Michael Burleigh Irdische Mächte, göttliches Heil MI CH A E L BU R LE I G H IRDISCHE MÄCHTE, GÖTTLICHES HEIL Die Geschichte des Kampfes zwischen Politik und Religion von der Französischen Revolution bis in die Gegenwart Aus dem Englischen von Klaus Binder und Bernd Leineweber Deutsche Verlags-Anstalt Die Originalausgabe erschien in zwei Bänden. Der erste Band (in der vorliegenden Ausgabe als Erster Teil bezeichnet) erschien 2005 unter dem Titel Earthly Powers. The Clash of Religion and Politics in Europe from the French Revolution to the Great War bei HarperCollins Publishers, London. Der zweite Band (in der vorliegenden Ausgabe: Zweiter Teil) erschien 2006 unter dem Titel Sacred Causes. Religion and Politics from The European Dictators to al Qaeda bei HarperPress, An Imprint of HarperCollins Publishers. Zitat von Joseph Conrad, S. 573 aus: Der Geheimagent, aus d. Englischen von Fritz Lorch, © Manesse Verlag, Zürich, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München SGS-COC-1940 Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100 Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier EOS liefert Salzer, St. Pölten. 1. Auflage Copyright © 2005/2006 by Michael Burleigh Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2008 Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Annalisa Viviani, München Gestaltung und Satz: DVA / Brigitte Müller Gesetzt aus der Minion Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN 978-3-421-04229-3 www.dva.de Inhalt ERSTER TEIL 13 Vorbemerkung 17 Einleitung 45 Kapitel 1 Zeitalter der Vernunft, Zeitalter des Glaubens 76 Kapitel 2 Die Kirche und die Revolution 99 Kapitel 3 Puritaner, die sich für Spartaner halten, laufen Amok – Paris im 18. Jahrhundert 152 Kapitel 4 Die »Allianz« von Thron und Altar in Europa während der Restauration 191 Kapitel 5 Auserwählte Völker – Politischer Messianismus und Nationalismus 257 Kapitel 6 Das Jahrhundert der Glaubensbekenntnisse 353 Kapitel 7 Neue Menschen und heilige Gewalt – Russland Ende des 19. Jahrhunderts INHALT 394 Kapitel 8 Dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist – Kirche gegen Staat, Staat gegen Kirche 458 Kapitel 9 Die Kirchen und die Industriegesellschaft 527 Kapitel 10 Apokalypse 1914 ZWEITER TEIL 575 Einleitung 585 Kapitel 1 »Leid der Völker und Entsetzen« – Europa nach dem Ersten Weltkrieg 628 Kapitel 2 Die totalitären politischen Religionen 724 Kapitel 3 Die Kirchen im Zeitalter der Diktatoren 829 Kapitel 4 Apokalypse 1939–1945 912 Kapitel 5 Widerstand, Christdemokratie und Kalter Krieg 953 Kapitel 6 Der Weg in die Unfreiheit – Die Durchsetzung des Kommunismus nach 1945 983 Kapitel 7 Zeit für Spielzeugtrompeten INHALT 1016 Kapitel 8 »Der Fluch von Ulster« – Die Nordirland-Krise (1968–2005) 1066 Kapitel 9 Die Kirchen und der Zusammenbruch des Marxismus-Leninismus in Europa (1970–1990) 1107 Kapitel 10 Kubische Bauten, Kuppeln und Todeskulte – Europa nach dem 11. September 2001 AN H AN G 1151 Anmerkungen zum ersten und zweiten Teil 1229 Auswahlbibliografie 1264 Personenregister ER S T E R T E I L Für Martin Ivens Niederträchtige Menschen sind aus deiner Mitte herausgetreten und haben ihre Mitbürger vom Herrn abgebracht, indem sie sagten: Gehen wir, und dienen wir anderen Göttern, die ihr bisher nicht kanntet! 5. M os e, 13, 1 Man glaubt nicht mehr an Gott. Die neue Religion ist der Nationalismus. Die Völker gehen nicht mehr in die Kirchen. Sie gehen in nationale Vereine. Joseph Roth, R a d et z k y m a r s c h (1932) Vorbemerkung Vor fünf Jahren habe ich die Niederschrift meines Buches Die Zeit des Nationalsozialismus abgeschlossen. Während der Arbeit wurde mir klar, dass man dort, wo sich Politik und Religion überschneiden, vor neuen, heikleren Aufgaben steht, als wenn es um die Rekapitulation der entsetzlichen Ereignisse im »Dritten Reich« geht, über die bereits viele Bücher erschienen und zahllose Fernsehsendungen ausgestrahlt worden sind. Ich hatte mich damit abgefunden, im Abseits der historischen Forschung zu arbeiten, da verliehen der Terror des 11. September 2001 und das Wiederaufleben einer breiten Palette religiöser Fragen meinem Vorhaben unerwartete Bedeutung, auch wenn es nicht als Beitrag zu dem konzipiert war, was der britische Autor Michael Oakeshott »wirksame Vergangenheiten« genannt hat. Der erste Teil von Irdische Mächte, göttliches Heil ist eine breit angelegte Untersuchung sowohl der Politik der Religion als auch der Religion der Politik vom Zeitalter der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg; im zweiten Teil des Bandes werden diese Aspekte mit den totalitären politischen Religionen und dem, was auf sie folgte, in Verbindung gebracht. Ein solches Vorhaben ist ebenso ehrgeizig wie selektiv. Der erste Teil des Buches handelt vor allem von den Religionen, die man als »politisch«, »weltlich« und »zivil« bezeichnet hat, sowie von dem Verhältnis, in dem diese neuen Religionen in der Epoche der Säkularisierung zum Christentum standen. Ich setze mich weder mit dem Islam noch mit dem Judentum auseinander, über die es bereits viele hervorragende Studien gibt – insbesondere Roger Scrutons The West and the Rest und David Vitals A People Apart. Ich nähere mich meinem Thema eher eklektisch, verfolge die Geschichte der modernen Ideologien und Politik, der europäischen Säkularisierung und der wichtigen christlichen Gemeinschaften, wobei es nicht meine Absicht ist – ich bin weder Kirchenhistoriker noch Theologe –, eine Geschichte des Christentums zu schreiben. 14 ERSTER TEIL Ich habe versucht, mich den verschiedenen Glaubensgemeinschaften und Traditionen – auch denen der militanten Verfechter der Säkularisierung – mit Einfühlungsvermögen zu nähern, denn es geht um Geschichte und nicht um Polemik. In der Geschichte des europäischen Rationalismus gibt es durchaus finstere Epochen, sogar einen Völkermord im Namen der Vernunft, und insofern könnten religiöse Menschen auf Angriffe selbst ernannter Rationalisten getrost weniger defensiv reagieren, als sie es derzeit tun. Wie die meisten historischen Untersuchungen enthält auch dieses Buch einige Botschaften für die Gegenwart, doch sie bleiben verschlüsselt, denn im Hinblick auf einige Fragen, die der Schriftsteller Michel Houellebecq in Elementarteilchen so treffend erörtert hat – zum Beispiel, ob für eine zunehmend fragmentarisierte und säkularisierte Gesellschaft eine zivile Religion wünschenswert wäre –, bin ich genauso verunsichert wie die meisten Leser; zudem werden ihre Antworten gewiss auch von den historischen Erfahrungen ihres jeweiligen Landes bestimmt sein. Ein Australier wird den Nutzen bürgerlicher Rituale ganz anders betrachten als ein ebenso »frei geborener« Untertan der Königin von England. »Europa« wird derzeit sowohl von Islamisten als auch von einigen christlichen Kreisen in den Vereinigten Staaten häufig als »gottlose Zone« verleumdet. Möglicherweise empfinden das manche Christen in Europa nicht anders. Ich möchte auch darauf hinweisen, dass es viele Zwischenzustände gibt, mit denen wir noch immer ganz gut leben können. Ich hätte mir niemanden Besseren wünschen können als die HarperCollins Verleger Tim Duggan in New York und Michael Fishwick in London. Peter James hat erneut seine Meisterschaft als Lektor unter Beweis gestellt. Die ausnehmend professionelle Wylie Agency, insbesondere Andrew selbst und Michal Shavit in London, haben es mir ermöglicht, frei von jeglicher akademischer Verpflichtung, an dem ersten Teil dieses Buches zu arbeiten. Den ersten Anstoß dazu gaben mir der Jesuit John McDade und Lawrence Hemming vom Heythrop College, indem sie mir rasch die »Cardinal Basil Hume Memorial Lectures« des Jahres 2002 zugänglich machten, die sich mit dem Thema »Das Böse in Religion und Gesellschaft« befassten. Historiker stehen heute in internationalem Kontakt, und das war auch für mich sehr wichtig. Im Winter 2003 hat mir das Historische Institut der Stanford University ideale Bedingungen zum Lesen, Schreiben (und Lehren) geboten. Anregend waren die Abende mit Bob und Liddie Con- 15 VORBEMERKUNG quest sowie mit Joseph und Marguerite Frank. Dankbar bin ich auch den deutschen Professoren Gerhard Besier, Karl Dietrich Bracher, Klaus Hildebrand, Hans Maier, Horst Möller und Heinrich-August Winkler für ihre Ratschläge und ihre Unterstützung; Tzvetan Todorov danke ich für ein gelegentliches Gespräch in der Nähe des Jardin des Plantes in Paris. Dr. John Nicholls von der London City Mission in Bermondsey ermöglichte mir, das dortige Archiv zur Missionstätigkeit zu nutzen, die im 19. Jahrhundert von London ausging. Die London Library verschaffte mir Zugang zu zahllosen Büchern, die für meine Untersuchung wichtig waren, und das Bibliothekspersonal bot mir unermüdlich seine Hilfe an. Professor Alwin Jackson verhalf mir zu einem Einstieg in die Geschichte Irlands, Max Likin und Cedric Meletta unterstützten mich beim Kopieren der Quellen über den Klerus in den französischen Provinzen. Adolf und Dawn Wood, Desmond King, Bruce Mauleverer, Sophie Blum und Harvey Starte interessierten sich sehr für die von mir abgehandelten Themen und bereicherten meine Ausführungen durch ihre Kommentare. Meine wunderbare Frau Linden hat die Qual, mit einem Autor verheiratet zu sein, wieder einmal (zumeist) anstandslos ertragen und mir bei praktischen Problemen geholfen. London, im November 2004 Michael Burleigh Einleitung Am einfachsten lässt sich das Ziel dieses Buchs erklären, wenn ich beschreibe, wie es ursprünglich angelegt war. Ich hatte die Absicht, einige der bekannten »politischen Religionen« zu untersuchen, insbesondere die weltlichen Kulte der Jakobiner während der Französischen Revolution und die nicht weniger bizarren Rituale der Bolschewiki, der Faschisten und der Nationalsozialisten. Ziel solcher Veranstaltungen war es, eine gefühlsmäßige Gemeinschaft entstehen zu lassen, die auf emotionalem Gleichklang beruhte. Um »die Massen« ideologisch einzunehmen, wurde Raum und Zeit eine neue Konnotation gegeben. Dies hätte eine weiter gefasste Diskussion verwandter Utopien erforderlich gemacht, die darauf abzielten, den alten Adam zu einem »neuen Menschen« zu machen – ein Vorhaben, das vorausgesetzt hätte, dass die Persönlichkeit des Menschen so formbar ist wie Ton. Von dieser ursprünglichen Anlage des Buches blieb einiges erhalten, und aus diesem Grund beginnt es auch mit der Epoche der Aufklärung, in der viele dieser Konzepte säkulare Gestalt annahmen – die Vorstellung eines »neuen Menschen« bezieht sich zweifellos auf die christliche Vorstellung der Wiedergeburt durch die Taufe. Damit aber stellten sich so viele wichtige Fragen, dass die Darstellung der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts dem zweiten Teil des Buches vorbehalten bleiben muss. Und so werden im Schlusskapitel des ersten Teils nur die beiden Vorboten der Bewegungen eingeführt, die nach dem Ersten Weltkrieg erneut auftauchen sollten: Charles Maurras und Paul Anton de Lagarde, die extrem rechtsgerichteten Propheten des 19. Jahrhunderts, die die fremden Götter des 20. Jahrhunderts predigten. Dem ursprünglichen Plan zufolge sollte die Darstellung der Zeit zwischen der Französischen Revolution und dem modernen Totalitarismus von einigen vertrauten Überlegungen zur Symbolwelt der Nationalstaaten im Europa des 19. Jahrhunderts, zu ihren Festen, Denkmälern, Statuen, Mythen und patriotischen Lieder bestimmt sein. Dieser Prozess 18 ERSTER TEIL der »Nationenbildung« war letztlich das Echo der europäischen Konversion zum Christentum während des Mittelalters; vor allem des Kampfs um die Herzen und Köpfe der Menschen in der Zeit von Reformation und Gegenreformation, in der sich unauslöschliche religiöse Identitäten herausbildeten. Diesen Ausgangspunkt, dessen Spuren sich überall in diesem Buch finden, habe ich nach der gründlichen Lektüre von Autoren gefunden, die lange vor der Geburt der meisten von uns auf diesem Gebiet gearbeitet haben. Unter schwierigen Umständen haben sie über die totalitären Regimes geschrieben, die ihr Leben stark beeinträchtigt hatten. Darum erscheint es mir angemessen, mit einer Hommage an diese Autoren zu beginnen, die zugleich auf meine eigenen Bedenken hinweist, und mich von da aus zurückzuarbeiten zu den entfernteren Vorboten jener weniger bekannten Epochen, die im Zentrum des ersten Teils dieses Buches stehen. Zwei Arten, die Diktaturen des 20. Jahrhunderts zu untersuchen, haben sich als sinnvoll und zwingend erwiesen: Man hat sie entweder als »Totalitarismen« oder aber als »politische Religionen« miteinander verglichen. Eine einflussreiche Minderheit unter den Wissenschaftlern lehnt den Begriff »totalitär« ab, und zwar aus zwei Gründen. Sie wendet ein, dieser Begriff lasse die ungeregelte, fragmentierte Ausübung der Macht in diesen Diktaturen allzu stromlinienförmig erscheinen, als hätten sie nach den technischen Vorgaben eines bösartigen Ingenieurs funktioniert. Diese inzwischen üblich gewordene Kritik berücksichtigt nicht das Argument, dass Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus ja tatsächlich danach strebten und davon träumten, eine bis dahin allen Autokratien und Tyranneien unbekannte Machtfülle zu erlangen, die man jedoch aus der Welt der Religion kannte, die den Herzen und den Ritualen stets besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat. Die genannten Kritiker setzen sich nicht mit der Frage auseinander, inwieweit totalitäre Systeme eine Ähnlichkeit mit der Haltung der Kirche haben; sie übersehen auch, dass Totalitarismen, indem sie die Trennung von Kirche und Staat aufheben, auch eine Rückkehr in jene ferne Zeiten bedeuten, in denen der Herrscher zugleich auch als Gottheit galt. Da diese Kritiker zudem der liberalen Linken angehören und sich progressiven Idealen verschrieben haben, empfinden sie es als Besudelung, wenn der Kommunismus, eine Folgeerscheinung der Aufklärung und der Französischen Revolution, mit dem rücksichtslosen Nihilismus des Natio- EINLEITUNG nalsozialismus in Verbindung gebracht wird. Doch seit BBC, Guardian und New York Times den Begriff »totalitär« regelmäßig und angemessen verwenden, kann man dieses Gefecht – unabhängig davon, was ein Teil der »Scientific community« davon hält – wohl als verloren bezeichnen.1 Der Begriff »politische Religion« hat eine kompliziertere Entstehungsgeschichte, und auch säkulare Wissenschaftler betrachten ihn mit Skepsis, insbesondere diejenigen, die die messianischen Züge des Frühsozialismus und des Marxismus gern verwischen möchten – Wurzeln, an die sie nur ungern erinnert werden.2 Die einzige Ausnahme bildet die gegenwärtige Faszination für die theatralischen Räume der modernen Politik, die gut zu der für die Postmoderne typischen Beschäftigung mit Darstellungen und Symbolen passt.3 Dem immer häufigeren Auftreten des Begriffs »politische Religion« zufolge wird die akademische liberale Linke auch dieses Gefecht verlieren, zumindest auf dem europäischen Festland, wo Geschichte nicht so strikt von Philosophie oder Theologie getrennt wird.4 Der Begriff »politische Religion« geht auf das Jahr 1917 zurück, auf die Zeit, seit der die von Lenin, Mussolini, Hitler und Stalin etablierten Regimes immer häufiger als politische »Religionen« beschrieben wurden. Denn die Analogie bezog sich in der Regel auf ein orthodoxes oder heterodoxes Christentum, manchmal aber auch – so etwa in Bertrand Russells Schriften über den Bolschewismus aus den 1920er-Jahren – auf den Islam.5 Mit Russells historisch unergiebigen Ableitungen brauchen wir uns nicht lange aufzuhalten. Er selbst hat den Umstand, dass ihn die Bolschewiki an die Einsiedler des Alten Ägypten sowie an die Puritaner der Cromwell-Zeit erinnerten, nur einer kleinen Bemerkung für würdig erachtet. In einem Brief an Lady Ottoline Morrell, der zwei von Russells unsinnigen Vorurteilen offenbart, schreibt er, die Führung der Bolschewiki setze sich aus »amerikanisierten Juden« zusammen, aus »Menschen, die eine Mischung aus Sidney Webb und Rufus Isaacs sein könnten«. Auf diese sonderbare Bemerkung verzichtete er jedoch in den Artikeln für die New Republic, die er für sein nicht völlig wertloses Buch umschrieb.6 Ein Jahrhundert zuvor hatte der adlige Wissenschaftler Alexis de Tocqueville einen ähnlichen Vergleich mit dem Islam in seiner Darstellung der Jakobiner und ihrer Politik während der Französischen Revolution angestellt. Darauf kam er nach der Lektüre von Schillers Darstellung der Religionskriege in der Frühen Neuzeit, die über politische Grenzen 19 20 ERSTER TEIL hinausgriffen. Dies erinnerte Tocqueville an den ideologischen Kampf zwischen den Jakobinern und den Konterrevolutionären im Europa des ausgehenden 18. Jahrhunderts: Da sie [die französische Revolution] den Anschein erweckte, die Wiedergeburt des Menschengeschlechts noch mehr als die Reform Frankreichs zu erstreben, hat sie eine Leidenschaft entzündet, wie sie bis dahin die heftigsten politischen Revolutionen niemals zu erzeugen vermocht hatten. Sie hat den Bekehrungsdrang eingeflößt und die Propaganda entstehen lassen. Dadurch hat sie denn auch jenen Anschein einer religiösen Revolution zu gewinnen vermocht, der die Zeitgenossen so sehr in Schrecken versetzt hat; oder vielmehr sie ist selbst zu einer Art Religion geworden, allerdings eine unvollkommene Religion, ohne Gott, ohne Kultus und ohne künftiges Leben, die aber trotzdem, gleich dem Islam, die ganze Erde mit ihren Soldaten, ihren Aposteln und ihren Märtyrern überschwemmt hat.7 In den 1930er-Jahren wurde der Begriff »politische [oder säkulare] Religion« von einigen Denkern in verschiedenen Ländern aufgegriffen. Einer der Ersten war der Schriftsteller Franz Werfel, der Ehemann von Alma Mahler, der sich stark zum Katholizismus hingezogen fühlte. In einer Folge von Vorträgen, die er 1932 in Deutschland hielt, beschrieb Werfel Kommunismus und Nationalsozialismus als »Religionsersatz«, als Formen eines Glaubens, die »antireligiöse, jedoch religionssurrogierende Glaubensarten sind und keineswegs nur politische Ideale«.8 Viele Autoren der 1930er-Jahre arbeiteten in Untermiete und lebten aus Koffern, in die sie ihre weltliche Habe gestopft hatten. In ihren Werken bedienen sie sich einer gedrängten, auf das Wesentliche reduzierten Darstellungsform; sie stützten sich auf die Erinnerung an verloren gegangene Bibliotheken, ihnen blieben nur ihr schöpferischer Geist und ihre Vorstellungskraft. Zu diesen Denkern gehören die österreichische Historikerin Lucie Varga, der brillante französische Soziologie Raymond Aron, der deutsche katholische Journalist Fritz Gerlich, der ungarische Drehbuchautor René Fülöp-Miller, der russisch-jüdische Exilant Waldemar Gurian und der italienische katholische Priester und Politiker Luigi Sturzo – sie alle schrieben scharfsichtige Kritiken über die zeitgenössischen Auseinandersetzungen um Gesellschaftsklasse, Staat, Rasse und Nation. Auch der amerikanische protestantische Theologe Reinhold Niebuhr verfasste beachtenswerte Untersuchungen der »neuen Religion« des Sowjetkom- EINLEITUNG munismus, wobei er sich eines – seiner Aussage zufolge –ökumenischen Ansatzes bediente.9 Für viele dieser Menschen war die Frage nach der »politischen Religion« keineswegs nur akademisch. Gerlich etwa wurde wegen seiner scharfen Kritik am Nationalsozialismus im Münchner Gefängnis Stadelheim übel zugerichtet und dann, im Juni 1934, in der »Nacht der langen Messer« (d. h. beim sog. Röhm-Putsch, als Hitler die Führung der SA ausschaltete) in Dachau ermordet. Als Autor eines bahnbrechenden Berichts über den kommunistischen Chiliasmus wäre ihm in Stalins Sowjetparadies das gleiche Schicksal zuteil geworden. Am nachdrücklichsten nutzte ein großartiger Wissenschaftler, der auch aus persönlicher Erfahrung schrieb, den Begriff »politische Religion«. Als junger Mann hatte der in Köln geborene Eric Voegelin wissenschaftliche Abhandlungen über Frank Wedekinds erotische Dramen veröffentlicht. Seine erste Anstellung an der Universität bekam er 1938 in Wien, kurz vor dem »Anschluss« Österreichs an Nazideutschland. Das waren schlechte Vorzeichen. Er verlor seinen Lehrstuhl für Gesellschaftslehre und Allgemeine Staatstheorie an der Juristischen Fakultät, obwohl er, wie er erstaunten amerikanischen Bekannten später erklärte, weder Jude war noch ein Mann der Linken. Als die Gestapo in seiner privaten Bibliothek zu schnüffeln begann, schlug Voegelin vor, sie sollten Hitlers Mein Kampf zusammen mit dem Kommunistischen Manifest als verdächtige Literatur konfiszieren. Er emigrierte über die Schweiz in die USA. Als er unter den Liberalen der Ivy-League-Universitäten an der amerikanischen Ostküste auf zu viele linksgerichtete, totalitäre Denker stieß, ging er zunächst an die Hoover Institution nach Stanford, die heute seinen Nachlass aufbewahrt, bevor er dem Department of Government an der Louisiana State University in Baton Rouge beitrat, wo seine gesammelten Werke auf über 34 Bände anschwollen.10 Im Österreich der 1930er-Jahre wurde der asketische Voegelin zu einem Gezeichneten. In einer frühen Publikation verdammte er die Rassenlehre, in seiner zweiten bedeutenden Veröffentlichung entwickelte er die These, dass der autoritär-katholische Staat von Dollfuss und Schussnigg sich in der Zwischenkriegszeit möglicherweise doch zu einer Demokratie hätte entwickeln können – eine Möglichkeit, die nördlich der österreichischen Grenze, in Hitlers Deutschland, nie bestanden habe.11 Voegelin betrachtete das Böse in der Welt als reale Macht: 21 22 ERSTER TEIL Eine religiöse Betrachtung des Nationalsozialismus muss von der Annahme ausgehen dürfen, dass es Böses in der Welt gebe; und zwar das Böse nicht nur als einen defizienten Modus des Seins, als ein Negatives, sondern als eine echte, in der Welt wirksame Substanz und Kraft. Einer nicht nur sittlich schlechten, sondern religiös bösen, satanischen Substanz kann nur aus einer gleichstarken religiös guten Kraft Widerstand geleistet werden. Man kann nicht eine satanische Kraft mit Sittlichkeit und Humanität allein bekämpfen. Voegelin war ein anspruchsvoller Denker, der, bewandert in den alten und in vielen modernen Sprachen, von vielen Zeitgenossen in Europa und Amerika bewundert wurde. Seine Gedanken formulierte er in theologischen Begriffen, auch wenn er für seine Vorlesungen und Essays um einen klareren, polemischen Stil bemüht war. Dieser Obskurantismus entwertet seine Verwendung des Begriffs »politische Religion« nicht. Auch Raymond Aron arbeitete mit dem analogen Begriff der »säkularen Religion«, ohne allerdings Voegelins Ablehnung der Aufklärung oder dessen »präreformatorischen, christlichen« Pessimismus hinsichtlich des menschlichen Tuns zu teilen. Voegelin wollte zeigen, dass die gnostische Politik des Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus und deren »Zerstörungsmacht« nicht einfach »den Dummheiten von ein paar Intellektuellen« entsprungen sei; sie sei » vielmehr der kumulative Effekt ungelöster Probleme und schiefer Lösungsversuche über ein Jahrtausend westlicher Geschichte«.12 Mit seinem ersten Versuch, sich diesen Problemen zu nähern, ging er sehr weit zurück in die Geschichte. Die wesentliche Unterscheidung, die er in seiner Schrift Die politischen Religionen (1938) traf, war die zwischen »welttranszendenten« und »weltimmanenten« Religionen, womit er auf die falsche Verehrung abhob, die Erstere irdisch-kreatürlichen Religionen zukommen lässt. Voegelin, der den Unterschied zwischen einem Gott und einem Idol herausarbeiten wollte, grub sich, wenn man so will, durch englisch-puritanische zu mittelalterlich-gnostischen Häresien durch, bis er schließlich im Niltal des 2. Jahrtausends vor Christus landete. Die erste »weltimmanente« Religion entstand unter Amenophis IV., dem Pharao, der um 1376 v. Chr. eine neue Sonnenreligion einführte, sich selbst zum Gott erklärte und sich dann Echnaton nannte, »der dem Aton, dem Sonnengott, wohlgefällig ist«. Diese Ära ging vorüber; die Verhältnisse normalisierten sich wieder. Als Nächstes wandte sich Voegelin der Neuzeit zu, in der die göttliche Grundlage politischer Macht EINLEITUNG angezweifelt, dann Kirche und Staat allmählich voneinander getrennt wurden, in der es aber auch zu einer Sakralisierung von Rasse, Staat und Nation kam. Mit anderen Worten: Das mittelalterliche Christentum wurde abgelöst von souveränen Nationen, die sich nicht länger auf göttliches Recht beriefen, während die Menschen nach dem Sinn der Welt suchten und sich mithilfe der Naturwissenschaften höchstes Wissen aneignen wollten. Doch die neuen Kollektive der Rasse, des Staates und der Nation verharrten weiterhin in der symbolischen Sprache, die zuvor das politische Leben auf Erden mit dem Jenseits verbunden hatte, also in Begriffen und Vorstellungen wie Hierarchie und Ordnung, Mission und Zweck, Gemeinschaft als »Kirche«, in dem Gefühl kollektiver Auserwähltheit, dem Kampf zwischen Gut und Böse und so weiter. In säkularisierter Form lieferten die mittelalterlichen gnostisch-chiliastischen Häresien eine engere Auswahl von Pathologien, die später in totalitären Ideologien und Parteien wiederauflebten. Voegelins Schrift endet dort, wo sie begonnen hat, nämlich bei Echnaton, der, zum sonnenbeschienenen »Führer« modernisiert, durch die Wolken über »Großdeutschland« bricht: »Nur zum Führer spricht der Gott, das Volk erfährt seinen Willen nur durch Vermittlung des Führers.« Auch wenn diese Gedanken ziemlich fernab vom harten Widerhall der Marschstiefel zu liegen scheinen und sich auf eine angenommene Identität von »Wesenheiten« stützen, die durch Jahrtausende voneinander getrennt sind, darf man nicht unbeachtet lassen, dass Voegelin sie mit eindrucksvollen Schilderungen der Massenhysterie durchsetzt, eben mit dem, was man auf Deutsch Rausch nennt und was im Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus gang und gäbe war: Der Übergang aus der Haltung des starren Stolzes in das Schmelzen und Strömen ist aktiv und passiv zugleich; die Seele will und erlebt sich selbst als tätig im Durchbrechen von Widerständen, und sie ist zugleich getrieben, mitgerissen von einem Strom, dem sie sich nur hingeben muss. Die Seele hat sich mit dem Strom brüderlichen Weltfließens vereinigt: »Und ich war Einer. Und das Ganze floss.« Der Strom trägt weiter, durchstößt alle Wandlungen und lässt die Seele einmünden in das Ganze des Volkes; im Finden und in der Vereinigung entpersönlicht sich die Seele; sie befreit sich vollständig vom kalten Ring ihres Selbst; sie erweitert sich über ihre frierende Kleinheit hinaus, wird »gut und groß«; im Verlieren ihres Selbst steigt sie auf in die größere Realität des Volkes: »Verlor mich selbst und fand das Volk, das Reich.«13 23 UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE Michael Burleigh Irdische Mächte, göttliches Heil Die Geschichte des Kampfes zwischen Politik und Religion von der Französischen Revolution bis in die Gegenwart Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 1280 Seiten, 15,0 x 22,7 cm ISBN: 978-3-421-04229-3 DVA Sachbuch Erscheinungstermin: April 2008 Von der Französischen Revolution bis Al Qaida – Religion und Politik in Europa Seit Beginn des 18. Jahrhunderts kehrten viele Europäer Gott und der Kirche den Rücken und wandten sich stattdessen anderen Götzen zu. Jakobiner, Kommunisten oder Nationalsozialisten – sie alle suchten ihr Heil in neuen politischen Religionen. Mit blutigen Folgen. Michael Burleigh analysiert in diesem Standardwerk den Kampf zwischen Politik und Religion und zeigt, wie messianischer Eifer die europäische Geschichte bestimmte. In seiner großen Geschichte des Verhältnisses von Politik und Religion in Europa schlägt Michael Burleigh einen weiten Bogen von den Wirren der Französischen Revolution im ausgehenden 18. Jahrhundert bis zum aktuellen Krieg gegen den islamistischen Terror. In scharfen Analysen und anschaulichen Beispielen erklärt er die Entstehung der politischen Religionen aus dem Untergang alter Machtverhältnisse und Glaubensvorstellungen. Burleigh zeichnet in seiner großen Gesamtdarstellung zunächst die Abwendung Europas vom christlichen Glauben nach und zeigt, wie neue Heilserwartungen im Sozialismus oder Nationalismus kristallisierten und sich letztlich zu den großen Geißeln des 20. Jahrhunderts – Nationalsozialismus und Kommunismus – auswuchsen. Und auch heute erleben wir, wie die Religion scheinbar mit aller Macht zurückkehrt. Michael Burleigh beweist in seiner meisterhaften Darstellung, dass sie nie wirklich verschwunden war. • Ein neuer Blick auf die entscheidenden Triebkräfte der europäischen Geschichte • Ein kontroverses Werk, das für Debatten sorgen wird