu sein heute keineswegs, nicht auch ganz selbstverständlich an einer katholischen Osternachtsfeier teilzunehmen, einen Kurs für buddhistische Zen-Meditation zu belegen, mit indianischer Naturverehrung zu sympathisieren oder den Hindu Mahatma Gandhi als persönliches Vorbild für sich anzusehen. Ja, vielleicht gehört es heute auch zu möglichen Formen, seine Religiosität zu leben (wenngleich dies i.d.R. eher nicht bewusst geschieht), in ein Eisstadion zu gehen und Wunderkerzen anzuzünden und in Fan-Gesänge einzustimmen oder ein Auto mit einem Stern über die Straßen zu bewegen und ihm einen kleinen Tempel in Form der Garage zu weihen, oder auch den ritualisierten Konsum der täglichen Tagesschau, der QuizSendung, der vorabendlichen Soap-Reihe, des Abendkrimis, der Live-Sendung wie die religiöse Liturgie zu einer heiligen Feierstunde zu stilisieren. Mit einem patchwork, mit unterschiedlichen Feldern auf die ganze Seite verteilt, beginnt und endet auch das letzte in unserem Rahmen vorzustellende Bilderbuch Ein Stiefel fiel vom Himmel. Die Geschichte ist schnell erzählt: In Bewunderung seines Regenbogens verliert Gott, auf einer Wolke sitzend, einen seiner Stiefel. Er begibt sich auf die Erde, um ihn wiederzufinden, fragt den Parkwächter, den vorbeieilenden Geschäftsmann, den Pfarrer, das Fundbüro, den Schuhladen. Doch alles ist umsonst. 13 Vgl. dazu meine Ausführungen oben Kap.1-1. 270 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch Bei einer Militärparade wird er als verrückter Landstreicher von der Polizei in Gewahrsam genommen, über dessen Verrücktheit sie jedoch so zu lachen anfangen, dass sie vergessen, die Gefängnistür zu verschließen. So kann Gott sich in der Nacht davonschleichen. Am frühen Morgen trifft er einen kleinen Jungen beim Angeln, einer zeitaufwändigen Beschäftigung; und weil er sich so viel Zeit nehmen kann, hat er tatsächlich auch den Stiefel Gottes gefunden und lässt sich darauf ein, Gottes Geschichte zu hören. Theologisch bewanderte Leser können in dieser Geschichte eine ganze Christologie entdecken: Auch für Jesus ist überliefert, dass er zwar nicht der Stiefel, aber der Sohn Gottes ist, etwas, das Gott „schon seit Ewigkeiten“ hat und sehr liebt. Und geboren wird auch dieser Jesus unter Umständen, wo ihn zunächst keiner vermutet und niemand ihn findet. Sogar vom Schuhe-Binden ist bei diesem Jesus die Rede. Offenkundiger ist die Parallele, dass auch er, wie der Gott unseres Buchs, sich auf alle Alltäglichkeiten einlässt und dabei Probleme bekommt: Jesus darf am Sabbat nicht aufs Weizenfeld, Gott im Buch nicht auf den Rasen des Parks. Das Heil sucht Jesus bei den Armen und Aussätzigen, Gott sucht seinen Stiefel im Müll. Hören will keiner so recht auf Gott, selbst die Pharisäer und Schriftgelehrten haben eher vorgefertigte Meinungen, setzen sich aber nicht auseinander, ebenso wenig wie viele Menschen, die eher aus Konvention nach Jerusalem kommen denn aus innerer Überzeugung; und ebenso trifft Gott im Buch kurz vor dem Sonntag nur ein Fundbüro mit vergessenen Sachen oder das Schuhgeschäft mit Devotionalien; nur eine kleine Verkäuferin hat ein wenig Mitleid mit Gottes geschundenen Füßen und schlägt eine Behandlung vor, ebenso wie jene Sünderin, die Jesus mit ihrem Haar die Füße salbt. Und sogar um einen König geht es, der hoch leben soll; diese Szene kennen wir von Jesu Einzug nach Jerusalem. Als König aber hat Gott in der Welt nichts verloren und wird eingesperrt, wie auch Jesus, der als König der Juden eher Spott als Ärger auslöst. Im Gefängnis wird Gott dann sogar gequält, jedenfalls in den Bildern, wie auch Jesus. Und doch kann er eigentümlich geheimnisvoll fliehen, unter Zurücklassung nur von „wunderlichen Fußspuren“; Gott ist einfach aufgestanden und gegangen. Und in dieser neuerlichen (auferstandenen?) Daseinsweise trifft er keinen anderen als einen Fischer, so wie es die ersten Jünger Jesu auch waren. Und der allein hat Zeit, die Geschichte zu hören, so viel Zeit, dass er sie auch wird weitererzählen können. Das Interessante an diesem Buch ist aber nicht nur die hier kurz skizzierte, einige vielleicht verstörende Aktualisierung der Gottesgeschichte, sondern auch die Bilder, denen auf den ersten Blick gar nichts Religiöses eigen zu sein scheint, die aber immer wieder mit kleinen religiösen Anspielungen arbeiten, eben auf der Ebene irgendwie patchworkartig bekannter religiöser Versatzstücke. So sehen wir Gott als Mann mit weißem Rauschebart, oder wir erkennen den immer wieder kehrenden 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch 271 Finger Gottes aus Michelangelos berühmtem Sixtinischem Erschaffungs-Fresko. Das Wichtigste und auch für Kinder Lesbare dieser Bilder aber scheint mir zu sein, dass sie durch ihren Collagen- oder Patchwork-Charakter beim Betrachter überall Anregungen zum Nachfragen und Weitererzählen freisetzen. Das geschieht auf zwei Ebenen: Auf einer ersten Ebene sind alle Bilder bereits als Bildergeschichten gestaltet, mehrere Szenen oder auch Perspektiven oder auch Bezugsebenen sind zugleich dargestellt. Das ist aber nicht nur irgendein auf alle möglichen Themen anwendbares Gestaltungsprinzip, sondern ein besonders auf unser Thema bezogenes: Gleich das erste Gott auf der Erde zeigende Bild stellt uns Gott vor als in eine Geschichte eingebundene Person: Über den Text hinaus wird auf dem oberen Rand die „Geschichte“ vom Verlust des Stiefels noch einmal erzählt, und zwar einerseits von Gott selbst, indem er mit seinem linken Zeigefinger auf diese Bilderkette hinweist und andererseits durch die Bilderkette selbst, in der (wohl durch Menschen) diese Geschichte in Bilder gefasst worden ist. „Was bedeutet das?“ – so lassen die Bilder unwillkürlich ihre Betrachter fragen und fordern sie damit ihrerseits zu einem Nacherzählen auf. Das ist mehr als ein didaktisches Element, das gibt Einblick in das von uns gesuchte Verständnis von Religion im Alltag: Zunächst wird die vorhin angesprochene Problematik der Illustration von Geschichten aus der religiösen Tradition hier zugleich aufgenommen wie hinterfragt. Die einzelnen Bilder bezeichnen einerseits etwas, was auf ihnen zu sehen ist, den Regenbogen, die Wolke, das Hinabgleiten des Stiefels, aber auch stärker abstrakte Bilder wie den Finger Gottes, das Frage- und das Ausrufezeichen. Mit der Erläuterung dieser Bezeichnung ist aber noch nicht alles, ja das Wesentliche noch nicht gesagt. Denn einen Sinn gewinnen die Bilder erst, indem jemand sie – so eine zweite Dimension - als Geschichte auch einem anderen erzählt, also dadurch, dass etwas erst ist, was es ist, indem es zugleich vermittelt wird. Und darin, dies ist 272 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch eine dritte Dimension, mag dann deutlich werden, dass hier etwas erzählt wird, das nicht allein Wort oder Bild des Autors ist, sondern das eine göttliche Botschaft zu tragen vermag: Religiöse Bilder und Worte beanspruchen stets einen Zuspruch und Anspruch zum Ausdruck zu bringen, der zwar in der Gestalt menschlich fixierter Bilder oder Worte daherkommt, das menschlich Sagbare aber zugleich übersteigt, indem es einen Sinn erst gewinnt, wenn ich als Leser oder Hörer mich darauf auch einlasse in einer meine Existenz herausfordernden Art. Soweit zur ersten Ebene der Bildgestaltung. Auf einer ganz anderen Ebene spielt das Bild, in dessen Rahmen auch diese Bilderkette eingebettet ist, die Auseinandersetzung zwischen Gott und dem Parkwächter im Park, den Gott unerlaubterweise betreten hat. Auf den Parkinseln finden sich nur Bäume, Sträucher, ein Ententeich, auf den Bäumen auch Vögel; nur Gott hat es sich bequem gemacht auf einem Stück Parkfläche, alle anderen Menschen bleiben ordnungsgemäß auf den Wegen oder sandigen Flächen. Und dabei steht doch dabei „public park“, öffentlich für wen? Und was heißt das, dass dafür Regeln und Schilder aufgestellt werden? Ordnungen gelten wohl nicht ohne Grund, aber warum gibt es überhaupt Ordnungen, ja selbst einfach wie die Zahlenordnung? Damit ist die zweite Ebene der Bildgestaltung angesprochen: Ständig provozieren die Bilder zur Frage nach der Ordnung von allem über den Sinn von Regeln und Ordnungen über die geordnete Alltagswelt hin zur Ordnung von Zahlen, von Abläufen hin zur Ordnung aller Ordnung und des Lebens, also dem Prinzip von Ordnung überhaupt. Verwirrend und zunächst ohne Deutungsmöglichkeiten präsentieren sich vor allem die vielen Zahlen, die z.T. ordnend, z.T. messend, z.T. aufzählend und summierend sich durch die einzelnen Bilder ziehen. Zahlenfrei sind nur die ersten beiden Bilder vor Gottes Erdengang; auf dem letzten ist Gott am rechten Ärmel nur noch ein kleiner Zahlenzettel haften geblieben. Zahlen sind wie Buchstaben Möglichkeiten, die Welt als Ordnung zu verstehen und als Ablauf, in dem wir eine Rolle spielen können. Wer sich mit Zahlen, Buchstaben, Summen und Sätzen auseinandersetzt, reflektiert somit auf unser Menschsein als geschichtliches, das meint als ein in ein Geschehen eingewobenes Sein. Geschehen als Ordnung und Ablauf zu verstehen, unterstellt ihm aber einen Sinn. Und dieser Sinn ist auch die Voraussetzung dafür, dass wir uns auf Vergangenes und auf Künftiges beziehen können als etwas, wodurch unser Hier und 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch 273 Jetzt Sinn, was wörtlich meint eine Ausrichtung, gewinnen kann. Und dies ist Voraussetzung dafür, dass wir in das Hier und Jetzt gestaltend eingreifen können, weil es stets auch anders sein könnte als es sich uns im Augenblick darstellt. Und dies ist wiederum der Hintergrund dafür, dass wir uns Geschichten erzählen können: Und eben dazu gibt das Buch Anregungen, nicht nur durch die Schluss-Seite, auf der erzählt wird von der Zeit, die Gott sich endlich nehmen kann, seine Geschichte zu erzählen, sondern vor allem durch die Bilder, die den tieferen Sinn dieses Schlusses einholen: Wer sich Zeit nehmen kann, Geschichten zu erzählen und ihnen zuzuhören, und eben dazu fordern die Bilder des Buchs auf, der bekommt ein Gefühl und allmählich vielleicht auch einen Begriff davon vermittelt, dass wir Zeit zu gestalten in der Lage sind und so Geschichte machen können. Zu sprengen wäre in dieser Perspektive das bloße Nebeneinander von Ereignissen, Dingen, Menschen, Verhältnissen, die Menschen ihrerseits auf bloße Nummern oder Objekte zu reduzieren drohen: Einzelereignisse können, geschichtsphilosophisch gesehen, mit dieser Perspektive, erzählt zu werden, in ihrer Besonderheit festgehalten werden, gewinnen einen Wert 274 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch als Besonderheiten in dem Sinne, „im kleinen die Maße des bloß Seienden zu sprengen“ und sie insofern „vom Standpunkt der Erlösung“ aus zu sehen (Adorno).14 Was hat nun diese Einsicht mit Religion zu tun? Nun, in der Tat sind wir eben deshalb, weil wir dies tun können, religiös. Denn eine Geschichte erzählen bedeutet eben, eine Macht aufbieten zu können gegen das Realitätsprinzip, dass alles so sei wie es ist, eine Macht, von der her das Hier und Jetzt einen Sinn gewinnen kann, sei es zur Bestätigung, sei es, um es zu verändern auf ein besseres Leben hin. Zumindest die abendländischen sog. Offenbarungsreligionen haben ihre Pointe eben darin, das Leben zu reflektieren auf eine andere, in ihm sich dauernd geltend machende, es aber gleichwohl auch transzendierende Dimension hin, die wiederum zu weltveränderndem oder zumindest -gestaltendem Leben führt. 14 Vgl. Theodor W. Adorno: Die Aktualität der Philosophie [1931], in: Ges.Schriften, Bd.1, Frankfurt 1973, S. 344; sowie der berühmte Schluss-Aphorismus 153 aus Adorno: Minima Moralia [1951]. Kapitel 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ Eine Skizze erfahrungsdimensionierter Bibelerkundung 1 Wie ist es möglich, mit der biblischen Botschaft so vertraut zu werden, dass einerseits der oberflächliche Verlauf einer „Geschichte“ zur Kenntnis genommen wird, andererseits zugleich Wege ihrer Deutung freigesetzt werden, konkreter, dass der tiefere Sinngehalt wie auch die äußere Bedeutung2 eines biblisch überlieferten Geschehens zugleich wahrgenommen, ja auseinander erschlossen werden können? Die Frage ist komplizierter und auch schwieriger zu beantworten, als es auf den ersten Blick klingt. Fakt ist, dass einige Religionslehrerinnen und -lehrer und auch manche Religionspädagogen3 meinen, beide Zugänge würden sich gegenseitig ausschließen und könnten zumindest für Kinder nicht miteinander vermittelt werden. Denn, so ließe sich vordergründig einsichtig argumentieren, konfrontiere ich die Kinder damit, dass ja alles „in Wirklichkeit“ gar nicht so gemeint sei, wie wir es in der Bibel lesen, sondern einen ganz anderen Sinn habe, nehme ich sie mit ihrem unmittelbaren und naiven Zugang zu den Texten und ihren Bildern nicht ernst. Vermittle ich ihnen andererseits biblische Geschehnisse als historische Fakten, setzte ich sie der Gefahr aus, einen Aberglauben aufzubauen, der dann später dazu führt, dass „das“ ja alles gar nicht wahr sei (weil die Tatsachen der Wirklichkeit eben anders aussehen), oder aber einen Fundamentalismus auszubilden, dass es eben ent1 Dieses Kapitel ist für diese Arbeit neu geschrieben worden, geht aber zurück auf eine mehrfach von mir im Religionsunterricht der Klasse 11 durchgeführte Unterrichtseinheit und entsprechende Notizen zur Unterrichtsvorbereitung. Sie wurden hier für die Abschnitte 1 und 2 ausführlicher entfaltet. Der abschließende Abschnitt 4, der diese Einheit in einen Entwurf für die gesamte Jahrgangsstufe 11 einbindet, geht zurück auf ein schriftliches Konzept aus dem Jahr 1996, das hier gestrafft wiedergegeben wird. 2 Die Begriffe „Sinn“ und „Bedeutung” werden hier bewusst benutzt im Sinne der Fregeschen Unterscheidung, wonach die „Bedeutung“ den mit einem Ausdruck gemeinten Gegenstand, sein Referenzobjekt meint, „Sinn“ hingegen die Konnotation, also das, was dieser Gegenstand für mich meint (Frege 1892). Dass dieser Unterscheidung keine akademische ist, sondern für das Verständnis religiöser Sprache eine elementare Voraussetzung auf den Begriff bringt, das wird genauer im Kapitel 2-2 erläutert. 3 Für Ethik-Lehrkräfte und Philosophie-Didaktiker gilt dieser Verdacht natürlich nur eingeschränkt, weil hier kaum längere Erfahrungen vorliegen. Die Anforderung, Texte und Geschichten differenziert lesen, erschließen und deuten zu können, gilt freilich für den Ethik- und Religionsunterricht in gleichem Maße und dürfte hier wie dort keineswegs selbstverständlich vorauszusetzen sein. 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ 277 gegen der normalerweise faktisch verlaufenden Wirklichkeit ab und zu eine andere Wirklichkeit gäbe, die quasi die Naturgesetze außer Kraft setzend zuweilen in die normale Wirklichkeit einbreche. Eine Möglichkeit zur Lösung wäre es, entwicklungspsychologisch untermauert die Ansicht zu vertreten, eine solche Schizoidität sei nicht so schlimm, weil wir alle uns durch verschiedene Stadien des Verhältnisses zu Wirklichkeiten hindurch allmählich zu einem erwachsenen Verhältnis erst empor bilden würden. Und deshalb seien bestimmte animistische oder fabulierende oder naive Stadien durchaus als solche zu akzeptieren und für jüngere Kinder beizubehalten.4 Später würde dies dann ganz natürlich durch einen sachangemessenen Zugang abgelöst. Doch mit dieser Lösung ist das Problem wahrlich nicht gelöst. Denn in welchem Verhältnis sieht dann das erwachsene Bewusstsein beide Ebenen, die der äußeren Bedeutung und die des inneren Sinns zueinander? Bleibt es bei zwei Welten, oder wird eine von ihnen ins Recht gesetzt, die andere dagegen als unrichtig zurückgewiesen? Und wie steht es um das angeblich bloß fabulierende Stadium von Kindern; hat denn das gar keinen Inhalt, ist denn damit gar kein Sinn gemeint? Allgemein formuliert ist auf dieser Grundlage nicht zu beantworten, wie eine Person, die als Person doch immer dieselbe bleibt, Einheit auch zwischen verschiedenen Stufen des Bewusstseins soll stiften können, es sei denn, Stufen der Vergangenheit würden tatsächlich als im Nachhinein „falsch“ markiert.5 Gibt es also eine Möglichkeit der Verbindung beider Ebenen in einem einheitlichen und doch klar differenzierbaren Zugang? Ich glaube ja. Und ich will dies exemplarisch verdeutlichen durch ein über mehrere Jahre für die Klasse 11 erprobtes Modell der Verbindung von Bibelkunde und Sinnorientierung.6 Entsprechende Rückschlüsse 4 Diese Bemerkungen beziehen sich (polemisch) auf Aussagen insbesondere der Piaget-Schule, etwa Piaget (1926). Ebenso nehme ich damit deutlich Partei für eine Pädagogik der sog „Zweiten“ Naivität, wie sie etwa Halbfas vertritt, gegen die These des Beibehaltens einer sog. „Ersten“ Naivität bei Grundschulkindern, wie sie am deutlichsten von Bucher gegen Halbfas behauptet wird (Bucher 1989 sowie 1990). – Durch meine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Ansatz von Halbfas (Petermann 1992) habe ich selbst in diese Diskussion eingegriffen, was zu einer heftigen Entgegnung, namentlich durch Bucher (1992b) führte. - Zur Weiterentwicklung meines Verständnisses von „Zweiter Naivität“ vgl. den Abschnitt 2 des Kapitels 3. 5 Ganz ausdrücklich äußert diese Kritik Halbfas z.B. im Lehrerhandbuch 3 seines Unterrichtswerks (Halbfas 1983ff), S. 202, wenn er meint, meiner Meinung und auch religionsunterrichtlicher Erfahrung nach völlig zu Recht: „Doch dürften die von den meisten Religionspädagogen und Lehrplänen für das 7. bis 9. Schuljahr angesetzten Bibellektionen auf kognitiven Treibsand gesetzt werde, wenn nicht vom ersten Schuljahr an diese breit angelegte und intuitiv indendierte Propädeutik [sc. intuitiver, „stark auf erzählerische, bildliche und symbolische Möglichkeiten“ setzende Bibelkunde] stattfindet.“ 6 Sowohl evangelischerseits wie katholischerseits sehen die Bildungspläne in Baden-Württemberg als Themen für die Klasse 11 seit langen Jahren eine Einführung in den sachgerechten Umgang mit der Bibel zum einen und eine Auseinandersetzung mit der Frage nach Sinn und gelingendem Leben zum anderen vor. Schon früh in meiner religionsunterrichtlichen Tätigkeit hatte ich die Idee, beide 278 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ für jüngere Kinder liegen dabei auf der Hand, können aber nur hier indirekt angedeutet werden. In einem ersten Punkt (1) wird durch einen sog. präsentativen Zugang ein Bild zur Berufung der ersten Jünger gedeutet. Dem folgt (2) eine Erschließung der biblischen Bezugstexte. Sie wird (3) wieder zurückgebunden an das Impuls-Bild, das damit eine auch theologische Bedeutung gewinnt. Aus diesem Verfahren sind schließlich Konsequenzen für meine These zu ziehen (4), d.h. diese Deutung wird als Beleg ausgewertet dafür, dass es einen die äußere Bedeutungsebene wie zugleich die innere Sinnebene einschließenden Zugang zu religiösen Traditionsgütern gibt. Ein abschließender Punkt (5) schließlich verweist kurz auf die schulischen Rahmenbedingungen, in deren Kontext die Idee entstanden ist. 1 Duccios Berufungsbild Zunächst betrachten wir ein abgedrucktes Bild von Duccio di Buoninsegna.7 Dieser präsentative Einstieg hat nicht den Sinn einer nur vorläufigen Hinführung zum Thema, sondern bietet uns bereits in sich die ganze Komplexität des Themas an: Sachkundlich führt dieses Bild ins Zentrum des zur Auseinandersetzung stehenden Unterrichtsgegenstands, als ästhetischer Reiz spricht es den Betrachter auf der Ebene des Affektiven an, die unmittelbarer die existentielle Aussage zu verdeutlichen vermag, und durch seine diffizile Komposition bietet es zugleich eine hervorragende Folie zur Reflexion und Diskussion der Sache.8 Für den Einsatz im Unterricht empfiehlt es sich, die nebenstehende Abbildung als Folie zu reproduzieren. Für die Erschließung empfehle ich einen vierfachen Zugang9: Themen nicht, wie oft üblich, getrennt voneinander zu verhandeln, sondern miteinander zu vernetzen. Zur Erläuterung dieser Idee vgl. den Abschnitt 5 dieses Kapitels. 7 Duccio di Buoninsegna: Christus beruft die Apostel Petrus und Andreas. 43,5x46 cm, Bild „d“ der Predella der Rückseite der „Maestà“ des Duccio für dem Dom von Siena (vor 1311), heute Washington, National Gallery of Art; hier aus: C. Jannella: Duccio di Buoninsegna. Firenze: Scala 1991, Abb.43, S. 38. 8 Zur genaueren Begründung des Präsentativen vgl. die Erläuterungen zur zweite Ebene von Erfahrung als sinnlicher Erfahrung im Abschnitt (2) der Einleitung (S. 36ff). 9 Das folgende Deutungsschema habe ich in Unterricht und Seminaren vielfach erprobt. Wissenschaftlich ist es angelehnt beispielsweise an Erwin Panofsky: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1975 [New York 1957]; sowie Panofsky: Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst [1931], in: ders: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft. Berlin 1974, S.85-97; sowie neuerdings: Stefan Müller-Doohm: Bildinterpretation als struktural hermeneutische Symbolanalyse; in: R.Hitzler/A.Honer (Hg.): Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Opladen: Leske+Budrich 1997, S. 81-108. 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ 279 • Einer Phase erster unmittelbarer Wahrnehmung (1.1) • sollte (1.2) eine detaillierte ikonografische Entschlüsselung einzelner Bildelemente folgen, • dann (1.3) der Versuch eines ikonologischen, das Bild als Gesamtbild fassenden Eindrucks; • am Ende kann dann eine offene rezeptionsästhetische Einbindung des Wahrgenommenen in die eigene Erfahrungswelt stehen. Auf diese Phase verzichte ich hier, weil sie aufgenommen wird in den Punkten 3 und 4 (zur Erläuterung s.u.). 280 1.1 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ unmittelbare Wahrnehmung Auf einer ersten Ebene geht es darum, dem ästhetischen Zugang, den ein Bild zu bieten vermag , möglichst umfassend Raum zu geben. Insofern es hier noch nicht auf Reflexion des Wahrgenommenen ankommt, sondern das Wahrnehmen selbst, ist es durchaus angemessen, von einem „stummen“ (besser „stillen“) Impuls zu sprechen.10 Von allen Deutungsversuchen oder Einordnungen in möglicherweise bereits bekannte Schemata oder Kenntnisse sollte darum möglichst abgesehen werden. Gleichwohl sind gezielte Lenkungen des Blicks sinnvoll, ja erforderlich, um die Wahrnehmung auch wirklich auf das Wahrnehmen zu konzentrieren. Verstellende oder gar in die Irre führende Assoziationen können so ausgeschieden werden, eine Gefahr, die jeder Einsatz vordergründig gegenständlicher Bilder hat. Darum schlage ich für das vorliegende Bild ein noch ganz auf der assoziativen Ebene bleibendes, gleichwohl gezieltes Verfahren vor. Sinnvoll scheinen mir dafür folgende Anweisungen: Betrachten wir das Bild zunächst einmal völlig losgelöst von seinem etwa vorhandenen Titel oder der Zuordnung zu einem möglicherweise bekannten Ereignis und nennen es probeweise einfach „Begegnung am Ufer“. Unter dieser von aller inhaltlichen Besetzung befreiten Perspektive schauen wir zunächst auf mögliche Auffälligkeiten bei den drei Personen: Was mögen sie gerade tun, fühlen, denken? 10 Im schulischen Unterricht beliebt ist der sog. Stillimpuls oder auch stumme Impuls. Sein Einsatz wird in der Regel damit begründet, die Schülerinnen und Schülern in ihrem Eindruck nicht zu präformieren und den weiteren Unterricht ganz aus diesen subjektiven Erfahrungen weiter zu entwickeln. Das sollte dann freilich auch das genaue Kriterium dafür sein, einen Impuls auch wirklich als stillen einzusetzen. Das aber scheint mir für nur ganz wenige Themen wirklich gut geeignet, bei solchen nämlich, in denen die je eigene und ganz zufällige Erfahrungswelt nicht nur die Form der Erschließung sein soll, sondern auch ihr Gegenstand, ihr Inhalt; oder es geht um solche Impulse, die, wie etwa die Karikatur, ein Thema schon so offenkundig zum Ausdruck bringen problematisieren, dass sie selbst schon eine Deutung des in ihnen ausgedrückten Gehalts darstellen. Ansonsten empfehle ich eher ganz gezielte, auf den Horizont der Zielsetzung abgestimmte Leitfragen einem präsentativen Impuls mitzugeben. Den Ausdruck „stummer“ Impuls halte ich für verfehlt, es sei denn, er meint die banale Aufforderung, bei einer Bildbetrachtung nicht zu reden. Der Impuls selbst, also etwa das Bild, bleibt natürlich nicht stumm, sondern will als Impuls ja gerade etwas anstoßen, (im metaphorischen Sinn) zur Sprache bringen. In jedem Falle aber sollte ein solcher Stillimpuls, wenn er denn einen Sinn hat, auch irgendwie im weiteren Verlauf wieder zur Sprache oder zumindest in Erinnerung gebracht werden können. Dafür scheint mir wenigstens die Anweisung sinnvoll, erste Assoziationen zu einem Bild nach einer Phase der stillen Betrachtung in Stichworten ins Heft zu notieren. 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ 281 Sodann betrachten wir den Raum, in dem sie gemalt sind. Fällt an ihm irgend etwas auf, etwa was das Boot angeht, das Wasser, den Felsen zur Linken, aber auch die Größenverhältnisse? Schließlich nehmen wir noch die Farben in Augenschein. Haben sie irgendeine besondere Wirkung auf uns? Alle Beobachtungen können wir nach einer jeweils angemessen langen Phase der Betrachtung in Stichworten festhalten, am besten, indem wir sie als Fragen formulieren. Zum Abschluss ist es möglich, zu diesem Bild aufgrund unserer Beobachtungen auch eine kleine Geschichte zu schreiben, was sich hier ereignen mag. 1.2 ikonografische Entschlüsselung Dieser zweite Schritt dient dazu, die unmittelbaren Beobachtungen aus dem ersten Schritt mit einigen Informationen zu konfrontieren. Darum war es sinnvoll, die Beobachtungen möglichst in Frageform zu notieren. Nun bietet sich ein eher umgekehrtes Vorgehen an, also das Erarbeiten von Informationen zu folgenden Punkten: Eine erste Information hinsichtlich der Wirkung sollte der Größe des Bildes im Original gelten (s.o. ca. 50 x 50 cm). Zusätzlich kann es von Bedeutung sein, dass dieses Bild (ursprünglich, s.u.) in eine ganze Reihe von Bildern mit ähnlichen Situationen eingebunden war (wobei eine Aufklärung über den biblischen Kontext zunächst noch ausgespart bleiben sollte). Zur Einordnung des Bildes könnte das Alter geschätzt werden, weniger um mit möglicherweise vorhandenen Vorinformationen zu glänzen, sondern um sich dem Thema des Bildes und seiner eigentümlichen Bearbeitung zu nähern. Die Beobachtung der Farben sollten zu einer Aufklärung über das Material führen. Es handelt sich um Ölfarben sowie Blattgold, was auf vorbehandeltes Holz in sehr leichter und dünner Form aufgetragen ist. Eine Zusatzinformation zur Ikonenmalerei, bei der das Gold auch den Sinn hat, Hintergründiges durchschimmern und erstrahlen zu lassen, ist sinnvoll. Hinsichtlich der Räume ist wohl klar, dass es sich um ein Geschehen handelt auf einem Gewässer einerseits, wo gerade der Vorgang des Netz-Einholens unterbrochen wird, und auf einem felsigen Gelände andererseits, auf dem die 282 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ Person links steht. Das löst die Frage aus nach irgendwelchen Situationen, in denen Wasser, Land und Fischfang eine so wichtige Rolle spielen, dass es sie zu malen lohnt. Auch die eigentümliche Färbung des Himmels sollte als Datum festgehalten werden. Damit ist fast schon die Frage nach den dargestellten Personen angesprochen. Als Vorinformation kann der Hinweis nützlich sein, dass die unterschiedliche Größe auf eine unterschiedliche Bedeutsamkeit der Personen verweist. Im Detail kann dann über Beschreibung ikonografischer Topoi zu einer Identifizierung der Personen fortgeschritten werden: Der Mann links am Ufer mit dem glatten dunklen Haar, dem leichten Bartwuchs ist Jesus, der sich über die ausgestreckte rechte Hand den beiden im Boot zuwendet. Der Mittlere mit dem weißen kürzeren Haar und dem eher rundlichen Gesicht ist Simon Petrus, der sich offensichtlich von diesem Jesus angesprochen fühlt und mit seiner Rechten darauf reagiert. Und der ein wenig finster dreinblickende Mann rechts im Boot ist Andreas, der in den neutestamentlichen Zeugnissen als der Bruder des Simon beschrieben wird. Abschließend kann die Information geliefert werden über den Zusammenhang, in dem dieses Bild ursprünglich gehängt war: Es bietet als Berufung der Jünger Simon und Andreas am See Genezareth das wahrscheinlich vierte von ursprünglich wohl neun Bildern zu Szenen aus dem Leben und Wirken Jesu, offensichtlich mit dem Sinn, den Betrachtern Schlüsselszenen des Neuen Testaments vor Augen zu halten.11 1.3 ikonologische Sinngebung Mit der ikonografischen Entschlüsselung und Zur-Kenntnis-Nahme der äußeren „Bedeutung“ des Bildes ist für das Ziel der Erschließung noch nicht viel erreicht. Aber über die genaue Betrachtung des Bildes haben wir uns auch seiner tieferen Sinngebung genähert. Damit gelangen wir zur entscheidenden Phase dieses ersten Elements. Die Beobachtungen aus der ersten Phase sind nun durch gezielte Fragen 11 Zum Gesamtaufbau des Werks vgl. den o.a. Band: Jannella: Duccio die Buoninsegna (1991), S. 21f. Daraus geht hervor, dass es sich ursprünglich um eine riesige Altartafel zur Gottesmutter Maria handelte, bestehend aus ca. 65 Einzelbildern auf vorder- und Rück-Seite zu verschiedenen biblischen Zyklen und einem großen Altarbild mit der thronenden Gottesmutter. Das Werk wurde in mehreren Jahren Anfang des 14. Jahrhunderts von Duccio und Schülern geschaffen, 1771 nach mehreren Umstellungen jedoch in Einzelteile zersägt, so dass sich inzwischen viele Einzelteile in verschiedensten Museen der Welt befinden. 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ 283 und Deutungsversuche zu präzisieren, erneut nach der Reihenfolge der ersten Fragereihe, beispielsweise: Was fällt zunächst auf an den einzelnen Personen? Wie äußert sich Jesus, welche Haltung, vielleicht welche Worte unterstellt ihm Duccio, indem er ihn als Berufenden so zeichnet, wie er ihn zeichnet? Wie ist die Haltung des Simon zu deuten; was läuft hier bei ihm ab, als er den Ruf Jesu hört; wie vor allem ist seine Handhaltung, und zwar sowohl rechts als auch links zu verstehen? Und was können wir aus der Haltung seines Bruders Andreas folgern, wie reagiert er auf den Anruf Jesu? Auch die Gegenstände spielen eine sinngebende Rolle. So fragen wir zunächst weiter nach dem Boot: Was ist das für ein eigenartiger Kahn, ist er geeignet zum Fischfang, ist er sicher? Dann sollte der Fels ins Spiel gebracht werden: Natürlich ist damit das Ufer des Sees bezeichnet, aber warum mag es gerade ein Steilufer sein, auf was könnte der Fels als Untergrund zum Stehen und auch als Begrenzung des Wassers verweisen? Haben auch die Farben des Bildes einen inneren Sinn? Wie steht es beispielsweise mit dem blendend gold gefärbten Himmel? Was erreicht der Maler, indem er dieses dritte Element neben dem irdischen Fels und dem flüssigen Gefilde des Wassers so auszeichnet? Und warum tragen die drei Personen Gewänder gerade in diesen Farben, Jesus in kräftigem Blau und Rot, Andreas in eher abgetöntem Rot und Petrus in der Mitte in einem relativ blassen Blau? Eigens zu verweisen ist auf die Bildgestaltung: Wo liegen Blickfänge, Zentren des Bildes? Warum ist einerseits die Herzgegend des Simon ein Zentrum des Bildes? Und welchen Sinn macht vor allem jener enge Raum zwischen Fels und Bootsspitze, die gerade (noch) nicht aneinander stoßen? Hat das einen das Geschehen zusätzlich dramatisierenden Sinn? Wir haben in der ersten Phase versucht, dem Bild eine Geschichte zu unterstellen. Versuchen wir dies mit den inzwischen erhaltenen Informationen und Deutungsrichtungen erneut. Genauer wäre zu fragen: Was ist für Duccio wichtig an der Berufung der ersten Jünger durch Jesus, was möchte er uns durch sein Bild vermitteln? 284 2 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ Die Berufungsgeschichten der neutestamentlichen Evangelien Ziel des folgenden Elements ist es, die neutestamentlichen Belege zur Jüngerberufung kennen zu lernen und darüber zugleich einiges zur Komposition der Evangelien in Erfahrung zu bringen. Indem diese Aufgabe durch das erste Element eine Basis hat, wird jedoch die Kenntnisnahme dieser Fakten eingebunden in die Frage nach Lebenssinn und -orientierung. - Zum Vorgehen schlage ich folgende Phasen vor: 2.1 Erkundung der neutestamentlichen Berufungsgeschichten Durch eine entsprechende Unterrichtsplanung lässt sich das vorderhand langweilige Unternehmen, etwas in der Bibel nachzuschlagen, lebendiger, das eigene entdeckende Lernen einbeziehend, gestalten. Geeignet dafür erscheinen mir folgende Schritte bzw. Arbeitsaufgaben, zu denen jeweils kurz die Zielsetzung angegeben ist: Mit dem Ziel, als „Nebeneffekt“ auch den Aufbau der Evangelien strukturell zu erfassen, sollten die Schülerinnen und Schüler selbständig versuchen, die Geschichten von der Berufung der ersten Jünger zu suchen. Als Suchkriterien werden dabei folgende Fragen weiterhelfen: a) eher im AT oder NT zu suchen, b) wenn im NT, in welchen der Schriften, c) wo ungefähr sollte man in den Evangelien suchen? – Für Antworten sind jeweils Begründungen zu liefern. Wenn die Suche zu vier Ergebnissen geführt hat (Mt 4,18ff; Mk 1,16ff; Lk 5,1ff; Jo 2, 35ff), stellt sich unmittelbar die Frage, wie es zu solch unterschiedlichen Überlieferungen kommen kann. Dafür sind zunächst die offenkundigen Unterschiede zu markieren: Die deutlichsten Parallelen wird man zwischen Mk und Mt finden, den entferntesten Text bei Jo – hier tauchen auch ganz andere Namen auf, am Ende die Jünger Philippus und Natanael, anfangs der Täufer, mit dem die Geschichte eine ganz andere Wendung nimmt. – Mit einem solchen Ergebnis hätten die Schülerinnen und Schüler eigenständig einen ersten synoptischen Vergleich vorgenommen und zugleich in Erfahrung gebracht, dass die neutestamentlichen Schriftsteller mit ihren unterschiedlichen Texten eine je eigene Botschaft im Sinn haben, weniger die detailgetreue Abbildung eines Geschehens. – Eine kurze Information zur historischen Genese der Evangelien lässt sich an dieses Suchergebnis leicht anschließen. 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ 285 In einer ersten Wiederaufnahme des Duccio-Bilds ist schließlich zu fragen, welchen dieser Texte Duccio mit seinem Bild wohl im Sinn hatte. Obwohl auf den ersten Blick alles dafür zu sprechen scheint, dass es um die Texte von Mk bzw. Mt geht, lässt die ausdrücklich hervorgehobene Haltung des Petrus nur den Schluss zu, dass Duccio die Überlieferungen des Mk/Mt mit der des Lk kompiliert hat. Offen bleibt die Frage, warum und mit welchem Recht? Diese Frage kann als Provokation zu einer weiteren Auseinandersetzung mit den biblischen Texten genommen werden. 2.2 Detailliertere Auseinandersetzung mit den Geschichten von Markus und Lukas Als Ergebnis der Phase 2.1 (zumindest als naheliegender Schluss) kann festgehalten werden, dass es den neutestamentlichen Schriftstellern nicht auf exakte historische Genauigkeit ankommt, sondern dass sie etwas damit im Sinn haben, eine Geschichte gerade so überliefert zu haben. Um nun den Bezug genauer erschließen zu können, den das Bild von Duccio zu diesen Quellen aufbaut, ist es nützlich, an die beiden für Duccio einschlägigen Perikopen von Mk und Lk die genauere Frage ihres Sinns zu stellen.12 Auf detailliertere Tipps zur unterrichtlichen Erschließung verzichte ich hier und liefere nur einige Hinweise zur Sachananalyse. Die Pointe der Markus-Geschichte erschließt sich am besten durch die eindrückliche, eng an der Diktion des Markus angelehnte Übersetzung von Fridolin Stier13: 16 Als er am See von Galiläa entlangging, sah er Simon und Andreas, den Bruder Simons, wie sie im See netzwarfen; sie waren ja Fischer. 17 Und Jesus sprach sie an: Auf! mir nach, dass ich Menschenfischer aus euch mache! 18 Und gleich ließen sie die Netze und folgten ihm. 19 Und als er ein wenig weitergegangen, sah er Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und Johannes, dessen Bruder – auch sie im Boot – wie sie eben die Netzte zurecht machten. 20 Und gleich rief er sie; und sie ließen ihren Vater Zebedäus samt den Lohnknechten im Boot und gingen weg – ihm nach. Die Frage nach Auffälligkeiten dieses Textes wird schnell zu dem Ergebnis führen, dass die Nachfolge hier ohne Begründung und Erklärungsversuch erzählt wird, ja 12 Im Zusammenhang des hier interessierenden Kontextes und auch um den Rahmen der Erläuterungen nicht zu sprengen, verzichte ich an dieser Stelle auf eine ansonsten bei der Arbeit mit Bibelstellen übliche, zuweilen auch ertragreiche Einbindung in die einschlägige exegetische Literatur und beschränke mich auf Markierungen einiger für den differenzierenden Blick offenkundiger Auffälligkeiten. 13 Stier (1989). 286 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ dass das Überraschende des Ereignisses durch das zweimalige „und gleich“ sogar ausdrücklich hervorgehoben wird. Offensichtlich lag Mk daran, nicht die innere Erfahrung bei den Jüngern nachzuzeichnen, sondern das Plötzliche, Unmittelbare und vor allem das Einschneidende und Radikale dieser Wendung. Zu diesem Zwecke verdichtet er14 ein „in Wirklichkeit“ sicher anders und vor allem viel ausgedehnter verlaufenes Geschehen auf wenige Informationen und die elementare Sinnsetzung dieser Erfahrung: Jesus ist den Jüngern in einer das ganze Leben einschneidend und fundamental verändernden Weise begegnet. Dieser Akzent entfaltet programmatisch die Ankündigung Mk 1, 15 und bildet den Auftakt für weitere „Erläuterungen“ des Reiches Gottes in den folgenden Versen. Lukas dagegen scheint es gerade auf die Auslotung der inneren Erfahrung der Berufung anzukommen. Darum wohl konzentriert er die Geschichte ganz auf einen der Jünger, nämlich Simon: 1 Es begab sich aber, als sich die Menge zu ihm drängte, um das Wort Gottes zu hören, da stand er am See Genezareth 2 und sah zwei Boote am Ufer liegen; die Fischer aber waren ausgestiegen und wuschen ihre Netze. 3 Da stieg er in eins der Boote, das Simon gehörte, und bat ihn, ein wenig vom Land wegzufahren. Und er setzte sich und lehrte die Menge vom Boot aus. 4 Und als er aufgehört hatte zu reden, sprach er zu Simon: Fahre hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus! 5 Und Simon antwortete und sprach: Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen; aber auf dein Wort will ich die Netze auswerfen. 6 Und als sie das taten, fingen sie eine große Menge Fische, und ihre Netze begannen zu reißen. 7 Und sie winkten ihren Gefährten, die im andern Boot waren, sie sollten kommen und mit ihnen ziehen. Und sie kamen und füllten beide Boote voll, so dass sie fast sanken. 8 Als das Simon Petrus sah, fiel er Jesus zu Füßen und sprach: Herr, geh weg von mir! Ich bin ein sündiger Mensch. 9 Denn ein Schrecken hatte ihn erfasst und alle, die bei ihm waren, über diesen Fang, den sie miteinander getan hatten, 10 ebenso auch Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, Simons Gefährten. Und Jesus sprach zu Simon: Fürchte dich nicht! Von nun an wirst du Menschen fangen. 11 Und sie brachten die 15 Boote ans Land und verließen alles und folgten ihm nach. Lukas bindet in die ihm vorliegende „Geschichte“ offenkundig drei andere ein, einerseits die von der Predigt vom See aus, anderseits die vom großen Fischfang, den die Jünger tätigen, schließlich die Berufung des Simon, um so der Erfahrung, die die Jünger machen, das entsprechende Gewicht zu geben. Darüber hinaus „verlegt“ er die Geschichte zeitlich weg vom Anfang der Tätigkeit Jesu, an dem sie bei Mk gestanden hatte. Damit kommt ihr weniger exponierender Charakter zu als vielmehr ein auf einer ersten Stufe synthetisierender: Was zuvor durch einige Ereignisse vor Augen 14 Zum literarischen Mittel der Verdichtung vgl. die kurzen Erläuterungen im Kap. 4-3, Abschnitt 4. 15 Übersetzung nach der 1984 revidierten Lutherbibel. 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ 287 geführt wurde, wird nun zu Beginn des Kap.5 auf den Punkt und zur Erfahrung gebracht. Dass es Lukas dabei ebenfalls nicht auf eine historisierende Abbildung eines Geschehens ankommt, wird belegt nicht nur durch den Akt dieser kompilierenden Komposition, sondern auch äußerlich durch die offen beibehaltenen Brüche in der Grammatik (v. 4a-4b sowie v. 9-11): Noch deutlicher als bei Mk steht nicht irgendeine Geschichte im Vordergrund, sondern die Wirkung, zu der die Begegnung mit Jesus führt. Auch hier wird das „in Wirklichkeit“ ausführlichere Geschehen verdichtet, doch mit anderen Mitteln: Im Zentrum steht die Erfahrung des Simon, für die alle anderen Daten symbolischen Wert gewinnen: Alle „drängen“ sich um Jesus, doch Simon soll „hinaus“ fahren, auf Abstand. „Hinaus“ führt die Fahrt auch Simon selbst, hinaus nämlich aus seinem bisherigen Leben und Alltag. Das Hinausfahren führt Simon dann in die „Tiefe“, nicht nur des Sees, sondern auch seiner selbst; er wird mit dem konfrontiert, was eigentlich Mitte seines Lebens ist.16 Entsprechend scheint auch der Fischfang eher Zeichen für Sinnsuche zu sein, jedenfalls nicht bloß Angabe einer alltäglichen Tätigkeit. Warum sonst sollten die Boote fast sinken? Schließlich weist Simon Jesus zurück, so sehr hat ihn diese Erfahrung mit etwas ganz Elementarem konfrontiert. Er selbst jedenfalls kommt mit dem, was er erfahren hat, noch nicht zurecht. Doch die Antwort Jesu verweist darauf, dass in dieser Erfahrung von Grenze und Abgründigkeit zugleich Vertrauen aufgebrochen ist, von dem er sich angenommen wissen darf. Der abschließende Verweis auf die anderen Jünger scheint darauf hin zu deuten, dass die Erfahrung des Simon eine exemplarische ist, also nicht nur für ihn allein gilt, sondern an ihm als eine alle Jünger, ja alle Menschen angehende verdeutlicht wurde. 16 Zuweilen wird hier das griechische „evpana,gage eivj to. ba,qoj“ eher geografisch übersetzt, Simon solle auf „die Mitte“ des Sees hinaus fahren. In einem symbolischen Sinne kann auch dies durchaus den Sinn dieser Anweisung einholen, geht es doch um die Erfahrung einer zuvor offensichtlich nicht oder nicht voll ausgeloteten Lebens-Mitte. 288 3 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ Duccio als Theologe Das bisherige Vorgehen muss natürlich insofern zu einem Abschluss gebracht werden, als die Beobachtungen zu den Perikopen von Mk und Lk wieder zurückgebunden werden an das Bild von Duccio. Dazu folgen wiederum lediglich einige Hinweise zur sachlichen Aufbereitung als Voraussetzung für die hier nur angedeutete didaktische Umsetzung in konkrete unterrichtliche Aufgabenstellungen. Zunächst liegt es nahe, erneut die Frage zu stellen, welche der beiden Perikopen Duccio in sein Bild aufgenommen hat, nun aber mit der konkreteren Perspektive, auf welche Elemente er wo in durch welche Gestaltung Bezug nimmt. Dazu ist es nützlich, die oben in Punkt 1.3 zur ikonologischen Erschließung formulierten Fragen zu Personen, Gegenständen, Räumen, Farben, Bildgestaltung wieder aufzunehmen und nun genauer zu prüfen, wie er damit die biblischen Vorlagen kommentiert und zu einer eigenen Geschichte ausformuliert. Am ehesten wird nun ins Auge fallen das Verhalten des Simon. Natürlich wird hier die Geschichte des Lukas zitiert, doch mit einer ganz eigenen Sinngebung: Interessant scheint mir vor allem die Gesamtbewegung des Simon zu sein. Simon löst sich ja ganz offensichtlich schon von seinem alltäglichen Geschäft, das Netz wird von der Linken kaum noch gehalten, fast scheint es ihm schon zu entgleiten, nicht weil er es nicht mehr halten könnte, sondern weil die Bewegung bereits in eine andere Richtung geht. So ist das rechte Bein nicht nur unbelastet, sondern scheint bereits in einer Vorwärtsbewegung auf die Spitze des Bootes bzw. aus dem Boot heraus begriffen. Jedenfalls verlagert der Oberkörper gerade den Schwerpunkt vor die Beine. Der rechte Arm machte dann fast eine Abstoßbewegung. Und die Geste mit der Rechten ist wohl nur auf den ersten Blick eine abwehrende. Kaum vorstellbar ist es, dass der hier abgebildete Mann sagen würde: Geh weg von mir. Zu offen ist die Hand dem Anspruch, dem er sich ausgeliefert sieht, zugewandt, und auch die Augen blicken gerade, offen und interessiert auf den ihn ansprechenden Jesus. Simon scheint vielmehr zu sagen: Ja, hier bin ich, ich bin bereit und komme. Das „hinaus in die Tiefe“ hat hier schon stattgefunden, denn dieser Simon hat seine Mitte gefunden und steht jetzt vor der Herausforderung zu einem „selbstbewusst mitten ins Leben hinein“. Duccio würde seine Geschichte somit jenseits des biblischen Berufungsereignisses ansiedeln, die Geschichte also weitererzählen unter der Perspektive: Die, denen solche Berufung geschah, wie reagierten sie, und was zeigen sie uns dadurch? 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ 289 In dieser Perspektive gewinnt auch Andreas eine ganz eigene Faszination. Sehr viel stärker ist er gewiss noch gebunden an seine Tätigkeit als Fischer. Und doch ist das Geschehen auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen. Die Hände halten das Netz so sicher auch nicht mehr, denn die Konzentration dieses Mannes sagt etwas anderes: Was soll ich damit anfangen, was hier gerade geschieht? Das fragende Gesicht, ins Bild gebracht durch die zur Nasenwurzel hin konzentrierten Augenbrauen und die eher zugespitzte Mund- und Kinnpartie, die unklar gegenläufige Bewegung des Oberkörpers, der Arme, des Beckens, der Beine nach rechts oder nach links dokumentieren eine intensive Auseinandersetzung. „Sofort“ jedenfalls lässt dieser Mann keineswegs alles stehen und liegen. Er ist vielmehr wie auch Simon in eine ihn elementar erschütternde Erfahrung geraten und muss sich ihr nun stellen. Das zeitliche „sofort“ wird von Duccio somit in ein qualitatives „sofort“ umgedeutet. Und wie bei Simon bleibt auch dieses Geschehen nicht allein bei Andreas, sondern zieht auch die Betrachter in eine Beschäftigung mit sich selbst hinein. Im Blick auf das markinische „und gleich“ bzw. „sofort“ wird auch ein weiterer Blickfang des Bildes interessant, jene Stelle zwischen Boot und Felsufer. Hier geht es, das mag dieses Detail ausdrücken, nicht um dies oder das, sondern um etwas elementar Herausforderndes. Hier sind wir „sofort“, unmittelbar, mit Herz und Seele, vor allem aber entscheidend gefragt sowie herausgefordert. So scheint Duccio das „sofort“ der Synoptiker für sich und für uns als Betrachter zu deuten und zu übersetzen. Und Jesus? Wie eigentümlich „blass“ wirkt er plötzlich! Natürlich ist er in stärkeren Farben gemalt, auch größer, seine Bedeutung wird somit von Duccio keineswegs zurückgestellt. Doch seine weiche Einladungsgeste führt fast schon aus dem Bild heraus, so als sei er selber, seine Person nur als Mittler gemeint, nicht als Gegenstand der Herausforderung. In dieser Perspektive fällt uns plötzlich auch sein eigenartig nebliger Blick auf: So schaut keiner, der die anderen auf seine Person fixieren und einschwören will, sondern einer, der sich als „Gesandter“ einer Botschaft versteht: „Wer an mich glaubt, glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat.“ (Jo 12,44). Duccio also als ein Vertreter johanneischer Theologie, die er in die Botschaft der Synoptiker einbaut? Warum nicht, denn wir sehen jetzt auch genauer, wie Jesus gar nicht mehr recht auf dem Felsen steht, sondern ihm zugleich schon schwebend enthoben ist. Diesen Jesus müssen die Jünger und müssen wir nicht mehr fragen, wohin wir gehen sollen, weil wir den Weg nicht zu kennen glauben (Jo 14, 5ff), denn durch ihn hindurch werden die beiden, Simon und Andreas auf das Werk Jesu verwiesen, dessen Erbe anzutreten ist (Jo 14, 11f; vgl. auch Röm 8,17). Ist dieser Jesus am Ufer also nicht vielmehr jener Jesus, der den Jüngern 290 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ als Auferstandener erscheint, und ihnen nun symbolisch als Auftrag für ihr eigenes Tun den großen Fischfang zukommen lässt (Jo 21)? Weiß also Duccio nicht nur um die Nähe zwischen Lk 5 und Jo 21, sondern versteht er die Jüngerberufung auch als Sendungsauftrag? Ist Duccio also ein außerordentlich intelligenter Theologe, der damit auch uns als Betrachter zu Theologen, erfahrenden Auslegern der biblischen Botschaft machen will? 4 Konsequenzen: Erfahrungsdimensionierte Erkundung von Religiosität Die letzten Überlegungen haben zunächst einmal unmittelbar in die oben im Teil 1 genannte aber dort ausgeblendete Ebene der rezeptionsästhetischen Einholung (1.4) hineingeführt. Mit den soeben skizzierten Hinweisen können die Schülerinnen und Schüler sich in die Akteure, insbesondere die beiden Jünger hineinversetzen lassen, etwa mit der Frage: Wo könnte mir so etwas zustoßen? Und wie wäre es, würde mir so etwas zustoßen? Der Grund für diese Möglichkeit liegt aber in dem rezeptionsästhetischen Verfahren, das bereits Duccio angewandt hat, hat er doch seinerseits die biblische Vorlage zu etwas umgestaltet, was in dieser Weise jedenfalls die Vorlage allein nicht hergibt. Dazu musste Duccio dreierlei leisten: 1.) hatte er sich genauestens in genaue Kenntnis zu setzen über die biblischen Vorlagen, einschließlich der zunächst nicht erwähnten johanneischen Perspektive. 2.) musste er sich auch mit der Frage des tieferen Sinns dieser Quellen auseinandersetzen, sie also einerseits als Verdichtungen eines sehr viel weiteren Geschehens verstehen, andererseits auch ihre Botschaft an den Leser herausfinden. Und dadurch wurde er schließlich 3.) dazu herausgefordert, den Sinngehalt auch auf sich selbst zu übertragen bzw. auf die möglichen Betrachter seines Bildes, die sich ja durch das Bild angesprochen fühlen sollten, nicht nur auf dem Bild etwas erkennen sollten. Im Einblick in dieses Verfahren gewinnen wiederum die biblischen Geschichten einen anderen Charakter. Auch die biblischen Schriftsteller haben sich exakt diese drei Fragen gestellt und nur aufgrund dieser komplexen Auseinandersetzung die Geschichten gerade so und nicht anders aufgeschrieben. Sie sind deshalb Theologen und keine Historiografen. Für uns schließlich, die wir uns in dieser Weise mit einem Bild und einigen biblischen Texten auseinandergesetzt haben, scheint mir durch dieses Vorgehen eben 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ 291 jene zuerst genannte Hypothese bestätigt zu sein, dass es nämlich gelingen kann, die äußere Bedeutung und den tieferen Sinngehalt einer Geschichte, hier eines biblischen Textes, in einem weiteren Sinne von religiösen Gegenständen überhaupt, zugleich, ja auseinander zu erschließen. Ja wir können noch einen Schritt weiter gehen und sagen, dass zur Aneignung von religiösen Gegenständen und religiösen Texten ein solches Vorgehen auch notwendig ist, weil wir ansonsten davon rein gar nicht verstehen würden.17 Ein solches Verfahren würde ich im Duktus der ganzen hier zur Diskussion stehenden Arbeit eine erfahrungsdimensionierte Erkundung von Religiosität nennen. 4 Zum Rahmen der schulischen Umsetzung 18 Vorbemerkung Der seit dem Schuljahr 1994/95 geltende Lehrplan für den Katholischen Religionsunterricht in Klasse 11 in Baden-Württemberg wurde zumindest anfangs in seinen Veränderungen im Vergleich zum Lehrplan von 1984 nicht recht zur Kenntnis genommen. Dabei spielte vor allem die Gewohnheit eine große Rolle, dass (zumindest scheinbar) nach wie vor die sog. Bibeleinheit im Zentrum der Klasse 11 steht, und bei der Wahl zwischen Religions- oder Sinnthema ersteres nunmehr als Pflichteinheit gegenüber letzterem als Wahl herausgehoben ist; nach dem alten Lehrplan konnte zwischen Sinn- und Religionsthema gewählt werden. Die Neuerungen sind gleichwohl nicht unerheblich, was bereits ein vergleichender Blick in die vorhandenen Unterrichtsmaterialien dokumentiert, die allesamt auf den neuen Lehrplan nicht mehr recht passen wollen. Schon um dem Abhilfe zu schaffen, soll die folgende Konzeption einen Beitrag leisten. Seine Pointe hat mein Vorschlag in der These einer wesentlich anderen Gestaltung der beiden Pflichteinheiten für Klasse 11. Mein konkretisierender Vorschlag ist es, die beiden Themen nicht als getrennte Einheiten je für sich durchzunehmen, sondern sie jeweils als unterschiedliche Aspekte zu einzelnen Themen zu verhandeln, aus 17 Zur genaueren Erläuterung dieser These in Bezug auf religiöse Texte vgl. die Ausführungen in den Kapiteln 2-2 und 4-3. 18 Die folgenden Ausführungen sind 1996 entstanden und beziehen sich auf den „Bildungsplan für das Gymnasium“ von 1994. Dieser Lehrplan ist zur Zeit der Abfassung dieser Arbeit noch gültig, und meine entsprechenden Einlassungen haben an Relevanz seitdem nicht verloren. Bis auf einige Anmerkungen habe ich daher die Ausführungen unverändert übernommen. Der Transparenz halber sind Verweise auf einzelne Punkte dieses Planes nachfolgend per Anmerkung kurz ausgeführt. 292 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ denen sich dann gleichsam bausteinartig fast die gesamte Klasse 11 zusammensetzt. Das wird, so behaupte ich, dem Sinn und Anspruch beider Themen, sowohl der Bibeleinheit, als auch der Religionseinheit, aber auch der Konzeption von Klasse 11 insgesamt gerechter und zwar ganz im Sinne der Lehrplanänderungen. Mein Vorschlag ist durch kurze Thesen in drei Teilen zu erläutern: In einem ersten Teil (I) werde ich kurz eine Begründung vorlegen für eine neue Konzeption, wie sie sich aus dem Lehrplan und der in der Bibeleinheit einerseits und der Religionseinheit andererseits zur Debatte stehenden Sache ergibt. Zweitens (II) werde ich eine Übersicht der unter dieser Perspektive anzubietenden Themen bzw. Bausteine vorlegen, jeweils mit einer kurzen Strukturskizze, die den unterschiedlichen Aspekt des Biblischen und des Religionsphilosophischen verdeutlicht. Schließlich wird in einem dritten Teil ( III ) kurz das oben ausführlicher vorgestellte Unterrichtsmodell „…hinaus in die Tiefe“ auf die Umsetzung dieser Konzeption hin kommentiert.19 ( I ) Zur Begründung 1. Die Pflichteinheiten für Klasse 11 sind zwar im Vergleich zum alten Lehrplan von 1984 im wesentlichen geblieben, doch haben sich die Gesichtspunkte ihrer Behandlung verändert. Der neue LP kann insofern als eine konsequente Fortschreibung des alten (d.h. Verbesserung angesichts heutiger Unterrichtserfahrungen in Konsequenz des Grundansatzes) angesehen werden, als er a) das Korrelationsprinzip konsistenter in den Aufbau der einzelnen Themen einzubinden versteht, b) die Themen der Klasse 11 deutlicher als hermeneutische Grundlegung für den weiteren Oberstufenunterricht konzipiert, c) damit den Anforderungen eines Oberstufenunterrichts im Fach Religion heute besser gerecht wird. 19 In der ursprünglichen Fassung dieses Textes folgte als dritter Teil (III) die Ausführung zweier Textbausteine als konkrete Unterrichtsentwürfe. Der erste Entwurf war das nun in den Teilen 1, 2 und 3 des Kapitels vorgestellte Modell zur Jüngerberufung (s.u. in These 11 der Baustein 1 Jüngerberufungen: Religiosität als existenzerhellende Erfahrung), den zweiten Entwurf bildete der unten unter der Überschrift „Unterwegs: das Urmotiv für Religiosität“ Baustein 2 zu Abraham, der in seinen wesentlichen Elementen eingegangen ist in die im Kapitel 1-4 dokumentierte Skizze zu Sinnsuche und Abraham (Vgl. Petermann 2000b). 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ 293 2. Zur Begründung dieser These: In der Einheit 1 zur Bibel liegt der Akzent nun nicht mehr primär auf der Vermittlung von Sachwissen über die Bibel, sondern auf der Vermittlung der Bibel als ein auch heute Menschen herausforderndes Dokument von Glaubenserfahrungen.20 Die Vermittlung von literaturwissenschaftlichem Sachwissen wird eingebunden in den Aufweis des persönlichen, erfahrungsbezogenen, lebensverändernden Anspruchs biblischer Botschaft als Schlüssel zum Verständnis seiner Entstehung wie als Zugang zur Auseinandersetzung heute. Durch diese Konzeption wird der eigentliche Sinn des didaktischen Korrelationsprinzips auch inhaltlich transparenter: Es geht nicht um einen bloßen Bezug der anthropologischen und theologischen Dimensionen aufeinander, sondern um die Lesart theologischer Inhalte unter einem anthropologische Grundfragen klärenden Gesichtspunkt und umgekehrt die Thematisierung anthropologischer Fragen in ihrer theologischen Tiefendimension. 3. Die Bibeleinheit ist mit dieser Akzentverschiebung zugleich darauf angelegt, einerseits auch das Sinnthema21 in wesentlichen Fragestellungen mit abzudecken (insofern nämlich unter dem Aspekt sinnerschließender Lebens- und Glaubenserfahrungen biblische Themen anzusprechen sind) und andererseits zentrale Fragen der Religionseinheit22 zur Sprache zu bringen (insofern in der existentiellen Bibelauslegung notwendig die urreligiöse Frage des Ergriffenseins vom Unbedingten mit angesprochen wird.). Konsequenterweise strafft der neue LP daher die beiden anderen alten Pflichtthemen: Die Einheit "Religion" thematisiert aus dem alten LP nur noch die Grundfrage nach dem Religiösen, ergänzt dies aber durch die erfahrungsbezogene und zugleich wissensorientierte Auseinandersetzung mit zwei Grundtypen von Weltreligionen (Islam und Buddhismus, zu erschließen anhand der Personen Buddhas und Mohammend). Die "Sinn"- Einheit bietet als Wahleinheit die Möglichkeit, auf Sinnfragen bezogene Schwerpunkte in der Bibel- oder Religionseinheit zu setzen oder beide Einheiten durch andere diesbezügliche Aspekte zu ergänzen. 20 Der Bildungsplan 1994 nennt die Einheit darum konsequent auch „Die Bibel, eine Herausforderung“, im alten Lehrplan von 1984 hieß sie „Einführung in den sachgemäßen Umgang mit der Bibel“. 21 Es handelt sich um die Einheit „Auf der Suche nach Glück und Sinn“, nunmehr (1994) eine Wahleinheit. Der frühere Titel „Die Sinnfrage als Zugang zur religiösen Frage“ (1984) hatte diese Einheit sehr viel stärker an die Religionsthematik angebunden. 22 Sie heißt 1994 „Religion der Völker“ und bildet neben der Bibeleinheit die zweite Pflichteinheit. Im früheren Lehrplan 1984 war neben der Bibeleinheit pflichtgemäß entweder die Sinneinheit oder die als „Religion – Illusion oder Wirklichkeit“ benannte zu verhandeln. 294 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ 4. Die Straffung insbesondere der Religions- wie der Sinneinheit sowie die Konzentration der Bibeleinheit auf existentielle Fragestellungen hilft, den Unterricht in Klasse 11 konsequenter als hermeneutische Grundlage für die Klassen 12 und 13 zu konzipieren, ohne Gefahr zu laufen, wesentliche Inhalte aus späteren Themenstellungen bereits vorweggenommen zu haben.23 5. Der Unterricht in Klasse 11 zeigt sich in dieser Konzeption klarer im Profil eines Oberstufenunterrichts: Die reflektierende Auseinandersetzung mit religiösen Themen hebt den Unterricht deutlich ab vom eher emotional auf Persönlichkeitsfindung hin orientierten und orientierenden Charakter der Mittelstufe. Das ist nicht neu am neuen LP. Entscheidend ist die Akzentverschiebung, was die Elemente der Reflexion angeht: Wurde am alten LP die Gefahr kritisiert, in der Oberstufe tendenziell Themenstellungen aus dem Studium im Unterricht vorwegzunehmen, so gelingt es dem neuen LP sehr viel besser, durch Betonung hermeneutischer Grundlagenfragen Wege zu einem möglichen Studium (nicht nur der Theologie) zu bahnen (und nicht einen wissenschaftlichen Grundkurs vorwegzunehmen), ohne dabei auf die Vermittlung zentraler wissenschaftlicher Fragestellungen zu verzichten. ( II ) Vorschlag zur eigenverantwortlichen Gestaltung des neuen Lehrplans 6. Der neue LP verbietet von vorneherein ein sklavisches Vorgehen Punkt für Punkt: So werden etwa die Inhalte 1.1. („Ausdrucksformen von Religion“), 1.3. („Umschreibung des Begriffs Religion“), 1.4. („Funktionen von Religion in der Gesellschaft“) im Religionsthema sich nicht ohne Probleme losgelöst voneinander behandeln lassen; möglicherweise können sie sogar innerhalb der Thematisierung etwa des Islam oder auch innerhalb eines Punktes der Bibeleinheit (aus 2.1 („AT“) oder 2.2 („NT“)) verhandelt werden. - Oder: Die Bibeleinheit legt es nahe, wesentliche Teile aus 3 („Existentielle Auslegung biblischer Texte“) in 2.1. und 2.2 zur Sprache zu bringen bzw. umgekehrt. Die Zielsetzung von 224 gebietet es weiterhin geradezu, die Punkt 2.3. und 2.4.25 nicht (zumindest nicht allein) gesondert zu verhandeln, sondern insinuiert ihre Behandlung innerhalb der Thematisierung von 2.1.und 2.2. (AT bzw. NT) - Kurz: Der neue LP fordert noch stärker als der alte die Lehrer zu einem eigenständigen Verlaufsplan heraus, der die wesentlichen Inhalte in 23 Für die in Baden-Württemberg jetzt avisierte allgemeine Einführung des 12-jährigen Gymnasiums wird eine solche Anlage sich als noch wichtiger erweisen. 24 „Erfahrungen werden in unterschiedlichen Sprachformen festgehalten, die zu erschließen sind.“ 25 „Die Bibel, eine Sammlung literarischer Gattungen und Textsorten, Sitz im Leben“ sowie: „Beziehung zwischen Form und Inhalt, Texterschließung“. 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ 295 einer je eigenen und doch das allgemeine Ziel der Klasse 11 einholenden Konzeption zu verzahnen versteht. 7. Die Freiheit der Lehrkräfte bei der Konzeption wird vor allem in der Auswahl der Medien sichtbar (sei es nun der biblischen Perikopen, philosophischer und theologischer Texte, ergänzender Bilder oder von Dokumenten persönlicher Lebenserfahrungen), mit denen einzelne Inhalte erschlossen werden sollen. Die folgenden Thesen wollen daher einige allgemeine sowie einen ganz konkreten Anstoß liefern für eine m.E. sinnvolle Konzeption in dieser Richtung. 8. Schon in den früheren Jahren hatte ich bei der Planung von Klasse 11 stets die für den jeweiligen Jahrgang anstehenden Abitur-Themen mit im Blick gehabt. Die Klasse 11 gewinnt so stärker den Status eines die Oberstufe erschließenden Jahrgangs und sollte daher sinnvollerweise möglichst auch von der gleichen Lehrerin oder Lehrer wie 12/13 unterrichtet werden. In Klasse 11 können dadurch gezielter: a) Vorwegnahmen wichtiger Texte in 12 und 13 vermieden werden bzw. b) auch gerade umgekehrt durch gezielte Fragestellungen Texte zweimal in sich ergänzender Weise erschlossen werden (z.B. eine Behandlung von Gen 1ff bei den sog. „Sternchen“(*)-Themen "Glauben und Wissen" oder "Anthropologie"); c) hermeneutisch Grundfragen der jeweils kommenden *-Themen erarbeitet werden (was sich etwa bei der Kombination "Jesus Christus" / "Theol. Anthropologie" besonders nahe legt, wenn die Frage: Was ist der Mensch im Lichte der christlichen Offenbarungsbotschaft? zum Leitthema für 11,12,13 erhoben wird), d) oder wieder gerade umgekehrt durch Themen, die in 12/13 nicht angesprochen werden, den Oberstufenunterricht mit Klasse 11 gerade zu ergänzen (so etwa bei gleichen *-Themen wie c) durch Konzentration auf Fragen aus dem Umkreis "Glauben-Wissen"). 9. Galt die These 8 als Ermunterung zu flexibler Gestaltung von Klasse 11, so hat die These 9 das umgekehrte Anliegen, in die Konzeption von Klasse 11 einen verallgemeinerungsfähigen roten Faden einzubringen. Hier scheint mir das Jahrgangsthema zu allgemein und darum ungriffig formuliert zu sein.26 Wenn man von den Inhalten her die Arbeit mit der Bibel als Buch einerseits und die 26 Es lautet offiziell: „Der reflektierte Umgang mit Traditionen, mit dem Phänomen Religion und mit der Bibel ermöglicht es dem jungen Erwachsenen, zu Überzeugungen zu gelangen, die er denkend und handelnd verantworten kann.“ 296 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ Auseinandersetzung mit der Frage nach Religion als unbedingter Frage von Menschsein für die unverzichtbaren Säulen der Klasse 11 ansieht, liegt es nahe, als Leitfrage für die Klasse 11 etwa eine Formulierung wie folgt zu finden: „anima naturaliter religiosa. Religiosität als lebendige Erfahrung erschließen“. Zielsetzung wäre es dabei, die Bibel als Buch geronnener Glaubenserfahrungen und Impuls zur eigenverantwortlichen Lebensgestaltung zu begreifen und zu reflektieren 10. Von dieser Konzeption her sehe ich es als Möglichkeit an, die Klasse 11 eher bausteinhaft aus verschieden akzentuierten Elementen zu konzipieren, die je für sich nach Möglichkeit beide oben angesprochenen Fragen berühren bzw. Grundlagen zu ihrer orientierenden Beantwortung schaffen. Sinnvoll erscheint es mir demnach, Elemente, die eher auf das Verständnis der Bibel ausgerichtet sind, in ihrer Konzeption klar auf die religiöse Grundfrage hin ("Was heißt bzw. wie äußert sich Religiosität?") zu konzipieren und umgekehrt zur Erschließung einer religionsphilosophischen Fragestellung auf biblische Beispiele, besser Paradigmata zurückzugreifen. Weitere Lehrplaninhalte (wie etwa "Methoden der Texterschließung" oder "Funktionen der Religion" sollten, so meine ich, in diese Grundkonzeption eingewoben werden. 11. Aus diesem Gedanken könnten sich beispielsweise folgende Bausteine ergeben, aus denen der Unterricht in Klasse 11 zusammenzusetzen wäre27: 1 Jüngerberufungen: Religiosität als existenzerhellende Erfahrung 28 - Duccio di Buoninsegna: Bildmeditation - synoptischer Vergleich der ntl. Berufungsgeschichten - Topos der Berufung: erste Bestimmung eines religiösen Menschen 2 Unterwegs: das Urmotiv für Religiosität - Der Mensch als Sinn-Wesen: unterwegs auf der Suche nach sich selbst [z.B. Schuberts "Winterreise": Reise als Folie der Sinnfrage Bsp. einer persönlichen Biographie in Stationen] - Weg-Motive in der Bibel 29 - Abraham, Paradigma menschlichen Unterwegs-Seins 27 Alle der nachfolgend nur grob skizzierten Bausteine habe ich im Laufe der Jahre im Unterricht der Klasse 11 durchgeführt. Neben der Entfaltung des Bausteins 1 in den Teilen (1) und (2) dieses Kapitels finden sich Elemente einer Konkretisierung auch in anderen Kapiteln; dazu werden kurze Verweise per Anmerkung gegeben. – Durch Verweiszeichen (→) werden einige offensichtliche Bezüge zu Themeninhalten hergestellt. 28 Dieses Element kommt in den ersten drei Teilen dieses Kapitels zur Ausführung. Unten folgt zudem eine Strukturskizze, die die Bezüge zu den jeweiligen Themen herstellt. 29 Vgl. dazu meine Ausführungen im Abschnitt 1 des Kapitels 1-4, die wesentlich auf diese unterrichtlichen Erfahrungen zurückgehen. 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ 297 (a) Erschließung Gen 11,27-12,9 (u.U. auch weitere Stationen Gen 13 - 17,1-11 18,1-15 - 18,16-33 - 22 (b) Einführung "Bibel verstehen": hermeneutische Schlüssel anhand der AbrahamGeschichte (c) A., Vater des Glaubens: Paradigma menschlichen Unterwegsseins - Schlüssel des jüdisch-christlich-islamischen Gottes- und Menschenverständnisses: Vater des Glaubens 3 Orte von Religiosität - Gewissen/Herz: bibl. Hintergrund - Kirche - Religionsunterricht - Theologie (Übersicht der theologischen Disziplinen) 30 - religionswissenschaftliche Vergleiche: Religionen → Islam / Buddhismus 4 Identität: Ichwerdung - Mensch als fragendes Wesen - Ich-Erlebnisse - Stufen/Ebenen der Identität [ Individuum / Selbst / Subjekt / Person] - Heteronomie / Autonomie / Theonomie 5 Jona: auf der Suche nach sich selbst im Angesicht Gottes - Topos der Lehrerzählung (→ Gattungen ; Einteilung d. Bibel; → Lektüre e. Ganzschrift) 31 - Bilder in Jona / Bilderbücher zu Jona - existentielle Interpretation des Buchs 6 Camus: Menschwerdung ohne Gott - Mythos von Sisyphos - antike Götterwelt (→ Erscheinungsformen/Funktionen von Religion) - S's Taten - S's Strafen - Camus' Interpretation - autonome (Camus) vs. theonome (Jona) Selbsterfahrung - Absurdität und Gottesnähe: Kohelet 8 Offenbarung von Menschsein in Niedrigkeit: Weihnachten - Weihnachts-Topoi [→ Gattungen, Entstehung NT,] - bibl. Hintergründe [ synopt. Vgl. theol. Anspruch der jeweilg. Weihnachtsevangelien] - Brueghels Weihnachtsbilder: Weihnachten als "Bild" der Erschließung histor./existenz. Situationen - Weihnachten heute ? 9 Brueghels Menschenbilder (Jahreszeitenbilder): - (vgl. Zink-Reihe: Christliche Kunst: Bd. "Menschenbilder"): Jahreszeiten als Horizonte der Erschließung menschlicher Existenz; → Religion als Horizont der Erschließung menschlicher Existenz (→ Funktionen d. Religion) 30 Damit wäre, personal orientiert, das Element „2.2 Grundtypen von Weltreligionen“ der Religionseinheit eingelöst. 31 Eines dieser Bilderbücher wird ausführlicher erschlossen im Zusammenhang des Kapitels 4-1. 298 10 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ Bibel: Ur-Kunde vom Glauben - Literarkritik: Bibel im historischen Aufriss [z.B. i. Anschluss an Tobit] - Bibel und Wahrheit [z.B. i. Abschluss an Auferstehungsthema] 32 - Lessing [vgl. D; religionsphilosophische Frage nach Religion] - Geschichte Israels - bibl. Glauben als geschichtlicher [z.B. im Anschluss an Abraham] - Dimensionen des Zugangs zur Bibel - Kanonizität - hermeneutische Interpretations-Kriterien: *Textkritik - Literarkritik - Formkritik *Ebenen der Texterschließung: historische Ebene - Verdichtungen - Symbolik existentieller An-Spruch (Botschaft) *Ansätze der Bibelauslegung: wissenschaftlich - Bibel teilen/meditieren gesellschaftspolit./soziolog./psychol. - therapeutisch/existenziell *"Wahrheit" der Bibel: [z.B. anhand Gen 1/2: -->Pentateuch-Genese] 11 Der leidende Mensch: Passion und Auferstehung - Passion: Problem des Bösen / Leibniz / Passion als religiöse Erfahrung / Jesu Passion im religionsgeschichtlichen Kontext - Auferstehung als Erfahrung (Lk 24 und Jo 21 als Paradigmen), - NT-Genese: Ereignis der Auferstehung als Initial der christlichen Bewegung 12 Gottessuche durch Leiderfahrung: Ijob - Lektüre des Buchs (u.U. in Ausschnitten; → Lektüre einer Ganzschrift) - Strukturierung und Entwicklung der Frage nach Gott bei Jiob (Verzweiflung – Anklage – Gottessuche – Selbstsuche) - Vergleiche mit modernen Dokumenten zur Theodizee (z.B. Dostojewski od. Wiesel) 14 Tobit: Heilung und Heil - Tobit im atl.Kanon - Tobit als Buch jüdischer Identität (→ Lektüre einer Ganzschrift / → Glaubenserfahrungen - Heilungsinterpretation - Religion und menschliche Psyche [ Freud vs.Jung - Drewermann - tiefenpsychologische Bibeldeutung ] 16 Markus: Erlösung aus Ängsten - Überblick Mk - Markus als Schriftsteller/Evangelist (→ Lektüre einer Ganzschrift) - Situationen von Angst / Sit. der Erlösung (Deutung der mark. Heilungsgeschichten auf - Strukturen von Heilung und Heil - Vgl. tiefenpsychologische Bibeldeutung) 18 33 Wer darf ich sein? - Was soll ich tun ? (Ethik-Kunde) 32 Hintergründe zu diesem Element werden im Kapitel 2-1 zur Sprache gebracht. 33 Einige Elemente dieses Bausteins finden sich wieder im Abschnitt 2 des Kapitels 4-4. 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ 299 ( III) Religiosität als Erfahrung des Gerufenseins - ein Beispiel zur Konkretisierung 12. Als Beispiel einer auf die religiöse Grundfrage hin konzipierten Bibeleinheit habe ich oben in den Teilen 1, 2 und 3 dieses Kapitels die neutestamentlichen Jüngerberufungen vorgestellt. Der nachfolgende Kommentar soll die entsprechenden Bezüge zu den Inhalten des Lehrplans wie den Entwurf als Beispiel einer Konkretisierung des eben skizzierten Gesamtkonzepts vorstellen: Diese Einheit ist zuzuordnen dem LP 1.2.2. („Neues Testament: Begegnungsgeschichten“) Innerhalb dieser Thematik werden jedoch weiterhin folgende Punkte ganz konkret mit erschlossen: 1.2.4. („hermeneutische Texterschließung“), 1.3. („existentielle Auslegung biblischer Texte“), 2.1.3. (Religion als „Ergriffensein vom Unbedingten“); angesprochen werden darüber hinaus allgemein die Punkte 1.1. und 2. („Die Bibel, eine Herausforderung“ sowie „Die Bibel, eine Sammlung von Glaubenserfahrungen“), 1.1.2. („Neuentdeckung eines alten Buches“), 1.3.3. („Existenzverändernde Kraft des Gotteswortes“), und hinsichtlich des Sinn-Themas 3.2.1. („Entwickeln der Erlebnisfähigkeit: Entdecken der Tiefendimension“), 3.2.2. („Befähigung zum Vertrauen“ und „Verwurzelung im Glauben“) und 3.3.3. („Bewältigung von Sinnkrisen im Glauben“). Die Verschränkung einer Reihe von Inhalten ist ein bewusst auch in Folgeeinheiten durchgeführtes Vorgehen. Die Intention ist dabei klar: Die Gefahr eines eher technisch-wissensmäßigen Zugang zu den einzelnen LP-Inhalten (z.B. verschiedene Ansätze zur Bibelauslegung schlicht zu "lernen") soll vermieden werden, hingegen die PL-Intention der Berücksichtigung sowohl formaler Inhalte (wie Textkritik) als auch existenzerhellender (wie Bibel-Teilen) wird nicht nur formal erfüllt, sondern auch integrativ eingelöst, insofern an einem Beispiel erläutert wird, dass "methodische Zugänge können helfen, Glaubenserfahrungen in der Bibel besser zu verstehen" (Zielangabe zu 1.1.2). Durch ihre innere Konsistenz ist die Einheit einerseits ein für sich abgeschlossenes Thema; andererseits werden öffnend bereits Inhalte aus anderen Themen bewusst mit angesprochen, da die Einheit vom Gesamtkonzept der Klasse 11 her aufgebaut ist. Schließlich können durch abschließende Fragen a) nach hermeneutischen Voraussetzungen zum Verstehen der Bibel, b) nach Elementen des biblischen Glaubensverständnisses und c) nach dem Verhältnis Religiosität - Existenz, genauer, was einen religiösen Menschen auszeichnet, grundlegende Kriterien der 300 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ Arbeit im Religionsunterricht der Klasse 11 erarbeitet werden, so dass sich die Einheit sehr gut als Einstieg in die Gesamtthematik von Klasse 11 eignet. Methodisch ist die Konzeption darauf angelegt, die Schüler gleich zu Beginn von Klasse 11 sowohl zu ermutigen, ins Detail zu gehen (und dafür ein Beispiel zu geben), und zugleich ihnen das Gespür zu vermitteln, durch Exemplarisches auch das Ganze in den Blick zu bekommen. Kapitel 4-3 „Meine Wege erzählte ich und du antwortetest mir … lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ Ein Unterrichtsvorschlag zum Thema „Religiöse Sprache“ 1 1 Ein Gebet als Unterrichtsgegenstand ? 1.a. Zur Begründung: Das oben als Motto des Kapitels angegebene Zitat ist entnommen dem biblischen Psalm 119.2 Die Erschließung eines Gebets scheint für einen exemplarischen Unterrichtsvorschlag zum Thema „religiöse Sprache“ auf den ersten Blick denkbar ungeeignet, scheint dies doch der Intention des Paulus zu widersprechen, wonach nicht das entrückte geisterfüllte Reden und Sprechen der Erschließung des Glaubens dient, sondern nur das mit Verstand geäußerte (1 Kor 14).3 Beten aber ist wohl kein Akt der verstandesmäßigen Auseinandersetzung mit dem Glauben, sondern eine unmittelbare Äußerung von Glauben. Man findet sich hier vielleicht schon jenseits der Grenze wieder, die zu übertreten nur aus der Binnenperspektive des Glaubens möglich ist. Denn ein Gebet zu sprechen, das kann doch nur dem Glaubenden möglich sein. Somit scheint sich das Gebet einer vernünftigen Erschließung zu entziehen. Und doch deutet Paulus selbst an, dass es durchaus möglich ist, auch mit dem Verstand zu beten (1 Kor 14, 15). Reizvoll erscheint es darum, vernünftige Zugangsweisen zu religiöser Sprache gerade an einem Gebet zu erschließen, nicht 1 Dieses Teilkapitel bietet eine um zusätzliche Kommentare und sachliche Ergänzungen erheblich erweiterte Fassung des Teils 2 meines Beitrags: H. B. Petermann: „Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ - Religiöse Sprache verstehen; in: E. Martens & Ph. Thomas (Hg.): Praxishandbuch Philosophie. Bd. 4: Religionsphilosophie. München: bsv 2002. Teile dieser Ausführung werden eingehen in den von mir gemeinsam mit Philipp Thomas erarbeiten Band zur Religionsphilosophie in der ebenfalls im bsv-Verlag erscheinenden Reihe „Philosophieren können“ (erscheint voraussichtlich Anfang 2003). 2 Psalm 119, 26 in der „Verdeutschung“ von Martin Buber. Heidelberg: Lambert Schneider 91982. 3 Die Ausführungen des Paulus in 1 Kor 14 bilden das Eingangszitat zum Kapitel 2-2, dem der erste Teil des Beitrags zugrunde liegt, dessen zweiter Teil hier fortgesetzt wird. Das Zitat wird dort genauer erläutert. 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ 303 zuletzt um die möglicherweise gerade hier am tiefsten liegenden Vorurteile gegen eine Auseinandersetzung mit Religion überhaupt und religiöse Sprache insbesondere aufzubrechen. Sieht man auf die Tradition der großen und philosophisch gebildeten wie einflussreichen Theologen, so erhält diese Möglichkeit sachlich Unterstützung und Nahrung: "Groß bist du, o Herr, und hoch zu preisen, groß ist deine Kraft und unermesslich deine Weisheit"; mit diesem Zitat aus dem Psalm 147 beginnt etwa Augustinus seine berühmten Confessiones.4 Das Buch schließt auch mit einem Gebet, so dass das Gebet dem gesamten Text nicht nur den Rahmen, sondern auch seine Form verleiht. Liegt da nicht der Gedanke nahe, das Gebet liefere für die differenzierten theologischen und philosophischen Reflexionen, die zweifelsohne das Herzstück dieses Buches bieten, nicht nur den Rahmen, in dem diese letztlich aufgehoben werden, sondern sei vielmehr auch die innere Form dieser Reflexion, gleichsam als ihre Möglichkeitsbedingung? Das Gebet zu Beginn und am Ende relativiert nämlich keineswegs die in es eingeschlossenen Reflexionen, sondern hat im Gegenteil den Sinn, auch wirklich mit allem Ernst in die Reflexion eintreten zu können. Augustinus überlegt daher in den dem Eingangszitat folgenden Sätzen weiter, zunächst einen scheinbaren Gegensatz aufmachend, ob es nun besser sei zu wissen und zu erkennen oder besser anzurufen und zu preisen, um diesen Gegensatz unmittelbar wieder aufzulösen durch die Einsicht "Doch wer wollte dich anrufen, ohne dich zu kennen?" Die rechte Form des betenden Anrufens ist mithin nichts weniger als Gotteserkenntnis, und die reflexive Erkenntnis erweist sich als wahre Form des Dankpreises gegenüber der Gnade dieser Einsicht. Der weitere Text der Confessiones lässt sich dann konsequent als intellektueller und reflexiver Weg dieser Selbstvergewisserung verstehen (s.u.). 1.b. Thema des Psalms 119 ist das geschriebene Wort, genauer die Gestaltwerdung von Sprache im geschriebenen Wort.5 Das wird unten genauer zu erläutern sein. Die 4 Vgl. dazu den Abschnitt 2.8. des vorliegenden Kapitels, in dem Eingangs- wie Abschlussgebet der Confessiones und die unmittelbar angeschlossenen bzw. vorausgehenden Reflexionen zum Gegenstand gemacht werden. 5 Auf eine genauere Exegese des Ps 119 kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht eingegangen werden. Daher sei per Fußnote nur kurz wichtige Literatur erwähnt: Natürlich findet sich in den gängigen AT-Kommentaren, sofern sie ein wenig detaillierter angelegt sind, meist auch ein Hinweis auf den Ps 119 als Tora-Psalm. Das gilt auch für die (nicht sehr verbreiteten) SpezialKommentare zum Buch der Psalmen. Auffallend ist jedoch, dass sich nur sehr wenige Arbeiten finden, die sich ausführlicher auch auf den Ps 119 spezialisieren. Einen umso höheren Stellenwert darf daher auch heute noch beanspruchen die Monografie von Alfons Deissler (1965), zumal es Deissler gelingt, genaue sprachliche Beobachtungen mit einleuchtenden und gut begründeten theologischen Deutungen zu verbinden. Zwei neuere Monografien (Soll 1991, Freedman 1999) hingegen sind zwar der sprachlichen Struktur noch detaillierter auf der Spur, was durchweg interessante und spannende Konsequenzen avisiert, sie scheinen dabei aber die theologische Botschaft des Psalms eher nur am Rande im Blick zu haben, glauben zumindest auskommen zu können ohne 304 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ Auseinandersetzung mit dem Text führt insofern notwendig zur Reflexion von Sprache, konkret etwa zur Frage der Spannung zwischen dem (bloß) geschriebenen gegenüber dem gesprochenen Wort, andererseits zum zeitlich für je neue Deutungen offenen Surplus des Geschriebenen gegenüber dem unmittelbar vergehenden Gesprochenen, weiterhin zur Dimension der Lebenserschließung durch Vergewisserung wie Perspektivenöffnung durch Sprache, und natürlich zum Problem des Gewordenseins von Sprache; zumindest am Horizont kann schließlich die Frage nach dem Sinn von Schrift als heiliger bzw. vom Wort als Wort Gottes angesprochen werden. 1.c. Ziele: Begründung und problemorientierter Themenzuschnitt legen es daher durchweg nahe, ein Gebet als Beispiel einer sinnvollen und vieldimensionalen Auseinandersetzung mit religiöser Sprache zu wählen. Daraus ergeben sich folgende Zielsetzungen: Gerade an Psalm 119 lassen sich paradigmatisch erschließen die ästhetische Dimension religiöser Texte die Eigenart der Wirklichkeitsmitteilung in religiösen Texten die Eigenart religiöser Sprache der Charakter des Gebets als besonderer Form religiöser Sprache die philosophische Dimension in religiösen Texten die Weiterverarbeitung religiöser Texte in theologischer Literatur. 1.d. Methoden werden im folgenden Vorschlag exemplarisch vorgeschlagen und andeutungsweise entfaltet. Vor eher diskursiven Wegen wird als Einstieg ein eher präsentativer Zugang6 gewählt (2.1.). 2.2. arbeitet auch für die Material-Erschließung eher erfahrungsorientiert. In 2.3. werden neben der diskursiven Form der Texterschließung auch Eigentätigkeiten der Schülerinnen und Schüler verlangt. Der Möglichkeit des Lehrervortrags wird in 2.4., 2.5. und 2.6. die Gruppenarbeit, auch als Arbeit in Stationen gegenübergestellt. 2.7. stellt hohe Anforderungen an Textarbeit oder arbeitet (im Alternativvorschlag) eher rezeptionsästhetisch bzw. dekonstruktiv. Das Anspruchsniveau ist bewusst variabel gewählt, so dass Elemente bereits ab Klasse 9, aber auch in der Sek II eingesetzt werden können. die theologisch m.E. notwendige Reflexion auf den Wert einer linguistische Analyse, so als wäre die Historismus-Gefahr historisch-kritischer Exegese nie eigentlich debattiert worden. Auch aus diesem Grunde meine ich es mir erlauben zu können, einige Beobachtungen zum Psalm 119 ohne ausführliche Erkundung der exegetischen Literatur zu machen. 6 Zur Erläuterung präsentativer Unterrichtsformen vgl. meine Ausführungen in der Einleitung, Abschnitt 2, sowie auch die Kapitel 4-1 und 4-3. 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ 2 305 Der Unterrichtsvorschlag In den folgenden Punkten werden einzelne Phasen des Unterrichtsmodells kurz skizziert, mit den notwendigen Erklärungen versehen und dazu mögliche Arbeitsvorschläge unterbreitet. 2.1. Als ersten Zugang wähle ich die Konfrontation mit der äußeren Form des Textes. Ein Zugang über das Hören kann sich in Unkundigkeit der hebräischen Sprache nur schwer einstellen. Mithilfe einer visuellen Übersicht ist jedoch ein erster bereits erschließender Zugang möglich. Am besten für diesen zunächst rein ästhetischen Zugang ist die Auseinandersetzung mit dem gesamten Psalm ohne Verszählung geeignet, wie er auf den beiden folgenden Seiten abgebildet ist.7 Ersatzweise wäre auch die folgende Kurzfassung möglich, in der die ersten beiden Buchstabengruppen a b vollständig, die folgenden acht g d h w z x j y mit ihrem Anfang zitiert sind; der Übersicht halber sind dabei die jeweils ersten Buchstaben hervorgehoben: `hw"hy> tr;AtB. ~ykilh. ho ; %r,d'-ymeymit. yrev.a; `WhWvr>d>yI ble-lk'B. wyt'do[e yrec.nO yrev.a; `^yt,xor>ao hj'yBia;w> hx'yfia' ^yd,QupiB. … `^r,b'D> xK;v.a, al{ [v'[]T;v.a, ^yt,QoxuB. … ^D,b.[;l. rb'D'-rkoz> `Wkl'h' wyk'r'd>Bi hl'w>[; Wl[]p'-al{ @a; `^r,b'd> hr'm.v.a,w> hy<x.a, ^D>b.[;-l[; lmoG> `daom. rmov.li ^yd,Qupi ht'yWIci hT'a; `^t,r'ATmi tAal'p.nI hj'yBia;w> yn:y[e-lG: `^yQ,xu rmov.li yk'r'd> WnKoyI yl;x]a; `^yt,wOc.mi yNIM,mi rTes.T;-la; #r,a'b' ykinOa' rGE `^yt,wOc.mi-lK'-la yjiyBih;B. vAbae-al{ za' `t[e-lk'b. ^yj,P'v.mi-la, hb'a]t;l. yvip.n: … `^q,d>ci yjeP.v.mi ydIm.l'B. bb'le rv,yOB. ^d>Aa hs'r>G" … t'yfi[' bAj `daom.-d[; ynIbez>[;T;-la; rmov.a, ^yQ,xu-ta, … … `^r,b'd>Ki rmov.li Axr>a'-ta, r[;N:-hK,z:y> hM,B; … rp'[l' , hq'bD . ' … ynIWf[' ^yd,y" `^yt,wOc.Mimi ynIGEv.T;-la; ^yTiv.r;d> yBili-lk'B. … `%l'-aj'x/a, al{ ![;m;l. ^t,r'm.ai yTin>p;c' yBiliB. … hw"hy> ynIreAh `^yQ,xu ynIdeM.l; hw"hy> hT'a; %WrB' 7 `^ypi-yjeP.v.mi lKo yTir>P;si yt;p'f.Bi … `!Ah-lK' l[;K. yTif.f; ^yt,wOd>[e %r,d,B. …^d,s'x] ynIauboywI … … hw"hy> yqil.x, Es folgen 84 weitere Verse mit den Buchstaben k l m n s [ p c q r f bzw.v bis zum letzten Buchstaben … ytiN"rI br;qT . Nur der Klarheit halber hier der Hinweis, dass der Text natürlich rechtsbündig beginnt, also auf Seite 307 rechts oben mit a und auf Seite 306 unten links endet mit t. 306 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ `!w<a'-lk' yBi-jl,v.T;-la;w> ^t,r'm.aiB. !keh' ym;['P. `^yd,WQPi hr'm.v.a,w> ~d'a' qv,[ome ynIdeP. `^yQ,xu-ta, ynIdeM.l;w> ^D,b.[;B. raeh' ^yn<P' `^t,r'At Wrm.v'-al{ l[; yn"y[e Wdr>y" ~yIm;-ygEl.P; `^yj,P'v.mi rv'y"w> hw"hy> hT'a; qyDIc; `daom. hn"Wma/w< ^yt,do[e qd,c, t'yWIci `yr'c' ^yr,b'd> Wxk.v'-yKi ytia'n>qi ynIt.t;M.ci `Hb'hea] ^D>b.[;w> daom. ^t.r'm.ai hp'Wrc. `yTix.k'v' al{ ^yd,QuPi hz<b.nIw> ykinOa' ry[ic' `tm,a/ ^t.r'Atw> ~l'A[l. qd,c, ^t.q'd>ci `y['vu[]v; ^yt,wOc.mi ynIWac'm. qAcm'W-rc; `hy<x.a,w> ynInEybih] ~l'A[l. ^yt,wOd>[e qd,c, `hr'Coa, ^yQ,xu hw"hy> ynInE[] ble-lk'b. ytiar'q' `^yt,do[e hr'm.v.a,w> ynI[eyviAh ^ytiar'q. `yTil.x'yI Î^r>b'd>liÐ ¿^yr,b'd>liÀ h['WEv;a]w" @v,N<b; yTim.D;qi `^t,r'm.aiB. x;yfil' tArmuv.a; yn:y[e WmD>qi `ynIYEx; ^j,P'v.miK. hw"hy> ^D,s.x;k. h['m.vi yliAq `Wqx'r' ^t.r'ATmi hM'zI yped>ro Wbr>q' `tm,a/ ^yt,wOc.mi-lk'w> hw"hy> hT'a; bArq' `~T'd>s;y> ~l'A[l. yKi ^yt,do[eme yTi[.d;y" ~d,q, `yTix.k'v' al{ ^t.r'At-yKi ynIceL.x;w> yyIn>['-haer> `ynIYEx; ^t.r'm.ail. ynIlea'g>W ybiyrI hb'yrI `Wvr'd' al{ ^yQ,xu-yKi h['Wvy> ~y[iv'r>me qAxr' `ynIYEx; ^yj,P'v.miK. hw"hy> ~yBir; ^ym,x]r; `ytiyjin" al{ ^yt,wOd>[eme yr'c'w> yp;d>ro ~yBir; `Wrm'v' al{ ^t.r'm.ai rv,a] hj'j'Aqt.a,w" ~ydIg>bo ytiyair' `ynIYEx; ^D>s.x;K. hw"hy> yTib.h'a' ^yd,WQpi-yKi haer> `^q,d>ci jP;v.mi-lK' ~l'A[l.W tm,a/ ^r>b'D>-varo `yBili dx;P' Î^r>b'D>miWÐ ¿^yr,b'D>miWÀ ~N"xi ynIWpd'r> ~yrIf' `br' ll'v' aceAmK. ^t,r'm.ai-l[; ykinOa' ff' `yTib.h'a' ^t.r'AT hb'[et;a]w: ytianEf' rq,v, `^q,d>ci yjeP.v.mi l[; ^yTil.L;hi ~AYB; [b;v, `lAvk.mi Aml'-!yaew> ^t,r'At ybeh]aol. br' ~Alv' `ytiyfi[' ^yt,wOc.miW hw"hy> ^t.['Wvyli yTir>B;fi `daom. ~beh]aow" ^yt,do[e yvip.n: hr'm.v' `^D,g>n< yk;r'D>-lk' yKi ^yt,do[ew> ^yd,WQpi yTir>m;v' `ynInEybih] ^r>b'd>Ki hw"hy> ^yn<p'l. ytiN"rI br;q.Ti `ynIleyCih; ^t.r'm.aiK. ^yn<p'l. ytiN"xiT. aAbT' `^yQ,xu ynIdeM.l;t. yKi hL'hiT. yt;p'f. hn"[.B;T; `qd,C, ^yt,wOc.mi-lk' yKi ^t,r'm.ai ynIAvl. ![;T; `yTir>x'b' ^yd,WQpi yKi ynIrez>['l. ^d>y"-yhiT. `y['vu[]v; ^t.r'Atw> hw"hy> ^t.['Wvyli yTib.a;T' `ynIruz>[]y: ^j,P'v.miW &'l,l.h;t.W yvip.n:-yxiT. `yTix.k'v' al{ ^yt,wOc.mi yKi ^D,b.[; vQeB; dbeao hf,K. ytiy[iT' `~yIm'V'B; bC'nI ^r>b'D> hw"hy> ~l'A[l. `dmo[]T;w: #r,a, T'n>n:AK ^t,n"Wma/ rdow" rdol. `^yd,b'[] lKoh; yKi ~AYh; Wdm.[' ^yj,P'v.mil. `yyIn>['b. yTid>b;a' za' y['vu[]v; ^t.r'At yleWl `ynIt'yYIxi~b' yKi ^yd,WQPi xK;v.a,-al{ ~l'A[l. `yTiv.r'd' ^yd,WQpi yKi ynI[eyviAh ynIa]-^l. `!n"ABt.a, ^yt,do[e ynIdeB.a;l. ~y[iv'r> WWqi yli `daom. ^t.w"c.mi hb'x'r> #qe ytiyair' hl'k.Ti lk'l. `ytix'yfi ayhi ~AYh;-lK' ^t,r'At yTib.h;a'-hm' `yli-ayhi~l'A[l. yKi ^t,wOc.mi ynImeK.x;T. yb;y>aome `yli hx'yfi^yt,wOd>[e yKi yTil.K;f.hi yd;M.l;m.-lK'mi `yTir>c'n" ^yd,WQpi yKi !n"ABt.a, ~ynIqeZ>mi `^r,b'D> rmov.a, ![;m;l. yl'g>r; ytialiK' [r' xr;ao-lK'mi `ynIt'reAh hT'a;-yKi yTir>s'-al{ ^yj,P'v.Mimi `ypil. vb;D>mi ^t,r'm.ai yKixil. Wcl.m.NI-hm; `rq,v' xr;ao-lK' ytianEf' !Ke-l[; !n"ABt.a, ^yd,WQPimi `ytib'ytin>li rAaw> ^r,b'd> ylig>r;l.-rnE `^q,d>ci yjeP.v.mi rmov.li hm'YEq;a]w" yTi[.B;v.nI `^r,b'd>ki ynIYEx; hw"hy> daom.-d[; ytiynE[]n: `ynIdeM.l; ^yj,P'v.miW hw"hy> an"-hcer> yPi tAbd>nI `yTix.k'v' al{ ^t.r'Atw> dymit' yPik;b. yvip.n: `ytiy[it' al{ ^yd,WQPimiW yli xP; ~y[iv'r> Wnt.n" `hM'he yBili !Aff.-yKi ~l'A[l. ^yt,wOd>[e yTil.x;n" `bq,[e ~l'A[l. ^yQ,xu tAf[]l; yBili ytiyjin" `yTib.h'a' ^t.r'Atw> ytianEf' ~ypi[]se `yTil.x'yI ^r>b'd>li hT'a' yNIgIm'W yrIt.si `yh'l{a/ twOc.mi hr'C.a,w> ~y[irem. yNIM,mi-WrWs `yrIb.Fimi ynIveybiT.-la;w> hy<x.a,w> ^t.r'm.aik. ynIkem.s' `dymit' ^yQ,xub. h['v.a,w> h['veW"aiw> ynIde['s. `~t'ymir>T; rq,v,-yKi ^yQ,xume ~ygIAv-lK' t'ylis' `^yt,do[e yTib.h;a' !kel' #r,a'-y[ev.rI-lk' T'B;v.hi ~ygIsi `ytiarey" ^yj,P'v.MimiW yrIf'b. ^D>x.P;mi rm;s' `yq'v.[ol. ynIxeyNIT;-lB; qd,c,w" jP'v.mi ytiyfi[' `~ydIzE ynIquv.[;y:-la; bAjl. ^D>b.[; bro[] `^q,d>ci tr;m.ail.W ^t,['Wvyli WlK' yn:y[e `ynIdeM.l; ^yQ,xuw> ^D,s.x;k. ^D>b.[;-~[i hfe[] `^yt,do[e h['d>aew> ynInEybih] ynIa'-^D>b.[; `^t,r'AT Wrpehe hw"hyl; tAf[]l; t[e `zP'miW bh'Z"mi ^yt,wOc.mi yTib.h;a' !Ke-l[; `ytianEf' rq,v, xr;ao-lK' yTir>V'yI lko ydeWQPi-lK' !Ke-l[; `yvip.n: ~t;r'c'n> !Ke-l[; ^yt,wOd>[e tAal'P. `~yyIt'P. !ybime ryaiy" ^yr,b'D> xt;Pe `yTib.a'y" ^yt,wOc.mil. yKi hp'a'v.a,w" yTir>[;p'-yPi `^m,v. ybeh]aol. jP'v.miK. ynINEx'w> yl;ae-hnEP. 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ 307 `hw"hy> tr;AtB. ~ykil.hoh; %r,d'-ymeymit. yrev.a; `yTiv.r'd' ^yd,Qupi yKi hb'x'r>b' hk'L.h;t.a,w> `WhWvr>d>yI ble-lk'B. wyt'do[e yrec.nO yrev.a; `vAbae al{w> ~ykil'm. dg<n< ^yt,do[eb. hr'B.d;a]w: `Wkl'h' wyk'r'd>Bi hl'w>[; Wl[]p'-al{ @a; `yTib.h'a' rv,a] ^yt,wOc.miB. [v;[]T;v.a,w> `daom. rmov.li ^yd,Qupi ht'yWIci hT'a; `^yQ,xub. hx'yfia'w> yTib.h'a' rv,a] ^yt,wOc.mi-la, yP;k;-aF'a,w> `^yQ,xu rmov.li yk'r'd> WnKoyI yl;x]a; `ynIT'l.x;yI rv,a] l[; ^D,b.[;l. rb'D'-rkoz> `^yt,wOc.mi-lK'-la yjiyBih;B. vAbae-al{ za' `ynIt.Y"xi ^t.r'm.ai yKi yyIn>['b. ytim'x'n< tazO `^q,d>ci yjeP.v.mi ydIm.l'B. bb'le rv,yOB. ^d>Aa `ytiyjin" al{ ^t.r'ATmi daom.-d[; ynIcuylih/ ~ydIzE `daom.-d[; ynIbez>[;T;-la; rmov.a, ^yQ,xu-ta, `~x'n<t.a,w" hw"hy> ~l'A[me ^yj,P'v.mi yTir>k;z" `^r,b'd>Ki rmov.li Axr>a'-ta, r[;N:-hK,z:y> hM,B; `^t,r'AT ybez>[o ~y[iv'r>me ynIt.z:x'a] hp'['l.z: `^yt,wOc.Mimi ynIGEv.T;-la; ^yTiv.r;d> yBili-lk'B. `yr'Wgm. tybeB. ^yQ,xu yli-Wyh' tArmiz> `%l'-aj'x/a, al{ ![;m;l. ^t,r'm.ai yTin>p;c' yBiliB. `^t,r'AT hr'm.v.a,w" hw"hy> ^m.vi hl'y>L;b; yTir>k;z" `^yQ,xu ynIdeM.l; hw"hy> hT'a; %WrB' `yTir>c'n" ^yd,Qupi yKi yLi-ht'y>h' tazO `^ypi-yjeP.v.mi lKo yTir>P;si yt;p'f.Bi `^yr,b'D> rmov.li yTir>m;a' hw"hy> yqil.x, `!Ah-lK' l[;K. yTif.f; ^yt,wOd>[e %r,d,B. `^t,r'm.aiK. ynINEx' ble-lk'b. ^yn<p' ytiyLixi `^yt,xor>ao hj'yBia;w> hx'yfia' ^yd,QupiB. `^yt,do[e-la, yl;g>r; hb'yvia'w" yk'r'd> yTib.V;xi `^r,b'D> xK;v.a, al{ [v'[]T;v.a, ^yt,QoxuB. `^yt,wOc.mi rmov.li yTih.m'h.m;t.hi al{w> yTiv.x; `^r,b'd> hr'm.v.a,w> hy<x.a, ^D>b.[;-l[; lmoG> `yTix.k'v' al{ ^t.r'AT ynIduW>[i~y[iv'r> yleb.x, `^t,r'ATmi tAal'p.nI hj'yBia;w> yn:y[e-lG: `^q,d>ci yjeP.v.mi l[; %l' tAdAhl. ~Wqa' hl'y>l;-tAcx] `^yt,wOc.mi yNIM,mi rTes.T;-la; #r,a'b' ykinOa' rGE `^yd,WQPi yrem.vol.W^Warey> rv,a]-lk'l. ynIa' rbex' `t[e-lk'b. ^yj,P'v.mi-la, hb'a]t;l. yvip.n: hs'r>G" `ynIdeM.l; ^yQ,xu #r,a'h' ha'l.m' hw"hy> ^D>s.x; `^yt,wOc.Mimi ~ygIVoh; ~yrIWra] ~ydIzE T'r>[;G" `^r,b'd>Ki hw"hy> ^D>b.[;-~[i t'yfi[' bAj `yTir>c'n" ^yt,do[e yKi zWbw" hP'r>x, yl;['me lG: `yTin>m'a/h, ^yt,wOc.mib. yKi ynIdeM.l; t[;d;w" ~[;j; bWj `^yQ,xuB. x;yfiy" ^D>b.[; WrB'd>nI yBi ~yrIf' Wbv.y" ~G `yTir>m'v' ^t.r'm.ai hT'[;w> ggEvo ynIa] hn<[/a, ~r,j, `ytic'[] yven>a; y['vu[]v; ^yt,do[e-~G: `^yQ,xu ynIdeM.l; byjimeW hT'a;-bAj `^r,b'd>Ki ynIYEx; yvip.n: rp'['l, hq'b.D' `^yd,WQPi rCoa/ ble-lk'B. ynIa] ~ydIzE rq,v, yl;[' Wlp.j' `^yQ,xu ynIdeM.l; ynInE[]T;w: yTir>P;si yk;r'D> `yTi[.v'[]vi ^t.r'AT ynIa] ~B'li bl,xeK; vp;j' `^yt,Aal.p.nIB. hx'yfia'w> ynInEybih] ^yd,WQPi-%r,D, `^yQ,xu dm;l.a, ![;m;l. ytiyNE[u-yki yli-bAj `^r,b'd>Ki ynImeY>q; hg"WTmi yvip.n: hp'l.D' `@s,k'w" bh'z" ypel.a;me^yPi-tr;At yli-bAj `ynINEx' ^t.r'Atw> yNIM,mi rseh' rq,v,-%r,D, `^yt,wOc.mi hd'm.l.a,w> ynInEybih] ynIWnn>Aky>w: ynIWf[' ^yd,y" `ytiyWIvi ^yj,P'v.mi yTir>x'b' hn"Wma/-%r,D, `yTil.x'yI ^r>b'd>li yKi Wxm'f.yIw> ynIWar>yI ^ya,rey> `ynIveybiT.-la; hw"hy> ^yt,wOd>[eb. yTiq.b;D' `ynIt'yNI[i hn"Wma/w< ^yj,P'v.mi qd,c,-yKi hw"hy> yTi[.d;y" `yBili byxir>t; yKi #Wra' ^yt,wOc.mi-%r,D, `^D,b.[;l. ^t.r'm.aiK. ynImex]n:l. ^D>s.x; an"-yhiy> `bq,[e hN"r,C.a,w> ^yQ,xu %r,D, hw"hy> ynIreAh `y['vu[]v; ^t.r'At-yKi hy<x.a,w> ^ym,x]r; ynIWaboy> `ble-lk'b. hN"r,m.v.a,w> ^t,r'At hr'C.a,w> ynInEybih] `^yd,WQpiB. x;yfia' ynIa] ynIWtW>[i rq,v,-yKi~ydIzE WvboyE `yTic.p'x' Ab-yKi ^yt,wOc.mi bytin>Bi ynIkeyrId>h; `^yt,do[e Îy[ed>yOw>Ð ¿W[d>y"w>À^ya,rey> yli WbWvy" `[c;B'-la, la;w> ^yt,wOd>[e-la, yBili-jh; `vAbae al{ ![;m;l. ^yQ,xuB. ~ymit' yBili-yhiy> `ynIYEx; ^k,r'd>Bi aw>v' tAar>me yn:y[e rbe[]h; `yTil.x'yI ^r>b'd>li yvip.n: ^t.['Wvt.li ht'l.K' `^t,a'r>yIl. rv,a] ^t,r'm.ai ^D>b.[;l. ~qeh' `ynImex]n:T. yt;m' rmoale ^t,r'm.ail. yn:y[e WlK' `~ybiAj ^yj,P'v.mi yKi yTir>gOy" rv,a] ytiP'r>x, rbe[]h; `yTix.k'v' al{ ^yQ,xu rAjyqiB. danOK. ytiyyIh'-yKi `ynIYEx; ^t.q'd>ciB. ^yd,Qupil. yTib.a;T' hNEhi `jP'v.mi yp;d>rob. hf,[]T; yt;m'^D,b.[;-ymey> hM'K; `^t,r'm.aiK. ^t.['WvT. hw"hy> ^d,s'x] ynIauboywI `^t,r'Atk. al{ rv,a] tAxyvi ~ydIzE yli-WrK' `^r,b'd>Bi yTix.j;b'-yKi rb'd' ypir>xo hn<[/a,w> `ynIrez>[' ynIWpd'r> rq,v, hn"Wma/ ^yt,wOc.mi-lK' `^yd,wQupi yTib.z:['-al{ ynIa]w: #r,a'b' ynIWLKi j[;m.Ki `yTil.x'yI ^j,P'v.mil. yKi daom.-d[; tm,a/-rb;d> yPimi lCeT;-la;w> `d[,w" ~l'A[l. dymit' ^t.r'At hr'm.v.a,w> `^yPi tWd[e hr'm.v.a,w> ynIYEx; ^D>s.x;K. 308 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ Zielsetzung dieses ersten Schritts ist es, über den rein ästhetischen Zugang (hier den bloßen visuellen Eindruck) ein Gefühl für die Wirkmächtigkeit des geschriebenen Wortes zu erlangen. Sprache gewinnt als geschriebene gegenüber der bloß gesprochenen einen höheren Grad von Eindringlichkeit und Orientierung. Im Judentum scheint dies derart wichtig zu sein, dass diesem Thema ein ganzes Lied-Gebet gewidmet ist. Im einzelnen ist dies über folgende Phasen erreichbar: Die unmittelbare Konfrontation mit der Textgestalt, wie abgebildet am besten ohne Verszählung am Rande, führt zur Frage nach einem der Anordnung der abgebildeten Zeichens zugrundeliegenden System. Die Optik dieses längsten Psalms der Bibel verdeutlicht eine sehr klare Ordnung: Die Druckansicht wird schnell zu der Vermutung führen, dass es sich hier um eine in Versform geschriebene Sprache handelt, die man von rechts nach links schreibt. Je 8 Verse beginnen, das sieht auch der Laie bald, mit dem jeweils gleichen Buchstaben. Die insgesamt 176 Verse sind somit in 22 Gruppen à 8 Versen aufgeteilt. Die Vermutung, dass es sich bei den 22 Gruppen um die 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets handelt, findet schnell ihre Bestätigung. Die Arbeit am Text wird konkretisiert durch die Aufgabe, die Verse durchzuzählen und ihnen eine durch das Schriftbild selbst offenkundige Ordnung zu geben. Das Ergebnis von 22 mal 8 Versen mit je gleichem Anfang wird zur Information über die Struktur der hebräischen Schrift mit 22 Buchstaben führen, die gereiht von rechts nach links zu lesen sind. Mit einer Tabelle aus einer hebräischen Sprachlehre lassen sich leicht die 22 Buchstaben auch benennen. Ergänzend kann auf die Bedeutung der 8-Zahl in der sehr viel später in der italienischen Lyrik gebräuchlichen Stanzenform verwiesen werden. In der jüdischen Zahlenmystik kommt der „8“ die Bedeutung vollendeter, ewiger Abgeschlossenheit zu. Schließlich kann als Übergang zum nächsten Schritt die Frage nach dem Sinn solcher Textgestalt aufgeworfen werden. Leicht werden dabei Hinweise sich ergeben, dass hier die Struktur von Sprache selbst zum Thema gemacht wird. Als fächerübergreifende Zusatzaufgabe lassen sich mithilfe einer hebräischen Sprachlehre relativ leicht Teile des Textes auch entziffern und versuchsweise lesen. 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ 309 2.2. Der folgende Schritt ergibt sich konsequent aus dem ersten: In einer zunehmend dianoetisch-wissenschaftlich bestimmten Gesellschaft erscheint es als teilweise auch kruder Anachronismus, wenn in Talmud-Schulen, vor allem aber in Koran-Schulen religiöser Text schlicht auswendig gelernt wird, scheinbar ohne Sinn und verständige Auseinandersetzung. Solche Rezitation religiöser Texte ist freilich in allen Religionen beheimatet. Zumindest in katholischen Kirchen (mehr noch natürlich in den Ostkirchen) kennt das Christentum die Litanei, in der formelhaft nach jedem Namen ein „ora pro nobis“ oder Ähnliches wiederholt wird. Aber auch andere Religionen wie der Lamaismus kennen sog. „Gebetsmühlen“. Auf solche religiösen Vollzüge ist in einem zweiten Schritt hinzuweisen. Am deutlichsten mag das gelingen durch Verweis auf die Schönheit als letztem Sinn-Kriterium für religiöse Texte, wie es der (traditionelle) Islam in der ritualisierten und hochartifiziellen Rezitation der Koran-Suren pflegt.8 Und die im gregorianischen Choral gesungenen Stundengebete erleben eine Renaissance nicht nur in der mönchischen Tradition, sondern gerade auch in kirchlich eher indifferenten oder gar ablehnenden Kreisen. Das Ziel dieses Schritts: Die Konfrontation mit der vielen Religionen eigenen ästhetischen Ritualisierung religiöser Texte verweist auf die existentielle Bedeutung, die das Sprechen religiöser Texte in den Religionen hat. – Gemeint ist damit: Was zunächst ästhetisch wirkt, also auf der Ebene sinnlicher Wahrnehmung, bleibt haften in eher affektiv-emotionaler Weise. Damit wird nicht die logische Auseinandersetzung angesprochen, sondern eine unsere Existenz tiefer in Anspruch nehmende Begegnung mit dem Religiösen. Folgende Möglichkeiten bieten sich zur Erarbeitung an: Eventuell bekannte Rezitations-Traditionen in den Religionen durch die Schülerinnen und Schüler nennen lassen. Beispiele ritualisierter Rezitation durch Tonträger dokumentieren.9 Kleine Informationen der Hintergründe können zur Einordnung helfen; so etwa die Erläuterung des Begriffs „Stundengebet“ in der christlichen Tradition. Auf diesem Hintergrund kann man sich in freiem Gespräch über den ästhetischen Zugang dem Sinn solcher Rezitationen nähern, etwa durch den Gedanken der im Gebetsrhythmus ritualisierten Zeit, der durch die Wiederholung sich vollziehenden Verinnerlichung, der durch die quasi 8 Exemplarisch sei dazu verwiesen auf das Buch von Navid Kermani: Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran. München: Beck 1999. Vgl. dazu den nachfolgend präsentierten Textauszug. 9 Für die Gregorianik gibt es eine vielfältige Auswahl. Für die Qur’an-Rezitation im Islam ist empfehlenswert die CD Nr.13150-2 bei Celestial Harmonies. Aufnahmen zu buddhistische SutrenRezitationen sind schwerer zu besorgen. 310 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ reflexionslose Gestaltung deutlichen Aktivierung der ästhetischen, auf sinnliche Erfahrung und Genuss angelegten Lebensäußerung etc. Bei Bedarf ist der Einsatz auch eines theoretisch-erläuternden Textes zu dieser Thematik möglich. Dazu eignen sich sehr gut die nachfolgend von mir zusammengestellten Auszüge aus Navid 10 Kermani: Gott ist schön (1999) . Kompakt lässt sich damit Kermanis keineswegs neue, aber eindrucksvoll neu herausgearbeitete These erschließen von der Schönheit des Koran als seiner eigentümlichen Botschaft. Im ersten Teil ist der ästhetische Charakter von Religionen überhaupt auf den Punkt gebracht, während die nachfolgenden Passagen den besonderen Charakter des Koran verdeutlichen: 10 Die nachfolgenden [ in Kopie ] vorgelegten Auszüge stammen aus den Seiten 9 und 12f. (für den ersten Abschnitt) sowie 19f., 25f., 69, 39, 114, 150. 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ 311 312 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ 313 Der Textauszug ließe sich z.B. durch folgende Fragen erschließen und bearbeiten: 1. Fassen Sie zusammen: Aufgrund welcher Elemente gilt der Koran als vor allem auch ästhetisch bedeutsames Dokument? 2. Diskutieren Sie, welche Konsequenzen Kermanis Deutung hat für die Beschäftigung oder auch einfach Rezitation des Koran a) für gläubige Muslime, b) für nicht glaubende Menschen. 3. Besorgen Sie sich ein Tondokument zur Rezitation des Koran. Prüfen Sie: Können Sie die von Kermanis an Sure 39:23 und dem Zitat von Abû Zahra veranschaulichten Aussagen nachvollziehen? 4. Überlegen Sie: Was bedeutet Kermanis These für jeden Versuch, sich mit den Inhalten des Koran auseinander zu setzen? 5. Suchen Sie nach Beispielen in anderen Religionen, wonach religiösen Texten eine ähnliche eher ästhetische Bedeutung zukommt. 2.3 Ein hervorragend geeigneter Text, der die ersten Eindrücke und Fragen nun auf ein theoretisches Gerüst stellt, ist Martin Bubers „Beilage“ zu seiner „Verdeutschung“ der Hebräischen Bibel. Zur Erarbeitung empfiehlt sich die folgende Zusammenfassung: 5 10 15 20 25 Ein Doppeltes hebt die Schrift, das sogenannte Alte Testament, von den großen Büchern der Weltreligionen ab. Das eine ist, dass Ereignis und Wort hier durchaus im Volk, in der Geschichte, in der Welt stehen. Was sich begibt, begibt sich nicht in einem ausgesparten Raum zwischen Gott und dem Einzelnen … Das Heilige dringt in die Geschichte ein, ohne sie zu entrechten. Und das andere ist, dass hier ein Gesetz spricht, das dem natürlichen Leben des Menschen gilt, … der triebhafte, der leidenschaftliche Mensch wird angenommen, wie er ist … Das Heilige dringt in die Natur ein, ohne sie zu vergewaltigen. Fasst man [die Schrift] als „religiöses Schrifttum“, … dann versagt es, und dann muss man sich ihm versagen. Fasst man es als Abdruck einer lebenumschließenden Wirklichkeit, dann fasst man es, und dann erfasst es einen. Der spezifisch heutige Mensch aber vermag dies kaum noch. Wenn er an der Schrift überhaupt noch „Interesse“ nimmt, dann eben ein „religiöses“ - zumeist nicht einmal das, sondern ein „religionsgeschichtliches“ oder ein 30 35 40 45 50 „kulturgeschichtliches“ oder ein „ästhetisches“ und dergleichen mehr, jedenfalls ein Interesse des abgelösten, in autonome Bereiche „aufgeteilten“ Geistes. Er stellt sich dem biblischen Wort nicht mehr, wie die früheren Geschlechter, um auf es zu hören, er konfrontiert sein Leben nicht mehr mit dem Wort … Dem „heutigen Menschen“ ist die Glaubenssicherheit nicht zugänglich und kann ihm nicht zugänglich gemacht werden … Aber die Glaubensaufgeschlossenheit ist ihm nicht versagt. Auch er kann sich, eben wenn er mit der Sache wahrhaft Ernst macht, diesem Buch auftun und sich von dessen Strahlen treffen lassen … Dazu muss er freilich die Schrift vornehmen, als kennte er sie noch nicht; als hätte er sie nicht in der Schule und seither im Schein „religiöser“ und „wissenschaftlicher“ Sicherheiten vorgesetzt bekommen … Er glaubt nichts von vornherein, er glaubt nichts von vornherein nicht. Er liest laut, was dasteht, er hört das Wort, das da spricht, und es kommt zu ihm, nichts ist präjudiziert, der Strom der Zeiten strömt, und dieses Menschen Heutigkeit wird selber zum auffangenden Gefäß. 314 55 60 65 70 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ Die Hebräische Bibel ist wesentlich durch die Sprache der Botschaft geprägt und gefügt … Wir lesen Psalmen, die uns nichts andres zu sagen scheinen als den Hilferuf des gepeinigten Menschen nach oben, aber wir brauchen nur recht hinzuhören, um zu erkennen, dass da nicht ein beliebiger Mensch, sondern einer redet, der unter der Offenbarung steht und auch noch aufschreiend sie bezeugt … Es hieße, die Art der Bibel gründlich verkennen, wenn man annähme, dass sie die Botschaft jeweils anheftete, wie schlechten Parabeln eine „Moral“ anhaftet; … alles in der Schrift ist echte Gesprochenheit, der gegenüber „Inhalt“ und „Form“ als die Ergebnisse einer Pseudoanalyse erscheinen; so kann denn auch die Botschaft, wo sie sich unmittelbar ausspricht, nicht zur Anmerkung oder zum Kommentar zusammenschrumpfen. Sie dringt ein in die Gestaltung, sie bestimmt die Gestalt mit … Die hebräischen Laute haben für einen Leser, der kein Hörer mehr ist, ihre Unmittelbarkeit eingebüßt, sie sind von der stimmlosen theo- 75 80 85 90 95 logisch-literarischen Beredsamkeit durchsetzt und werden durch sie genötigt … Dies erkennen, heißt freilich dem Übersetzer eine grundsätzlich unerfüllbare Aufgabe zuweisen; denn das Besondere ist eben das Besondere und kann nicht „wiedergegeben“ werden, die Sinnlichkeiten der Sprachen sind verschieden, ihre Vorstellungen und ihre Weisen sie auszuspinnen, ihre Innervationen und ihre Bewegungen, ihre Leidenschaften und ihre Musik. Grundsätzlich kann denn auch Botschaft, in ihrer schicksalhaften Verschweißung von Sinn und Laut, nicht übertragen werden; sie kann es nur praktisch: annährend…; denn nicht in den „Quellen“, sondern hier ist in Wahrheit Bibel, das nämlich, was zu Zeugnissen und Urkunden hinzutritt: zeitenverschmelzender Glaube an Empfang und Übergabe, das Zusammensehen aller Wandlungen in der Ruhe des Wortes. Von diesem Wissen um lebendige Einheit ist das Verhältnis unsrer Übertragung zum Text bestimmt. Buber spricht auf diesen Seiten11 folgende Themen an: (a) den eigentümliche Inhalt der Schrift, (b) die mangelnde Aufgeschlossenheit des heutigen Menschen zum Verstehen der Schrift, (c) der existentielle Anspruch der Schrift, (d) die Sinnlichkeit der Sprache als Ausdruck für den Lebensbezug der Schrift, (e) die Schrift als unmittelbares Zeugnis, die nicht eine Moral hinter ihren Sätzen transportieren will. Alle Punkte sind für unseren Zusammenhang von entscheidender Bedeutung. Als heuristische Folie zur weiteren Erläuterung des Ps 119 lassen sich auf der Grundlage des Buber-Textes eine Reihe von Fragen formulieren, etwa: Nach Buber steht das biblische Wort mitten im „natürlichen Leben des Menschen"; wo kommt dies im Ps 119 zum Ausdruck? 11 Aus: Martin Buber: Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift. Beilage zum ersten Band von „Die Schrift“. Heidelberg: Lambert Schneider 1954, S. 3ff. 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ 315 Was fühle, erlebe ich, was möchte ich unmittelbar aussprechen, wenn ich, wie Buber es empfiehlt, ohne Vorkenntnisse zum Text, laut lese und höre, was dasteht, und versuche mich davon treffen zu lassen? Prüfen wir: Macht es einen Unterschied, eine bestimmte Textpassage laut zu lesen / zu rezitieren und einfach zu hören oder in nach Verständnis strebender Form sie zu lesen? Kann ich den Unterschied beschreiben? Buber schreibt, die Bibel wolle wesentlich eine Botschaft bezeugen ohne damit eine Moral zu vermitteln. Welche Botschaft, sei es von der Lage eines Menschen, der dies verfasst hat, oder sei es für mich, weil ich mich angesprochen fühle, vermittelt mir das unmittelbare Hören einer Textpassage? Entsprechende Aufgabenstellung können die Schülerinnen und Schüler durchaus selbst nach der Lektüre des Buber-Textes für sich oder die Klasse erstellen, etwa durch die Anweisung: Was halten Sie nach Lektüre des Textes für wichtig, um es als Kriterium zur verständigen Lektüre eines Bibeltextes zu verwenden? Formulieren Sie entsprechende Prüffragen zur Erschließung eines biblischen Textes! 2.4. Zur Verständigung des speziellen Hintergrunds für Ps 119 als Tora-Psalm ist es sinnvoll, den Aufbau der jüdischen Bibel zu wiederholen bzw. zu erarbeiten. Wenigstens erforderlich ist es, die Bedeutung von „Tora“ (hrAt) zu verstehen. Dazu die wesentlichen Informationen: Mit dem Begriff Tora werden zunächst äußerlich die fünf Bücher Mose, der sog. Pentateuch (griech.: 5 Bücher) bezeichnet. Sie bilden den ersten und wichtigsten Teil der hebräischen Bibel. Mit den prophetischen Schriften (Nebiim) und den sog. übrigen Schriften (Ketubim) wird die Tora unter dem Kunstwort TeNaCh (für die Anfangsbuchstaben der drei Schrift-Gruppen) zum Kanon der Heiligen Schrift im Judentum zusammengefasst. Die Tora ist nicht nur die erste, sondern auch wichtigste Gruppe biblischer Schriften. Die Bedeutung der Tora für jüdisches Glaubensleben ist auch daran zu ermessen, dass die fünf Bücher im Rahmen des liturgischen Jahres im Gottesdienst der Synagoge vorgelesen werden. Der Grund: In ihnen sind nicht nur die zentralen Geschichten von der Genese des jüdischen Glaubens zusammengetragen, sondern auch die wichtigsten Anweisungen für jüdisches Glaubensleben, kulminierend in den Zehn Geboten. Im engeren Sinn bezeichnet die Tora daher auch die Zehn Gebote, in einem weiteren Sinn alle in der Bibel dokumentierte Gebote und Verbote Gottes. 316 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ Gleichwohl ist es nicht legitim, „Tora“ mit „Gesetz“ in der Konnotation unseres Sprachgebrauchs zu übersetzen. Vielmehr ist „Weisung“ oder „Belehrung“ gemeint. Das bedeutet, im Horizont einer um der Erwählung des Menschen willen rechtstranszendenten Weisung durch Gott sind hier in der Tora Leitlinien, Geländer, Hilfestellungen formuliert für konkrete Lebensführung. Diese Informationen können durch Lehrervortrag gegeben, aber auch durch entsprechende Textvorlagen selbst erschlossen werden.12 2.5. Als nächsten Schritt können die Schülerinnen und Schüler auf Grundlage der Schritte 2.3 und 2.4 den Psalm in der deutschen Übersetzung zur Hand nehmen und zu einer ersten inhaltlichen Auseinandersetzung kommen. Grundsätzlich ist dabei vorauszusetzen: Als Leben weisendes Wort wird im Psalm 119 TORA (hrAt) selbst zum Thema, die Schrift als biblisch kanonisiertes Wort Gottes. In der Tat ist dies zugleich theologische Form wie Inhalt des gesamten Psalms. Für die weitere Erschließung bieten sich folgende Fragestellungen an: herausarbeiten, mit welchen anderen Begriffen Tora und das Wort Gottes als Thema des Psalms umschrieben wird; versuchen, aus dieser Untersuchung eine Struktur herauszufinden, unter der der Psalm tatsächlich komponiert worden ist; schließlich zu einer Deutung dieses Vorgehens vorstoßen: Was hat den / die Schreiber veranlasst, den Text gerade so zu verfassen? Als Hintergrundsinformation mögen dazu folgende Hinweise genügen: • Neben dem Wort Tora finden sich sieben weitere Worte, die Subjekt oder Gegenstand des Textes sind; steht für Tora in der Regel Weisung, seltener Gesetz (Vulgata: lex), so finden sich daneben die Begriffe piqqudim (Befehle, Ordnungen, Bestimmungen, iustitiae), (e)dut (Zeugnis, testimonium), mispat (Rechte, Urteile, iudicia), miswah (Gebot, praeceptum), chokim (Gesetze, Satzungen, iustificationes), dâbâr (Wort, Logos, sermon), (i)mrah (Spruch, eloquium). Die Achtzahl der Schlüsselbegriffe steht in zumindest eigentümlicher Parallelität zur Achtzahl der Strophenverse. Genauere Auskunft dazu vermag die nachfolgende Tabelle zu geben: 12 Dafür bietet sich als bereits unterrichtlich aufbereitetes Material sehr gut an das Buch von A.Lohrbächer (Hg.): Was Christen vom Judentum lernen können. Modelle und Materialien für den Unterricht. Freiburg (Herder) 1994. 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ 317 318 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ Keineswegs verblüffend ist die Tatsache, dass manche Übersetzungen diese im hebräischen Text klar vorgegebene Struktur nicht zur Kenntnis nehmen und dass es so recht willkürlichen zu einer die einzelnen Worte je nach Zusammenhang oder auch Gefühl unterschiedlichen Übersetzung kommt.13 Die Tabelle verdeutlicht zudem, dass für die hier exemplarisch verwendeten deutschen Übersetzungen einzig Buber auch im Deutschen durchgängig zu acht verschiedenen Begriffen findet: • In jedem Vers (außer v.122) taucht mindestens einer dieser Begriffe auf. Die Reihung der Begriffe folgt keiner logischen Struktur, doch ist es eigentümlich, dass sich als Gesamtzahl der verwendeten Begriffe 177 ergibt, also quasi identisch mit der Zahl der Verse. Auch die Gesamtverteilung der 8 Schlüsselbegriffe ist relativ gleichmäßig: dâbâr, chokim, miswah kommen genau 22 mal vor, mit 19 mal am seltensten (i)mrah, tora (wohl mit Grund) am häufigsten, 25 mal, doch auch nicht extrem different.14 2.6. Eine inhaltliche Deutung dieser Strukturanalyse kann sicher nur exemplarisch erfolgen. Es bietet sich an, in Arbeitsgruppen vorzugehen, die sich einzelne Strophen vornehmen; besonders gut geeignet sind dafür die Strophen 4, 12, 13, 19, 22. Sie wären mit den oben in 2.3. mit Buber erarbeiteten heuristischen Fragen zu bearbeiten. Zuvor können aber auch folgende einfachere Erschließungsfragen gestellt werden: Welche Begriffe für das Wort Gottes spielen in dieser Versgruppe die zentrale Rolle? Ist daraus eine inhaltliche Akzentsetzung zu erkennen? In welcher Situation befindet sich der Sprecher des Psalms? Welche Rolle kommt demgegenüber dem Gotteswort zu, und wie gestaltet sich genauer das Verhältnis von Sprecher zu Gotteswort bzw. umgekehrt? Welche Konsequenzen, welche Folgen für die konkrete Lebensführung des Sprechers ergeben sich aus alledem? Exemplarisch seien diese Struktur sowie Möglichkeiten der Interpretation an der vierten Versgruppe (Dalet (d), vv.25-32) verdeutlicht, aus der auch das Motto für dieses Kapitel entnommen ist. In der eindrücklichen Übersetzung von Buber15 lauten die Verse: 13 Natürlich richtet sich diese Kritik gegen die in der Theologie recht weit verbreitete Kluft zwischen Exegetikern einerseits und Systematikern andererseits. Dabei finden sich Arbeiten, die ein sprachanalytisches Verfahren theologisch zu begründen verstehen, noch seltener als Arbeiten, die theologische Gedanken aus einer textgenauen Deutung der Schrift heraus entwickeln. Der Vorwurf klingt pauschalisierend, lässt sich aber, denke ich, durch viele Beispiele leicht belegen. 14 Zur genaueren Verteilung der Worte vgl. Freedman (1999), S.50ff. 15 Wie oben Anm. 2. 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ Meine Seele haftet am Staub, belebe mich gemäß deiner Rede! Meine Wege erzählte ich und du antwortetest mir. – lehre mich deine Gesetze, lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn, besinnen will ich deine Wunder. Vor Gram entsickert mir die Seele, erhalte mich gemäß deiner Rede! 319 Den Lügenweg rücke mir ab, vergönne mir deine Weisung! Den Weg der Treue habe ich gewählt, deine Rechtsgeheiße gehegt. An deinen Zeugnissen hafte ich – DU, beschäme mich nimmer! Ich laufe den Weg deiner Gebote, denn du weitest mein Herz. • Strukturell auffallend ist, dass in keinem Vers mehr als eines der genannten Schlüsselworte genannt ist. Das Wort „Rede“ kommt als einziges zweimal vor. Unter weiteren sinngebenden Worten fällt der fünfmalige Gebrauch des Wortes „Weg“ auf. • Der Beter findet sich völlig am Boden: Lügen, Beschämungen haben ihn in eine verzweifelte Lage gebracht, gegrämt und verzweifelt fühlt er sich innerlich dem Tode nahe. Ohne weitere inhaltliche Ausführungen der Hintergründe, doch in aller Intensität, diese existentiell verzweifelte Situation zum Ausdruck zu bringen, kommt diese Lage zur Sprache. – Sprachlos geworden ist der Beter mithin nicht, im Gegenteil: Er sieht zumindest die Möglichkeit, was ihm passiert ist und wie es ihm geht, zu erzählen (26!). Unsicherheit scheint jedoch darüber zu bestehen, wie konsequent der Weg der Lüge gemieden werden kann (29) und demgegenüber die Bemühung um Treue oder Wahrheit (30) Verlässlichkeit birgt. – Das Gebet bietet somit eine Folie, diese Situation nochmals zur Sprache zu bringen wie auch jedem Nachbeter die Möglichkeit zu eröffnen, diese Schilderung mit eigenen Erfahrungen zu füllen. • Dem Beter gegenüber steht das Wort Gottes. Es hat offensichtlich bereits in der Vergangenheit ein Kriterium geboten, sich gegen die Lüge zu wehren (30,31); die Orientierung an ihm bringt eine gewisse Sicherheit, auch bislang den verlässlichen Weg gegangen zu sein (30). Gleichwohl hat sich Verstehen dabei noch nicht eingestellt (27). Doch bietet das Wort Gottes die Möglichkeit dialogischer Auseinandersetzung (26), zunächst mit sich selbst zur Vergewisserung der eigenen Lage, dann zur Erfahrung neuer Möglichkeiten: Mit der direkten Ansprache Gottes selbst (31) wird ein Dialogpartner identifiziert. • Das verbürgt zunächst einmal, dass der Beter am Leben bleibt (25,28). Ein erster Schritt zur Befreiung mag die genaue Besinnung des Wortes Gottes sein (27), die zur Entdeckung je neuer Perspektiven wie ein Wunder führt. Nur die intensive Auseinandersetzung mit Tradition, Text und dem als lebendig machend erfahrenden Gott führt zum Verstehen. Zu dieser Besinnung, das scheint jetzt deutlich, gehört auch das immer wieder neu zur Sprache bringen dieser Erfahrungen: v.26 erscheint so in neuem Licht. Im Gehen dieses Weges der Besinnung, Auseinandersetzung und 320 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ Artikulation erfahre ich auch das mir entgegenstehende Wort nicht als etwas Fixes, sondern als Weg, der mir gewiesen wird (27,30,32). Erst dies erhält mich nicht nur am Leben, sondern weitet mich auch. • Wichtig scheint über diese interne Erschließung des Textes die strukturelle: Was passiert mit demjenigen, der diese Erfahrung bewusst und intensiv nachlebt, indem er dieses Gebet spricht? Genau diese Frage scheint den Schlüssel zu liefern zur Erschließung des Sinns von Gebet: Wer betet wie der Psalmist, so kann man verallgemeinern, begibt sich in eine intensive Erfahrung seiner Selbst, die als Weg, also als Geschichte entziffert werden kann. Im Nachsprechen eines Gebets löse ich mich zunächst von mir in meiner augenblicklichen Subjektivität und erfahre ich mich als geschichtliches Wesen. Dadurch werden mir als zweiter Erfahrung auch die leitenden und verlässlichen Elemente meiner Lebensführung deutlicher. Auch sie erfahre ich dabei als etwas, was einerseits mir den je entscheidenden Halt gibt, was andererseits mich aber zu je neuer Auseinandersetzung herausfordert, und in welcher Auseinandersetzung ich schließlich die entscheidenden Gründe für die weitere Lebensführung finde, weil sie zur Erweiterung meiner Lebensperspektiven führen. Freilich, das ist die religiöse Pointe solcher Sprachformen, gelingen diese Erfahrungen nur in der Erfahrung der Übersteigung bzw. des Zurücklassens unmittelbarer Subjektivität und in Konfrontation mit einem Gegenüber, das ich als tieferen Grund meiner selbst erfahre. 2.7. Gegenüber solcher Detaildeutung würde eine dann folgende Gesamtdeutung darauf reflektieren, welche „Funktion“, besser welchen Sinn nun das Sprechen eines Gebets haben kann. Dazu mag als Diskussionstext für höhere Klassen eine eher theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema Gebet sich anschließen. Sehr gut geeignet, wenngleich auf hohem Niveau geschrieben, ist dafür eine einschlägige Abhandlung 16 von Michael Theunissen. Th. stellt sich der Aufgabe, zumindest als Perspektive die „Wahrheit des Evangeliums“ anzusprechen unter einem Blickwinkel, der zwar nicht eingelöst werden soll, aber gleichwohl die Linie der Deutung abgibt: „einerseits eine Diagnose dessen, was heute ist, eine vollständige Analyse des modernen Bewusstseins und der in ihm reflektierten Wirklichkeit andererseits eine zureichende Beschreibung der auch in sich historisch eingefärbten Situation des Menschen, wie sie sich in der Innenperspektive des je eigenen Existenzvollzugs darstellt.“ (S.325) Dadurch kommt er zu Deutungen der Glaubens- und Gebetsstruktur wie etwa folgender: „Der Glaubende lebt im Gleich16 Michael Theunissen: ~O aivtw/n lamba,nei. Der Gebetsglaube Jesu und die Zeitlichkeit des Christseins; in ders.: Negative Theologie der Zeit. Frankfurt (Suhrkamp) 1991, S. 321-378. Nach dieser Ausgabe des zuerst 1976 veröffentlichten Aufsatzes wird nachfolgend zitiert. Besonders wichtig für unseren Zusammenhang sind darin die beiden ersten Abschnitte „Über die Schwierigkeit, philosophisch von Jesus zu reden“ (S.321ff) und „Der Gebetsglaube Jesu“ (S.326ff). 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ 321 klang mit der Zeit, er lässt sich mit ihr versöhnen, doch so, dass das Leiden an ihr, auf das er antwortet, im Dulden seiner Geduld ebenso wie in seiner Duldsamkeit lebendig bleibt.“ (S.327) oder: „Die Einheit von Selbstverlust und Selbstfindung übergreift einen absoluten Gegensatz. Wird der Mensch dadurch frei von sich, dass er seine Eigenmächtigkeit verabschiedet, so wird er frei zu sich, indem er sich ergreift und sich hierbei nicht nur seiner selbst, sondern ebenso wohl der Welt bemächtigt. Das ungeheuerliche Wort [Jesu] ‚euch wird nichts unmöglich sein’ zielt nicht zuletzt auch auf diese Macht. In seinem Lichte wird offenbar, dass der Glaube, als das radikal andere gegenüber jeder Art von Resignation, zum radikal weltverändernden Handeln ermächtigt. Indessen basiert die Macht, die er verleiht, auf der Macht Gottes und ist nichts als deren Manifestation. Dadurch unterscheidet sich die vom Glauben getragene Freiheit des Menschen zu sich vom eigenmächtigen ‚autonomen’ Selbstsein“. (S.337) - Theunissens These ist es, dass diese Struktur der Existenz- und Glaubensreflexion der im Sinne Jesu Betende sich im Akt des Betens vergewissert. Dies wird reflexiv und begriffs-analytisch entfaltet, wie auf theologischer Seite sonst nur zuweilen in Aufsätzen von Karl Rahner oder Romano Guardini oder in der mittelalterlichen Tradition der Mystik, im Unterschied zu Praxis- oder Erbauungsbüchern, die es zum Thema „Gebet“ in großer Zahl gibt. Alternativ böte sich an, aus Jörg Zinks bekannter Betschule17 das Inhaltsverzeichnis zu nehmen und zu prüfen, inwiefern das hier Behauptete durch Lesen des Psalms 119 auch tatsächlich geleistet wird bzw. werden kann bzw. unter welchen Voraussetzungen dies geleistet werden kann, ohne freilich von vorneherein sich auf die Innensicht dieses Buches einzulassen. Zink kategorisiert z.B. folgende Dimensionen des Betens: • Sich einfinden: Sammlung - Wahrnehmung - Der innere Mensch; • die Welt sehen: Diesseitiges Leben - Tatsachen – Schicksale; • die Stunde wissen: Tage und Augenblicke - Gegenwart – Dunkelheit; • mitgehen - Lieben - Das Neue schaffen, Bejahen; • Zu Hause sein: Gewissheit - Geborgenheit - Vertrauen Ausgehend von der eher rezeptionsästhetisch oder dekonstruktiv dimensionierten Fragestellung, was erforderlich sei, um zu diesen Zuständen bzw. Erfahrungen zu gelangen und wozu sie führen könnten, könnte in einem weiteren Schritt gefragt werden, ob und inwieweit der Beter des Ps 119 (der Verfasser wie der je neu aktuelle Beter) zu solchen Erfahrungen käme. 17 Jörg Zink: Wie wir beten können. Stuttgart: Kreuz 1970. 322 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ 2.8. Schließlich wären als Transfer der starken These vom Gebet als Form reflexiver Glaubensvergewisserung und auch -erschließung die Eingangs- und die Schlusspassage aus Augustinus’ Confessiones zur Erfahrung zu bringen: Groß bist du Herr und hoch zu loben, groß ist die Fülle deiner Kraft und unermesslich sind die Spuren deiner Weisheit. Und preisen will dich der Mensch, ein Teilchen deiner 5 Schöpfung, der Mensch, sich tragend mit seiner Sterblichkeit, die das Zeugnis seiner Sünde über ihn ablegt … Auch ein solcher Mensch will dich preisen, will dich preisen, eben weil auch er ein Teilchen deiner Schöpfung ist. Du reizest 10 zur Freude an deinem Lobe, weil du für dich uns erschufest und weil unser Herz ruhelos bleibt, so lang es nicht ruhet in dir. So gib denn, Herr, mir zu erkennen, was eher ist: dich anrufen oder dich preisen, dich 15 erkennen oder dich anrufen. Wer vermöchte dich anrufen, ohne dass er dich erkennete? (…) Wie soll ich meinen Gott anrufen, meinen Gott und Herrn? Ich rufe ihn ja in mich selbst, so oft ich ihn anrufe. Und welches ist die Stätte 20 in mir, wo Gott in mich eingeht, wo der Gott eingeht, der Himmel und Erde schuf? Herr, mein Gott, so ist in mir etwas, das dich fasst! Fassen dich denn Himmel und Erde, die du schufst, in denen du mich erschufst? Oder fasst 25 dich darum Alles, was da ist, weil ohne dich nichts wäre, was da ist? Weil denn auch ich bin, was flehe ich zu dir, dass du in mich kommest, der ich nicht wäre, wenn du nicht in mir wärest? Mein Gott, was bist du? Was frage ich? Wer als 30 mein Herr! Denn wer ist Herr außer dem Herrn, und wer ist Gott außer unserm Gott! Du Höchster, Bester, Mächtiger, Allvermögender! Du Erbarmungsvoller und Allgerechter, Verborgenster und Allgegenwärtiger, voll Schönheit 35 und voll Stärke! Der du fest stehst und doch nicht zu fassen bist; selber wandellos, Alles wandelst, niemals neu wirst (…) Wie vermögen wir dich auszusprechen, o du mein Gott und mein Leben, meine Süße, heilige Wonne! Was weiß der Mensch zu reden, wenn er redet von dir? Der Beredten Mund verstummt vor dir, aber wehe denen, die von dir schweigen! Wer wird mir verleihen, in dir zu ruhen, wer wird mir helfen, dass du in mein Herz kommest 45 und es beseligend sättigest, bis ich vergesse alle meine Schmerzen, und dich umfange, mein einziges Gut? Was bist du mir? Sieh mich erbarmend an, dass ich wage zu reden. Und was bin ich dir, dass du gebietest von mir geliebt zu 50 werden … Bei deiner reichen Erbarmung verkünd' es mir, verkünd' es mir, was du mir bist! Meiner Seele sage: Ich bin Heil (Psalm 35, 5). So sprich du, dass ich vermöge zu hören. Siehe, meines Herzens Ohren sind vor dir, 55 schließ sie auf und sprich zu meiner Seele: Ich bin dein Heil! Eilen will ich dieser Stimme nach und dich ergreifen. Verbirg dein Angesicht nicht vor mir; streben will ich, um nie zu sterben, damit ich diese sehe! Will ersterben der 60 Welt und mir, damit ich zu leben beginne meine todesfreie Ewigkeit, bis ich in dir lebe und du in mir! Aber eng ist meiner Seele Haus. Wie wirst du einziehen? Mach' es weit! (…) Wir also sehen, was du geschaffen, weil es 65 ist, aber nur darum ist es, weil du es siehst. Wir sehen mit den Augen, dass es ist, und mit dem Geiste, dass es gut ist, du aber sahest das Geschaffene ebenda, wo du es sahest, als es geschaffen werden sollte. (…) 70 Dies zu verstehen, kann wohl ein Mensch dem andern dazu helfen? Oder ein Engel dem andern, oder ein Engel dem Menschen? Von dir müssen wir’s erbitten, in dir es suchen, bei dir anklopfen. So, nur so werden wir empfangen, werden 75 wir finden und wird uns aufgetan. Amen 40 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ 323 Für die Erschließung dieses eindrucksvollen Texts18 bieten sich die folgenden Fragen an: Lesen Sie den Text mehrmals aufmerksam durch und markieren Sie dann, welche Passagen eher Gebetscharakter haben, welche eher als theologisch-philosophische Reflexion einzuordnen sind. Begründen Sie Ihre Entscheidung. Versuchen Sie, den Gedankengang Zl. 17-37 zu rekonstruieren. Prüfen Sie insbesondere, wie Augustinus zu der eigentümlich paradoxen (In-)Fragestellung Zl. 26ff kommt. Nehmen Sie die Aussagen in Zl. 37ff, um wichtige Einsichten aus dem bislang zum Thema „religiöse Sprache“ Verhandelten festzuhalten bzw. als These(n) zu formulieren. Erörtern Sie, ausgehend vom Text, die Frage: Kann der Mensch Gott nun erkennen oder nicht? Skizzieren Sie das Bild vom Menschen in seinem Bezug zu Gott, von dem Augustinus in seinem Text ausgeht (vgl. insbes. Zl. 3ff und 65ff). Inwiefern ist es eine Grundlage für die anderen zuerst formulierten Fragen? Erörtern Sie abschließend die Funktion, die das Gebet für die philosophische Reflexion bzw. den Sinn philosophischer Reflexion hat und umgekehrt den Stellenwert, den die philosophische Reflexion für das Gebet hat bzw. was sie zur Erschließung des Sinns eines Gebets beitragen kann. (Vgl. dazu insbesondere die Zl. 13ff und 50ff). 18 Augustinus: Bekenntnisse, 1.Buch, Übers. Georg Rapp, Stuttgart 1838; orthografisch leicht verändert zitiert nach: Digitale Bibliothek Band 2: Philosophie, Berlin 1998. Die Schluss-Passage ist zitiert nach der Übersetzung von W.Thimme, München: dtv 1982 (Zürich 1950), S. 406. Kapitel 4-4 Was sollen wir tun? Philosophische Orientierungen zu Fragen moralischer Wertentscheidungen 1 Beginnen wir unsere Überlegungen mit einem kleinen Szenario: Sie wollen mit Ihrer Klasse die Frage gentechnisch veränderter Nahrungsmittel verhandeln2 und haben sich ein wenig in der entsprechenden Literatur umgetan. Da müssen Sie z.B. folgendes lesen: • Der Biologe Hans Mohr schreibt 1999: „Für den (ethischen) Fachmann sind die Argumente, die auf diesem Sektor [gentechnisch hergestellter Lebensmittel] zur Akzeptanzverweigerung führen, nur schwer nachzuvollziehen. Natürlich stellen marktfähige Lebensmittel, bei deren Produktion gentechnische Verfahren eine Rolle spielen, keine Gefahr für den Menschen dar, sonst würden aufgrund der Rechtslage in unserem Land diese Lebensmittel ja nicht zugelassen.“ 3 • Ebenfalls 1999 behauptet José Lutzenberger über die Herrmannsdorfer Landwerkstätten: Sie „schaffen eine ökologische Lebens-Mittel-Qualität, die Gesundheit und Wohlbefinden fördert und wie vorbeugende Medizin für ein 1 Dieses Kapitel ist hervorgegangen aus unterschiedlichen Vorträgen zu Fragen moralischer Erziehung im Rahmen der Lehrerfortbildung in den Jahren 1998 und 1999. In gekürzter Form wurde es veröffentlicht in der Zeitschrift: Haushalt & Bildung Heft 1 / 2001, S. 27-35, welches das Thema „Werte und Leitbild“ zum Schwerpunkt hat. Gezielt werden in diesem Beitrag die zentrale Unterscheidung zwischen Moral und Ethik wie auch die Möglichkeiten ethischer Urteilsbildung in einem für Lehrerinnen und Lehrer konkreten Kontext entwickelt. Den auf Lehrerfortbildung zugeschnittenen Stil habe ich beibehalten, den Beitrag gleichwohl erheblich erweitert, vor allem in den erläuternden Passagen, aber auch in einigen Anmerkungen, ohne jedoch für die sehr allgemeinen und zusammenfassenden Auskünfte zur philosophischen Ethik detailliertere Belege in der Fachliteratur beizubringen. In den Zusammenhang der vorliegenden Arbeit gliedert sich diese Abhandlung insofern organisch ein, als nicht nur äußerlich auch die theologische Problematik moralischer Bildung zumindest angerissen wird, sondern die Frage nach moralischer Orientierung tief auch in originär religionspädagogische Bereich eingreift. Vgl. dazu genauer meine Bemerkungen in der Einleitung. 2 Die Zielgruppe der ersten Veröffentlichung dieses Kapitels waren (s. Anm.1) Lehrerinnen und Lehrern, die sich, so die Zielsetzung der Zeitschrift „Haushalt&Bildung“, mit Fragen von „Gesundheit, Umwelt, Zusammenleben, Verbraucherfragen, Beruf“ beschäftigen. 3 Mohr (1999). In: Haushalt&Bildung Heft 4/1999: Schwerpunkt: Ernährung und Gentechnik. 4-4 Was sollen wir tun? 325 gutes und langes Leben wirkt. So entsteht eine Ess-Genuss-Kultur, die vom Aussterben bedroht ist. Der inneren Logik folgend sind solche Lebens-Mittel gentechnikfrei.“ 4 Wir sind mit Recht irritiert: Was sollen wir tun angesichts solch konträrer Stellungnahmen? Nun laufen für die Philosophie in dieser Frage: Was sollen wir tun, alle Fragen der Moral zusammen, so jedenfalls Kant, auch Fragen nach der Gestaltung fundamentaler Wertentscheidungen. Warum also nicht die Philosophie fragen, um ein Antwort zu erhalten? Der folgende Beitrag wird Sie enttäuschen, wenn Sie am Ende ein „So ist es!“ erwarten; sind Sie aber gespannt, warum und wie die Philosophie gleichwohl Orientierung bieten kann, sollten Sie weiterlesen.5 Zunächst führen uns die beiden Stellungnahmen recht genau zu zwei sehr viel konkreteren Problemstellungen, die meinen Beitrag gliedern: Wenn erstens niemand der einen oder der anderen Position ganz ohne Nachfragen wird Recht geben können, stehen ethische Prinzipien zur Debatte, die hier verletzt oder gefragt sein könnten und deren Bewusstmachung uns eine erste Orientierung liefert. Zweitens aber sind wir gefragt nach geeigneten Verfahren, die es uns ermöglichen, gerade angesichts der schwer zu lösenden Problematik gleichwohl verantwortlich und verlässlich eine Entscheidung zu fällen. 1 Die Frage nach ethischen Prinzipien 1.1 Verunsicherungen bei moralischen Fragestellungen Zunächst also: Welche ethischen Prinzipien, vielleicht auch Werte dürfen oder müssen wir veranschlagen, um zu einem moralischen Urteil zu kommen? So selbstverständlich, wie der ehemalige Bundespräsident Herzog in seiner Bildungsrede von 1997 mit der Forderung „Ich wünsche mir ein Bildungssystem, das wertorientiert ist“ sie vorauszusetzen schien, sind moralische oder ethische Prinzipien jedenfalls nicht. Welche Werte gelten denn heute noch, bzw. mit welchen Werten verbinden wir überhaupt noch allgemeinverbindliche Geltungsansprüche? Eher schon muss 4 José Lutzenberger / Franz-Theo Gottwald: Ernährung in der Wissensgesellschaft. Frankfurt/M.: Campus 1999. Die im Zitat genannten Land-Werkstätten gelten als Vorzeigeprojekt für einen ökologisch ausgewogen arbeitenden Landwirtschaftsbetrieb. 5 Zur Orientierungsleistung der Philosophie vgl. oben Kap. 1-2, Abschnitt 4. 326 4-4 Was sollen wir tun? man der Frage des „Spiegel“ vom Jahresende 1999 zustimmen: „3000 Jahre nach Moses – 2000 Jahre nach Christus – Wo ist die Moral?“. Warum aber diese Orientierungsschwäche? Dazu drei genauere Beobachtungen: 1.) Die Auseinandersetzung mit gentechnisch veränderten Lebensmitteln hält uns recht genau die Eigenart heutiger Wertentscheidungsprobleme vor Augen: Aufgrund ihrer Komplexität können wir nicht mehr unmittelbar durch ein Gefühl für das Gute und das Böse entscheiden: Der Philosoph Hans Jonas hat die Gründe für diese Komplexität bereits vor über 10 Jahren auf den Begriff gebracht6: Zunehmend sind wir heute vor Entscheidungen gestellt, die in ihrer Tragweite so weit gehen, dass wir die Folgen nicht nur nicht kennen, sondern nicht einmal in ihrer Möglichkeit überschauen. Als Paradigma für eher makroskopische Probleme sah Jonas den Fall Tschernobyl, dessen Folgen einzuschätzen unser Fassungsvermögen übersteigt: Auch die Rede von Halbwertzeiten ist nur der quasi religiöse Griff zur sprachlichen Bannung, was sich uns faktisch völlig entzieht. Einer anderen, eher mikroskopischen Schwierigkeit sind wir nach Jonas bei Fragen der Biotechnologie ausgesetzt. Hier tun wir, meinte er, einen Blick in innere Strukturen, die wir weniger vom Gegenstand als vielmehr von der Art des Blicks eigentlich gar nicht fassen und bewältigen können. Auch hier sind wir nicht in der Lage, mögliche Folgen real abzuschätzen; doch zudem bekommen wir, wie der Philosoph Ronald Dworkin es formulierte, Angst, nicht davor, das Falsche zu tun, sondern Angst, „die Gewissheit zu verlieren, genau zu wissen, was falsch ist“. 2.) Das hat Folgen auch auf dem Gebiet persönlicher Lebensführung: Wir leben in Zeiten und Welten, in denen Menschen schier alles möglich ist oder zumindest scheint. Werte sind da nur noch sehr relative Größen: Möglich sind, so meinen viele, zu anderen Zeiten, in anderen Kulturen auch ganz andere Werte und Normen. Diese Ansicht wird sogar als ein Gewinn ausgegeben, nämlich als ein Produkt einer liberalen und toleranten Einstellung. Insofern könne man allenfalls noch von einer Vielzahl von „Moralen“ sprechen. Nicht selten versteigt sich diese Einstellung aber 6 Vgl. dazu die Rede von Hans Jonas zum Erhalt des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1987, sowie bereits Passagen aus seinem Buch zur „Praxis des Prinzips Verantwortung“: Technik, Medizin und Ethik. Frankfurt/M.: Insel 1985. Zur Komplexität moralischer Wertentscheidungen angesichts neuester Probleme vgl. auch die jüngste Einlassung von Jürgen Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001. - Angesichts der Erschütterung der für moralische Urteile notwendigen kategorialen Unterscheidung zwischen Subjektivem und Objektivem durch die Herausforderungen der Gentechnik, diagnostiziert auch Habermas, mit Rückgriff auf Jonas, die Gefahr des Umschlagens von „Naturbeherrschung in einen Akt der Selbstbemächtigung“ (S.85), ein für Habermas entscheidendes Argument, in diesen Herausforderungen „das Selbstverständnis von moralisch handelnden und um ihre Existenz besorgten Personen im Ganzen“ affiziert zu sehen (S.54); Möglichkeiten einer Lösung sieht er darum nur in einer nicht mehr traditionellen, sondern gattungsethisch eingebetteten Moral (S.70ff). 4-4 Was sollen wir tun? 327 auch zu einem Relativismus nach der Art: „Das muss letztlich jeder für sich entscheiden.“ – Moralischer Verbindlichkeit wird damit tendenziell der Boden entzogen. 3.) Entgegengesetzt dazu gibt es geradezu einen Ethik-Boom: Konfrontiert mit immer neuen Möglichkeiten der technischen Umsetzung wissenschaftlicher Entdeckungen (vor allem im biologisch-medizinischen sowie im informationstechnischmedialen, aber auch im weltpolitisch-ökonomischen Bereich) werden zunehmend Wissenschaftler und Politiker vom Verbraucher und Nutzer in die Pflicht genommen zu klären: Ist auch erlaubt, sinnvoll, geboten, was wissenschaftlich, technisch, infrastrukturell möglich ist? Verunsicherung also hat sich breit gemacht, was eigentlich noch Moralität bzw. moralisch sei. Meine Deutung: Einerseits scheint sich Moralität immer mehr im Üblichen, zu einer bloßen Frage des Lebensstils zu verflüchtigen, andererseits auf das kalkulatorisch Abwägbare sich zu reduzieren. Was ist gemeint? Bleiben wir am eingangs zitierten Beispiel: Sich für die Ansicht Lutzenbergers zu entscheiden, ist möglicherweise gar kein moralisches Problem; der eine mag dafür sein, der nächste ist anderer Meinung, und vielleicht billigen wir das dem anderen auch zu; so scheint es unser Leben auch nicht existentiell zu berühren, ob wir uns nun so oder so verhalten, - leben würden wir auch anders. Dann aber wäre die Frage nach dem Pro und Contra der Gentechnologie keine moralische Frage, sondern nur noch eine der Üblichkeit bzw. des Lebensstils.7 - Die Aussage von Mohr andererseits spielt uns vor, dass die Frage der Beurteilung von gentechnischen Verfahren oder Produkten einer klaren Kontrolle unterliegen könne und dass das ethische Verfahren der Abwägung in sich bereits moralische Akzeptanz beinhalte. Dann aber würde Moralität reduziert auf das, was kalkulatorisch abwägbar ist. Mit dem Verfahren moralischer Entscheidungsfindung könnte man auch die Entscheidung selbst getrost an sog. Fachleute delegieren.8 Aber was bleibt dann als Moral für uns selbst übrig? 7 Mit dieser m.E. elementaren Unterscheidung zwischen moralischen Fragen, mit denen es mir Ernst ist, einerseits und andererseits Fragen bloßer Üblichkeit, arbeitet Gernot Böhme: Ethik im Kontext. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997. 8 Dieser Einwand richtet sich natürlich nicht gegen die prinzipiell sinnvolle Einrichtung von Verfahren zur ethischen Urteilsbildung, wie sie von diversen Ethik-Instituten installiert worden sind. Vgl. dazu z.B. Katrin Platzer: Interdisziplinarität in einem gesellschaftlichen Handlungsfeld: Ethische Urteilsbildung im Kontext moderner Biotechnologie und Gentechnik. In: A.Wellensiek / H.B.Petermann (Hg.): Interdisziplinäres Lehren und Lernen in der Lehrerbildung. Perspektiven für innovative Ausbildungskonzepte. Weinheim: Beltz 2002, S.166-187. – Die Gefahren solcher Institutionen werden freilich gut sichtbar etwa in dem Problem des 2001 von der Deutschen Bundesregierung eingerichteten Nationalen Ethikrats, sich nicht als Legitimationsinstanz für die Politik missbrauchen zu lassen. 328 4-4 Was sollen wir tun? Der Rückgriff auf eine allgemeinverbindliche und auch jeden betreffende Moral jedenfalls scheint nicht mehr ohne weiteres möglich. Das gilt selbst für die Theologie. Zwar scheint, wenn man beim Beispiel gentechnischer Veränderungen bleibt, ein klares Nein angebracht: Wenn man Überschriften liest wie Dem Schöpfer ins Handwerk pfuschen? und wenn es bei der Gentechnologie wirklich um Die Zweite Schöpfung ginge, könnte man sich vielleicht darauf berufen, dass nach jüdisch-christlichem und auch islamischem Glauben der Schöpfer des Himmels und der Erde und somit auch von allem Leben Gott allein ist, dass es dem Menschen also verwehrt sei, sich als Schöpfer zu Welt und Leben zu verhalten. Aber ist das überhaupt gemeint, dass wir uns in der Gentechnologie als Schöpfer verhielten? Gerade Jude, Christ und Muslim könnten umgekehrt an den Satz erinnern: Macht euch die Erde untertan! um sie zu bebauen und zu bewahren (Gen 2,15). Wäre es dann nicht gerade unsere Aufgabe, Anthropotechniken zu entwickeln, ein vielzitiertes Wort aus dem letzten Jahr9, um unsere Verantwortung für die Zukunft wahrzunehmen, so eine weitere Überschrift, zum Segen für das Leben der Menschheit? Auch die Orientierung des Menschen an der eigenen Geschöpflichkeit sowie an seine Bindung an die Gottesebenbildlichkeit (Gen 1,28) entbindet ihn nicht von der eigenen Verantwortung. So leicht ist es also auch für den Theologen nicht, eine eindeutige Antwort auf heutige Fragen zu geben. Auf Prinzipien wie die zitierten allein sich zu berufen, hilft nur bedingt weiter. In gleicher Weise kommt es an auf biblisch eben nicht fixierte genauere Sachkenntnisse zum Thema wie auch auf den Einsatz unserer Vernunft zur Entscheidung ganz konkreter Problemstellungen in heutiger Zeit, die ebenfalls in den Dokumenten der Religionen nicht vorgegeben sind.10 Der Philosoph hat es in dieser Frage noch schwerer als der Theologe, hat er doch gar keinen festen Codex moralischer Normen oder Prinzipien vorgegeben; vielmehr versucht er grundsätzlich alles als Grundwert, Fundamentalnorm, ethisches Prinzip Veranschlagte auf seine Sinnhaftigkeit zu überprüfen, um so Hilfe dafür zu bieten, dass, warum und wie wir uns überhaupt als moralische Wesen verstehen können. Nun gehen in der öffentlichen Diskussion die Begriffe „Moral“, „Ethik“, „Werte“, 9 Gemeint sind die heftig diskutierten Einlassungen von Peter Sloterdijk: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus. Frankfurt/M: Suhrkamp 1999. 10 Diese Ansicht vertrete ich natürlich nicht ohne Wissen um die ausführlichen Diskussionen um eine autonome theologische Ethik seit den 70er-Jahren des 20. Jh.. Darauf kann im Kontext dieses Kapitels nicht ausführlicher eingegangen werden. Vgl. deshalb die Notizen in meinem Einleitungskapitel, die das vorliegende Kapitel auch transparenter in den Gesamtkontext der Arbeit einzubinden versuchen. 4-4 Was sollen wir tun? 329 „Normen“ usw. recht bunt durcheinander; - für den Philosophen ein Indiz, dass das Verständnis von Moral, Werten, Ethik problematisch geworden ist. 1.2 Was eigentlich ist „Moral“ ? Zwei Beispiele mögen diese Sprachverwirrung illustrieren, und zugleich zu einer begrifflichen Schärfung der Fragestellung überleiten: Ein Redner im Herbst 2000 meinte zu Aufgaben der Lehrerbildung: „…diese in gentechnischen Labors herangezüchteten Chimären aus Mensch und Tier, zu nichts anderem hergestellt, als eines Tages geschlachtet zu werden, um als Organbanken zu dienen …; - hier ist, meine ich, die Bildung in Schule und Hochschule gefragt, um über derart menschenverachtende Praktiken aufzuklären!“ 11 Die Stoßrichtung der Aussage ist klar: Mit einer als Schreckensszenario ausgemalten Situationsbeschreibung will der Redner warnen vor den Möglichkeiten der Gentechnik. Seine Strategie ist aber bei genauerem Hinsehen nicht das Argument, das den Hörer zur eigenverantwortlichen Einsicht bringen soll, sondern die moralische Empörung, die als rhetorischer Gestus auf den Hörer übertragen wird, damit dieser sich die gleiche ablehnende Position zu eigen mache. Ist aber jemand, der auf diesem Wege zur Moral findet, ein moralischer Mensch? Streng genommen nicht, denn, so behaupte ich, die moralische Empörung allein verhindert eher Moral als dass sie sie fördern würde. Der Grund: Eine Auseinandersetzung und damit die Möglichkeit einer auch gegen Widerstreit gewappneten persönlichen Stellungnahme hat nicht stattgefunden. Ein solcher Mensch hätte vielmehr eine bestimmte Moral lediglich übernommen, ohne ihren Wert für das eigene Leben oder das anderer reflektiert zu haben. Das zweite Beispiel: In einem Radio-Feature zum Thema Xenotransplantation, also der Verpflanzung tierischer Organe an Menschen meinte im Sommer 2000 ein Mediziner völlig überzeugt: Man habe angesichts der Proteste von Tierschützern Ethiker gefragt, die hätten keine prinzipiellen Einwände erhoben, also sei dieses Verfahren ethisch. - Man kann dieses Beispiel ohne Probleme übertragen auf 11 Es handelt sich um die persönliche Mitschrift eines öffentlich gehaltenen Referats, dessen Autor ich an dieser Stelle aus Diskretionsgründen nicht nenne, auch deshalb nicht, weil es sich hier nur um ein Beispiel für eine meiner Beobachtung nach gar nicht seltene Einlassung sog. Gebildeter zu entsprechenden Themen handelt, wobei es mir hier lediglich um die nachfolgend zu destruierende Argumentationsform geht. 330 4-4 Was sollen wir tun? unsere Debatte: Angesichts von Problemen in der Akzeptanz der Bevölkerung gegenüber gentechnisch veränderten Lebensmitteln habe man eine Kommission für Technologiefolgenabschätzung gefragt; die habe herausgefunden, es gebe keine prinzipiellen Einwände, also seien solche Lebensmittel ethisch vertretbar. In dem Eingangszitat von Mohr scheint eine ähnliche Argumentation vorzuliegen. Offensichtlich ist auch hier etwas anderes gemeint als das, was gesagt wird: „Ethisch“ wird gesetzt für „richtig“ oder „akzeptabel“. Doch dieser Fehler verrät zugleich einen Fehler im moralischen Denken: Wer so redet, erwartet als „Ethik“ Handlungsvorgaben: Dieses darf man, jenes darf man nicht! Wertentscheidungen könnten demnach delegiert werden, etwa weil es verbindlich vorgegebene Werte gebe, die von Spezialisten, also z.B. Philosophen, geklärt und von anderen Spezialisten, z.B. Pädagogen, vermittelt werden könnten. Was aber wäre dann Moral? Hat denn solch ein Mediziner, solch ein Lebensmitteltechniker selbst keine Moral, um verantwortlich sich mit dem Problem auseinander zu setzen? Hat entsprechend ein Kind, ein Jugendlicher keine eigene Moral, sondern ist er etwa moralisch nur dann, wenn er sich in gesellschaftlich oder kulturell vorgegebene Standards fügt? Was also ist Moral, und wann eigentlich geht es um eine moralisch relevante Situation? Das muss nun weiter geklärt werden, nicht als abstrakt theoretische Frage, sondern als eine, die konkret auf die grundsätzlich gestellte Frage nach ethischen Prinzipien zielt. Auf die Frage, wie ein Kind sittlich zu erziehen sei, gaben die Griechen die Antwort: wenn du es zum Bürger eines Staats von guten Gesetzen machst. Bereits vor 200 Jahren zitiert der Rechtsphilosoph Hegel diese Tradition mit einem ironischen Unterton12; die Meinung, Moral gründe sich und habe ihren Bezugspunkt im allgemein Geltenden, hatte schon damals ihre allgemeine Geltung verloren. Allerdings meinte ursprünglich „Moral“ eben dies: Der allgemein gültige Brauch, griechisch „êthos“, etymologisch gleichbedeutend mit „Sitte“, ist das stets schon gültige Herkommen des Menschen, das Ge-Wohnte, an dem er sein Handeln ausrichtet. Der lateinische Begriff „mos / moralis“, ursprünglich nichts anderes meinend13, deutet dagegen schon eine Änderung des Sinns an, wird doch damit eher 12 G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), § 153 Anm. 13 Darin liegt der Grund für die nach wie vor gebräuchliche Bezeichnungen „Moralphilosophie“ und auch „Moraltheologie“. Nach heutigem philosophischen Sprachverständnis ist es angemessener von philosophischer bzw. theologischer Ethik zu sprechen. (Vgl. meine Begriffs-Erklärungen auf den beiden nachfolgenden Seiten.) - Auch Kant hatte noch jenes alte Verständnis von „Moral“, so dass i.d.R., wenn er von „Moral“ redet, wir heute „Ethik“ lesen müssen. Wichtig ist diese Differenzierung nicht zuletzt im internationalen Verhältnis, weil etwa die französische Sprache diese Unterscheidung nicht macht, so dass die Disziplin „morale“ eben nicht „Moral“ in unserem 4-4 Was sollen wir tun? 331 das je persönliche Streben, der Mut des einzelnen bezeichnet. Die Aufklärung im 18.Jh. hat unser Handeln dann nicht mehr in einem ihm vorausliegenden, nicht mehr hinterfragbaren Guten begründet, an dem unser Handeln sich zu orientieren habe, sondern in der Autonomie jedes Einzelnen: „Es ist nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille“, so Kant.14 Das ist kein Aufruf zum Egoismus, im Gegenteil: In der Neuzeit hat der Mensch die Bindung an eine kosmische Weltordnung, an kirchliche Macht oder obrigkeitliche Gewalt verloren. Infolge der Erfahrungen willkürlicher Herrschaftsgeltung (und sie machen wir heute in veränderter Form, wenn wir uns dem Wissen wie dem Urteil sog. Spezialisten ausgesetzt sehen), bürgt solche Bindung an Autorität keine Verlässlichkeit mehr, zudem ist sie durchschaubar geworden; damit sind Räume je persönlicher Lebensgestaltung eröffnet; (zumindest in der Aufklärung, beides gilt heute nicht mehr ohne weiteres.) Auf sich selbst gestellt entdeckt der Mensch nicht nur die Möglichkeiten selbständig zu handeln, sondern erkennt, muss erkennen, dass er nur ist, was er ist, wenn er auch selbst Subjekt seines Handelns ist. Dies gilt seither als unaufgebbare Basis aller Moral: Von Moral zu reden ist sinnvoll nur im Horizont menschlicher Freiheit; genauer: Wäre nicht Freiheit der wesentliche Grund all unseres Handelns, gäbe es gar keine Moral. Das ist festzuhalten gerade auch angesichts der abgründigsten und gewalttätigsten Äußerungen von Menschen gegen Mitmenschen und Mitwelt, angesichts auch der grauenhaftesten Schrecken dieser unserer Freiheit, und auch angesichts realer Gefahren der Biotechnologie, etwa durch Präimplantationsdiagnostik sich eine neue Form der Eugenik einzuhandeln. Der Versuch, Moral aus immer schon Bestehendem abzuleiten, selbst aus einem als ewig veranschlagten Wert wie etwa Humanität, dieser Versuch muss entschieden zurückgewiesen werden: Die Delegation unserer eigenen Verantwortung an überhistorische oder menschenunabhängige Mächte oder immer schon bestehende oder vorgegebene Werte zementiert nur jene Gewalttätigkeiten. Retten kann uns vor ihnen nur, bewusster zur Eigenverantwortung zu stehen.15 Und ist es nicht auch alltäglich so? Obwohl der Rückgriff auf eine allgemeinverbindliche Moral heute anachronistisch ist, ist doch immer wieder der einzelne mit allem Ernst gefragt, ist immer wieder Situationen ausgeliefert, die zum einen so und nur so, mit aller Verbindlichkeit beantwortet werden wollen, so dass sich AlternaSinne meint, sondern „Ethik“. Zu den Konsequenzen dieser Sprachregelung im Zusammenhang des Schulfachs „Ethik“ vgl. oben Kap. 1-2. 14 So der berühmte Anfangssatz seiner „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ von 1785. 15 Diese These ist, nicht zuletzt im Kontext der vorliegenden, zwar philosophisch dimensionierten, aber als theologisch sich verstehenden Arbeit, massiv. Zur genaueren Erläuterung, die an dieser Stelle den Rahmen sprengen würde, vgl. meine Notizen in der Einleitung. 332 4-4 Was sollen wir tun? tiven definitiv ausschließen, und für die zweitens wir selbst persönlich gefragt sind, die wir also nicht an jemand anders delegieren können, Situationen also, in denen es uns ernst wird, um mit Gernot Böhme zu sprechen.16 Darum letztlich hat Kant Moral als wesentlich autonom aufgefasst. Eine anthropologische Fundierung erfährt dieses Plädoyer freilich bereits in der Antike. Auch die Nikomachische Ethik des Aristoteles ist als messerscharfe Kritik an bloß vorgestellten, vorgeordneten moralischen Normen zu verstehen. Zwar konstatiert Aristoteles unser aller Streben nach dem, was wir gut nennen können, als Grundzug aller Moral. Doch gegen seinen Lehrer Platon verabschiedet er sich von der Idee, als Endziel allen Handelns das Erreichen eines höchsten Gutes anzusehen. Vielmehr bietet gerade die Einsicht in die prinzipielle Unerreichbarkeit absoluten Gutseins die Voraussetzung, dass wir moralische Wesen sein und das Gute tun können. Das absolut Moralische wäre den Göttern oder den wilden Tieren vorbehalten: Beide kennen keine Moral. Was uns zu moralischen Wesen macht, ist das Streben selbst nach dem Guten, mithin die ganz persönliche Auseinandersetzung, vor der uns niemand retten kann, die zu spüren und zu gestalten wir aber üben können. Dies und nur dies kann aus Sicht der Philosophie ein ethisches Prinzip sein. Unüberholt hat Kant dies auf das Bild vom Menschen als krummem Holze mit aufrechtem Gang gebracht und schließt daraus: „Es scheint aber der Natur darum gar nicht zu tun gewesen zu sein, dass er [sc. der Mensch] wohl lebe; sondern dass er sich so weit hervorarbeite, um sich, durch sein Verhalten, des Lebens und des Wohlbefindens würdig zu machen.“17 Deshalb unterscheidet die Philosophie in neuerer Zeit zwischen Moral und Ethik. Moral ist der für den Einzelnen oder eine Gemeinschaft verbindlich geltende Inbegriff moralischer Normen, Werturteile, Institutionen. Ethik hingegen ist die kritische Untersuchung des Problembereichs der Moral, also davon, was es überhaupt heißt, dass wir moralische Wesen sind, und davon, wie wir dies sein können.18 Philosophie aber und ich denke auch Theologie (nicht der eigene Glaube!) betreibt Ethik und bringt keine Moral bei. Kants Frage Was soll ich tun? fragt also nicht nach konkreten Handlungsrezepten, was denn konkret zu tun sei, sondern fragt nach dem Sinn und den Gründen und der Notwendigkeit davon, dass wir uns überhaupt als moralische Wesen in der Welt verhalten. Indem so gefragt wird, wird freilich der Anspruch erhoben, Orientierung zu bieten dafür, dass wir uns auch tatsächlich als 16 So, wie oben Anm. 7 erwähnt, die zentrale These von Gernot Böhme: Ethik im Kontext. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997. 17 Immanuel Kant: Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), 6. und 3. Satz; in: Werke, ed.Weischedel, Bd.6, Frankfurt/M.: Insel 1964, S. 41 bzw. 37. 18 Erstmals konsequent hat mit dieser Unterscheidung in solcher Klarheit gearbeitet Patzig (1971), von dem ich diese definitorische (zugegebenermaßen künstliche) Unterscheidung zwischen Moral und Ethik übernehme. 4-4 Was sollen wir tun? 333 moralische Wesen verstehen, dass also all unser bewusstes Leben und Handeln in Entscheidungen zwischen gut und böse sich vollzieht.19 Daraus ergibt sich eine klare pädagogische Konsequenz, die ich in folgende These fasse: Zur Moral, gar zu der Moral lässt sich ernst genommen kein Mensch erziehen; demgegenüber ist die Erziehung in Moral oder eine Erziehung dazu, sich als moralisches Wesen ernst zu nehmen, sehr wohl ein Ziel von Bildung. Auf unsere Frage bezogen: Auch in Fragen den Gentechnologie kann es nicht darum gehen, jungen Menschen bestimmte vorgegebene moralische Prinzipien beizubringen, sondern sie in die Lage zu versetzen, in eigener moralischer Verantwortung sich mit Fragen der Ethik der Genetik auseinander zu setzen. 2 Welche Verfahren gibt es, um zu einer verantwortlichen Wertentscheidung zu gelangen ? Mit meiner letzten Überlegung ist der Weg für die oben formulierte zweite Frage freigemacht, nämlich einige Akzente für die Gestaltung von Wertentscheidungen zu setzen. Bevor ich dazu einige konkrete unterrichtliche Anregungen liefere (2.3), müssen aber zumindest kurz einige grundsätzliche Ebenen des Verständnisses von „Gestaltung“ ausgebreitet werden: 2.1 Der Ort von Wertentscheidungen im schulischen Unterricht Zunächst kurz zur unterrichtlichen Verortung der Frage: Wenn wir ernst machen mit der eben erläuterten These von einer orientierenden Erziehung in Moral, bieten weder Religions- noch Ethik-Unterricht die von nicht wenigen für schulische Bildung angemahnte (direkte) Vermittlung von Werten und Normen. Und das ist auch gut so. Denn Ethik- und Religionsunterricht leisten sehr viel mehr und wichtigeres: Nämlich eine Orientierung im Denken.20 Was meint das? 19 Zu den bildungstheoretischen Konsequenzen dieses Verständnisses von moralischer bzw. ethischer Orientierung vgl. erneut mein Kapitel 1-2. 20 Zum genaueren Verständnis dieses Begriffs s.o. Kap. 1-2, Abschnitt 4. 334 4-4 Was sollen wir tun? Wenn von Moral nur geredet werden kann auf Grundlage menschlicher Freiheit, gilt es zuallererst, uns dieser unserer Freiheit zunächst einmal bewusst zu werden, auszuloten, auch zu spüren, was es heißt, in Freiheit zu handeln, und welche Konsequenzen damit verbunden sind. Nur wer sich dessen bewusst ist, kann moralisch handeln. Auf dieser Basis können dann auch bestimmte Werte und Normen verbindlich werden und Anerkennung finden, verfallen nicht der Austauschbarkeit. Und so allein lässt sich die Grundlage dafür schaffen, sich verantwortlich mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen sowie sich auf immer neue Herausforderungen einlassen zu können. Wenn von Moral geredet werden kann nur im Horizont menschlicher Freiheit, heißt das zweitens, dass Moral, obwohl stets je persönlich zu verantworten, gleichwohl nicht eine individualistische, private Entscheidung ist, sondern sich zu formen und zu gestalten hat in Auseinandersetzung mit der Sache und im Gespräch mit anderen.21 Wie nun können auf dieser Basis Wertentscheidungsprozesse konkret im Unterricht verhandelt werden. Auch hier zwei Punkte: Einen erneut grundsätzlich zur Differenzierung der Sache (2.2), einen schließlich als Anstoß zu auseinandersetzungsdimensionierter Unterrichtsgestaltung (2.3): 2.2 Ebenen einer Wertentscheidung (a) Zunächst einmal kann ich fragen nach den unterschiedlichen Ebenen, auf denen sich eine moralische Frage stellt, auf denen ich also zu einer ethischen Diskussion kommen kann. Für unseren Zusammenhang sind, meine ich, mindestens folgende Ebenen für eine ethische Auseinandersetzung zu berücksichtigen22: 21 Auch diese beiden Gebote können sich auf Kant berufen, wenn dieser als quasi didaktische Prinzipien allen Philosophierens als erstes das Selber-Denken forderte, und dann als zweites das dialogische Denken (sich an die Stelle des anderen denken zu können). Dazu und zum dritten Prinzip vgl. die Notizen in Kap. 1-4 sowie die Gesprächsanalysen in Kap.3. 22 Die nachfolgenden Ebenen habe ich selbst erstellt in ganz pragmatischen Herausforderungen durch Seminare zur philosophischen Ethik wie auch im interdisziplinären Gespräch in den Seminaren zum Themenbereich „Natur-Mensch“, die ich gemeinsam mit den Kolleginnen aus der Biologie, Lissy Jäkel und Susanne Rohrmann, der Physik, Klaus Scheler, und der Theologie, Andreas Benk und Jörg Thierfelder in den Jahren 1999 bis 2001 an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg veranstaltet habe (Vgl. dazu unser gemeinsamer Beitrag: Die Seminare „Natur und Mensch“ – Erfahrungen aus vier Semestern Zusammenarbeit der Fächer Biologie, Physik, Philosophie und Theologie; in: A.Wellensiek / H.B. Petermann (Hg.): Interdisziplinäres Lehren und Lernen in der Lehrerbildung. Weinheim: Beltz 2002, S.201-214). - Für die grundsätzliche Frage nach Ebenen philosophischer Ethik ist zu verweisen auf einschlägige Werke aus der analytischen Ethik, vgl. besonders William K. Frankena: Analytische Ethik. München: dtv 1972 (USA 1963). 4-4 Was sollen wir tun? 335 Die Ethik der Wissenschaft: Warum sollen wir betrachten, beobachten, untersuchen, erforschen, entdecken, zu Kenntnissen kommen, Erkenntnis erlangen, wissen …? – Diese Ebene von Ethik richtet sich gegen die unkritische These vom ethisch neutralen bzw. indifferenten Naturdrang nach Erkenntnis und hat ihren Beleg in den philosophischen Überlegungen von Aristoteles über Marx bis hin zu Habermas. Die Ethik der Technik: Warum sollen wir, was wir erkannt haben, zerteilen, zusammenfügen, verändern, fortschreiben, optimieren, ausmerzen ...? – Diese Frage richtet sich gegen die ideologischen Thesen von der Einheit von Forschung und Technik, so als würde eine bestimmte wissenschaftliche Erkenntnis automatisch Formen ihrer technischen Umsetzung zeitigen, gegen die von der Vermischung von Ethos und Ethik, Ebenen die nicht selten im naturwissenschaftlichen und medizinischen Bereich verwechselt werden, so als würde ein Forscher oder Arzt, der einem bestimmten Standes-Ethos sich verpflichtet sieht, sich bereits ethisch mit seinem Handeln auseinandersetzen, sowie die von der Einschleifung von Praxis auf Technik, wie sie vor allem im politischen Bereich in den menschenverachtenden Techniken des Nationalsozialismus zur Ideologie gemacht wurde. Die Ethik des Handelns: Warum sollen wir zur Anwendung bringen, in unser Leben integrieren, was wir erkannt haben und technisch bewerkstelligen können ... ? Sie ist deswegen die zentrale ethische Ebene, weil hier wie sonst nirgends wir herausgefordert sind, uns als moralische Wesen zu begreifen und unser Tun als stets auch verantwortungsbezogenes Handeln und nicht nur als gesteuerte oder automatische Tätigkeit zu verstehen. Gefragt ist hier auch danach, worin wir unsere Moral begründen, in der Vernunft, in der Intuition, in der diskursiven Abwägung … Die Ethik der Entscheidungsfindung, die heute zunehmend wichtig wird, um es bei moralischen Herausforderungen nicht nur bei fundamentalethischen Einstellungen zu belassen, sondern nach konkreten Möglichkeiten, also vernünftigen Verfahren einer ethischen Entscheidung und Urteilsfindung zu suchen: Wie können wir das, was wir tun wollen, zu einer vernünftigen, allgemein anerkennungsfähigen und der Sache dienlichen Entscheidung bringen ? - Dabei sollte differenziert werden, wer oder was von einer ethischen Entscheidung betroffen wird: • mein persönliches Leben • das Leben der Mitmenschen / der Nächsten / der Gemeinschaft der (lebenden) Menschen / künftiger Generationen, • die Lebensbedingungen der Menschheit überhaupt, 336 4-4 Was sollen wir tun? • Leben und Welt als Totalität alles Seienden, • der mögliche (nicht immer transparente!) Zusammenhang dieser Ebenen; • ebenso sehr ist nach den möglichen Interessen zu fragen, die nach einer Entscheidung verlangen, auch die außermoralischen wie insbesondere ökonomischen Interessen. (b) Wenn es weiterhin darum geht, Bedingungen auszuloten, die uns konkret zu einer verantwortlichen Entscheidung verhelfen, macht es einen guten Sinn, zu unterscheiden zwischen grundlegenden ethischen Überlegungen und Regeln einer angewandten Ethik. Auf der grundlegenden Ebene unterscheidet die Philosophie im wesentlichen drei Richtungen der Beurteilung einer Handlung als gut: Eine Handlung ist gut aufgrund der durch sie erzielten Folgen (=teleologische Begründung, wie sie durch die Ethik des Aristoteles grundgelegt wurde, zur Geltung aber auch kommt in der sog. utilitaristischen Ethik der Abwägung im Hinblick auf die durch eine Entscheidung zu maximierenden guten Folgen. Oder eine Handlung ist gut aufgrund der ihr zugrundeliegenden Absicht, durch die diese Handlung bindende Pflicht wird (deontologische Begründung). Sie wird am besten durch Kant auf den Punkt gebracht und seine Auffassung von einem uns absolut bindenden Kategorischen Imperativ, liegt aber auch der antiken Auffassung von Sokrates zugrunde. Inwiefern religiöse Ethiken aufgrund absolut uns bindender Normen einer solchen Begründung zuzuordnen sind, muss im Einzelfall diskutiert werden. Neuerdings gewinnen zunehmend Ansätze einer diskursiven, deliberativen Ethik an Bedeutung, die zu dem, was das Gute sei, allein durch ein vernünftiges, von allen vollziehbares Verfahren glauben gelangen zu können. Vertreter wie Jürgen Habermas glauben, dass anders als so in unserem nachmetaphysischen Zeitalter, in dem Normen und Wertsysteme faktisch nicht mehr mit allgemeinverbindlicher Anerkennung rechnen können, heute moralische Fragen nicht zu klären sind. Meine These dazu: In heutiger Auseinandersetzung werden wir Entscheidungen verantwortlich wohl nur im Bedenken zugrundeliegender Wertentscheidungen, weil / Fundamentalnormen (weil sonst Moral auf Technikfolgenabschätzung reduziert wird) wie auch durch Abwägung der Folgen treffen können (weil Fundamentalnormen nur Grundbedingungen nennen, nicht aber konkrete Entscheidungen präformieren). Zugleich wird es immer schwieriger, eine Entscheidung sowohl der 4-4 Was sollen wir tun? 337 Komplexität der Sache angemessen, wie auch kritisch differenzierend, wie auch für möglichst alle nachvollziehbar zu treffen, so dass wir in wichtigen moralischen Entscheidungen notwendig auf einen vernünftigen Diskurs angewiesen sind (weil Moral wesentlich keine einsame und private, sondern uns als Gemeinschaftswesen angehende Sache ist). Die angewandte Ethik meint zunächst einmal nicht die Anwendung festgelegter oder durch Urteil gefundener Entscheidungen auf konkrete Fälle, in denen sie nun Anwendung fänden. Vielmehr geht es um die ethische Entscheidungsfindung in und angesichts konkreter, d.i. angewandter Problemfälle. Dazu gehört auch die Bioethik, und hierbei speziell die Ethik der Genetik. Hier kann die philosophische Ethik u.a. durch folgende Fragen zur Entscheidungsfindung verhelfen: Werden / wird durch eine ethische Entscheidung Dinge überschaubarer ? neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet ? die Vielfalt bestehender Ordnung ins Verhältnis gesetzt zu einer durch Entscheidungen neu gesetzten Ordnung ? weitere Entscheidungen erleichtert ? Nutzen erhöht, Schaden minimiert ? Gefahren gegen Chancen abgewogen ? unmittelbare / nicht direkt einkalkulierbare Folgen bedacht - für den Einzelnen (Betroffener / Akteur / Entscheidungsträger); - für Mitmenschen / Gesellschaft - Tiere / Welt ? Folgen für Zukunft (Erblasten) kalkuliert ? Grenzen hinsichtlich bedacht ? der wissenschaftlich-technischen Selbstkontrolle Sind die Entscheidungen für die Betroffenen / für alle einsichtig / nachvollziehbar ? Handelt es sich um Entscheidungen, die durch Mehrheit zustande kommen können, oder müssen sie durch alle getroffen werden (können) ? Diese Ebenen zu bedenken, ist für die konkrete Unterrichtsgestaltung insofern wichtig, als von daher sehr viel klarer die Zielsetzung(en) einer Unterrichtseinheit wie auch einer konkreten Unterrichtsstunde benannt werden können, vor allem aber, um die Ebene des Gesprächs und der Diskussion, die bei solchen Themen unver- 338 4-4 Was sollen wir tun? zichtbar sind, einschätzen und ggf. auch steuern zu können, um das Gespräch von der Gefahr der bloßen und insofern ohne Folgen bleibenden Meinungsäußerung zu bewahren. 2.3 Anstöße zur unterrichtlichen Gestaltung von Wertentscheidungsprozessen Ich konzentriere mich hier auf zwei Anstöße zur unterrichtlichen Gestaltung, einerseits zum Eingangsimpuls, andererseits zur Strukturierung einer Diskussion: (1) Als hervorragend geeigneter Gesprächsimpuls erweist sich zunächst das Erstellen von Dilemmageschichten aus vorliegenden Quellen. Kommen wir auf unsere Eingangszitate zurück, könnte eine solche Geschichte etwa so aussehen: Mann, ich hab’ vielleicht Hunger, meint Uli. – Hans hilft: Komm, ich geb’ Dir von meinem Schokoriegel! – Spinnst Du? Weißt Du denn nicht, dass die alle genverseucht sind? So was ess’ ich nicht, gibt Uli zurück. – Spinn Dich aus, das ist doch alles genau geprüft, was soll daran schädlich sein? – Na ja, so genau weiß ich das nicht, aber wir kaufen inzwischen nur noch ökologische Lebensmittel, da kann man wenigstens sicher sein, dass da nichts Künstliches dran ist, das dann weiß ich was verursacht… Der Vorteil einer solchen Geschichte: Sie provoziert direkt zu weiterer Auseinandersetzung, Hinterfragen der Positionen, Interesse an weiteren Informationen und vor allem: Sie ist unmittelbar nachzuempfinden, führt unproblematisch zur Identifikation mit einem der Protagonisten, nicht zuletzt weil die Positionen nicht weiter entfaltet sind und bei genauerem Hinsehen recht unmittelbar bzw. unreflektiert geäußert werden. Bewusst ist die Geschichte zudem auf einem Niveau gehalten, auf dem noch nicht klar ist, ob es sich hier überhaupt um ein moralisches Dilemma handelt. Genau dies kann aber in der folgenden Bearbeitung aufgrund der fast banalen Offenheit umso deutlicher als Problem erkannt werden. Versuchen Sie es also mit dieser Geschichte als Eingangsimpuls oder noch besser, probieren Sie es selbst aus, als Unterrichtseinstieg eine solche Dilemmageschichte zu schreiben. Dabei sollten freilich einige Kriterien beachtet werden, die eine gute Dilemmageschichte auszeichnen23: 23 Das folgende Schema habe ich in intensiverer Auseinandersetzung mit sog. Dilemmageschichten entworfen. Vgl. dazu meine genaueren Erläuterungen in: H.-Bernhard Petermann: Philosophieren als Konzept gegen Lebensresignation? in: ZDPE 1999, S.101ff., sowie meine kritischen Anmerkungen zu den in der Moralerziehung seit Oser üblichen Dilemmageschichten in Kap.3, Abschnitt 4.1. Wichtige Impulse zu dieser Struktur verdanke ich den Geschichten vom Garreth B. Matthews: 4-4 Was sollen wir tun? 339 Offenheit der Entscheidung konkreter Erfahrungsbezug weitere Meinungsäußerungen evozierend unmittelbar zur Entscheidung drängend dialogische Anlage jede Meinung in sich problematisch / aporetisch Kürze / Pointiertheit Kriterien einer DilemmaGeschichte innere Dichte sprachlich / architektonisch offenes Ende zentral für das zur Debatte stehende Thema klare Polarisierung / Konflikt Eine andere, freilich über einen Impuls schon hinausgehende, aber der Bildung von Moralität und einer eigenen Meinung förderliche, weil sie zugleich reflektierende Methode bestünde darin, ein kurzes Zitat wie etwa die eingangs oder unter 1.2. dieses Kapitel zitierten mit der Aufgabe zu verbinden, einen Brief zu formulieren, etwa mit dem Inhalt: Stell Dir vor, X hat einen Brief als Anfrage erhalten, auf den er nun die dir vorliegenden Sätze antwortet. Versuche, diesen Fragebrief zu formulieren. – oder: Du hast an X eine Frage gestellt, die er mit den vorliegenden Sätzen beantwortet. Bist Du zufrieden? Schreibe deine Antwort in einem Brief an X auf.24 (2) Für den weiteren Verlauf, also das Unterrichtsgespräch bzw. die problemorientierte Auseinandersetzung empfiehlt es sich, nicht bei konventionellen Fragestellungen stehen zu bleiben wie „Was meint ihr denn dazu?“ - Nicht nur für die erfolgversprechende Unterrichtsplanung, auch im Sinne der Vorbereitung einer gewinnbringenden ethischen Diskussion erweist es sich darum als wichtiger Baustein, auch Einstiegsfragen zu einem Thema sehr genau vorzubreiten. Es ist ein Irrtum, dass damit der Gesprächsverlauf zu stark vorherbestimmt und so der eigentPhilosophische Gespräche mit Kindern. Berlin: Freese 1989, und Ermanno Bencivenga: Spiele mit der Philosophie. Berlin: Freese 1992. 24 Auch diese Methode wird ausführlicher erläutert und an einem Beispiel dargestellt in meinem eben Anm. 23 zitierten Aufsatz in ZDPE 1999. 340 4-4 Was sollen wir tun? liche Denkprozess erstickt würde; im Gegenteil halte ich eine solche Vorbereitung nicht nur im Hinblick auf die gesteckten Ziele, sondern gerade auch um die notwendige Offenheit eines Gesprächs zu garantieren, für sinnvoll. So ist es nützlich, zunächst grundsätzlich einige Frage-Richtungen zu unterscheiden: a. das Ausloten der Situation, aus der heraus ein Text, eine Meinung entstanden sein mag; b. das Vertiefen von Alternativen und Kontroversen; c. eher handlungsorientiert dann: Was wäre zu tun, zu bewerkstelligen, damit eine durch den Text aufgestellte These zum Erfolg führt, an welche Grenzen gerate ich dabei, was bedeutet das ? Gehen wir beispielhaft, auf der Basis unserer Dilemmageschichte, einige daraufhin konkret zu stellende Aufgaben durch: Für die Zielsetzung (a) (Ausloten der Situation) könnten Sie die Schülerinnen und Schüler z.B. mit folgenden Fragen konfrontieren: Warum wird Uli nicht von einem solchen Schokoriegel essen wollen? Würdest Du es tun? Warum, warum nicht? Woher mag Hans wissen, dass gentechnisch veränderte Lebensmittel geprüft sind? Warum kann Uli sich sicherer sein bei ökologisch hergestellten Lebensmitteln? Würdest Du Dich dabei auch sicherer fühlen, warum, warum nicht? Überlege: Wie wichtig ist es für dich zu wissen, ob Lebensmittel, die du isst, mit oder ohne gentechnische Manipulationen hergestellt sind? Warum wäre das für dich wichtig oder nicht? Der Gewinn für die SchülerInnen in der Beantwortung solcher Fragen ist es, ein Bewusstsein über die Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen der Erfassung und kritischen Analyse von Lebenssituationen zu erlangen, also mehr als die bloße Wiederspiegelung bestimmter Lebenssituationen. Zudem werden sie zumindest durch die letzte Frage auf das Problem gestoßen, ob es sich hier überhaupt um eine moralische Entscheidung handelt. Das Ziel der kritischen Diagnose der (Lebens-) Umstände wird also unterlegt mit der Aufgabe, durch Differenzierung des Sehens auch Wege des Urteilens unterscheiden zu lernen und so auch Wege zur moralischen Urteilsfähigkeit zu ebnen. Die Vertiefung von Alternativen (b) kann als weiterer Schritt folgen, sei es als schriftliche Aufgabe, als Vorgabe für ein Rollenspiel oder als direkter Einstieg in ein 4-4 Was sollen wir tun? 341 Unterrichtsgespräch. Entsprechende Frage-Formulierungen sollten dann über die bloße Wiedergabe der Szenerie hinausgehen und allmählich zur Einsicht in die Kraft bzw. Schwäche von Argumenten und ihrer Durchsetzungsfähigkeit führen; z.B.: Formuliert Fragen, die ihr Hans und Uli stellen wolltet. Versucht, die Gedanken von Uli und von Hans durch ein Streitgespräch weiter zu entfalten; welche Argumente fallen Euch noch ein? Überzeugen Euch die Ansichten von Uli, die von Hans? Warum, warum nicht? Prüft die Ausdrücke, die Uli und Hans verwenden: „genverseucht“ – „schädlich“ – „ökologisch“ – „künstlich“; was ist jeweils gemeint? Erkundige Dich, was genau genetische Veränderung und Manipulation meinen. Erkundige Dich über Prüfungsmöglichkeiten oder Nachweise für Lebensmittel. Prüfe den von Uli behaupteten Zusammenhang von „ökologisch“ und „nicht künstlich“. Bewusst ist auch in diese Fragekette ein Fortgang von unmittelbarer Identifikation bzw. Betroffenheit zur Analyse der Erfahrung von Betroffenheit und dem Umgang damit eingebaut. Damit soll verdeutlicht werden, wie z.B. die Zielsetzung „Orientierungshilfe bei der Lebensgestaltung“ eingebunden werden kann in das (eher philosophische) Ziel „bewusste Lebensführung“. Darüber hinaus wird die Fähigkeit zur Argumentation, vor allem aber der dialogische bzw. diskursive Austausch von Argumenten geübt, schließlich die Einsicht vermittelt in die Kraft bzw. Begrenztheit vernünftig argumentierender Auseinandersetzung, auch im Vergleich zum Wert der Rede, bloßer Meinungsmache oder auch gefühlsmäßiger und intuitiver Zustimmung bzw. Ablehnung. Die handlungsorientierte Perspektive (c) ist sicher die interessanteste im Hinblick auf die Zielsetzung, zu einer konkreten Entscheidung zu befähigen. Entsprechend könnte dann z.B. folgende Fragereihe vorgelegt werden: Welche Gefühle hätte ich, einen solchen Schokoriegel zu essen, welche, wenn ich mich dagegen entschiede? Was kann ich tun, um sicher zu sein, dass Lebensmittel nicht gentechnisch verändert sind? 342 4-4 Was sollen wir tun? Würde ich einen als gentechnisch verändert gekennzeichneten Schokoriegel essen, wenn er auf mögliche gesundheitliche Schäden überprüft und für unbedenklich erklärt worden ist? Warum, warum nicht? Wen kann ich fragen, um mehr Gewissheit in meinen Entscheidungen zu erlangen? Inwieweit kann ich mich auf Expertenmeinungen zu gentechnisch veränderten Lebensmitteln verlassen? Ist die Beantwortung dieser Fragen von bestimmten Lebensbedingungen abhängig ? Könnte ich / habe ich mich selbst durch die Beantwortung dieser Fragen verändert ? Das Ziel solcher Fragen ist es, Handlungskompetenz aufzubauen im Umgang mit konkret uns herausfordernden Lebenssituationen. So werden eben noch nicht von vorneherein Verhältnisse bzw. Tugenden wie Gelassenheit, Entschlossenheit, maßvolles Abwägen, Einsicht, Entscheidungsfähigkeit u.a. oder gar bestimmte gesellschaftliche Werte vermittelt, sondern dies könnte in der Auseinandersetzung als strukturelle Hilfen zur Sprache kommen. - Ein so angelegter Unterricht, gleich ob er im Fach Religion, Ethik, Biologie oder Hauswirtschaft stattfindet, bliebe frei vom Verdacht der moralischen Unterweisung, würde vielmehr die moralische Antwort als (notwendige) Herausforderung artikulieren können, würde einen Horizont schaffen, Raum bieten für je persönlich zu treffende aber eben nicht vorgeprägte Entscheidungen. Kapitel 4-5 Recht und Gerechtigkeit und die Frage der Menschenrechte 1 Einleitung: Probleme im Einsatz für Menschenrechte Vielfältige Ereignisse und Debatten am Ende des 20. Jahrhunderts haben in aller Schärfe die Problematik von Begründung und Achtung der Menschenrechte vor Augen geführt. Anlässlich der 50-Jahr-Feier ihrer Allgemeinen Erklärung vom 10. Dezember 1948 war es einhellige Meinung, dass es sicher keine Epoche gegeben hat, in der zunehmend mehr Staaten auf zunehmend mehr Menschenrechte sich verpflichtet haben, bis hin zur Ausbildung konkreter Rechtsordnungen und -verfahren gegen Menschenrechtsverletzungen2, dass aber ihrer Proklamation und formalen Anerkennung die (politische) „Wirklichkeit täglich ins Gesicht schlägt“3. Auch die vielfältigen Initiativen der 70er- und 80er-Jahre für Frieden, Gerechtigkeit und Ökologie sind in den 90er-Jahren merklich zurückgegangen. Ein Grund: Im Geflecht sich diversifizierender Globalisierung sind konkrete Menschenrechtsverletzungen nicht mehr eindeutig bzw. kontextfrei auszumachen; auch die Position der Anklage kann sich nicht frei davon wissen, selbst in die Verletzung verwickelt zu sein. Wer etwa gegen versklavende Kinderarbeit in sog. Entwicklungsländern protestiert, dürfte sich auch herkömmlich hergestellten und gehandelten Kaffee nicht aufbrühen; und wer meint, Hunger und Krankheit sollten auch politisch bekämpft werden, müsste auch (eigene) Aktienfonds kritisch unter die Lupe nehmen. Moralische Empörung jedenfalls, wie sie sich etwa in zunehmender Spendenfreudigkeit Ausdruck verschafft, reicht nicht, um wirksam für die Menschenrechte einzu1 2 3 Dieses Kapitel ist eine um einige Erläuterungen und Anmerkungen erweiterte und in einigen Passagen umgestellte Fassung meines Beitrags „Moral, Recht und Gerechtigkeit – Sind Menschenrechte einklagbar?“, der in dem von Johannes Rohbeck herausgegebenen „Praxishandbuch Philosophie. Bd. Praktische Philosophie“, das 2002 im bsv-Verlag München erscheinen wird. Aus diesem Kontext einer grundsätzlichen Orientierung für die Hand von Lehrkräften erklärt sich der im ersten Teil eher lexikalische, wichtige Positionen zusammenfassende, aber nicht differenziert erläuternde Stil, für den zweiten Teil die konkret auf Unterrichtspraxis zugeschnittene Darstellung. Eine wissenschaftlich gebräuchliche und ebenso leicht und preiswert zugängliche Ausgabe der wichtigsten Menschenrechtserklärungen bietet Heidelmeyer (1996), im folgenden zitiert nach der 3. Aufl. 1982. Volkmar Deile: Die unvollendete Revolution; Leitartikel einer 4-seitigen Anzeige von „amnesty international“ v. 3.12.1998 als Beilage in großen deutschen Zeitungen, hier aus Die Zeit. 4-5 Recht und Gerechtigkeit 345 treten. Auch der 1997 vorgebrachte Vorschlag einer Proklamation von Menschenpflichten4 unterbietet die Komplexität: Ehrenwert gemeint, verwässert er die rechtlich-politische wie die begriffsanalytische Ebene, die Voraussetzung sind, deren Differenzierung Voraussetzung ist, sich sinnvoll wie erfolgversprechend für Menschenrechte einzusetzen.5 Das Engagement für Menschenrechte ist ein unübersichtliches Geschäft geworden, in dem der Zusammenhang von Religion, Moral, Politik und Ökonomie wohl bedacht sein muss. Die Klärung dieser Ebenen stellt einen wichtigen Beitrag dar nicht zuletzt im Sinne einer Pädagogik der Menschenrechte. Dass die Philosophie diese Herausforderung angenommen hat, belegen die Diskussionen anlässlich der 200-Jahr-Feier von Kants Essay „Zum ewigen Frieden“ 1995, in der eben diese Fragen thematisiert wurden6, wie auch beispielsweise Otfried Höffes emphatisches Bekenntnis zur Philosophie als „Anwalt der Menschheit“.7 1 Fachliche Grundlegung: Menschenrechte zwischen Recht und Gerechtigkeit 1.1 Problemaufriss: Menschenrechte als philosophischer Diskurs ? Die Menschenrechte tragen ein Janusgesicht, das gleichzeitig der Moral und dem Recht zugewandt ist. Ungeachtet ihres moralischen Inhalts haben sie die Form juristischer Rechte. Sie beziehen sich wie moralische Normen auf alles, ‚was Menschenantlitz trägt’, aber als juristische Normen schützen sie einzelne Personen nur insoweit, wie sie einer bestimmten Rechtsgemeinschaft angehören. Diese Einlassung von Jürgen Habermas8 bietet einen guten Rahmen, um die Horizonte einer philosophischen Einlassung auf das Thema abzustecken. Genauer 4 5 6 7 8 Das vom „InterAction Council“ (einer Vereinigung ehemaliger Regierungschefs mit dem ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt als Ehrenvorsitzenden und Mitinitiator) herausgegebene Dokument wurde in Deutschland veröffentlicht in: Die Zeit v. 3.10.1997. In der „Zeit“ wurde im Anschluss auch eine heftige Debatte zum Wert dieser Erklärung geführt. In der erwähnten Debatte in der „Zeit“ hat darauf unter Berufung auf Kant am klarsten der deutsche Generalsekretär von „amnesty international“ Volkmar Deile hingewiesen: Rechte bedingungslos verteidigen; in: Die Zeit 21.11.1997. Vgl. Höffe (1995), Merkel (1996), Lutz-Bachmann (1996), Gosepath/Lohmann (1998), aber auch die Debatten in Die Zeit und Frankfurter Rundschau von 1996. Höffe (1999), S.34. - Weniger emphatisch, aber mindestens ebenso engagiert spricht etwa Jürgen Habermas der Philosophie aufklärenden Einfluss in der Deutung der Menschenrechte zu: Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt 1999, S. 319, 332f. Jürgen Habermas. Der intellektuelle Diskurs über Menschenrechte; in: Brunkhorst (1999), S. 216. 346 4-5 Recht und Gerechtigkeit geht es darum, die bereits in der Einleitung angesprochenen Ebenen von Moral, Recht, Natur, Gesetz, Politik, Ökonomie und Gerechtigkeit, die in den Menschenrechten zusammenkommen, in ein klärendes Verhältnis zu setzen: • Der Moral zugewandt sind Menschenrechte, insofern wir in ihnen als Personen, d.h. fähig zu autonomen Entscheidungen hinsichtlich unserer Lebensgestaltung angesprochen sind.9 In diesem Sinne sind Verhältnisse von Moral Voraussetzung für Rechtsverhältnisse: Rechte haben können nur Personen. Und in den Menschenrechten geht es nicht um irgendwelche Rechte, sondern um eben die, die uns in unserem Personsein betreffen. • Der moralische Charakter der Menschenrechte impliziert noch etwas anderes: Es handelt sich um Ansprüche, die wir einander natürlicherweise zubilligen, ohne dass wir dies (wie bei Rechten im engeren Sinne) explizit miteinander vereinbart hätten, und auch intuitiv, ohne dass wir über ihren Sinn und ihre Gründe nachgedacht hätten. Daher ruft die Verletzung eines Menschenrechts in uns zuallererst ein moralisches Gefühl hervor. In diesem Gefühl haben wir den tieferen Grund, uns gegen die Verletzung eines Menschenrechts bzw. für seine Erhaltung auch einzusetzen, fühlen wir uns doch in der Verletzung gleichsam selbst verletzt. Die Traditionen des Naturrechts sehen daher im moralischen Charakter der Menschenrechte ihre eigentliche Begründung. • Menschenrechte ist aber zugleich Rechte. Das meint auf einer ersten Ebene, dass wir sie nicht nur für uns selbst beanspruchen, sondern allen Menschen zubilligen; ihr moralischer Anspruch der Wahrung der Person gewinnt aufgrund unserer Beziehung zu anderen rechtlichen Charakter. • Wenn wir aber über das unmittelbare Geltendmachen von Ansprüchen hinaus Menschenrechte als Rechte10 auch fixieren, so deswegen, weil wir über das moralische Betroffensein hinaus juridische Rahmenbedingungen für notwendig erachten, die die Einhaltung der Menschenrechte überwachen und Möglichkeiten und Mittel bereithalten, gegen ihre Verletzung einzuschreiten. Die Tradition des positiven, d.i. gesetzlich fixierten Rechts sieht im Unterschied zum Naturrecht hierin die einzige Möglichkeit einer allgemeingültigen Wahrung der Menschenrechte. 9 10 Zu dem hier unterstellten Begriff von Moral vgl. Kant: Grundlegung der Metaphysik der Sitten, sowie meine Erläuterungen im folgenden Kapitel 4-3-2, Abschnitt 1.2. Hinsichtlich der Begriffe „Anspruch“ und „Recht“ ist festzuhalten, dass ich mich hier nach der in der philosophischen Diskussion üblichen Begrifflichkeit richte, wonach Menschen grundlegend Ansprüche haben und geltend machen können, die dann als Rechte bezeichnet werden, wenn sie legalistisch fixiert und damit einklagbar sind. Juristen benutzen beide Ausdrücke in genau umgekehrter Bedeutung: Ansprüche sind konkret einklagbar gegen einen anderen oder gegen Institutionen, Rechte sind sehr viel weitere Bestimmungen, die mir als grundsätzlich Rechtsperson zukommen. 4-5 Recht und Gerechtigkeit 347 • Über die rechtliche Fixierung hinaus bedarf es jedoch auch realer politischer Verhältnisse, d.h. einer Rechtsgemeinschaft, die die verfassungsmäßig verankerten Menschenrechte nicht nur anerkennt, sondern auch eine politische Kultur besitzt, Menschenrechte konkret durchzusetzen. • Die Ebene der Gerechtigkeit kommt in einer ersten Bedeutung, nämlich als sozialpolitische Gerechtigkeit ins Spiel, wenn angesichts differenter sozialer Verhältnisse, heute durch ökonomische Globalisierung verstärkt, bestimmte Ansprüche, wie etwa auf Gesundheit, nicht in gleichem Maße für alle Menschen geltend gemacht werden können oder gar nur auf Kosten anderer. • Gleichwohl ist (dies ist über das Habermas-Zitat hinaus zu behaupten) weder mit einer rechtlichen Absicherung, noch durch eine politische Kultur noch durch ein gerechtes ökonomisches Gefüge letztlich dem Genüge getan, geschweige denn das hergestellt (und nicht nur gewährleistet), wonach alle in der Berufung auf Menschenrechte streben: die Anerkennung unseres Menschseins unabhängig davon, dass wir miteinander in moralischen, rechtlichen und ökonomischen Beziehungen stehen. In den Menschenrechten kommt insofern stets ein immer auch rechtstranszendenter Anspruch auf letzte Gerechtigkeit zum Ausdruck. Das Problem der Menschenrechte ist mithin nicht nur die fehlende Anerkennung und Durchsetzung in der politisch-ökonomischen Wirklichkeit, sondern auch die Frage, in welchem Sinne bzw. inwieweit es sich hier überhaupt um Recht handelt. Damit provoziert die Frage der Menschenrechte wie vielleicht kein anderes politisches Problem die Grundfrage allen Rechts, woraus nämlich einerseits alles Recht seine letzte Legitimation erhält, und warum wir andererseits zur Einhaltung eines elementaren Gerechtigkeitsanspruchs einer verlässlichen und einklagbaren Rechtsordnung bedürfen. Auf diese Frage konzentrieren sich die folgenden Ausführungen. 1.2 Zur Geschichte der Menschenrechte Die Menschenrechte würden die skizzierten Probleme nicht aufwerfen, würden mit ihnen nicht höhere als bloß rechtlich einklagbare „Rechte“ reklamiert, die jeder Mensch für sich sollte beanspruchen können ausschließlich aufgrund seines Menschseins und nicht aufgrund seines Status als Rechtsperson. Das weiß bereits die Déclaration des französischen Volkes vom 27.8.1789, wenn sie nicht nur eine Reihe grundlegender Rechte erklärt, sondern auch natürliche, unveräußerliche Menschenrechte, die in der Geschichte immer wieder missachtet und vergessen wurden, quasi wieder-erkennt. Menschenrechte müssen insofern schon immer gegolten haben. 348 4-5 Recht und Gerechtigkeit Das gilt nicht zuletzt für religiöse Zusammenhänge. So können beispielsweise in den Predigten der Propheten des sog. Alten Testaments durchweg Argumentationen auf der Basis heutigen Menschenrechtsverständnisses ausgemacht werden. Sie klagen gegen die jeweils Herrschenden sozial gerechte Verhältnisse ein unter Berufung auf eine letzte göttliche Gerechtigkeit, an der alle politischen Rechtserklärungen sich messen lassen müssen.11 Doch explizit Gegenstand politischer Verlautbarungen sind Menschenrechte erst mit der Neuzeit. Üblicherweise wird als erste Urkunde die von Virginia vom 12. Juni 1776 genannt. Ohne Einschränkungen, für alle und gleichermaßen bloß hinsichtlich des Menschseins (nicht hinsichtlich des Status als Bürger o.ä.) und daher unveräußerlich, mithin unabhängig auch von kriegerischen Verhältnissen oder der Aberkennung von Bürgerrechten, halten die Volksvertreter für alle Menschen von Natur aus … gewisse angeborene Rechte fest.12 - Damit ist historisch ein wichtiger Schritt getan, durch den - unter dem philosophischen Einfluss von Lockes „Second Treatise of Government“ von 1690 - eine ursprüngliche Menschenwürde nicht nur als Grundstein der Verfassung festgeschrieben wird, sondern auch einklagbar wird. Wenn gleichwohl auch in den Vereinigten Staaten elementare politische Freiheitsrechte erst Jahrzehnte später juristisch Wirklichkeit wurden (faktisch noch immer nicht), dann wohl deswegen, weil weder das zitierte Dokument noch die entsprechenden Verlautbarungen im revolutionären Frankreich die Erklärung der Menschenrechte selbst zum Ziel hatten; diese dienten vielmehr als argumentative Basis für die Emanzipation von der Kolonialmacht bzw. von den traditionellen Herrschaftsstrukturen Krone, Adel, Kirche. Damit war gleichwohl eine Bewegung in Gang gesetzt, die unter der Fahne von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als Demokratisierungsprozess mehr und mehr das gesamte Abendland mitgerissen hat. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 schließlich gilt als Versuch, auf die Zerstörung dieser Bewegung durch die Schrecken der beiden Weltkriege, insbesondere den Holocaust, eine auch völkerrechtlich wegweisende Antwort zu finden: Menschenrechte werden nunmehr nicht nur aufgelistet und bestätigt, sondern die Mitgliedstaaten verpflichten 11 12 Das gilt insbesondere für die vielzitierten Passagen des Propheten Amos, etwa 2,6ff oder 5,7ff, aber auch für entsprechende Passagen in den Büchern Leviticus (z.B. Kap. 25) oder Deuteronomium (Kap. 15). Alle diese und ähnliche Einlassungen berufen sich auf die Tora als göttlicher Weisung, die im Dekalog ihren Kernbestand zusammenfasst, wobei alle sog. Gebote von der Grundeinsicht abhängen, die den Gerechtigkeitsmaßstab für alle Rechtsverhältnisse liefert: „Ich bin JHWH, dein Gott, der dich aus dem Sklavenhause herausgeführt hat.“ (Dtn 5,6). – Zum theologischen Verständnis der Menschenrechte vgl. insbesondere H.E.Tödt: Menschenrechte – Grundrechte. In: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft. Teilbd. 27, Freiburg: Herder 1982, S.9-57, hier S. 46ff. Heidelmeyer (1982), S. 56. 4-5 Recht und Gerechtigkeit 349 sich, „die allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten durchzusetzen“. Damit geht die UNO über die bloße moralische Selbstverpflichtung hinaus und realisiert, dass moralisch allein sich Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht verhindern lassen; andererseits bindet die Erklärung die ihr beigetretenen Staaten, gerade in Anerkennung der faktischen Nichteinhaltung von Menschenrechten bloß als „zu erreichendes Ideal“, auch politisch, ihrerseits konkrete Rechtsordnungen zu schaffen, die zunehmend die von ihnen global anerkannten Menschenrechte auch als einklagbare Grundrechte formulieren und somit dem moralischen Anspruch aller nach Gerechtigkeit nachkommen. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland hat im Art.1 eine für solche konkrete Rechtsordnungen wegweisende vierstufige Formel gefunden, indem die in ihm festgehaltenen und jede Rechtsprechung bindenden und einklagbaren Grundrechte ihrerseits gekoppelt werden an Menschenrechte, die wiederum einer rechtlich nicht fixierbaren Menschenwürde sich verdanken.13 Die weitere Geschichte lässt sich eher an einigen Fragen und Kontroversen ablesen, die in den unterschiedlichen völkerrechtlichen Pakten, den vielfältigen Diskussionen und den einschlägigen Veröffentlichungen der letzten Jahre ihren Niederschlag gefunden haben14: Müssen und können die einzelnen Länder alle Menschenrechte in ihre Verfassungen aufnehmen (auch in Deutschland ist das nicht der Fall!)? Ist eher den persönlichen und politischen oder eher den sozialen und kulturellen Grundrechten der Vorrang zu geben? Und wie steht es überhaupt um die Zuordnung und Nomenklatur der einzelnen Menschenrechtsgruppen: elementare Lebens-, negative Abwehr-, persönliche Freiheits-, politische Teilnahme- bzw. Gestaltungs-, soziale und kulturelle Teilhabe- bzw. 13 14 Von der Systematik dieses mit Recht gerühmten Art.I des GG her lässt sich die gesamte Thematik und Problematik des vorliegenden Kapitels aufrollen. In unvergleichlich klarer und klärender, konkrete Rechtsentscheidungen bindender zugleich aber sie auch erst eröffnender, weil nicht konkretistisch fixierender Weise sind die elementaren Rechtsbegriffe in Hierarchie gebracht. Der Klarheit halber setze ich nachfolgend diese tragenden Begriffe wie ihre syntaktischen Funktionen kursiv: „ (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. - (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletztlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. - (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden [hier ist in der Logik eigentlich ein (4) zu setzen:] Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“ Sie können im begrenzten Rahmen des vorliegenden Beitrags nur aufgelistet, nicht differenziert erläutert werden; die im Anhang angegebene Literatur, insbesondere Brunkhorst (1999), Gosepath (1998), Höffe (1999), Shute (1996) enthält dazu die wichtigsten Informationen und vielfältige Literaturangaben. 350 4-5 Recht und Gerechtigkeit Leistungs- , kollektive und ökologische Rechte?15 Und in welchem Verhältnis stehen zueinander konkrete Menschenrechte und das Eine grundlegende Menschen-„Recht“ des Menschseins? Verdankt sich die Forderung nach Universalität der Menschenrechte einem einseitig westlichen Menschenbild oder ist sie generalisierbar? Sind politische Rahmenbedingungen wie das Demokratie-Prinzip Voraussetzung für Menschenrechte oder (nur) sinnvolle Institutionen ihrer Garantie? Hängt die Anerkennung von Menschenrechten vorrangig an ihrer rechtlichen Durchsetzung oder an ihrer moralischen Vergewisserung? Und: Ist die Rede von Menschenrechten sinnvoll allein in einem rechtlichpolitischen Rahmen, oder setzt sie tieferliegende anthropologische Einsichten voraus, vielleicht gar rechtstranszendente religiöse Glaubenssätze? 1.3 Ein Begriff der Menschenrechte Als Zwischenergebnis und zugleich Arbeitsgrundlage für eine differenziertere Erörterung von Begründung, Tragweite und Achtung sowie Erhaltung der Menschenrechte kann nun zumindest hypothetisch festgehalten werden, worum es sich bei Menschenrechten eigentlich handelt: (1) Zunächst einmal sind es Rechte, die für Menschen gelten. Das beinhaltet dreierlei: Erstens geht es um elementare Rechte, d.h. Rechte, durch deren Verletzung ein Mensch in seinem Menschsein (und nicht in seinem Status als Bürger, Familienmitglied, oder arbeitender Mensch) verletzt wird, durch das er also mit den Grundlagen seiner Existenz konfrontiert wird. Kant spricht in diesem Zusammenhang von einem einzigen „ursprünglichen“ „angeborenen“ Recht.16 – Der zuweilen gegen dieses anthropologische Verständnis sowie eine entsprechende Begründung der Menschenrechte vorgebrachte Vorwurf des Speziezismus geht ersichtlich an dieser Bedingung vorbei. Daher kommen in ihnen apriorische, von der Ausformulierung konkreter Rechte und Rechtsordnungen unabhängige „Rechte“ zur Geltung. Sie aber kommen jedem 15 16 Am einleuchtendsten differenziert hier Brieskorn (1997), S. 17f. Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten (1797), A 45. 4-5 Recht und Gerechtigkeit 351 Menschen zu auch unabhängig von seiner Einbindung in einen politisch-rechtlichen Verband. Doch fundamentalen und begründenden Charakter gewinnen diese drittens als Basis für alle konkreten Rechtsverordnungen. (2) Bei Menschenrechten handelt es sich nicht um Definitionen oder Wesensmerkmale von Menschsein, sondern um Rechte. Auch dies bedeutet dreierlei: Erstens ist von Rechten grundsätzlich nur die Rede in einem relationalen Verhältnis, hier von Menschen gegenüber Menschen. Das meint auch Kant, wenn jene ursprüngliche Freiheit „mit jedes anderen Freiheit“ zusammen soll bestehen können.17 Daraus ergibt sich, dass es sich, zumindest bei den ausformulierten Menschenrechten, um gesetzte Normen handelt, nicht um naturwüchsige. Drittens folgt aus beidem, dass es um prinzipiell nicht nur beanspruchbare, sondern auch einklagbare Rechte gehen muss. (3) Die zuletzt genannten rechtlichen Merkmale scheinen den ersten anthropologischen zu widersprechen. Das kann eine dritte Überlegung ausgleichen: Bei Menschenrechten geht es um Rechte hinsichtlich menschlicher Angelegenheiten. Damit ist viel gesagt, vor allem hinsichtlich dessen, was wir von ihrer Achtung erwarten dürfen: Wenn es sich um Rechte handelt, deren Einhaltung nicht beansprucht, Menschsein zu stiften oder zu gewähren, sondern nur zu wahren und innerhalb von Menschen gestifteten Ordnungen zu garantieren, gewinnt in ihnen ein ursprüngliches, möglicherweise vorrechtliches Menschen-„Recht“ als rechtlich-gesetzter Anspruch bloß Gestalt, kann aber mit konkreten Menschenrechten nicht identifiziert werden. Ihren Grund hat diese Einschränkung historisch: Bei Menschenrechten im engeren und hier favorisierten Sinn handelt es sich um eine Gestalt der Moderne, die versucht, für alle Menschen unabhängig von ihrem Status, unabhängig von ihrer kulturellen Einbettung, aber auch unabhängig von ihrer weltanschaulichen Begründung Rechte festzumachen, die für alles menschliche Verhalten untereinander konstitutiv sind. Ein religiöser oder metaphysischer Sinn von Menschenrechten als Begründung von Menschsein wird damit nicht abgelehnt, wird aber in dem Problem der Geltung und Achtung der Menschenrechte nicht direkt berührt. 17 Ebd. 352 4-5 Recht und Gerechtigkeit Damit ist drittens gemeint, dass ihre Achtung nicht in einem Naturautomatismus passiert, sondern unser menschliches Handeln beansprucht: Wir sind verantwortlich, durch moralische Normen, vor allem aber politische und rechtliche Ordnungen ihre Achtung auch zu vollziehen. Wir selbst sind es aber auch, die aufgerufen sind, uns in einen Diskurs zu ihrer verallgemeinerbaren Begründung und Anerkennung einzulassen. Die Rede von Menschenrechten beinhaltet mithin eine dreistellige Relation: Einerseits geht es in ihnen nur um solche Belange von Menschsein, die auch rechtliche Relevanz gewinnen können, so dass die Beurteilung, ob ein Menschenrecht verletzt ist bzw. wie es eingeklagt werden kann, allein vom Rechtsstatus eines entsprechenden Falls her erfolgen kann. Andererseits hat die Legitimität eines Menschenrechts ihr letztes normatives Kriterium nicht in sich selbst, sondern im Menschsein, so dass ein Menschenrecht stets über seinen Status als Recht hinausweist; dies darf und muss als eher moralische Ebene in seiner Beanspruchung mit bedacht werden. Eine dritte fundamentale Tatsache ist es, dass bei Menschenrechten stets von Menschen verursachte und daher auch zu verantwortende Relationen zwischen Menschen zur Debatte stehen, nicht also das für Menschen selbst nicht mehr disponible Menschsein selbst. Die Bezeichnung jener Relationen als Rechte verdankt ihre Berechtigung gleichwohl einem Gerechtigkeitsanspruch, der in allen Rechten Gestalt gewinnt, aber daher gegen alles positive Recht stets auch „ein höheres Recht“ beansprucht.18 1.4 Recht und Gerechtigkeit Durch unseren Versuch einer hypothetischen Definition der Menschenrechte ist auch deutlicher geworden, warum mit der Frage der Menschenrechte auch die grundlegende Frage nach dem, was überhaupt Recht ist, zur Debatte steht, genauer die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit. Das gilt es in einem letzten Abschnitt genauer zu beleuchten. Auffallend ist, dass die rechtstheoretischen Diskussionen sich genau um die Bestimmung dieses Verhältnisses bewegen. Drei idealtypische Positionen haben in der Geschichte des Rechts Einfluss gewonnen: Positives Recht ist der unmittelbare Ausfluss einer dem Recht übergeordneten, aber rechtstranszendenten Gerechtigkeit. (An ihr hat jedes Recht daher ihr letztes normatives Kriterium.) 18 Vgl. G.W.F.Hegel (1821): Grundlinien der Philosophie des Rechts § 30. 4-5 Recht und Gerechtigkeit 353 Gerechtigkeit ist nichts anderes als der durch positives Recht herstellbare (bzw. nach Ansicht einiger auch hergestellte) Rechtszustand. Die Sphäre der Gerechtigkeit ist eine gegenüber der des Rechts indifferente, so dass a) entweder Gerechtigkeit durch positives Recht nie herstellbar ist, aber gleichwohl sein Kriterium an ihr haben kann oder b) Gerechtigkeitsanforderungen Geltung und Inhalt des positiven Rechts nicht berühren. Natürlich kommt es auch zu Interferenzen; so sind durchaus Berührungen zwischen 1) und 3a) möglich wie auch zwischen 2) und 3b). Wichtiger als eine typologische Einordnung einzelner Positionen ist es jedoch, ihre Aussagekraft wie ihre Gefahren auszuloten und auf die Bedeutung für die Menschenrechte hin zu überprüfen, was an den wichtigsten Stationen der Rechtsgeschichte19 studierbar ist: • Bereits in der urgriechischen Mythologie stehen sich keineswegs Themis als göttliche Satzung und Dike als menschliches Rechts schlicht entgegen. Themis ist vielmehr die gesamte dem Verlauf von menschlichem Händel und Geschehen wesentlich entzogene ursprüngliche und darum als göttlich empfundene Lebensordnung: Als Prinzip allen Lebens ist sie jedoch zugleich die Ordnung, die in den Wachstumskräften und gesetzmäßigen Abläufen lebendiger Wirklichkeit wiederzuerkennen ist. Eine dieser in Themis eingebundenen realen Ordnungen ist Dike, die die konkrete Gestaltung des Rechtslebens durch den an der Gerechtigkeit orientierten Rechtsspruch sichert. Diesem rechtstheoretischen Grundmuster folgen die meisten antiken wie auch mittelalterlichen philosophischen wie religiösen Rechtsanschauungen, die menschliche Rechtsordnungen bis hin zu politischen Ordnungsstrukturen an ein kosmisches oder göttliches Rechtsideal binden. Obwohl Menschenrechten vergleichbare Rechtsbestimmungen in ihnen durchaus zu finden sind, ist hier nicht ausdrücklich von Rechten von Menschen die Rede, denn der Gedanke eines Rechts eines Einzelnen gegenüber Institutionen aufgrund seiner selbstverständlichen Einbindung in die Gemeinschaft ist noch nicht ausgebildet. Wenn Einzelne oder Gruppen oder auch politische Institutionen Menschen gegenüber ungerecht sind, wird dies als Verstoß gegen höhere Ordnungen interpretiert, nicht als Verstoß gegen Rechte einzelner Menschen ihnen gegenüber. Der Bruch dieses Denkens war unvermeidbar, als in den neuzeitlichen Konfessionskriegen die Bindung an göttliches Recht zu konkurrierenden Auslegungen 19 Vgl. dazu die umfangreichen, aber präzis und differenziert orientierenden Artikel „Recht, Gerechtigkeit“ von F.Loos/H.L.Schreiber in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 231311, „Gerechtigkeit“ von R.Hauser/F.Loos/H.L.Schreiber/H.Wenzel in: Hist.WB d. Philosophie, Bd. 3, Basel 1974, Sp. 329-338, und „Recht“ von M.Herberger in: ebd., Bd. 8, 1992, Sp. 221-229. 354 4-5 Recht und Gerechtigkeit führte. Dagegen half nur die Idee, die Konstituierung von Recht wie auch das Kriterium seiner Gerechtigkeit an die vertragliche Übereinkunft der beteiligten Rechtsgenossen zu binden. Naturrechtlicher Status kam eben dieser Übereinkunft zu. Das neuzeitliche Naturrecht verankert das unveräußerliche Menschsein des Menschen daher nicht mehr in einer dem Menschen entzogenen kosmischen oder göttlichen Ordnung, sondern in einer menschlicher Macht und Selbstbestimmung überantworteten Vernunft – so, bei allen Unterschieden, die Konstruktionen von Hobbes über Locke bis zu Rousseau. Daher werden auch die Menschenrechte erst mit dem Subjektivitätsdenken der Neuzeit expliziter Gegenstand politischer Vereinbarungen. • Wie aber war nun, entkoppelt von einer metaphysischen Fundierung auch eine allgemeinverbindliche Begründung von Menschenrechten möglich? Die entscheidende Überlegung dazu stammt von Kant, der „die Idee der Würde eines vernünftigen Wesens“ wie auch das daraus sich ergebende einzige „jedem Menschen [nur] kraft seiner Menschheit zustehende Recht“ nicht mehr als inhaltliches, sondern (nur) formales Prinzip aller Rechtsordnung versteht20, woraus dann erst sich konkrete Menschenrechte ergeben, die mit dieser formalen Grundlegung ihrerseits höchstmögliche Allgemeinheit und Universalität beanspruchen können. • Die Schwachstelle eines solchen formalen Rechtsprinzips hat vielleicht am besten Marx artikuliert, in der Gefahr, jene grundlegende Freiheit des Menschen als lediglich negativ-absondernde Unabhängigkeit von anderen zu verstehen. Das aber ließe „jeden Menschen im andern Menschen nicht die Verwirklichung, sondern vielmehr [nur] die Schranke seiner Freiheit finden.“21 Diesen Gedanken des Einbaus von Allgemeinheit als Sozialprinzip in die Idee der Freiheit des Menschen hat Marx Hegel zu verdanken, der seinerseits den bloß gemeinschaftlichen Charakter einer Rechtsordnung an dem abstrakten Freiheitsbegriff Rousseaus kritisiert hatte, freilich um den Preis einer erneuten (metaphysischen) Einbindung jeder Rechtsordnung in „höheres Recht“.22 • Der Rechtspositivismus, der in der Nachfolge der Historischen Rechtsschule des 19.Jh. das Rechtsdenken im 20.Jh. bestimmt hat, tendiert hingegen dazu, den Standpunkt absoluter und Recht letztlich normierender Gerechtigkeit als „irrationales“, ja den Rechtsstatus von Rechtsverhältnissen gefährdendes Ideal abzuweisen (Kelsen). Die positivistische Gewährleistung von Rechtssicherheit kann freilich, so auch der 20 21 22 Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), A 77, und: Metaphysik der Sitten (1797), A45. Karl Marx: Zur Judenfrage (1843); MEW Bd. 3, S. 64f. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), §258, § 30. 4-5 Recht und Gerechtigkeit 355 späte Radbruch, zu Konflikten mit elementaren Gerechtigkeitsforderungen führen, die gegen ungerechte politische Regimes geltend gemacht werden müssen. • Die Kontroverse um die Grundlegung der Rechtsordnung und ihrer Bindung an allgemeingültige menschenrechtliche Normen entweder in einem liberal-personalen oder in einem kommunikativ-sozialen Freiheitsprinzip reicht bis in die Gegenwart hinein. Die jüngere Debatte etwa zwischen Liberalen wie Rawls und Kommunitariern wie MacIntyre, Taylor und Walzer23 hat deutlich gemacht, dass die Grundlegung einer Rechtsordnung und ihrer Bindung an allgemeingültige menschenrechtliche Normen in einem liberal-personalen oder in einem kommunikativ-sozialen Freiheitsprinzip nicht als ausschließender Gegensatz gesehen werden kann. Vielmehr stehen liberale, soziale und auch kollektive Ansprüche in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis, das je aktuell auszuloten ist. • Auch ein utilitaristisch verkürztes Gerechtigkeitsverständnis äußerlicher Verteilung vermag Menschenrechte nicht zu sichern. Das hat etwa Rawls bewogen, ein Gerechtigkeitsprinzip zu etablieren, das auch den Ausgleich unverschuldeter Ungleichheiten beinhaltet, freilich auf der Grundlage eines liberal-individualistischen Denkens.24 Gegen die Gefahren liberalistischer Willkür und Ungerechtigkeit klagt Habermas darum politische Rahmenbedingungen ein, die letztlich allein das Recht als gerecht sichern können25, während Tugendhat ein Kriterium für ein gerechtes Recht eher im System der Moral sucht26. Systemtheoretische analytische Rechtstheorien wiederum tendieren dazu, eine Gerechtigkeit als Kriterium gegenüber Recht als bloß malerischen, aber nicht logischen und daher irrelevanten Begründungsversuch für Recht abzuweisen (Luhmann).27 • Wenn Luhmann gleichwohl Menschenrechten die Funktion zuspricht, Zukunft offen zu halten, bricht auch in diesem vielleicht modernsten Versuch einer nichtmetaphysischen, sondern Wirklichkeit nurmehr präzise sowie verlässlich beschreibenden Rechtstheorie das alte Problem des Gegensatzes zwischen Recht und höherer Gerechtigkeit durch, das auf die geschichtsphilosophische Dimension allen Rechtsdenkens verweist: Wenn dem Menschen in seinem Menschsein letztlich Gerechtigkeit widerfahren soll, scheint der Gedanke einer rechtstranszendenten Gerechtigkeit 23 24 25 26 27 Vgl. dazu vor allem die Anthologie einschlägiger Aufsätze Honneth (1995), sowie die Einführungen von Reese-Schäfer (1995) und Zahlmeister (1992). John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971), Frankfurt 1975; sowie: John Rawls: Die Idee des politischen Liberalismus, Frankfurt 1992. Vgl. vor allem Jürgen Habermas: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt 1996; sowie: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt 1994. Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik, Frankfurt 1993, 13.Vorlesung. Niklas Luhmann: Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt 1993, S. 116. 356 4-5 Recht und Gerechtigkeit nicht verabschiedet. Benjamin sah sie in der Tradition jüdischer Geschichtsphilosophie als die alle Rechtsetzung als Akt von Gewalt entlarvende, ihren Gewaltcharakter letztlich vernichtende, doch ihren Gerechtigkeitsanspruch erlösende und damit Recht nicht mehr setzende, sondern Gerechtigkeit waltende göttliche Gerechtigkeit.28 - Die in allen Verfassungen oder völkerrechtlichen Pakten sinnvollerweise stets nur benannte, nie aber definierte Menschenwürde, die selber kein Recht ist, aber Grundlage und Voraussetzung aller konkreten Menschenrechte, findet in dieser Denkfigur eine zumindest einleuchtend sinnstiftende Begründung.29 28 29 Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt (1921), in: GS II/1, Frankfurt 1977, S. 179ff, bes. S. 198f. Auf den theologischen Bezug dieses Satzes kann im vorliegenden Rahmen nicht näher eingegangen werden. Es liegt auf der Hand, dass an dieser Stelle die biblische Rede von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen (Gen 1,27, indirekt aber auch Gen 2,7) entfaltet werden müsste. Das würde deutlich machen, dass nicht nur letzte Gerechtigkeit, sondern auch Menschsein selbst nicht in der Disposition menschlichen Handelns stehen. Daraus folgt wiederum, darauf sei hier jedenfalls kurz verwiesen, dass die Menschenwürde natürlich nicht als Eigenschaft des Menschen zu verstehen, sondern als kategoriale Wesensbestimmung. Das macht auf philosophischer Ebene bereits Kant in seiner „Grundlegung“ (Kant (1785), A 77) mit wenigen Worten klar: An die Stelle der Würde kann nichts anderes gesetzt werden, sie verstattet kein Äquivalent, ist daher nicht relativ und kann auch nie zur Disposition stehen. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir nicht in unserer Würde auch verletzt werden könnten. Eben diese Unterscheidung zwischen (möglicher) Verletzung und (nicht möglicher) Vernichtung menschlicher Würde wird, nebenbei bemerkt, in neueren Debatten insbesondere bioethischer Provenienz, nicht selten zum Nachteil für die Diskussion übersehen. 4-5 Recht und Gerechtigkeit 2 Unterrichtspraktischer Teil: Unser tägliches Brot gib uns heute. Zum Problem der rechtlichen Einlösung fundamentaler Lebensansprüche 2.0 Begründung und Zielsetzung 357 Im folgenden wird bewusst ein eher strittiges Beispiel als Thema zur Erläuterung der Möglichkeiten einer unterrichtlicher Umsetzung gewählt. Damit sollen Folter, willkürlicher Entzug elementarer juristischer Ansprüche oder Verfolgung nicht herabgesetzt werden. Die Auseinandersetzung mit solchen Menschenrechtsverletzungen setzt aber ihren Unrechtscharakter wie entsprechende Rechtsansprüche schon voraus und zielt somit eher auf politische Aufklärung bzw. Übernahme politischer Verantwortung. Philosophisch interessanter, weil auch die rechtlichen Grundlagen problematisierend, wäre die Frage der Anwendung ungerechter, sprich gewalttätiger Mittel zur Erreichung eines in sich gerechten Zwecks, etwa bei der Frage des militärischen Eingreifens gegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Bürgerkriegssituationen. Doch auch hier steht nicht die evidente Verletzung von Menschenrechten zur Debatte, sondern die Art ihrer Verteidigung. Kritischer wird die Diskussion elementare Ansprüche, zumal wenn Gründe für den Bruch elementarer Menschenrechte dabei nicht eindeutig auszumachen sind, oder wenn nicht klar ist, ob in der Verletzung elementarer Ansprüche überhaupt Menschenrecht verletzt wird. Das ist der Fall beim Phänomen Hunger, unter der Voraussetzung freilich, dass Hunger heute oft nicht mehr ein (allein) durch Naturkatastrophen verursachtes Schicksal darstellt, sondern ein durch menschliches Verhalten herbeigeführtes bzw. in Kauf genommenes Unrecht oder wenigstens eine Situation, die durch menschliches Eingreifen zu verhindern ist. Spannend wäre auch die Diskussion um die Tragweite subsistentieller Lebensansprüche wie z.B. auf technisch komplizierte und teure Gesundheitsleistungen. Solche Fragen reichen stark auch in die an anderer Stelle verhandelte Frage ethischer Entscheidungsfindung hinein; auch deshalb wähle ich hier das Beispiel Hunger. Der Vorschlag ist zunächst für die Sek I konzipiert. In der 9./10. Klasse sehen eine Reihe von Lehrplänen der Fächern Ethik wie Geschichte/Gemeinschaftskunde explizit die Auseinandersetzung mit Menschenrechten vor. Für diese Altersstufe sinnvoll betone ich einige präsentative und erfahrungsorientierte, das affektive Element und die Zielsetzung der Orientierung berücksichtigende Zugänge. Unter gezielterer Erörterung auch der rechtsphilosophischen Kategorien, entsprechender Quellen sowie reflexiver Elemente bietet sich der Vorschlag ebenso für die Sek II an. Auf 358 4-5 Recht und Gerechtigkeit detaillierte methodische Ausführungen verzichte ich und skizziere nur exemplarisch einige sinnvolle Unterrichtselemente unter besonderer Aufmerksamkeit für die philosophische Erarbeitung des Themas: 2.1 Präsentativer Einstieg Die Auseinandersetzung beginnt mit einem präsentativen Einstieg: Gezeigt wird das folgende Bild, am besten als Folie. 30 Die Erarbeitung erfolgt unter den für Bild-Erschließung sinnvollen Kriterien: a) des unmittelbar rezeptiven Zugangs, b) der ikonografischen Erschließung, c) der ikonologischen Deutung und d) der rezeptionsästhetischen Beanspruchung.31 30 31 Bild aus einem Artikel aus: Die Zeit, Nov.1998. Zur Arbeit mit Bildern vgl. meinen Kommentar zur Auftakt-Doppelseite des Kap.7 (Spurensuche) im Lehrerband „Ich bin gefragt“. Ethik 9/10. Berlin: Volk und Wissen 2002. Die Kriterien beziehen sich auf Arbeiten von Erwin Panofsky (1931 und 1957, hier insbes. S. 51) sowie MüllerDoohm (1997). – Zur genaueren Begründung des Präsentativen vgl. auch die Erläuterungen zum Einstieg in Kapitel 4-2, in der Einleitung zum Kapitel 4-1 sowie in der Einleitung, Abschnitt 2.2. 4-5 Recht und Gerechtigkeit 359 Durch differenzierte Fragestellungen lässt sich stichwortartig festhalten, z.B. in einer mindmap mit den Ästen „erste Eindrücke – differenzierte Elemente – begründete Deutungen“: ad a) das Bild einige Minuten ohne Kommentare betrachten einige elementare Assoziationen sowie persönliche Reaktionen zum Bild (schriftlich) zusammentragen; das Bild mit möglichst wenigen Begriffen, einer These oder einer Frage betiteln in einer Kleingruppe Eindrücke austauschen ad b) Was genau ist das bzw. könnte das sein, was wir da sehen? ad c) Fallen uns besondere Bild-Konstruktionen auf, die möglicherweise sinnfällig sind? Versuch, erste Deutungen in Worte zu fassen. ad d) Beziehen wir uns nun selbst auf dieses Bild: Kommen wir dort vor, haben wir etwas damit zu tun? Inwiefern? – Warum zeigen wir auf die Abbildung bestimmte Reaktionen? Die Anbindung an das Thema Menschenrechte findet mithilfe folgender Anstöße statt: Das Bild sollte als Einstieg dienen zum Thema „Menschenrechte“; inwiefern leuchtet diese Themenstellung auf der Basis der besprochenen ersten Eindrücke ein? Warum/inwiefern hättet ihr für das Bild ein ganz anderes Rahmenthema erwartet? Passt möglicherweise das Thema „Menschenrechte“ nach eurem Eindruck für das Bild gar nicht? Warum? Formuliert schließlich, ausgehend vom Bild und seiner Diskussion, einige Fragen zum Thema Menschenrechte, die euch wichtig erscheinen für eine Auseinandersetzung. Welche Zielsetzungen verbindet ihr mit euren Anfragen, welche Erwartungen habt ihr, wenn sie im Unterricht zur Sprache kommen? Kommentar zur Zielsetzung dieses Einstiegs: • Erstens soll von vorneherein der moralische Anspruch von Menschenrechten verdeutlicht werden. Er bildet die Grundlage zugleich für den universalen Charakter der Menschenrechte, die jeden Menschen in die Verantwortung nehmen. 360 4-5 Recht und Gerechtigkeit • Zweitens soll jedoch vermieden werden, dass die Kinder und Jugendlichen mit dem moralischen Anspruch als bloß äußerer Norm konfrontiert werden. Vielmehr wird durch den affektiven Charakter des Präsentativen der je persönliche Herausforderung durch die Menschenrechte Raum gegeben. • Die Vielschichtigkeit des Bildes ist bewusst gewählt, um die Vielschichtigkeit und auch nicht eindeutige Einordnung dieses Bildes in den Katalog von Menschenrechten herauszustellen. Das Thema Menschenrechte wird so als Frage zur Sprache gebracht, die es als Problem zu erschließen gilt. So können wir durch das Bild fragen, ob sich der verhüllte Mensch überhaupt in einem Menschenrecht verletzt fühlt oder ob hier wirklich die Verletzung eines Menschen-Rechts vorliegt oder eher die Würde und das Menschsein des Menschen infrage steht; schließlich kann in aller Schärfe die Frage nach Möglichkeiten und Ohnmacht moralischer wie rechtlicher Hilfs-Maßnahmen aufbrechen. 2.2 Menschenrechte kennen lernen Folgen sollte dann die Verortung des im Bild dargestellten Unrechts in den Menschenrechten. Eher sachorientiert ist nun das Ziel, Menschenrechte kennen zu lernen sowie verschiedene Gruppen von Menschenrechten zu differenzieren. (1) Zu beginnen ist mit kurzen Sammlungsaufgaben: bekannte elementare Menschenrechte nennen Einordnung des Bildes Menschenrechten in Gruppen einteilen (2) Diesem die zufällige persönliche Kenntnis aufnehmenden Schritt folgt die Kenntnisnahme bzw. Erläuterung und Ordnung der 1948 von der UNO erklärten Menschenrechte. Zunächst sind die genannten Vorschläge in dem nun vorzulegenden Katalog wiederzuerkennen. Eventuell dort nicht gefundene Vorschläge sollten festgehalten werden, um dies später zu überprüfen. Konkreter ist dann (mit Hilfestellung) das im Bild Gemeinte in den Menschenrechtskatalog einordnen. Dann ist die Ordnung der Menschenrechte zu wiederholen, verbunden mit dem Versuch, die Gruppen zu benennen; auf die übliche Unterteilung kann verwiesen werden: elementare „Rechte“ des Menschseins - persönliche 4-5 Recht und Gerechtigkeit 361 Freiheitsrechte – politische Teilnahme- bzw. Gestaltungsrechte – soziale Teilhaberechte. Vertiefend ließe sich eine Diskussion anzetteln um die Wertigkeit und Reihenfolge der verschiedenen Gruppen, verbunden mit einer Recherche zu den politischen Motiven unterschiedlicher Gewichtungen. Fächerübergreifend (z.B. bei Projektarbeit) können Informationen aus dem Geschichtsunterricht zur Entstehung der Menschenrechtserklärung und den Streit um ihre weitere Differenzierung eingebracht werden. Für höhere Klassen empfiehlt sich die Verortung der Erklärungen in einschlägigen politiktheoretischen und philosophischen Texten, z.B. Hobbes, Locke, Rousseau, Kant. (3) Nun kann der Art. 25 genauer betrachtet werden: Jeder Mensch hat Anspruch auf eine Lebenshaltung, die seine und seiner Familie Gesundheit und Wohlbefinden, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztlicher Betreuung und der notwendigen Leistungen der sozialen Fürsorge gewährleistet, er hat das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Verwitwung, Alter oder von anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände. Zunächst ist analytisch festzuhalten, was alles genauer dem Schutz dieses Menschenrechts unterliegt und wer jeweils davon betroffen ist. Daraus ergibt sich fast zwangsläufig die Frage nach der Problematik der hier erklärten Rechte: Wer kann sie verletzten, wem gegenüber kann sie wer einklagen? Fortgeschrittene Klassen schließlich können die deutsche mit der englischen bzw. französischen Fassung vergleichen und das Wort „Anspruch“ im Unterschied zu „Recht“ zur Diskussion stellen (die anderen Fassungen differenzieren nicht und sprechen nur von „right“ bzw. „droit“). Interessant wäre auch der Versuch, Gründe zu finden, warum sich dieser Artikel im deutschen Grundgesetz nicht findet. Das tiefere Ziel dieser Untersuchungen ist, über die Einordnung des Art.25 hinaus an diesem Beispiel die Hintergründe, Möglichkeiten und Grenzen juristischer Codifizierung von Menschenrechten bewusst zu machen und damit philosophisch den Rechtscharakter der Menschenrechten zu problematisieren. 362 4-5 Recht und Gerechtigkeit (4) Eine erste Zusammenfassung, zugleich einen Rahmen für weitere Unterrichtselemente bieten die folgenden Fragen. Höhere Klassen sollten sie in Arbeitsgruppen erörtern und die Antworten in Arbeitsthesen bzw. hypothetischen Definitionen festhalten: Was ist überhaupt ein Menschenrecht? Lassen sich dafür sinnvolle, begründete und überprüfbare Kriterien festhalten? Wie weit reicht ein Menschenrecht, was alles ist eingeschlossen? Wann wird ein Menschenrecht verletzt? Wer ist jeweils dafür verantwortlich zu machen? Wem gegenüber kann eine Verletzung zur Klage gebracht werden? Welche notwendigen Bedingungen können genannt werden zur Bewahrung und Erhaltung der Menschenrechte? Welche weiteren Faktoren sind dabei zu bedenken (ökonomische Strukturen, politische Systeme, infrastrukturelle und technische Möglichkeiten etc.)? Welchen (prinzipiellen) Grenzen ist die Einhaltung von Menschenrechten ausgesetzt? Ein Korrektiv erhalten die entsprechenden Antworten durch die Konfrontation mit kurzen definitorischen Texten aus der einschlägigen Literatur, z.B. Brieskorn (1997), S.17ff, S.102ff, oder Lohmann (1998), S.63ff, oder Höffe (1999), S.62ff. Die weiteren Unterrichtssequenzen werden nur kurz als Vorschläge skizziert. Wichtig für ihre konkrete Konzeption ist dabei das rechte Maß zwischen textgestützten Erörterungen, erfahrungsdimensionierten Informationen und handlungsorientierten Erarbeitungen: 2.3 Diagnose von Unrechtsverhältnissen Für eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema Menschenrechte ist zunächst eine genauere Diagnose von Unrechtsverhältnissen erforderlich. Ziel ist es dabei, nicht nur Sensibilität für die Verletzung von Menschenrechten zu wecken, sondern auch unter dem Anspruch einer kritischen Theorie und Zeitdiagnose Ursachen für Menschenrechtsverletzungen über eine faktizitär-empirische Sicht hinaus differenziert zur Sprache zu bringen. 4-5 Recht und Gerechtigkeit 363 Ausgehend von dem Impulsbild und der in 2.2. vorgenommenen Einordnung des Phänomens Hunger in die Reihe von Menschenrechtsverletzungen ist nun differenzierter zu fragen: Wie und wodurch kann entstehen, was wir auf dem Impulsbild gesehen haben? Was eigentlich sind Hungersnöte? Welche Faktoren spielen bei einer Hungersnot eine Rolle? Einzelne Faktoren sind genauer in ihrem Verhältnis zueinander auszuloten: Armut – Arbeitslosigkeit – ungerechte Verteilung von Lebensmitteln – ungerechte Verteilung von Produktionsmitteln zum Erhalt von Lebensmitteln wie Land, Landqualität, Einsatz von Technik beim Säen und Ernten (bis hin zu modernen Biotechnologien) – Globalisierung vs. Regionalität der Nahrungsmittelproduktion – Nahrungsmittel-Kartelle / Preisabsprachen – geografische / politische Infrastrukturen … Welche Rolle spielen beim Phänomen Hunger soziale Faktoren wie Einsamkeit, Indifferenz, soziale Kälte, Agonie, Verstädterung, und ökologische Faktoren wie Klimaveränderung, Monokultur? Haben sich heute Faktoren, die zu Hunger führen, im Vergleich zu früheren Zeiten geändert? Inwiefern/wo ist es heute (noch) gerechtfertigt von Hunger-„Katastrophen“ zu sprechen? Handelt es sich um reine Naturkatastrophen? Die Diagnosen können von der Sache her nur interdisziplinär erfolgen. Wichtige Bezugspunkte für Quellenmaterial bieten hier aktuelle Zeitungsmaterialien zu Hungersnöten, differenzierte Materialien von Hilfsorganisationen wie UNICEF, Misereor, Brot für die Welt, (die auch politische Studien etwa zur Landverteilung bieten), auch durch Internetrecherche, wirtschafts- und ernährungs-wissenschaftliche Studien wie das Buch J.Lutzenberger/F.T.Gottwald: Ernährung in der Wissensgesellschaft. Vision: Informiert essen. Frankfurt/M.: Campus 1999, oder R.Strahm: Warum sie so arm sind, Wuppertal 9.Aufl.1995. 364 2.4 4-5 Recht und Gerechtigkeit Bedingungen zur Verhütung von Hunger Der Folgeschritt hat elementare Bedingungen zur Verhütung von Hunger zu benennen, auszuloten und gegeneinander abzuwägen. Dafür sind zwei Fragedimensionen zu unterscheiden, die hier nur kurz angedeutet werden können: a) Warum überhaupt sollen wir Hunger verhüten und bekämpfen – der anthropologische und moralische Diskurs. – Hier können Fragen zur Sprache kommen nach dem Menschsein des Menschen, inclusive des Problems der Einordnung von Hunger in die Übel des physischen Mangels, des moralisch Bösen oder der metaphysischen Endlichkeit32, nach Grundbedingungen guten Lebens/Überlebens33, nach dem Verhältnis von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit34, nach Dimensionen der Gerechtigkeit (Verteilung und/oder Rechtfertigung)35, nach der Rolle religiöser Normen (z.B. anhand des Versuchs, die „Vaterunser“-Bitten nach Brot und Schuldvergebung in Relation zu setzen36), nach ethischen Begründungen: um des Gutgehens willen oder aus Verpflichtung gegenüber menschlicher Würde, etc. b) Wie und mit welchen Programmen ist Hunger am besten zu bekämpfen und zu verhüten – der politische und infrastrukturelle Diskurs. – Unter philosophischer Perspektive sind hier Fragen interessant nach dem Status der moralischen Verantwortung, der juristischen Absicherung und dem Verhältnis beider, nach den entsprechenden moralischen, juristischen, ökonomischen, politischen Voraussetzungen und Lösungsstrategien zur Wahrung der Menschenrechte, speziell auch nach dem 32 33 34 35 36 Diese Unterteilung geht zurück auf den Abschnitt I.21 der „Théodicée“ von Leibniz (Leibniz 1720). Natürlich ist sie nicht akademisch gemeint. Vielmehr hat eine entsprechende Zuordnung erhebliche Konsequenzen für die Einschätzung und auch Bekämpfung von Hunger. Sättigung gehört natürlich zu den Grundbedingungen menschlichen Lebens. Interessant wird diese Tatsache jedoch, wenn sie politisch in Konkurrenz zu anderen subsistentiellen Ansprüchen oder zu marktwirtschaftlichen und konsumorientierten Gesichtspunkten (etwa der Vernichtung und auch schon luxuriösen Verschwendung von Lebensmitteln) diskutiert wird. Das hat natürlich erhebliche moralische Konsequenzen, aus welcher Motivation heraus ich also zur Linderung und Bekämpfung von Hunger verpflichtet bin, bis hin zur problematischen Klärung der Eigentumsfrage. Unmittelbar einleuchtend ist es etwa, dass die Verteilungsgerechtigkeit kein hinreichendes Kriterium zur Linderung von Hunger darstellen kann, die Frage andererseits in Situationen allgemeinen Mangels nicht leicht zu entscheiden ist. Gemeint ist hier vor allem die Diskussion, warum sich die Einlösung elementarer Ansprüche gerade an Gott richtet und welche Konsequenzen das hat. Die Verbindung der Bitte um Brot mit der um Schuldvergebung verbietet eine quietistische Haltung, als sei es quasi Schicksal, satt werden zu können oder hungern zu müssen, entlastet aber andererseits in dem Problem, in der Bekämpfung von Hunger auch an sozusagen natürliche Grenzen von Ressourcen oder auch Machbarkeit zu gelangen. 4-5 Recht und Gerechtigkeit 365 Vergleich mit ähnlichen Diskursen zur Verhinderung von Krankheiten oder auch sozialer Absicherung, schließlich nach Problemen wie etwa dem Teufelskreis von Arbeitslosigkeit, Armut, Hunger, Agonie, oder dem Subsidiaritätsproblem der Hilfe zur Selbsthilfe zwischen notwendiger unmittelbarer Hilfeleistung und durch Hilfe erzeugter Abhängigkeiten sowie Anspruchshaltungen, oder auch dem Problem des Ausgleichs zwischen Verteilungsgerechtigkeit nach dem Gleichheitsmaßstab und Zuteilungsgerechtigkeit nach dem Bedürftigkeitsmaßstab. 2.5 Grenzen in der Bekämpfung von Hunger Schließlich sind im Sinne der Einbindung in das Rahmenthema „Gerechtigkeit“ Grenzen in der Bekämpfung des Hungers zu erörtern, a) einerseits politisch-ökonomisch zu bedenkende Grenzen, wie die Frage nach dem Verhältnis von Verfassungsideal und Verfassungswirklichkeit, nach der Möglichkeit strafrechtlicher Institutionen und Sanktionen, nach der Möglichkeit bürgerrechtlicher Bewegungen, nach dem Verhältnis zwischen politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen (Stichwort „Globalisierung“) usw. b) andererseits anthropologisch-metaphysische Grenzen, wie die Frage nach Perfektibilität und Imperfektibilität der Sicht des Menschen, wie auch die Schwierigkeit der Benennung elementarer Faktoren für gelingendes Menschsein, einschließlich seiner Sterblichkeit und der Argumentation mit diesen Faktoren, oder wie die Frage nach dem Verhältnis von rechtlich-politischen und rechtstranszendenten Gerechtigkeitsund Glücksansprüchen des Menschen (wie z.B. die heikle Definition von Verhältnissen wie Gesundheit oder Glück/Zufriedenheit). 2.6 Zum Verständnis von „Gerechtigkeit“ Im Sinne der Einbindung in das Rahmenthema „Gerechtigkeit“ scheint es darüber hinaus sinnvoll, das Verständnis von Gerechtigkeit selbst zur Diskussion zu stellen. a) Auf der kognitiv-begrifflichen Ebene bietet sich dafür eine Zusammenstellung von Texten mit unterschiedlichen Begriffen von Gerechtigkeit an, also zu religiösen, naturrechtlichen, vernunftrechtlichen, prozeduralen Gerechtigkeitstheorien, oder zur Differenz zwischen austeilender, distributiver, und ausgleichender, kommutativer Gerechtigkeit, auch im Verhältnis zu Gerechtigkeit als Tugend, oder zu verschiedenen Gerechtigkeitsformeln (z.B. “Jedem das Gleiche“ – „Jedem nach seinen 366 4-5 Recht und Gerechtigkeit Verdiensten“ – „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ etc.). Eine dafür gut gebräuchliche Sammlung findet man bei Bleier-Staudt (1999), Materialien S.10-18. b) Als Ergänzung bzw. als Alternative (nicht nur für die Sekundarstufe I) ist wiederum die Arbeit mit Bildern zu empfehlen, wiederum unter den oben unter 2.1. angegebenen Ebenen. Dazu bietet sich eine Auseinandersetzung mit folgenden Abbildungen an: • Plastik einer Iustitia-Figur (zuweilen zu finden vor Justizgebäuden, ansonsten Abbildungen in entsprechenden Lexika): i.d.R. Frauenfigur mit Waage in der einen, zuweilen Schwert in der anderen Hand, wobei die Waage meist auf Ausgleich steht, meist sind die Augen der Iustitia verbunden als Zeichen der Neutralität. • Der Engel Michael vom Jüngsten Gericht (z.B. von Rogier v.d.Weyden auf dem großen Tafelbild des Hospizes in Beaune): i.d.R. mit offenen den Betrachter anblickenden Augen, Schwert in der einen, Waage in der anderen Hand, die diesmal aber zwischen Guten und Bösen abwiegt, diesen winkt als gerechter Lohn der Himmel, jenen droht als gerechte Strafe die Hölle; Bezug ist die Rede Jesu vom Weltgericht Mt 25. Die erste Gerechtigkeit richtet offensichtlich etwas anderes als die zweite: Hier geht es um den irdisch zu fassenden möglichst gerechten Rechtsspruch vor Gericht, dort um die Idee einer letzten und ewigen Gerechtigkeit, die allen Menschen je persönlich zuteil werden soll. c) Als interessanter Diskussionsimpuls lohnt die Legende vom Zwölften Kamel: Sie bringt eine Reihe unterschiedlicher Gerechtigkeitsbegriffe in kurzer bildhafter Form miteinander ins Spiel: Der Vater ist gestorben und hat seinen drei Söhnen 11 Kamele hinterlassen, von denen 4-5 Recht und Gerechtigkeit 367 der Älteste die Hälfte, der Mittlere ein Viertel, der Jüngste ein Sechstel erhalten soll. Tief traurig finden die drei keine Lösung, um den Willen des Vaters zu erfüllen. Da kommt ein Händler des Wegs und bietet ihnen sein eigenes einziges Kamel als zwölftes an. Im Nu ist geteilt: Der erste Sohn erhält 6, der zweite 3, der dritte 2 Kamele. Lächelnd nimmt der Händler das wieder übrig gebliebene 12. Kamel mit sich, und man verabschiedet sich in Frieden.37 2.7 Dokumentation als Abschluss Empfehlenswert ist in jedem Falle (u.U. auch nach 2.2.) ein Abschluss der Unterrichtseinheit in wiederum präsentativer Form: die Erarbeitung einer Ausstellung mit Installationen [neben Texten auch gesammelte oder selbst erstellte Bilder und Collagen, provokative Anfragen, Betroffenheitsäußerungen, authentische Äußerungen, Filmdokumente, Schemata begrifflicher Differenzierung, Exposés sinnvoller weiterer Arbeitsaufträge für ältere Mitschüler (zur Differenzierung) wie für jüngere (zur Orientierung), ein von Schülern vorbereitetes Diskussionsforum, mit Vertretern z.B. von (betroffenen) Exilanten, Menschenrechtsorganisationen, Juristen, Philosophen, Theologen etc.]. Ziel eines solchen Schritts ist die Einbindung einer unter philosophischem Anspruch erfolgenden kritisch-differenzierenden Auseinandersetzung mit dem Thema in die persönliche Orientierung, insofern wir nämlich mit Aristoteles das, was das Gute sei oder das Recht oder die Gerechtigkeit nicht zum Thema machen, um einen philosophischen Begriff davon zu erlangen, sondern um gut bzw. in Recht und Gerechtigkeit leben zu können.38 37 38 Vgl. dazu G. Teubner (Hg.): Die Rückgabe des zwölften Kamels. Niklas Luhmann in der Diskussion über Gerechtigkeit. Stuttgart: Lucius 2000. Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik 1103b. V Religionsunterrichtliche Konzeptionen Kapitel 5-1 Einwurzelung. Religiöse Sensibilisierung und erfahrungsorientierter Wissenserwerb: Grundlagen heutigen Religionsunterrichts 1 Keines der klassischen Schulfächer ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten so sehr Legitimations- und Profilierungsproblemen einerseits wie konzeptionellen Veränderungen andererseits ausgesetzt gewesen wie das Fach "Religion".2 Obgleich in Deutschland in einzigartiger Weise im Kanon der Schule verfassungsmäßig verankert, gerät es neuerdings3 gerade hierzulande verschärft unter Druck, politisch wie auch innerkirchlich: In Ostdeutschland bekennen sich kaum 25 % der Bevölkerung 1 Dieses Kapitel ist meine in den „Katechetischen Blättern“ 117.(1992), S.552-567, zum 60.Geburtstag von Hubertus Halbfas erschienene, um einige Anmerkungen ergänzte ausführliche Auseinandersetzung mit der Religionsbuchreihe, die Hubertus Halbfas mit dem Band 9/10 1991 zum Abschluss gebracht hatte. Der Band zum 1. Schuljahr war 1983 erschienen und bildete den Start für ein Schulbuchkonzept, das Halbfas im Laufe der Jahre auch durch ausführliche Lehrerbände für jedes Schuljahr (der Bd.1 erschien 1983, der Bd.10 1997) zu einem ohne Zweifel einzigartigen religionspädagogischen Standardwerk gestaltet hat. - Ich selbst darf mir anrechnen, mit meinem Aufsatz zur verdienten Anerkennung von Halbfas’ Werk beigetragen zu haben. In Fortbildungstagungen des Religionslehrerverbandes der Erzdiözese Freiburg konnte ich mehrmals durch Arbeitsgruppen für Halbfas’ Konzept werben, so dass seine Religionsbücher sicher nicht ohne meinen Einsatz ihre Zulassung auch für den Katholischen Religionsunterricht in BadenWürttemberg erhielten, dessen Lehrpläne zunächst mit dem Konzept der Halbfas’schen Religionsbücher nicht überein zu stimmen schienen. Vgl. dazu das folgende Kapitel 5-2. Inhaltlich habe ich an dem Beitrag nichts verändert, nicht nur weil sich an meiner Einstellung seit damals nichts wesentlich geändert hat, sondern auch um im Rahmen der durch die vorliegende Arbeit intendierten Zusammenbindung meiner religionspädagogischen Überlegungen auch die Genese dieser Überlegungen zu dokumentieren. Der unmittelbare Anlass einer ausführlichen Rezension stand bereits bei Abfassung des Artikels 1992 zurück hinter der tieferen Zielsetzung einer grundlegenden Auseinandersetzung mit der Konzeption des Religionsunterrichts, was sich bereits im Titel ausdrückt, den ich als Überschrift für das vorliegende Kapitel beibehalten habe. Das wurde auch von Günter Lange als verantwortlichem Schriftleiter der „Katechetischen Blätter“ hervorgehoben, wenn er im Vorwort zum Heft 7/8 meine „ausgiebige Halbfas-Exegese“ zwar als Zumutung für „Konzentration und Durchhaltekraft“ versteht, sie aber ausdrücklich als willkommene „Hilfe zu sachgerechter Urteilsbildung“ zu dem von religionspädagogischen Kollegen immer wieder kritisierten Ansatz von Hubertus Halbfas empfiehlt. 2 Zum Zusammenhang dieser Bemerkung vgl. meine Bemerkungen in der Einleitung, insbesondere in den Erläuterungen zum Teil V dieser Arbeit im Abschnitt 3, sowie im Kapitel 2-1. 3 Gemeint ist die Situation in der Zeit unmittelbar im Anschluss an die Deutsche Wende von 1989, in der dieses Kapitel entstanden ist. 5-1 Einwurzelung 371 zu einer Religion, und lediglich 14 % der Jugendlichen sind getauft. Diese Zahlen als regionales und durch sozialistische Ideologie in der ehemaligen DDR verursachtes historisches Problem zu relativieren, hieße die Lage zu verkennen. Hier wird nur offenkundig, was auch im Westen unter Stichworten wie "Säkularisation"4, "verbürgerlichte Religion" oder "zunehmende Tradierungskrise" schon lange problematisiert wird, aber auch hartes Faktum ist, wenn man etwa an Frankreich denkt (freilich durch seine zugegebenermaßen extreme Trennung von Staat und Kirche) mit nicht einmal 30 % (in Städten oft unter 5 %) Teilnahme am Religionsunterricht, aber auch an das vielzitierte Verhältnis von 1:9 für Kirchlichkeit in Westdeutschland (im Kirchenbesuch der Bevölkerung und auch bei den Schülern, die den Religionsunterricht besuchen). Längst schon nicht mehr kann sich also der Religionsunterricht auf eine kirchlich sozialisierte Klientel berufen. Das Festhalten an der kirchlich-konfessionellen Struktur des Religionsunterrichts mit bloßer Berufung auf die Verfassung verschließt mithin die Augen vor der Realität.5 Aber auch die Stimmen, die jenem Rückzug aufs Formelle des Rechts Inhalte des Religionsunterrichts entgegenhalten, laufen nicht selten Gefahr, sich den Gegebenheiten wie Chancen in unserer gern als "postmodern" apostrophierten Gesellschaft zu verschließen. Der minderheitliche Versuch einer Rekatechetisierung, neuerdings auf der Welle utopiekritischer Rückwendung zu verlorenen Werten schwimmend, auch im Gewand der Neu-Evangelisierung Europas auftretend6, ist dabei nur die anachronistische Kehrseite der sich zeitgemäß dünkenden Forderung nach Auszug des Religionsunterrichts aus der öffentlichen Schule.7 So oder so wird der herausfordernde, zuweilen auch sperrige Anspruch des Evangeliums verwechselt mit Rückzug auf Unzeitgemäßes, das auf aktuelle Fragen sich einzulassen glaubt nicht nötig zu haben. Ghettoisierung bzw. Bedeutungsverlust der Kirche wären die sichere Folge solcher Strategien. Die einzige Chance für Religionsunterricht heute scheint mir demgegenüber zu sein, die Abkehr von überlieferter Religiosität und Kirchlichkeit nicht so sehr als postmodernen Atheismus zu interpretieren, sondern als zunehmende Unfähigkeit religiöser Artikulation, als religiösen Analphabetismus; der Religionsunterricht hätte 4 Genaueres dazu s.o. im Kapitel 1-1. 5 Vgl. dazu auch meine Argumente im Teil 2.1 des Kapitels 5-3. 6 Mit diesen zugegebenermaßen polemischen Äußerungen wird kritisch Bezug genommen auf Einlassungen wie etwa die von Ratzinger 1983, vor allem aber die Reihe römischer Verlautbarungen zu Fragen der Glaubensverkündigung nach 1989, die sich allesamt durch Konzentration auf das römisch-katholische depositum fidei auszeichnen sowie die in meinen Augen gefährliche Tendenz der Vorordnung moralischer Normen vor Glaubenseinsichten. Diese Tendenz äußerte sich etwa in der Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre über die kirchliche Berufung des Theologen von 1990. Vgl. dazu Petermann 1990. 7 Vgl. dazu die Kontroverse um einen Artikel von Josef Brechtken (1988). 372 5-1 Einwurzelung dann zuerst die Aufgabe der religiösen Sensibilisierung und müsste von daher diakonisch-evangelisatorisch ausgerichtet sein (im Sinne der Öffnung für Heilserfahrungen durch den Dienst am Menschen im Hinblick auf sinnvolle Lebensfindung und -gestaltung). Die Voten dazu häufen sich in letzter Zeit8, liefern aber (vorerst noch) eher Denkanstöße als praktikable Konzeptionen. Offenkundig und für den Religionsunterricht unmittelbar folgenreicher wird dieser Mangel und die ihm zugrundeliegende Krise auf dem Markt der Religionsbücher. Das im Vergleich zu anderen Fächern ungewöhnlich breite Angebot an Büchern und Medien steht in einem merkwürdigen Missverhältnis zu der konkreten Umsetzung und den unterrichtlichen Realitäten vor Ort; die Kopier- und Arbeitsblätter-Flut vor allem im Religionsunterricht ist dafür offenkundiger Beleg. - Vor allem aber halte man sich einmal so divergierende Konzepte weithin eingeführter Werke wie die Trutwin-Reihe beim Patmos-Verlag9, die Zielfelder-Bände des Kösel-Verlags10 oder die "Wege der Freiheit" des Katholischen Bibelwerks (für Baden-Württemberg)11 vor 8 In diesem Zusammenhang ist zu verweisen auf Artikel wie Fuchs (1989) oder Nastainczyk (1991). 9 Gemeint ist das im katholischen Religionsunterricht der 80er- und 90er Jahre mit Sicherheit am stärksten verbreitete und den Unterricht prägende Werk von Werner Trutwin, Klaus Breuning und Roman Mensing mit den Bänden: • Zeit der Freude. Unterrichtswerk für den katholischen Religionsunterricht der Jahrgangsstufen 5/6. Düsseldorf: Patmos 1980. Neuausgabe 1987, • Wege des Glaubens. Unterrichtswerk für den katholischen Religionsunterricht der Jahrgangsstufen 7/8. Düsseldorf: Patmos 1979. Neuausgabe 1989, • Zeichen der Hoffnung. Unterrichtswerk für den katholischen Religionsunterricht der Jahrgangsstufen 9/10. Düsseldorf: Patmos 1978. Neuausgabe 1989. Diese Bände sind bis heute (2001) lieferbar und auch weitestgehend zugelassen, auch in BadenWürttemberg trotz zwischenzeitlich zweimal veränderter Lehrpläne. 10 In der in den Jahren nach 1973, also noch vor der Synode der Deutschen Bistümer erfolgten Einführung des sog. „Zielfelderplans“ (für den katholischen Religionsunterricht der Schuljahre 5-10 (Sekundarstufe I). Erarbeitet von einer Kommission des Deutschen Katecheten-Vereins e.V. in Zusammenarbeit mit der Bischöflichen Hauptstelle für Schule und Erziehung. München 1973) galten die folgenden Bände als Standardwerk für den katholischen Religionsunterricht ab Mitte der 70er-Jahre bis weit in die 80er-Jahre hinein: • Zielfelder ru 5/6. Religionsunterricht 5./6. Schuljahr. Hg. v. Deutschen Katecheten-Verein. München: Kösel 1975. Neuausgabe 1982, • Zielfelder ru 7/8. Religionsunterricht 7./8. Schuljahr. Hg. v. Deutschen Katecheten-Verein. München: Kösel 1977, • Zielfelder ru 9/10. Religionsunterricht 9-/10. Schuljahr. Hg. v. Deutschen Katecheten-Verein. München: Kösel 1980. Bis auf den Band 5/6 ist dieses Werk bis heute (2001) lieferbar, wenn auch für BadenWürttemberg nicht mehr zugelassen. 11 Bereits 1979 hatte die Kommission für Erziehung und Bildung der Deutschen Bischofskonferenz eine Revision der Zielfelderpläne angeregt. Heraus kam 1984 der sog. „Grundlagenplan“; er trägt, so die Einleitung, „der theologischen und religionspädagogischen Diskussion nach dem Erscheinen des Zielfelderplans von 1973 Rechung: Grundlagenplan für den katholischen Religionsunterricht im 5.–10. Schuljahr. Hg. v.d. Zentralstelle Bildung der Deutschen Bischofskonferenz. Auslieferung: Deutscher Katecheten-Verein e.V., München 1984. - Die Diözesen 5-1 Einwurzelung 373 Augen: Angesichts der Unterschiede drängt sich eine gewisse Beliebigkeit nicht nur für die didaktische Anlage, sondern auch für die inhaltliche Gestaltung des Religionsunterrichts auf.12 Wenn in dieser Situation ein Unterrichtswerk mit dem vollmundigen Versprechen angekündigt wird, hier würden "dem Religionsunterricht neue Maßstäbe und Perspektiven" gesetzt, so lässt dies aufmerken; die Rede ist von einer Reihe, die in die Hand eines jeden gehört, der um glaubwürdigen und heute angemessenen Religionsunterricht sich bemüht, die "Religionsbücher", die Hubertus Halbfas beim Patmos-Verlag in Fortsetzung seiner vielbeachteten Grundschulreihe jetzt mit dem letzten Band vollständig für die Sekundarstufe I vorgelegt hat.13 Um es vorwegzunehmen: Ich glaube, das Halbfas-Werk wird dem zitierten Anspruch voll gerecht, so sehr, dass anders als in Fortschreibung dieses Weges Religionsunterricht heute kaum sinnvoll und chancenreich ist. Erstmals seit den "Zielfelder"-Bänden werden wieder religionspädagogische Praxis und Theorie zugleich vorgelegt; vor allem dies hebt das Werk von vorneherein aus der Menge um Aktualisierung bemühter Schulbücher heraus und fordert über eine bloße Rezension hinaus eine tiefere Auseinandersetzung um Anspruch und Ausführung.14 Freiburg und Rottenburg-Stuttgart beschritten im Zuge der Lehrplanrevision in Baden-Württemberg 1984 einen Sonderweg und brachten einen eigenen „Lehrplan für das Fach Katholische Religionslehre“ für die Schulen in Baden-Württemberg heraus, der nur in Teilen den Vorgaben des Grundlagenplans entspricht. Die Veränderungen und strengeren Vorgaben gegenüber dem bis dahin auch in Baden-Württemberg geltenden Zielfelderplan führten zu Schwierigkeiten der Lehrplankompatibilität der bis dahin fest eingeführten Trutwin- oder Zielfelder-Reihe. Aus dieser Not entstanden in mehreren Jahren mühsamer Arbeit, im Auftrag des Bischöflichen Schulamtes der Diözese Rottenburg-Stuttgart die Bände: Wege der Freiheit. Bde. 5ff. Hg. v. Heinrich Böckerstette. Stuttgart: kbw 1986 ff. Ich persönlich gebe zu, dass ich vor allem aufgrund der im folgenden an den Halbfas-Bänden erläuterten Kriterien von Anfang an zu den entschiedenen Kritikern dieses Unterrichtswerks gehört habe: Die Lehrplankonformität führt als Schere im Kopf m.E. latent, zuweilen auch offenkundig zur Aufgabe, zumindest aber Aushöhlung und formalen Reduktion aller seit dem durch den Synodenbeschluss von 1974 gewonnenen religionspädagogischen Prinzipien, insbesondere dem sog. Korrelationsprinzip. 12 Gegen diese Gefahr der Beliebigkeit setzt sich der vorliegende Beitrag zur Wehr und sieht in den Büchern von Halbfas eine elementare Stütze dieser eigenen Intention. 13 Hubertus Halbfas, Unterrichtswerk für die Sekundarstufe I: -Religionsbuch für das 5./6. Schuljahr, Düsseldorf (Patmos) 1989, -Religionsbuch für das 7./8. Schuljahr, 1990, -Religionsbuch für das 9./10. Schuljahr, 1991. 14 Zur Frage der Konzeption und Gestaltung von Religionsbüchern hat Halbfas auch theoretisch Stellung bezogen, vgl. insbesondere: Einführung in die Arbeit mit den Religionsbüchern für das fünfte bis zehnte Schuljahr. – In: Halbfas: Religionsunterricht in Sekundarschulen. Lehrerband 5. Düsseldorf: Patmos 1992, S.17-35. 374 1 5-1 Einwurzelung Das Anliegen Das Anliegen von Halbfas wird mit dem ersten Blick auf die Bücher klar: Die Mandalas auf den Einbänden sind ins Bild gebrachter Ausdruck für einen ganzheitlich konzipierten Religionsunterricht, "ganzheitlich" nicht im modischen Verständnis, sondern als Prädikat für ein differenziertes, da vielfältige Zugangsformen aufnehmendes, Themen in verschiedenartigen zugleich organisch angelegtes, Glaubensbildung als kontinuierlichen Prozess begreifendes, und schließlich ein reflektiertes, ein einheitliches Konzept ausstrahlendes Vorgehen. Die Übersicht (Abb. Folgeseite)15 verdeutlicht diese These: Auf der horizontalen Ebene baut sich Glaubenswissen von Jahrgang zu Jahrgang durch alle Lernfelder fortschreitend auf. Neu ist auch die hier nicht näher auszuführende Anbindung an den Plan der Primarstufe16. Die häufig gegen den Zielfelderplan vorgebrachte Kritik, durch zu große Vielfalt und Möglichkeit von Themen und Themenzusammenstellungen verlören sich die zentralen Ziele des Religionsunterrichts ins Unverbindliche, scheint mir mit dem Entwurf von Halbfas endgültig überwunden, ohne dass das konzeptionelle Anliegen des Zielfelderplans aufgegeben wäre, die Weitergabe des Glaubens in verschiedene Lernfelder, theologische wie anthropologische, aufzufächern und so den Glauben "im Kontext des Lebens vollziehbar und das Leben im Licht des Glaubens verstehbar" werden zu lassen, wie es als unverzichtbare Aufgabe der Synodenbeschluss 1974 formuliert hat. Keinem Entwurf, auch nicht dem die Schwächen des Zielfelderplans mildernden Grundlagenplan von 1984 ist es bislang in so einleuchtender, anspruchsvoller, wie auch einfacher Weise gelungen, ein religionspädagogisches Konzept vorzulegen, wonach im Religionsunterricht stets Ein Thema im Zentrum steht, ohne dass wir immer dasselbe behandeln müssten. 15 Kopie aus: Halbfas: Religionsunterricht in Sekundarschulen. Lehrerhandbuch 5. Düsseldorf: Patmos 1992, S. 24f. 16 Eine gesamte Übersicht für Primarstufe und Sekundarstufe I und zugleich eine grundsätzliche Auseinandersetzung um Lehrpläne und Religionsbücher hat Halbfas vorgelegt in seinen Aufsätzen "Lehrpläne und Religionsbücher" (in: rhs 4/1990, S. 228-244) sowie „Prinzipien zur Lehrplanentwicklung“ (in: Das dritte Auge. 1987, S. 39-50). 5-1 Einwurzelung 375 376 5-1 Einwurzelung Halbfas löst damit den von ihm selbst wiederholt engagiert vorgetragenen und trotzdem wenig gehörten Anspruch nach "aufbauendem Lernen" im RU ein, endlich den Religionsunterricht in ein weiteres Konzept von Katechese einzubinden, dass nämlich Glaube nur als wachsender, und das heißt nicht zuletzt auch erwachsen werdender, lebendig werden und sich lebendig erhalten kann. Halbfas legt es darauf an, ausgehend von vorschulischer Prägung, in Grundschule und Sekundarstufe eine religiöse Bildung zu ermöglichen, die über den schulischen Rahmen hinaus religiöse Erfahrung und Lebensgestaltung zu eröffnen imstande ist, auch für die Weiterbildung im Erwachsenenalter. Damit würde der schulische Religionsunterricht auch von dem in Deutschland faktisch bestehenden Stiefkindcharakter befreit, zwar allgemein akzeptiert, sogar gewünscht, aber weder im schulischen Kontext wirklich ernstgenommen, noch von kirchlicher Seite in seiner Bildungschance wirklich genutzt zu werden. Besonders einleuchtend für die Idee aufbauenden Lernens im Glauben ist in Entwurf wie Ausführung etwa das Lernfeld "Religionen": Halbfas geht, nach eher symbolischer Erschließung in der Grundschule (Sonne, Weltmitte, Welthaus) von dem uns Nächstliegenden aus, dem Judentum (Klasse 5), um in Klasse 6 mit dem Islam als dritter abrahamitischer Religion vertraut zu machen; in den folgenden Jahrgängen kommt er zu ferneren Religionen in historisch motivierter Reihenfolge, wobei sich mit den "Archaischen Religionen" in Klasse 7 eine überraschende, und doch höchst aktuelle Neuerung findet. In Klasse 10 findet dieser Kurs seinen Abschluss durch einen in die Zukunft weisenden Blick auf das Gespräch zwischen den Religionen. Natürlich zieht sich ein solch entwickelnder Aufbau auch durch die anderen Lernfelder. Beeindruckend ist dabei, wie es Halbfas gelingt, eine theologische und sachliche Logik mit altersgemäßen Akzentsetzungen zu verschmelzen. Ohne überflüssige Doppelungen (auch hier wird ein erheblicher Mangel des heutigen Religionsunterrichts behoben!) schneidet Halbfas so im Laufe der S I alle zu einem mündigen Christsein notwendigen Wissens-Voraussetzungen an. Dabei fällt eine Straffung bei gemeinhin eher anthropologischen Themen auf, bei denen sich freilich auch Überraschungen finden wie etwa für Klasse 8 (anders als im Überblick geplant) "Wege der Selbsterziehung" im Lernfeld "Das eigene Leben" oder das großartige Kapitel "Die innere Mitte" in Klasse 10. Das Übergewicht eher theologischer Themen relativiert sich jedoch, wenn man auf ihre meist konsequent lebensweltliche und erfahrungs-bezogene Durchführung schaut: Endlich haben wir nicht mehr peinliche Karikaturen von Korrelation vor uns, die Glauben als eine Sonderwelt gegenüber Alltagserfahrungen fehl verstehen. 5-1 Einwurzelung 377 Mit Recht beansprucht Halbfas somit, dass sein Unterrichtswerk "in breiter, reflektierter Systematik ... solides religiöses Wissen" vermittle.17 Freilich zeigt sich in der konzentrierten Systematik auch ein gewisser hermetischer Zug, der sich noch deutlicher in der vertikalen Durchführung der einzelnen Jahrgänge aufdrängt: 2 Innere Ordnung In der Vertikalen strebt Halbfas nämlich im Unterschied zu allen sonst vorliegenden Unterrichtswerken eine innere Ordnung an, nach der spätere Kapitel auf vorangegangene aufbauen. Ein solcher Sinnzusammenhang ist den einzelnen Bänden18 auch ohne Lehrerkommentar unschwer zu entnehmen: • Für die 5. Klasse etwa wirft Halbfas nach der grundlegenden Erschließung metaphorischer Sprache (2) von der Transzendenzerfahrung im Alltag her ("Mehr als alles") die Gottesfrage auf (3) und fundiert diese allgemein-religiöse Ebene in der Abrahams-Geschichte als Urerfahrung biblischen Gottesglaubens (4). Die Bibel, diesem Gedanken gilt das 5. Kapitel, fixiert eben solche Erfahrungen wie die der Väter zu stets lebendiger Verkündigung; und so kommt Halbfas folgerichtig zum Judentum (6) als erster schriftlich fixierter Offenbarungsreligion. Jesus wird im 7. Kapitel ganz organisch als Jude eingeführt; und aus der zentralen Form seiner Verkündigung, dem Gleichnis (8), entwickelt Halbfas den Parameter christlichen In-der-Welt-Seins (9) für die folgenden Kapitel (Vater und Mutter - Gemeinde frühe Kirchengeschichte). Das 12. Kapitel "Das Jahr hindurch" vermittelt dann am anschaulichsten den thematischen roten Faden der 5. Klasse: "Unterwegs - von Gott geführt" ist im Grundlagenplan vorgegeben und wird als Jahrgangsthema von Halbfas unausdrücklich eingelöst. • Der Aufbau der 8. Klasse ist ähnlich eindrucksvoll: Ausgehend vom Gedanken des Mythos (1) wird mit dem Hinduismus (2) die älteste und zugleich eine wesentlich mythologisch geprägte Weltreligion vorgestellt. Über die Frage, ob auch die Bibel Mythen kennt (3), werden die Schöpfungsgeschichten (4) als "Wahrheit des Mythos" herausgearbeitet. Ob Gott ein Mythos ist, diese Frage ist einer der Grundzweifel an Gott (5); und dass der biblische Gott eben nicht Mythos ist, sondern hautnah ins menschliche Leben eingreift, verdeutlichen die Passionsgeschichten (6) als bleibendes Sinnbild realer Identifikation Gottes mit der leidenden Kreatur. Dieses soteriologische Spezifikum christlichen Glaubens führt Halbfas fort mit Verweis auf 17 So der Prospekt des Patmos-Verlags zu dem neuen Unterrichtswerk. 18 Auf genaueren Nachweis von Zitaten aus den Religionsbüchern verzichte ich nachfolgend, weil aus dem jeweiligen Kontext sich die entsprechenden Stellen schnell finden lassen. 378 5-1 Einwurzelung die erlösende Kraft in Jesus Christus (7); sie findet ihr reales Zeichen wiederum in der Eucharistie, Symbol und faktisches Geschehen zugleich (8). Die Kirche als feiernde Gemeinschaft ist daher reales Zeichen in der Welt (9) und übt Verantwortung etwa in Fragen der Ökologie (10). Weltbezogenheit von Kirche wurde stilbestimmend in der Renaissance (11), und auch die Reformation wird von Halbfas weniger als Zug zur Innerlichkeit denn als Streben um Glaubwürdigkeit gedeutet (12) - konsequent endet dieses Kapitel mit dem Hinweis auf den "weltlichen" Orden der katholischen Kirche, die Jesuiten. Tomas Morus schließlich (13), wird, übrigens als Freund des Erasmus, als Beleg angeführt, dass Weltlichkeit nicht Verweltlichung bedeutet, sondern entschiedener Dienst an der Welt. Das Jahrgangsthema "Wirklichkeit verstehen - Welt aus dem Glauben deuten" ist mit dieser Anlage m.E. noch konsistenter durchgeführt als in den Themenangaben des Grundlagenplans. • "Eine einseitig und verengt gedeutete Welt" schadet allen, heißt es programmatisch zu Beginn des Bandes zum 10.Schuljahr. "Christsein in der Welt von heute" (das vom Grundlagenplan her vorgegebene Jahrgangsthema) wird von Halbfas durch das erste Kapitel "Frauen in der Bibel" auf heutige Aktualität wie Traditionsbezug hin entfaltet: Die Sache, die verengt wird, wenn sie, die Frauen verdrängt werden, ist nämlich Gott selbst. Das Thema ist mithin keine oberflächlich modische Attitüde, sondern konfrontiert uns am Gottesgedanken selbst damit, dass "die religiöse Sprache nicht am Ende" ist, sondern "in heutige Verhältnisse hineingezogen" werden muss, um lebendig zu bleiben (2). Die Geschichte einer Frau verdeutlicht uns, wie wir "gegen die Umklammerung" der uns beherrschenden Denkgesetze wieder "die Welt mit den Augen Jesu sehen" können (164). Die Unmittelbarkeit des Weges zu Jesus, durch das Sprachkapitel geöffnet, wird durch das 3. Kapitel wieder gebrochen: "Nur das Echo seiner Worte", der "Widerschein seiner Person" ist uns gegeben, so dass er aktuell wird nur im Spiegel unserer Gegenwartsfrage: Was wäre "wenn er wiederkäme", fragt Halbfas mit Dostojewski. Neben der Literatur wird Jesus lebendig aber natürlich durch gelebtes Leben selbst: Simone Weil und Oscar Romero geben dafür ein Beispiel(4). "Wer Gott sagt, findet sich nicht ab" - dieser Satz ist der organische Anschluss zum vielleicht eindrucksvollsten, da phantasievollen und doch informationsreichen Kapitel 5 "Gott Jenseits des Denkens". Die Auseinandersetzung mit Gott führt den Menschen nicht von sich selbst weg, sondern zu sich hin: Zur inneren Mitte des eigenen Lebens (6). Die Tiefe, in der wir uns selbst finden, bekommt bei Halbfas aber nie den Geschmack des Esoterischen, die "Gelassenheit" schlägt um zum "bittenden Gebet", das als "sich der Not stellen" verantwortetes Leben ist (200). In der Auseinandersetzung mit "Krankheit und Tod"(7) kann sich diese Einsicht bewähren.: Gegen den Alltagsbetrieb, der sich heute vom Tod des einzelnen nicht mehr unterbrechen lässt, plädiert Halbfas für das Zuhören-Können zur Überwindung der Einsamkeit. - Einen weiteren Weg zum Christsein im Hier und 5-1 Einwurzelung 379 Jetzt geht Halbfas über die Tradition: Die Geschichte der Bibelüberlieferung (8) leitet über zur Apostelgeschichte (9), dem Lebenszeugnis der ersten Christen. Was dort als Programm des Christseins galt, in alle Welt zu gehen, gewinnt heute in der Ökumene Gestalt, in der Vielfalt der christlichen Kirchen (11) wie im Weltgespräch der Religionen (12). Das Kirchengeschichtskapitel zur Moderne (13) liefert die Notwendigkeit dieser Einheit im Dialog der Vielfalt, welche im Kirchenbau der Gegenwart (14) sichtbar wird. Der mehrfach genutzte Kirchenraum ist dabei vielleicht das sinnfälligste Merkmal, dass Kirche nur ist, was sie ist, wenn sie nicht in sich selbst verharrt, sondern auf die drängenden Fragen der Zeit und Welt einläßt, das gilt heute besonders für die Frage nach Krieg und Frieden (15). Das Baustein-Prinzip des problemorientierten Religionsunterrichts und der "Zielfelder"-Zeit ist von Halbfas verabschiedet. Aber auch gegenüber Büchern, die jeweils geschlossene Themen anbieten, geht Halbfas einen neuen Weg: Statt die Themen eher zufällig oder nach äußerlichen Kriterien anzuordnen, legt Halbfas ein richtiges Lehrbuch vor, dessen Themenfolge ein der internen Systematik der Inhalte entsprechendes Verlaufskonzept zugrunde liegt, wonach sich das folgende Thema, wie beispielhaft erläutert, stets aus dem vorangegangenen ergibt, sei es als Folge, Konkretion, Erweiterung, Konzentration, Vertiefung oder Transfer. Offenkundig wird die gemeinhin der individuellen Planung überlassene Themenfolge für ein Schuljahr durch eine bewusste und wohl begründete Geschlossenheit vorgegeben. Der Gefahr des Dogmatischen entgehen die Bücher durch häufigen methodischen Wechsel und den mit dem Mut zur Beschränkung in sich durchsichtig durchgeführten einzelnen Kapiteln, die mithin durchaus hier und da für sich behandelt werden können. Die Bücher haben somit den großen Vorteil der Transparenz und Orientierung für Lehrer und auch für die Schüler. 3 Religiöse Sprachlehre Schon die verblüffend einfache, da bedachte und insofern stimmige Anordnung "traditioneller" Themen beeindruckt bei dem neuen Unterrichtswerk. Das entscheidend Neue ist jedoch der Versuch, den "Stoff" einzubinden in Erfahrungslernen, d.h. jedes religiöse "Lernen" als Anstoß zur Deutung und Gestaltung des eigenen Lebens anzulegen. Dieser Ebene dienen vor allem die für jeden Jahrgang zentral postierten Kapitel zu einer religiösen Sprachlehre. Sie bereiten in auch ein-drucksvoll gelungener Weise die Verständniswege für alle anderen Kapitel. Und mehr noch: Halbfas wehrt mit 380 5-1 Einwurzelung ihnen allen Versuchen eines vorschnellen positiven Missverständnisses christlichen Glaubens, d.h. seine Reduktion auf Lehr- und Bekenntnisformeln, die in Wahrheit eben symbolisch geronnene Glaubenserfahrung darstellen. Eine religiöse Sprachlehre öffnet den für Glaubensverkündigung unabdingbaren Blick auf jene hinter Glaubensformeln stehende und nicht anders als durch sie zu formulierende Widerfahrnisse. Glauben, auch in seiner katechetischen Weitergabe im Religionsunterricht, hat nur auf dieser Grundlage die Chance, Zusage und Herausforderung der befreienden Botschaft zu sein; zur Behauptung und Forderung einer Doktrin verkommt er nur aufgrund einer zur Ängstlichkeit verkümmerten Sprachlosigkeit. Diese aufzubrechen, ist notwendig nicht nur, um Glauben glaubwürdig zu vertreten, sondern aufgrund der inneren Struktur der biblischen Botschaft von Gott und seiner Heilsoffenbarung. Offenheit gewinnt der Religionsunterricht mithin nicht in der Auswahl oder Anordnung seiner Themen, sondern vielmehr durch die hermeneutische Anlage der Themen selbst; diese Einsicht ist von Halbfas zu lernen. Die Fragestruktur, die durch die Sprachkapitel erarbeitet wird, setzt mithin Glaubwürdigkeit und Lebendigkeit für den Religionsunterricht überhaupt frei. Ein konkreter Einblick mag die unverzichtbare Bedeutung einer Sprachlehre als hermeneutischen Nährboden erklären: Für die 5. Klasse steht am Anfang das Kapitel "Metapher". In wenigen Sätzen vermag Halbfas das Ziel dieser Kurzeinheit zu formulieren: "Metaphern stellen sich vor allem ein, wenn es an Worten für hintergründige Erfahrung mangelt. In solchen Fällen muss die Sprache >übertragen< (meta-pherein). Andernfalls könnten wir nur von >Dingen<, nicht von der Wirklichkeit hinter den Dingen sprechen ... Darum ist auch die Sprache des Glaubens metaphorisch ... Könnten wir nicht in diesem übertragenen Sinne sprechen, gäbe es keine Rede von Gott. Nur die Metapher rettet vor dem Verstummen." Das Kapitel "Bibelverständnis" für Klasse 5 veranschaulicht, inwieweit diese sprachliche Sensibilisierung Früchte trägt, damit das Gesamtkonzept der lebensweltlichen Einwurzelung religiöser Erziehung stimmig wird: Halbfas erliegt auch nicht im Ansatz der Versuchung einer langweiligen oder bieder aufgepeppten Vermittlung technischer Details. Keineswegs verzichtet er auf Kenntnisvermittlung, im Gegenteil wird mit den Stichworten "Schriftwerdung", "Literarkritik", "Kanon", "Handschriften", "Sprache" eher Anspruchsvolles geboten. Aber alle Details werden eher en passant eingeflochten, eingebettet in die entscheidende Frage: Was heißt hier "Wort Gottes"? Halbfas geht aus vom Ansatz mündlicher Überlieferung, aber fragt von vorneherein in die Tiefe; Sätze wie "Die Bibel ist Wort als gesprochenes, nicht als gedachtes Wort" lassen aufhorchen und provozieren zu Nachfragen. Das setzt einen Lesesinn in Gang, der ganz natürlich zu der Zusammenfassung führt: "Die Bibel ist eine Lebensschule, in der niemand aus- 5-1 Einwurzelung 381 lernen kann ... im Bedenken dieser Geschichte sollen wir selbst zu Glaubenserfahrungen kommen." - Das Bild am Anfang des Kapitels "Bibelverständnis" symbolisiert den Menschen, der mittels der Sprache aus seiner Welt herauszubrechen vermag, hinter die Wirklichkeit zu schauen; das Kapitel endet mit einer Skizze eines halb entrollten Papyrus und stellt so sinnfällig in den Raum: Was mag im restlichen Teil dieser Rolle stehen...? Das Jahrgangsthema für Klasse 5 "Unterwegs - von Gott geführt" kann besser gar nicht eingelöst werden als es die Präsentation dieser kleinen Einheit versucht. Mehr kann nicht erreicht werden, als wenn eine Unterrichtseinheit Anlass gibt, im Gespür einer Tiefendimension weiterzumachen, nachzublättern, auch außerhalb des Unterrichts, das Geheimnis des Glaubens in Lebensprozesse einwurzelnd. Es ist hier nicht die Frage, ob Halbfas dies erreicht, aber wenn es erreicht werden kann, dann nur auf dem von ihm eingeschlagenen Weg. 4 Die Bilder In besonderer Weise verweisen Bilder auf den Geheimnischarakter des Glaubens: Obgleich etwas ausdrückend, also auf der Ebene von Artikulation sich bewegend, bilden sie doch als artikulativ wiederum nie völlig einholbare Ausdrücke die Möglichkeit bzw. die Ebene des Transzendenten, wenn auch nicht das Transzendente selbst, ab. Mit Grund widmet Halbfas ihnen daher breiten Raum. Eine Reihe von Religionsbüchern bietet schon länger gutes und anschauliches Bildwerk (vgl. insbesondere die Trutwin-Reihe19); aber ohne Übertreibung muss gesagt werden: Noch kein Werk ist in so vollendeter Ausgestaltung vorgelegt worden wie das von Halbfas. Das gilt bereits für die ganz äußerliche Ebene: Seine Bücher machen Lust zum Durchblättern wie zum betrachtendem Verweilen. Neben bekannten Bildern - vor allem auf Chagall greift auch Halbfas wegen der offensichtlich symbolisch-narrativen Kraft des Künstlers häufig zurück - finden sich auch ungewöhnliche, z.B. von M.Sendak, F.Hodler oder R.Magritte, deren religiösen Gehalt man erst beim zweiten oder dritten Zusehen erfasst, dann umso erhellender. Auch die Schwarz-Weiß-Skizzen zu Sachthemen kann man nur als ungewöhnlich ansprechend bezeichnen. Und nicht zuletzt gebührt dem Verlag für die bei einem Schulbuch herausragende Qualität der Reproduktionen bzw. fotographischen Auszüge (vgl. etwa das Islam-Kapitel!) ein besonderes Lob. 19 S.o. Anm.9. 382 5-1 Einwurzelung Entscheidend aber ist der inhaltliche Anspruch des Bildmaterials: Nie illustriert selbst die kleinste Skizze bloß das Thema, stets verlangt ein Bild nach einer den Text komplementierenden oder auch kontrastierenden eigenständigen Auseinandersetzung. Die Bilder schärfen die sensuellen Rezeptionsebenen für eine Frage oder eine Sache. Eindrucksvoller Beleg: Jeder Einheit ist gleichsam leitmotivisch zur ersten Annäherung ein Bild vorangestellt, das zur Entschlüsselung provoziert, bevor man sich auf den Text einlassen kann.20 5 Lebensweltliche Einbettung biblischer Geschichten Der Verlagsprospekt warnt: "Verschiedene Kapitel verlangen eine hohe Eigentätigkeit der Schüler und Wechsel der Arbeitsformen". - Selbstverständlich leuchtet ein hoher Anspruch für ein so umfassendes religionsunterrichtsliches Konzept wie das von Halbfas grundsätzlich ein; hohe Qualität macht den Unterricht ja nicht unbedingt schwerer, sondern zunächst einmal spannender. Leider finden sich bei Halbfas aber auch Einheiten, die die Schüler m.E. (zumindest unter den gegebenen schulischen Verhältnissen) überfordern oder auch bereits dem Anspruch lebensweltlicher Einbettung religiöser Stoffe sehr viel weniger gerecht werden als eben anhand der Einheit "Bibelverständnis" in Klasse 5 vorgestellt. Religiöse Sensibilisierung, auf die Halbfas es anlegt, ist aber eben nicht nur für eher allgemeine Verstehensprozesse zu leisten, sondern auch für Inhalte, deren religiöser Gehalt vermeintlich in sich klar ist, etwa die biblischen Geschichten. Gerade im katholischen Bereich fungieren sie leider immer noch allzu häufig bloß als Illustration oder Nachweis eines Glaubenssatzes oder werden abstrakt historisierend dargestellt, statt dass man die in ihnen geronnene Lebens- und Glaubenserfahrung zum Sprechen bringt. Das Kapitel "Vätergeschichten" in Klasse 5 intendiert zwar, das Motiv des "mitlaufenden Anfangs" zu vermitteln (dass "frühere" Geschichten ihren Wert nur behalten als auch heute lebendige und aktuelle Widerfahrnisse); doch die Einführung dieses Motivs erfolgt erstens viel zu abstrakt, nämlich abgezogen von lebendiger Erfahrung in einer rein intellektuellen Erklärung. Damit wird zweitens die Chance vergeben, das Motiv an die "Historie" der Stammväterzeit anzubinden, nämlich als hermeneutischen Schlüssel zu Verständnis der (so bloß informativ bleibenden, wenngleich sachlich anschaulich und gut beschriebenen) Geschichte selbst. Drittens aber bleibt die Einlösung des Motivs in der Deutung etwa der Abrahams-Geschichte 20 Vgl. dazu als Hintergrund den Aufsatz „Bilder in Religionsbüchern“ in: Halbfas: Das dritte Auge. Düsseldorf: Patmos 1987, S. 51ff. 5-1 Einwurzelung 383 wirklich dürftig: Auf kurzem Raum werden eher plakativ Thesen aufgestellt ("Es ist eine große Sache, dass die Glaubensgeschichte Israels mit Wanderhirten beginnt."), oder viel zu ungenaue Arbeitsanweisungen werden erteilt; gezieltere Fragen, die Deutung dennoch offen lassen, fehlen, etwa nach dem Namen Abrahams, dem Bedenken der Heimatlosigkeit oder der Frage nach Lebensbesitz in der IsaakGeschichte. Da ich Ausführungen von Halbfas zum detaillierten Nachvollzug der Abrahams-Geschichten kennen gelernt habe21, bleiben hier wenigstens Anregungen im Lehrerhandbuch zu erhoffen. Eine mangelhafte Reflexion auf die Ebene religiöser Erfahrung ist m.E. leider auch für das zweite alttestamentliche Kapitel "Königsgeschichten" in Klasse 6 zu beklagen. Nur am Schluss wird anlässlich des salomonischen Tempels auf den theologischen Gehalt der Königsgeschichten verwiesen. Ansonsten verharrt das Kapitel im Narrativen, freilich nicht, wie angestrebt, um Defizite religiöser Erfahrung durch Anstiftung zur Eigenlektüre auszugleichen; vielmehr bietet der Text eine äußerliche, den Historiker interessierende, im Gegensatz zum Abrahams-Kapitel auch viel zu ausgreifende und eher verkomplizierende Zusammenfassung historischer Vorgänge einschließlich der Rekonstruktion verschiedener Überlieferungsstränge (z.B. zu Aufstieg und Fall Sauls). Das übersteigt die Kompetenz von 12-Jährigen und trägt für das Jahrgangsthema "Miteinander leben - Gemeinde werden" kaum etwas bei. Ebenso wenig vermag mich das Bibelthema in Klasse 7 zu überzeugen. Die Einheit "Entstehung der Evangelien" versäumt es, zumindest ansatzweise die theologische Eigenart der Evangelien (und damit ihren Charakter und Anlass als Frohbotschaft) zur Sprache zu bringen, was die informative Zielsetzung keineswegs aufblähen, sondern klären würde. Das ist insofern schade, weil zugleich der hermeneutische Gewinn zum Verständnis der bei Halbfas folgenden Einheit zu den Kindheitsgeschichten im NT (die durchaus auf ihre symbolisch formulierte theologische Absicht hin interpretiert werden) verspielt worden ist. Im neuesten Band für die Klassen 9 und 10 habe ich solche Mängel nicht entdecken können. Das mag an der mit der Herausgabe der einzelnen Bände fortgeschrittenen Reflexion liegen; ich habe jedoch den Eindruck, dass es auch mit der ungeheuren Schwierigkeit zusammenhängt, jüngeren Menschen den Lebensbezug biblischer "Geschichten", besonders den zur Zeit ihrer Entstehung gegebenen, zu vermitteln. Vielleicht geht das grundsätzlich gar nicht anders als über eine bildlichmythologische bzw. symbolische Ebene, weil allein sie neugierig macht, ohne Gefahr zu laufen, dass ihre Wahrheit durch spätere historisch-kritische Dechiffrie21 Vgl. dazu grundlegend bereits die Erläuterung „Kleine Bibeldidaktik“ in: Halbfas: Rel’U i.d. Grundschule. Lehrerhandbuch 3 (1985), S. 199ff; sowie jetzt: Halbfas: Die Bibel – erschlossen und kommentiert von Hubertus Halbfas. Düsseldorf: Patmos 2001. 384 5-1 Einwurzelung rung zerstört würde. Zumindest 10- bis 13 -jährigen Schülern ist ein solches Vorgehen durchaus einsichtig zu machen, in der Behandlung biblischer Geschichten sich "nur" auf mythologisch-symbolischer Ebene zu bewegen. In der Primarstufe und mehr noch im vorschulischen Bereich verbietet sich sogar ein anderer als ein bildhafter Zugang zu Dimensionen des Religiösen, was etwa im Bereich des Bilderbuchs gut zu belegen wäre: Alle biblische Geschichten bloß illustrierenden Bücher enthalten die Gefahr, dass es später zu einer negativen Enttäuschung ("Das ist ja alles gar nicht wahr") kommt, weil sie es versäumen, für die jenseits des Illustrativen liegende Tiefendimension des religiösen Erlebnisses durch bewusst symbolische und metaphorische Sprache und Bilder sensibel zu machen. 6 Die Textgestaltung Die Kritik an der didaktischen Durchführung einiger biblischer Einheiten gibt Anlass, auf die die textliche Gestaltung der Schulbücher einzugehen. Was für den technisch hervorragend präsentierten Bildteil zu loben ist, dass nämlich wohltuend auf überflüssige, da verstellende oder zumindest unmittelbar steuernde Erklärungen verzichtet wird, muss für den Text differenziert werden. Nur selten wird man heute noch ein Schulbuch finden mit so viel Text und so wenigen Überschriften und Absätzen. Halbfas spart sich Heraushebungen, unterschiedliche Schrifttypen, Einrückungen, Rahmen, farbliche Absetzungen fast völlig. Auch Verständigungsfragen und Aufgabenstellungen wie etwa in den Trutwin-Bänden fehlen; hingegen finden sich eher verstreut sehr offene Arbeitsanweisungen - im letzten Band häufiger und spezifizierter. - Das Bestreben scheint mir offenkundig: Halbfas will der Tendenz zur Verschulung im Religionsunterricht Einhalt gebieten und es der konkreten Unterrichtsgestaltung überlassen, wie und in welcher Intensität die einzelnen Einheiten erarbeitet werden, bzw. im Umgang mit einem Thema sowohl für die persönliche Prägung des Lehrers als auch für die schülerische Eigenarbeit genügend Raum lassen. So unterstützenswert es ist, Qualitätsverbesserungen durch ein höheres Anspruchsniveau zu erzielen, habe ich jedoch den Eindruck, dass Halbfas zuweilen übertreibt: Das Bestreben nach unmanipulierter Textgestalt geht etwa dann zu weit, wenn Zitate durch Verzicht auf Anführungsstriche und optisch nur sehr undeutlich durch Aufhebung der Rechtsbündigkeit erst auf den zweiten Blick erkennbar werden. Auch die Eindimensionalität der Schrifttype wirkt eher puritanisch als zur Lektüre einladend. Dieser Eindruck gilt vor allem für den ersten Band - leider, da jüngere Schüler eine klare Übersicht noch nötiger haben. 5-1 Einwurzelung 385 Auch im sprachlichen Niveau hat Halbfas nicht selten das Maß des für Schüler Nachvollziehbaren überstiegen (s.o.). Diese Kritik gilt nicht so sehr, wenn er in auch für mein Verständnis angemessener Weise philosophisch-theologische Probleme sprachlich so nachempfindet, dass ihr Geheimnischarakter bestehen bleibt und nicht durch profane Formulierungen banalisiert wird - die Kapitel zu dieser Thematik gehören deshalb zu den m.E. am besten gelungenen. Aber auch bei historischen Erklärungen, Sachinformationen, Nacherzählungen und Arbeitsanweisungen greift Halbfas oft zu einer abgehobenen Sprache, die eher für einen Lehrerkommentar geeignet ist, als dass sie Schüler, die heute religiös kaum sprachfähig vorgebildet sind, zu weiterem Interesse motivieren könnte. Auch diese Kritik gilt, wie oben erläutert (Punkt 5.) vor allem für den ersten Band, obwohl auch für die 9./10. Klasse eine hohe Anforderung zu konzentrierter Auseinandersetzung verlangt wird, die in der Praxis heute nur selten noch anzutreffen sein wird. Die Kritik verdeutlicht aber auch einen Anspruch der Bücher: Für den Lehrer bleibt im konkreten Unterrichtsverlauf unabdingbar die Forderung bestehen, über die Arbeit mit dem Buch hinaus zur je eigenen Rede und Stellungnahme zu motivieren, d.h. den Unterricht nicht nur methodisch, sondern auch auf der Inhaltsebene wesentlich dialogisch anzulegen. 7 Einwurzelung religiöser Erfahrung So wie die äußere textliche Präsentation und nicht selten auch das sprachliche Niveau der Einheiten nach konkreten Unterrichtsvorschlägen und Ergänzungen in den Lehrerbänden verlangt, so bleibt auch die Umsetzung der von Halbfas insinuierten "Didaktik der Innenseite", die eigene Erfahrungswege anbahnt und es damit auf längerfristige Einwurzelung von Religiosität anlegt, der konkreten Unterrichtsgestaltung, besser -atmosphäre und der emotionalen Weiterführung durch Schüler und Lehrer überlassen. Halbfas wird sich damit wie die Zielfelderbände auch den Vorwurf zuziehen, der Vorbereitung des einzelnen Kollegen zu viel zu überlassen bzw. aufzubürden. Ich vermute, dies geschieht bewusst und beabsichtigt, und denke, für jene Innenseite des Religionsunterrichts auch völlig zu Recht. Denn der Religionslehrer ist als Zeuge gefordert wie seine Kollegen nicht, und sein Unterrichtserfolg hängt, da religiöse Sensibilisierung sich ohnehin nicht messen lässt, allein an der Glaubwürdigkeit der Botschaft und ihrer persönlichen Bezeugung. Die Gefahr einer bloß internalisierten Glaubwürdigkeit hat Jürgen Werbick mit den Termini "Überich-Botschaft" bzw. "Überich-Glaube" hart, aber notwendig markiert (nach dem Muster: "Das, was ich hier vertrete, ist meine innerste Überzeugung, die 386 5-1 Einwurzelung ich haben muss ..., damit ich vor euch überzeugend rede").22 Wenn Werbick dagegen die befreiende Tragfähigkeit des Glaubens als Fundament seiner Verkündigung stark macht, so trifft er sich genau mit Halbfas' Intention nach Einwurzelung religiöser Erfahrung. Wie weit sie gelingen kann, muss sich aber nicht zuletzt an jenen (eher theologischen) Themen zeigen, die aufgrund ihrer in langen kirchlichen Sozialisationsprozessen hervorgerufenen Sensibilität zur zitierten falschen, bloß internalisierten Glaubwürdigkeit verführen. Dazu zählt zweifelsohne das Bußsakrament: Halbfas nimmt die Herausforderung an, es nicht beim bloßen Referat kirchlicher Versöhnungspraxis zu belassen, sondern von der anthropologischen Basis des Themas "Schuld" auszugehen. Schon der Titel "Das Sakrament der Versöhnung" (Klasse 7) legt zugleich die theologischen Akzente offen: Es geht bei der Buße nicht um das Erzeugen von Schuldgefühlen, sondern um die Erfahrung von Heil als der Basis der Lösung von Angst, Schuld und Sünde. Dieser Ansatz könnte dazu verführen, Schuld wegzuerklären und ihr Bewusstwerden zu verdrängen gegenüber dem "angenehmen" Gefühl der Vergebung. Halbfas verfällt dieser Gefahr trotz des Titels der Einheit nicht, sondern zielt in die Mitte, nämlich auf den auch in Psychoanalyse und therapeutischer Praxis als notwendig erkannten Durchgang ins Innere von Sünde, Schuld und Angst. Halbfas tut dies allerdings so einfühlsam, dass er die Angst vor der Konfrontation mit den eigenen Schattenseiten nimmt. Das gelingt ihm durch das Zeichen des Spiegels, vor allem in seiner metaphorischen Bedeutung: "Auf dem Lebensweg eines Menschen versperrt bisweilen ein eigenartiges Tor das Fortkommen." In ihm, dem Spiegeltor, "steht der Mensch seinem wahren Bild gegenüber, sieht sich gewissermaßen von innen her ... Wer nun seinen Weg fortsetzen will, muß durch dieses Spiegeltor hindurch ... " Halbfas umschifft bei diesem ungewöhnlichen Ansatz die Klippe, den Religionsunterricht zur Psychostunde entgleiten zu lassen: Die Konfrontation mit mir selbst wird "nur" auf der symbolischen Ebene der verschiedenen Spiegelbilder thematisiert; ihre Auflösung bleibt jedem einzelnen überlassen (und aufgrund der Würde des persönlichen Gewissens muss dies so sein), ohne dass er allein gelassen wird, da nun stärker geworden um "Techniken" der Selbsterkenntnis. So bereitet Halbfas auf der symbolischen Ebene ganz unproblematisch den Weg zur Behandlung jetzt nur mehr vorgeblich traditioneller Gesichtspunkte wie "Gewissensspiegel" und konfrontiert unter dem Stichwort "Zerrspiegel" ebenso scharf wie klärend mit Schuldverdrängung und -vergrößerung und damit zusammenhängenden falschen Gottesbildern. 22 Jürgen Werbick: Zurück zu den Inhalten?, in: KatBl 1/1991, S. 7ff. 5-1 Einwurzelung 387 Ganz organisch ergeben sich so über den Kulminationspunkt von Schuldkonfrontation und Vergebung zugleich im Gleichnis vom verlorenen Sohn Ebenen der Versöhnung, die bei der Er-Innerung beginnen und im Bußsakrament ihre zeichenhafte Verdichtung erfahren. "Ohne Erinnerung ist Identität nicht möglich." - so hatte es Halbfas in seinem Buch "Wurzelwerk" gefordert.23 Was dort, von Paulus (Röm 11) entlehnt, als Motiv der Auseinandersetzung mit dem Judentum insbesondere und der Kirchengeschichte allgemein eingeführt wird, dient in nochmals übertragenem Sinn durchaus auch als Ansatz konsequent korrelativ vorgehender Religionspädagogik schlechthin: Einwurzelung ist, denke ich, ein geeigneter Begriff auch für jene Gestaltung des Religionsunterrichts, der seine theologische Dimension nur anthropologisch zu entfalten vermag und umgekehrt. Denn es geht in der Korrelation nicht um zwei irgendwie sich bloß ergänzende Ebenen, so dass ein Thema sowohl unter theologischen wie auch anthropologischen Gesichtspunkten zu behandeln wäre; vielmehr handelt es sich um ein integratives Verhältnis derart, dass die Anthropologie als Erfüllung der Theologie und die Theologie als Schlüssel der Anthropologie sich erweisen bzw. der Mensch als offenbares Ebenbild Gottes und Gott als tiefstes Wesen des Menschen. Eine Didaktik der Einwurzelung zielt mithin darauf ab, die Heilsbotschaft des Glaubens als konkrete Lebenshilfe aufzuzeigen bzw. unser Leben selbst in seiner Tiefendimension durch das Licht des Glaubens zu erschließen. Mit der vorgestellten Einheit zum Bußsakrament hat Halbfas eine konkrete Möglichkeit zur Realisierung dieses Prinzips für sog. theologische Einheiten angeboten. 8 Anthropologische Themen Wie steht es umgekehrt mit gemeinhin eher lebensweltlichen und anthropologischen Themen? Vermag Halbfas in ihnen, wie gefordert, unser Leben im Lichte des Glaubens als seiner Tiefendimension durchsichtig und verstehbar zu machen ? Als positives Beispiel soll kurz das Kapitel "Freundschaft und Liebe" (Klasse 7) vorgestellt werden. Methodisch wählt Halbfas einen dreifachen Zugang: Der erste ergibt sich (wie für jedes Kapitel) über das vorangestellte Bild, hier ist eine der bekannten Chagall-Variationen zum Thema gewählt. Der zweite Zugang: Halbfas arbeitet mit einem Text der bekannten Jugendbuchautorin Christine Nöstlinger, dem er zur Entfaltung drei Märchenausschnitte mit jeweiligen interpretativen Fragestellungen unterlegt sowie einige ironische Skizzen von R.Peynet. Der dritte Zugang 23 Hubertus Halbfas: Wurzelwerk, Düsseldorf(Patmos),1989, S. 77ff. 388 5-1 Einwurzelung aber ist die dem Text vorangestellte Arbeitsanweisung: "Die folgenden Seiten möchten ein Gespräch ermöglichen...", dessen persönlichen Charakter Halbfas heraushebt, damit jeder "einen eigenen Standpunkt" gewinne. - Das intendierte Gespräch ist mithin wie das Chagall-Bild, der Nöstlinger-Text und die Märchen eine Folie, auf der quasi inszeniert die jeden persönlich, ja intim betreffenden "Liebessachen"(Halbfas) angesprochen werden. Damit will Halbfas sich keineswegs der Schwierigkeit entziehen, konkrete Fragen, auch Verhaltensweisen von Freundschaft, Verliebtheit, Sexualität, Liebe, Partnerschaft anzusprechen; vielmehr bieten sich so diskret, aber vielfältig Möglichkeiten für eine differenzierte Auseinandersetzung. Der Hauptgewinn der eher folienhaften Behandlung des Themas aber liegt darin, in allem konkreten Fragen jene Tiefendimension zur Sprache kommen zu lassen, die Liebe letztlich zum Geheimnis macht, womit Halbfas leise, aber vernehmlich auch die religiöse Ebene der Liebe anspricht, die sie allererst zu dem Erlebnis werden lässt, das unser Herz zu berühren vermag. Für die Themen des Lernfeldes "Diese Welt" ist mir der religionsunterrichtliche Charakter nicht in gleicher Weise deutlich geworden. So verdienstvoll etwa die ausführliche Berücksichtigung der ökologischen Thematik in den Klassen 7 und 8 ist, so fehlt doch m.E. die Begründung durch die eigentlich naheliegende theologische Aufklärung von Begriffen wie "oikos", "Heimat", "Ressourcen", "Natur", die übrigens in den Themen "Naturreligionen" oder "Schöpfungsgeschichten" durchaus geliefert werden - der Bezug ist der konkreten Unterrichtsgestaltung aufgetragen. 9 Korrelation Korrelation zwischen der theologischen und der anthropologischen Ebene ist der didaktische aber auch inhaltliche Maßstab für jedes einzelne Thema, soll sein religionsunterrichtlicher Charakter nicht verfehlt werden. Insofern könnte man die Rede von eher theologischen Themen einerseits und eher anthropologischen Themen andererseits für verfehlt halten. Dennoch gibt es natürlich Themen, die vom Ansatz her eher theologisch bzw. eher anthropologisch bedacht sein wollen. Denn Korrelation bedeutet nicht nur integrativen Bezug beider Ebenen aufeinander, sondern auch die Herausstellung der beiden Pole für sich in ihrer je eigenen Bedeutung; erst damit gewinnt der Satz seine Schärfe, dass die Theologie in ihrem Innersten Anthropologie ist und die Anthropologie in ihrem Innersten Theologie. An zwei Fragen kommt diese Dialektik besonders zum Tragen: Die Themen "Gott" und "Selbst" scheinen auf den ersten Blick konträr zu sein, so dass das eine am anderen seine Brechung erfährt. 5-1 Einwurzelung 389 In Wahrheit jedoch laufen gerade sie in einer Weise zusammen, dass sich als Tiefe Gottes der Mensch offenbart, als Tiefe des Selbst Gott sich erweist. Gerade diese sensible Balance aber stellt die korrelative Durchführung vor besondere Schwierigkeiten. In unübertrefflicher Weise verwirklicht Halbfas das Ineinandergreifen der verschiedenen Ebenen bei den Themen "Gott - Jenseits des Denkens" und "Das eigene Leben: Die innere Mitte" der Klasse 10. Verblüffend ist bereits eine möglicherweise ganz zufällige Äußerlichkeit: Die Einheit "Gott: Jenseits des Denkens" beginnt mit dem Wort "Ich" - die folgende Einheit "Das eigene Leben" schließt mit dem Wort "Gott". In der Gotteseinheit führt Halbfas den Leser von der Destruktion bloßer Glaubensformeln, über die Gott letztlich verloren geht, zur Erfahrung Gottes, die dem Denken überlegen ist, aber nicht benannt, schon gar nicht verallgemeinert werden kann; als bloße Erfahrung aber gerinnt sie zur Erfahrung bzw. dann zum Denken des Nichts. Die Aporie dieser "Lösung" gewinnt aber kathartisch-provokativen Charakter, so dass das Kapitel mit der faszinierenden Aufforderung "endet": "Wer Gott sagt, findet sich nicht ab." - Gelungen ist dieser Diskurs vor allem dadurch, dass Halbfas ihn durch ein inszeniertes Gespräch zwischen wichtigen Personen der Geistesgeschichte spannungsvoll gestaltet (an zentraler Stelle, jedoch ohne modische Mystik, Meister Eckharts Dikten "Ich bin Gottes inne geworden" und "Gott ist dem Menschen näher als dieser sich selber"). "Metaphysische" Bilder von Magritte, Beuys, Noland und anderen ergänzen die intellektuelle durch sensuelle Anregungen. Die Auseinandersetzung mit Gott führte in die Tiefe des Selbst - diesen Gedanken nimmt Halbfas durch das Bild des Sprungs in den Brunnen zum Anlass einer Konfrontation mit uns selbst, der eigenen Mitte, erneut wie im Gotteskapitel nirgends platt psychologisierend, sondern auf einer anspruchsvollen philosophisch-mystagogischen Ebene: Wie von der die Einheit einleitende Matisse-Grafik ins Bild gebracht, scheint dieser Sprung zunächst "Jazz", improvisierte Vielfalt zu sein, führt aber wie im Jazz zu einem Angelpunkt: Durch Meditationsbilder und -parabeln aus dem Zen (die jeweils das im Einzelnen enthaltene Ganze widerzuspiegeln bzw. das zum Ganzen ausgreifende Einzelne zu entwerfen vermögen) leitet uns Halbfas einfühlsam zur inneren Haltung der Aufmerksamkeit, zunächst sich selbst gegenüber, dann als Gelassenheit offen für das Gebet, dessen Wahrheit im Herzen liegt und darum in der Liebe zur verantwortlichen Lebenshaltung befreit sich findet. Diese Befreiung aber ist wiederum Gotteserfahrung, denn wer zur ihr findet, ist "nie allein", denn durch uns "selbst wirkt Gott". 390 10 5-1 Einwurzelung Das Religiöse vor dem Ethischen Der Einblick in die integrative Anlage der zuletzt vorgestellten Kapitel verdeutlichte, dass in der Entfaltung urreligiöser Ebenen von Gotteserfahrung, Selbsterfahrung und ihrer Gestaltung in den Religionen der Menschheit ein deutlicher Schwerpunkt der Halbfas'schen Unterrichtswerke liegt. Auch der vielfältige Einbezug kirchengeschichtlicher Themen (durch die drei Bereiche "Kirchengeschichte", "Kirchenbau" und "Menschen der Kirche") ist dieser Konzentration zugeordnet. Was demgegenüber auf den ersten Blick zu kurz geraten scheint, ist der Bereich von Ethik und Moral. So fehlt vor allem das für Klasse 9 in den Lehrplänen verbindlich vorgegebene Thema "Gewissen" als ein eigenes Kapitel. Auch der Dekalog wird nicht eigens zum Thema gemacht. Hier scheint ein schweres Versäumnis vorzuliegen, doch nur vordergründig: Wie Eugen Drewermann in einer Vielzahl von Publikationen herausgestellt hat, ist die Frage "Was soll ich tun?" einer anderen nachgeordnet, ja hat diese zu ihrer Voraussetzung: "Wer darf ich sein?". Ich denke, diese Vorordnung des Religiösen vor dem Ethischen ist der Hintergrund auch für den "Mangel" bei Halbfas: Vielleicht ist es tatsächlich das Missverständnis des christlichen Glaubens heute, ihn auf eine Ethik reduzieren zu wollen. Seine Kraft jedenfalls (und nicht zuletzt seine ethische Kraft!) gewinnt er zuallererst aus seiner religiösen, also auf Letztdeutung unser selbst bezogenen Erfahrung Gottes als des Heils und der Befreiung für das Leben. Halbfas verdeutlicht dies kurz und bündig im Kapitel "Judentum" der 5. Klasse: "Warum beginnt die Tora nicht mit den 10 Geboten? ... Die Tora wurzelt in der rettenden und weisenden Tat Gottes." Und "Jesus wollte nicht, daß die Weisung erstarre, sondern lebendig sei und dem Leben diene" heißt es weiter im folgenden Jesuskapitel. Aus dieser Einstellung heraus entwickelt Halbfas dann später Abschnitte zu Jesus als Lehrer (Klasse 6), zum "gebietenden Gott" und auch zum Gewissen als Spiegel meines Innersten (Klasse 7). Vor allem aber schafft er sich so den Freiraum, die Fragen nach Moral, Verantwortung und Gewissen nicht abstrakt kasuistisch, sondern konkret im Horizont der Erfahrung des eigenen Lebens, der Verantwortung gegenüber dieses Welt oder anhand vorbildhafter Menschen der Kirche zu entwickeln. Auch die 10 Gebote werden somit, wenngleich nur indirekt, ganz biblisch im Kontext lebendiger Erfahrungen aufgeworfen. 5-1 Einwurzelung 11 391 Fazit Zusammenfassend lässt sich festhalten: Das neue Unterrichtswerk von Halbfas, mit dem Band für die 9./10.Klasse jetzt geschlossen für die Sekundarstufe I vorliegend, zeigt zwar Mängel, vor allem bei der konsequenten Durchführung der Grundintention und im zuweilen überfordernden Anspruchsniveau. Doch wird nirgends etwas verstellt, so dass es sich vielleicht eher um Unvollständigkeiten handelt, die aufgefangen bzw. ergänzt werden können durch die Praxis, welcher so trotz der stark konzeptionell vorgeprägten Büchern genügend Raum bleibt. Die außerordentliche Ausstattung aber, die theologisch, anthropologisch und pädagogisch überzeugende Systematik, die Vielfalt der methodischen Ebenen, die überraschenden und doch stimmigen Zugänge zu "schwierigen" Themen, die Risikobereitschaft für Neues, das, da nicht modisch verzerrt, sogleich klassisches Profil erlangt, und vor allem die vielen detaillierten wie in der Gesamtanlage sich ausdrückenden Anregungen zu einer lebendigen, d.h. ins Leben eingreifenden, es zur Sprache bringenden, dialogisch verfassten und darum zugleich über sich selbst hinausweisenden Glaubensvermittlung machen die Bücher zu den besten auf dem Markt erhältlichen. Gerade aufgrund des zuweilen hohen Anspruchs, der wohl nicht selten an den schulischen Gegebenheiten Brechungen wird hinnehmen müssen gehören sie als Herausforderung für einen gelungenen, glaubwürdigen und sachlich wie katechetisch verantwortlichen Religionsunterricht in die Hand eines jeden Religionslehrers, zumindest als zusätzliche Quelle, und sollten im Sinne einer Lehrplanfortschreibung durch die Praxis erste Kandidaten der Lehrbuchanerkennung in allen Bundesländern sein.24 24 Ich kann mir zugute halten, durch mein auch auf Fortbildungen vorgetragenes Votum einiges zur Verbreitung der Religionsbücher beigetragen zu haben. In Baden-Württemberg etwa wurden nicht zuletzt deswegen die Bücher, obgleich nicht ganz lehrplankompatibel, als zusätzlich anschaffbare Klassensätze für den Einsatz im Unterricht genehmigt (vgl. dazu das folgende Kapitel 5-2). Kapitel 5-2 "...da muß man selbst sich wagen..." Hubertus Halbfas' neue Religionsbücher und seine Option für einen anspruchsvollen Religionsunterricht in heutiger Zeit 1 Der Religionsunterricht hat, denke ich, drei Quellen, aus denen er Nahrung beziehen kann für eine gute Qualität: Die erste ist der Lehrplan, der eine Rahmenbedingung für Verlässlichkeit abgibt. Auch der beste Lehrplan ist freilich nicht mehr als eine Basis, vielleicht eine Stütze für den Unterricht, sein Leben aber erhält der Unterricht in der konkreten 1 Dieses Kapitel beruht auf einem unter dem gleichen Titel in den IRP-Mitteilungen 1/93, Freiburg 1993, S. 23-34, veröffentlichten Artikel, in dem ich meine grundlegende Auseinandersetzung mit dem neuen Unterrichtswerk von Hubertus Halbfas (s. Kap. 5-1) speziell für den baden-württembergischen Kontext thesenartig zusammengefasst habe, vor allem aber eine Synopse erstellt habe, in welchem Umfang die Halbfas-Bücher im Rahmen des damals geltenden Lehrplans von 1985 zum Einsatz kommen konnten. Dieser Artikel ist hier erheblich gekürzt, vor allem um einige Anmerkungen, die zur Begründung ausführlicher aus meinem Artikel in KatBl 1992 (siehe Kap. 5-1) zitieren; einige Anmerkungen zum Kontext und zur kritischen Rezeption sind ergänzt, insbes. Anm. 26. Ich darf mir zugute halten, dass trotz der damals geäußerten Kritik an meiner Einlassung (vor allem der kritischen Töne bezüglich der Lehrplanreform von 1984) nicht zuletzt aufgrund dieser Arbeit die Halbfas-Bücher auch in Baden-Württemberg als ergänzendes Unterrichtswerk für den Einsatz im Religionsunterricht zugelassen wurden. Das Motto des Obertitels ist ein Zitat aus dem Eingangsgedicht zum „Religionsbuch für das 5./6. Schuljahr“ (S.5) und darf als Motto auch für die Zielsetzung der gesamten Reihe verstanden werden. Darum sei es nachfolgend zitiert: Wie lernt man, wie man lernen kann ? Wie fängt man nur zu lernen an, Vokabeln lernen, Formeln, Sachen ? mit Mut und ohne Unterlaß Nein, das ist das Ganze nicht! nach Gott und Welt zu fragen ? Es geht um mehr als Wissen. Da geht es nicht um dies und das, Was heute wir vermissen, da muss man selbst sich wagen ist eignes Denken, eignes Fragen, und keinen Lehrer schonen; ist eignes, freies Wort zu sagen, das Lernen muß sich lohnen. ist Offenheit und gerader Sinn. Doch welcher Weg führt nur dorthin ? 5-2 Das muss man selbst sich wagen 393 Praxis; und hier geht es zuallererst um die Ebene persönlicher Erfahrungen, die in der Person des Religionslehrers als Zeugen ihre notwendige Voraussetzung hat und im Erfahrungsdialog mit den Schülern Konkretion erlangt. Zwischen diesen beiden Quellen, dem Lehrplan und der persönlichen Erfahrungsebene sind als dritte Quelle die Materialien von Bedeutung. Durch sie gewinnt der Religionsunterricht sein eigentlich schulspezifisches Niveau; denn sie erst bieten Wege, herauszuführen aus der Gefahr der Verschulung durch einseitiges Abspulen eines Lehrplans einerseits und andererseits aus der Gefahr der Verflüchtigung in subjektiv bleibenden bloßen Erfahrungsaustausch. Wichtigstes "Arbeitsmittel" im Religionsunterricht ist und bleibt als das stets zu Lesende die Bibel als Ur-Kunde des Glaubens. Das von Schülern geführte Heft bietet dagegen die unerlässliche Möglichkeit der je eigenen Auseinandersetzung und ihrer schriftlichen Fixierung. Daneben werden immer wieder Zeitungsberichte, Dokumentationsfilme u.ä. den Unterricht um aktuelle Zeugnisse bereichern. Unverzichtbar, ja immer notwendiger wird das Religionsbuch; bei nachlassender religiöser Bildung in der familiären Primärsozialisation und angesichts eines zunehmenden religiösen Analphabetismus und insofern Unwissens bzw. einer Unbeholfenheit in religiösen Dingen sieht sich das Religionsbuch heute vor allem vor drei Anforderung: Fragen anzuregen, die es im Unterricht zur Sprache zu bringen gilt, mithin eine grundlegende Bildung religiösen Sprechens; eine fundierte Wissensgrundlage, also Informationen zu liefern zur Tradition der Bibel, des Glaubens und der menschlichen Religiosität überhaupt; schließlich Wege der Orientierung zu einer verantwortlichen Lebensgestaltung zu eröffnen. Mit den "Religionsbüchern" von Hubertus Halbfas nun2 eröffnet sich durch ihre herausragende Konzeption und ihren auf dem Buchmarkt einzigartigen religionspädagogischen Anspruch die Chance, dem Religionsunterricht eine fundierte, für Konkretionen offene und auf längere Zeit hin gültige Basis zu liefern, die die skizzierten Anforderungen voll erfüllt. Die folgenden Überlegungen wollen in einem ersten Teil (I) mit dem Anspruch und der Konzeption der Halbfas'schen Religionsbücher bekannt machen, dies in Kürze und mit Verweis auf meine ausführliche Würdigung in den "Katechetischen 2 Gemeint ist das im Kapitel 5-1 ausführlicher kommentierte dreibändige Religionsbuch für das 5./6., 7./8., 9./10. Schuljahr, Düsseldorf: Patmos 1989ff. 394 5-2 Das muss man selbst sich wagen Blättern"3. - Der zweite Teil (II) hebt auf die Situation in Baden-Württemberg speziell ab: Es geht mir zunächst um den Nachweis, dass die Halbfas-Bücher schon unter ganz äußerlichen Kriterien der Lehrplanbezogenheit auch hierzulande die offizielle Lehrbuchzulassung verdienen.4 - Darüber hinaus aber trägt die Auseinandersetzung mit den Halbfas-Büchern Wesentliches zur konzeptionellen Debatte um einen anspruchsvollen und glaubwürdigen Religionsunterricht heute bei. Meine Bemerkungen möchte ich insofern verstehen als Anregungen, diese, denke ich, notwendige, ja für die Zukunft unabdingbare Debatte fortzusetzen.5 3 Hans-Bernhard Petermann: Einwurzelung. Religiöse Sensibilisierung und erfahrungsorientierter Wissenserwerb als Grundlagen heutigen Religionsunterrichts - zugleich eine Auseinandersetzung mit den neuen Religionsbüchern von Hubertus Halbfas. KatBl 7/8 1992, S. 552-567. In den Kontext der vorliegenden Arbeit aufgenommen als Kap. 5-1. 4 Diese Option ist angesichts der aktuellen Lehrplanfortschreibung von besonderem Gewicht: Gewiss ist es mehr als eine Zumutung, unter einem Zeitdruck, für den ich im übrigen sachlich keine Gründe sehe, eine Fortschreibung des Lehrplans zu erstellen. Wenn sich die entsprechenden Kommissionen dankenswerterweise trotzdem dieser Mühe unterziehen, so sei dennoch dringend auf die Chance verwiesen, mit der Fortschreibung, (die faktisch ja auch eine Revision bedeutet und den RU sicher für die kommenden zehn Jahre festschreibt), angesichts bereits vorliegender fundierter und zukunftsweisender religionspädagogischer Konzepte und auch praktischer Unterrichtsvorlagen - und beides ist bei Halbfas gegeben - mit einem niveauvollen Rückgrat auszustatten, und das heißt konkret den Einsatz guter vorhandener Bücher von der Lehrplangestaltung her zu ermöglichen. Auf der Tagung des Freiburger Religionslehrerverbands Nov. 1992 in Hohritt hat übrigens Herr Domkapitular Ruf die Option des von mir angebotenen Arbeitskreises zum Ansatz der HalbfasBücher wohlwollend aufgenommen, die Halbfas-Büchern auch in die Liste der lernmittelfrei erhältlichen Religionsbücher aufzunehmen. (vgl. Andrea Ruschitzka: Protokoll des Arbeitskreises „Glauben und Glaubenserfahrung“ [Relator/Leiter: H.B.Petermann]. In: IRP-Mitt.1/93, S. 45f.) Der Einsatz der Halbfas-Bücher ist freilich schon jetzt möglich: Da sich aufgrund der Konzeption des aufbauenden Lernens und auch praktisch häufiger Rückverweise die private Anschaffung der Bücher durch die Eltern ohnehin empfiehlt, sollte auf die Möglichkeit eigens verwiesen werden, dass die Halbfas-Bücher aufgrund der allgemeinen Zulassung durch die Lehrbuchkommission der Deutschen Bischofskonferenz auch heute schon in Baden-Württemberg zum Einsatz kommen können, wenngleich auch nicht lernmittelfrei. 5 In diesem Zusammenhang sollte auf das Papier des DKV "Religionsunterricht in der Schule" verwiesen werden (Vgl. KatBl 10/1992), das sich engagiert für einen glaubwürdigen und konsistenten Religionsunterricht für die Zukunft stark macht und eine ausführliche Diskussion verdient in Richtung auf eine notwendige Neugestaltung des Religionsunterrichts. Auch wenn das Papier sich darauf beschränkt, Positionen anzugeben, und um eine umfassende Analyse der gegenwärtigen politischen, sozialen und kulturellen Situation ergänzt werden muss, scheint es mir dringend erforderlich, schnell und doch engagiert und fundiert tragfähige Konzepte für die Zukunft vorzulegen, um nicht Gefahr zu laufen, im Verharren auf dem bequemen status quo plötzlich im Abseits sich wiederzufinden. Die Dringlichkeit eines solchen Konzepts ergibt sich, das sei wenigstens vermerkt, schon aus der veränderten Lage in Europa, sodann aus dem zunehmenden Druck, aus dem verengten europäischen Blickwinkel herauszutreten, weiter der zunehmenden religiösen Sprachlosigkeit und schließlich der ihr (eigenartigerweise ?) korrelierenden wachsenden religiösen Bedürfnisse. Vgl. dazu das unten folgende Kapitel 5-4. 5-2 Das muss man selbst sich wagen 1 395 Zur Konzeption der Religionsbücher von H. Halbfas "Auch wenn unsere Schüler keine christliche Sozialisation mehr erfahren, sollen sie doch verstehende - und wenn möglich, erfahrungsbezogene - Zugänge zum Christentum und darüber hinaus zur Welt der Religionen gewinnen können." So beschreibt Halbfas in seinen "Lehrerhandbuch 5" das, was er den "verstehenden Ansatz" seiner Bücher nennt.6 Aus diesem Ansatz ergeben sich alle Schwerpunkte, die die Eigenart der Halbfas'schen Bücher ausmachen. Thesenartig sollen sie vorgestellt werden: 1.1 Aufbauendes Lernen Glaube kann lebendig werden nur als stetig wachsender, also auch erwachsen werdender. Für den RU bedeutet dies, eine religiöse Bildung zu ermöglichen, die ausgehend von vorschulischen und grundschulischen Erfahrungen in der Sekundarstufe religiöses "Wissen" erarbeitet, das über den schulischen Rahmen hinaus religiöse Erfahrung und Lebensorientierung zu eröffnen imstande ist. Halbfas löst diesen Anspruch ein durch sein Konzept des aufbauenden Lernens.7 a) In der Horizontale zieht sich in 15 Lernfeldern die Vermittlung grundlegender religiöser Erfahrung und fundierten Glaubenswissens durch alle Schuljahre hindurch, und zwar so, dass nicht nur überflüssige Doppelungen vermieden werden und Konzentration auf Exemplarisches ohne den Anspruch der Vollständigkeit geleistet wird, sondern auch so, dass der Aufbau von Jahr zu Jahr einer inneren Sachlogik folgt wie altersspezifischen Gewichtungen. b) In der Vertikalen strebt Halbfas im Unterschied zu allen sonst vorliegenden Unterrichtswerken eine innere Ordnung an, nach der spätere Kapitel auf vorangegangene aufbauen. In Verabschiedung des im RU nicht unbeliebten Steinbruch-Buchs legt Halbfas also ein richtiges "Lehrbuch" vor, dessen Themen durch eine interne Systematik der Inhalte angeordnet sind.8 6 Hubertus Halbfas, Religionsunterricht in Sekundarschulen. Lehrerhandbuch 5. Düsseldorf: Patmos 1992, S.23. - Seinem Lehrerhandbuch 5 hat Halbfas eine allgemeine "Einführung in die Arbeit mit den Religionsbüchern für das fünfte bis zehnte Schuljahr" vorangestellt (S.17-40). 7 Vgl. dazu das oben im Abschnitt 1 des Kap. 5-1 abgedruckte Übersichts-Schema. 8 Dies wurde oben unter Punkt 2 des Kapitels 5-1 ausführlich erläutert. 396 1.2 5-2 Das muss man selbst sich wagen Sprachlehre Angelpunkt der Halbfas-Bücher sind die für jeden Jahrgang vorgesehenen Sprachkapitel. Die Begründung des RU in einer Sprachlehre fängt aber nicht nur die Anforderungen an religiöse Bildung in säkularer und religiös verkümmerter Lebenswelt auf, sondern eröffnet hermeneutisch zugleich die entscheidende "dogmatische" Grundlage des biblisch-christlichen Glaubens: Hinter heute oft nur noch in Formeln überliefertem Glauben stehen Erfahrungen, Widerfahrnisse, Zusagen und Herausforderungen, die in jenen Formeln "lediglich" symbolisch geronnen sind, jedoch damit sie stets neu wieder als Erfahrung ins Leben aufgelöst werden. Sätze wie "Nur die Metapher rettet vor dem Verstummen"9 oder "Symbole sind also stets etwas Leibhaftiges, Sinnenhaftes und zugleich etwas verborgen Innerliches, das sich seinen Leib, seine wahrnehmbare Gestalt sucht"10 oder "Dogmatische Rede fasst oft in ein