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SIGMAR PGLKE:
'LÖSUNGEN I-IV»,
10
1967
thema
und musikmagie
über die relative vernünftigkeit
des nationalistischen
von
hanns-wenner heister
Der «Zahlenzauber», einer der Begriffe, mit denen Thomas Mann 1918 Musik als dialektisch-widersprüchliche
Kunst charakterisierte, gehört buchstäblich seit Jahrtausenden zum ideologischen Kontext von Musik - aber auch zur
Musik selbst. Er ist, paradox fast, Teilmoment von vor-rationaler, universistischer Musikmagie wie zugleich rationales
Antidot vor allem gegen deren ekstatisch-orgiastische Akzentuierung, die neben kathartischen, aufbauenden auch
[selbst-) zerstörerische Tendenzen hat: Die rasenden Mänaden oder Bacchantinnen, die nicht nur Pentheus, sondern
auch Orpheus zerfleischen, sind dafür ein mythisches Menetekel. Die widersprüchliche Einheit von Maß/Zahl und
Ekstase, von körperlich-sinnlicher Erregung und geistiger, abstrahierender Bändigung und Beruhigung bilden eine
innere Polarität, die sich in Gehalt und Gestalt wie in Wirkungen und Funktionen von Musik machtvoll äußert.
musiK Una Universum
Musikmathematik erscheint dabei als Mittel wie Ausdruck von Sublimierung und Rationalisierung des Unberechenbaren und dadurch potenziell
Bedrohlichen. Sie vermittelt die Konfiguration «Kosmos versus Chaos», gestaltet das Ungestalte (aber Fruchtbare,
Entwicklungsträchtige) mit, stellt eine
schöne Ordnung her und zugleich dar
- kosmos meint im Griechischen auch
«Schmuck», «Zier». Allerdings enthält
umgekehrt die Rationalität der Zahlen
und des Zählens ihrerseits wiederum
prä- bis anti-rationale Aspekte, jedenfalls aus der Perspektive eines wissenschaftlichen Weltbilds. Noch in der
Genese der höchst modernen Zwölftontechnik verbinden sich Rationalität
zwischen Logik des temperierten TonSystems und Schachspiel des Wiener
Kaffeehauses mit Mystizismus zwisehen Kabbala und Theosophie. Generell schließen im Zeichen des Universismus religiös-magisch fundierte Zahlenbezüge Musik unvermittelt mit dem
Kosmos kurz, Töne und Tonordnungen mit Gott oder Göttern. Die damit
einhergehende Projektion ästhetischer,
psychischer, sozialer Bezüge ins Außerund Übermenschliche, gesellschaftlicher
Sachverhalte in Natur, basiert auf einem
magisch-universistischen Weltbild.
Elemente dieses Universismus
entstehen bereits innerhalb der späten
steinzeitlichen Kulturen. Voll entwiekelt wird er in den frühen Hochkulturen. Durch Analogie, Verknüpfung,
universellen Zusammenhang von fast
allem und jedem hauptsächlich über
äußere, etwa ikonische, bildhafte Ahnlichkeiten, über Parallelen und Analo-
gien, ergeben sich vorwissenschaftliche
Ansätze zur Systematisierung, damit
auch zum rationalen Erfassen des Weltganzen, des Universums. In China z. B.
werden bei der im Prinzip handfestempirischen Klassifikation der Musikinstrumente nach Materialien diese um
die Seide erweitert, der die Zither qin
zugeordnet ist - dies wohl als Anspielung auf die Saiten und auch, um die
besonders vollständige Zahl 8 zu erhalten. Das aber wird nochmals ergänzt
durch die Zuordnung zu Sommer und
Süden; letztere wiederum sind im
System der pentatonischen Grundleiter mit Feuer, Mars und Freude korreliert. Stets geht es um einen - imaginär-real - sinnerfüllten Kosmos. Ihn
stellt Musik mimetisch dar, und umgekehrt unterstützt Musikmagie sein
Funktionieren.
KOSmOS Una zanien
Das Gleiche gilt für Musikmathematik. Sie ist eine Fortsetzung der
Musikmagie mit anderen Mitteln. Denn
ein weiterer, in unserem Zusammenhang entscheidender Schritt ist die Abstraktion von den sinnlichen Erscheinungen. Hier werden einschlägige Dinge
und Sachverhalte durch Zahlen repräsentiert: ein Stück Rationalität, Aufklärung und Teil des Fortschrittsprozesses. Ohnehin gehören zur histonsehen Logik (auch) des Universismus
wachsende Abstraktion und Rationalisierung.
Bei der zahlenmäßigen Zuordnung dient zumal die Planetenanzahl als
Ausgangspunkt bzw. Korrelat für die
Konstruktion von Tonsystemen - je
nach Zählweise und Stand der durchaus
empirischen Naturbeobachtung zwischen 7 und 9. Hcptatonik ist für Babylonien im ersten Jahrtausend v. u. Z.
sehr wahrscheinlich. Die griechischen
Denker dann suchten nach der arche,
dem Urprinzip. Und die Zahlen schienen das Rationale im Nicht-Rationalen,
das Bleibende im Wandel, die Einheit in
der Vielfalt, im Wechsel sinnlicher Erscheinungen zu garantieren.
^]e ai^jjesis a ] s Sinnlichkeit und sinnliehe Erkenntnis, vom antisensualistisehen Rationalismus herabgesetzt, bis
zu einem gewissen Grad rehabilitiert.
Der hier einschlägige Pythagoräismus dient in der Moderne v. a. als
Berufungsinstanz für im trivialen Sinn
«esoterische», irrationalistische Ideologicn. Allerdings war er genuin, wie der
Konfuzianismus aufs 6. Jahrhundert v.
u. Z. zu datieren, eher eine rationalistisehe Ideologie. Auch hatte der Hang
zur zahlenmäßigen Quantifizierung der
Welt bis hin zur Fetischisierung der
Zahl etwas mit dem dortigen Handelskapital in «Magna Graecia» zu tun, also
den sizihschen und unteritalienischen
Kolonien der kleinasiatischen und festlandsgriechischen polcis. Er war also ein
Stück wie immer begrenzter Aufklärung - immerhin gilt bis heute in der
euklidischen Geometrie der Satz des
Pythagoras. (Die konservative Wendung vollzieht wohl erst der Piatonismus etwa ein Jahrhundert später.)
Eine Grenze der Aufklärung
liegt andererseits in der Musikmathematik selber: Im Zusammenhang der
zahlensymbolischen Projektion werden
Zahlen nicht als Zeichen von materiel-
Renaissance die Verbindung von Zahl
und Wort, von quadrivialem und trivialem Musik-Denken: In der Sprachund Rhetorikorientierung entfaltet
sich der Topos von Musik als Rede
bzw. Sprache. Und die Verbindung
von Pythagoräismus/Platonismus und
Aristotelismus, von abstrakter und
konkreter Mimesis der Realität ist
nach wie vor eine Aufgabe umfassender Musikanalyse,
Der Tendenz nach auch zahlenmäßig zu fundieren sind HarmonieVorstellungen aufgrund verschiedener
Typen einer Projektion sozialer Sachverhalte nach außen. Gemeint ist hier
vor allem die kosmologisch-anthropologische Projektion: die Vorstellung
der musica mundana und der musica
humana, die sich auf die übergreifende
harmonia, auf die wohlproportionierte Übereinstimmung von Entgegcngesetztem beziehen - von Mensch und
Natur, Individuum und Gesellschaft,
Leib und Seele. Die musica humana
geht historisch-logisch vielleicht sogar
der musica mundana voraus: Dazu,
dass Leib und Seele in harmonia, im
Lot sind, trägt unter Umständen reale
Musik ja tatsächlich bei.
len Sachverhalten und Verhältnissen,
sondern als selbstständig wirkende
Mächte gedacht. Im Symbolbegriff ist
die Ambivalenz zwischen magisch wirkender Kraft und mimetischem Zeichen noch präsent. Sozusagen eine
direkte Konferenzschaltung zwischen
Gestirnen und Musik impliziert die
Vorstellung vom tönenden All, von der
Sphärenharmonie. Mit ihr überlebt ein
universistisches Residuum bis in die
Neuzeit. Hierzu gehört auch die (spät-)
antike und feudal-mittelalterliche Auffassung von Musik als «Wissenschaft»,
als ars und scientia. Diese Bestimmtheit
hatte sie besonders im Rahmer der septem artes liberales, der Sieben Freien
Künste. Musik zählte mit Geometrie,
Arithmetik und Astronomie zum qua-
Bei der Frage, worauf sich Zahlenoperationen in Musik überhaupt
beziehen können, finden wir wie bei
Texten die beiden Grundtypen der
Determinierung von formalen und
inhaltlichen bzw. strukturellen und
semantischen Aspekten der Musik,
Ein übergreifendes Ziel und Kriterium
ist Schönheit, relativ abstrakt, selber
formal, durch Proportionierung. Der
Goldene Schnitt (zahlenmäßig bercchenbar nach der Fibonacci-Folge) wird
offensichtlich naturwüchsig-spontan als
angenehm empfunden. Durch arithmetische, geometrische, sonstige Folgen spezifisch ausgewählte und festgelegte Mensur- oder Taktzahlen ergeben
Proportionen von Formteilen, damit
Formverhältnisse von Phrasen- und
Im Zeichen universistischen
Analogiedenkens trifft beim Hören
von Musik Ähnliches auf Ähnliches.
Damit ergibt sich auch die Möglichkeit ethischer, praxis- und Verhaltensregulierender Wirkungen. Und so wird
drivium, zu den im weiten Sinn mathemanschen Disziplinen. Sein Komplement war das sprachorientierte trivium
(Grammatik, Rhetorik, Dialektik).
Ein Teilmoment der Musikgeschichte war zumal mit und seit der
Periodengröße bis hin zu zyklischen
Anlagen und großformalen Dispositionen. In kleinerer Dimension geht es
um die Zahl der Töne bzw. Noten,
gegebenenfalls auch um faktische Tondauern bzw. Dauern-Proportionen. Bis
12
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Systematisch gesehen fungiert
die Verwendung von Zahlen im universistischen Denken wie in Musik
und Musikproduktion ihrerseits als
Vermittlung: zwischen Werk und Wirklichkeit, zwischen Musik und Gesellschaft, Kunst und Leben. Im europäisehen Feudalismus, in Mittelalter und
Renaissance entfalten sich die Ansätze
zu kompositorischem, symbolisch-semantischem Umgang mit Zahlen: ein
weiterer Schritt der Rationalisierung,
obwohl die Zahlen sozusagen als Beauftragte Gottes immer noch als wirkend gedacht werden.
thema
Urheberrechtlich geschützt
zur Phase des Serialismus und der Elektronischen Musik genügen dabei allerdings meist ziemlich einfache Verfahren:
die Rechenoperationen der Addition,
allenfalls der Multiplikation, einfaches
Zählen und Abzählen.
Besondere, gewissermaßen deutlicher sprechende Tonqualitäten bzw.
Tonhöhen dagegen ergeben sich, wofern nicht eine vorgängige Matrix von
Zahlen-Ton-Zuordnungen angelegt ist,
vorzugsweise über gematrische Verfahren. (Gematrie ist die Zuordnung
von Zahlen zu Buchstaben entsprechend deren Stellung in der Reihe des
Alphabets. Von den verschiedenen Methoden ist die einfachste die Berechnung A = 1, B = 2 usw.) Ein anderes
Verfahren generiert - insoweit wortund nicht primär zahlenbezogen über Solmisations- bzw. Ton-Buchstaben-Zuordnungen als soggetti cavati
dalle vocali, aus den Worten bzw.
Buchstaben «herausgeschälte» Töne als
«Themen». Es handelt sich also um
eine mit Stoffen, Sujets, Inhalten der
im Gegensatz zu populären bzw. populistischen, anti-rationalen bis irrationalistischen Vorurteilen keine Glaubensfrage, sondern ein bei vielen
Komponistinnen nachweislicher Sachverhalt. Zahlensemantik fungiert nun
nicht nur metaphysisch, makro- oder
sonstwie kosmisch, sondern - auch
darin dem Wort vergleichbar - als eine
zugleich stofflich wie strukturell signifikante Zwischen- bzw. Vermittlungsschicht. Reichlich und in reichhaltiger
Facettierung kommt die semantische
Verwendung von Zahlen nicht nur im
theologischen, sondern auch im säkularen Kontext vor: ein Aspekt, den
Thomas Phleps wie wenige andere Analytiker in den letzten Jahren ans Licht
gebracht hat - so etwa Willem Eiders
bei Musik der Renaissance generell,
Rolf W Stoll und Hans Ryschawy bei
Guillaume Dufay, Gösta Neuwirth bei
Josquin Desprez, Leopold Brauneiss
bei verschiedenen Komponisten und
Werken zwischen Hochrenaissance und
Postmoderne.
Musik vermittelte zusätzliche Strukturierung und Determinierung des Tonsatzes - und um einen Spezialfall
musikalischer Kryptografie: Was gesagt wird, soll zugleich verborgen und
doch Eingeweihten, speziellen Adressatlnnen, enthüllt werden.
Die Gehalte der Zahlenverwendung selber als Zahlen-Syntaktik wie
-Semantik sind damit allerdings noch
nicht vollständig erschlossen. Hier
kommen häufig als eine Art generative
Tiefenstruktur Magie und Religion,
Astronomie und Kosmologie oder
Astrologie, archaische, hochkulturelle
und «abendländische» Tradition zwisehen Glaube und Aberglaube (wobei
diese Differenzierung einerseits die
zwischen «Hoch»- und «Volksreligion» nachbildet, andererseits nur im
Bereich des Glaubens selber sinnvoll
ist, im Licht der Vernunft aber zergeht) ins Spiel, das eben damit kein
einfaches Spiel mehr ist, sondern Züge
eines Rituals bzw. einer mimetischen
Zeremonie erhält.
Die Existenz von Zahlensemantik (ein neutralerer Begriff als der traditionelle der «Zahlensymbolik») ist
Diese Vermittlung hat etwa bei
Alban Berg, der seinen Glauben, seine
Liebe, seine Hoffnungen wie anderes
mehr gern in Ziffern wie Buchstaben
ausdrückte, mystische, gläubige, abergläubische Implikationen, dagegen etwa bei Hanns Eisler sicher und bei
Brahms höchstwahrscheinlich gar keine. Sie findet sich bei einem heutigen
Komponisten wie Gerhard Stäbler, der
- absichtlich absichtslos und insoweit
fast Cageianer - einigermaßen beliebige,
zufällige, alltagsnahe (allerdings damit
auch weitgehend a-semantische) Zahlen, etwa auf Mineralwasseretiketten
als Realien, manchmal in der Art eines
Algorithmus als Grundlage für ausgedehnte Rechenoperationen und Materialdispositionen verwendet,
Im Zusammenhang mit d
Gematrie, die Zahlen und Buchstaben,
also Mathematisches und Sprachliches
zusammendenkt, verbinden sich mathematische und rhetorische Tradition,
Elemente des trivium und des quadrivium in der Klassifikation der artes
liberales, zwei Traditionslinien also,
die innerhalb der Musik bzw. des
Musikdenkens zwischen Komponie13
Abbildung
urheberrechtlich
geschützt
rcn und Kommentieren, Zahl und
Wort oft getrennt werden. Besonders
wichtig daran erscheint, dass hier die
Inhaltlichkeit des Formalen besonders
sinnfällig wird, etwa wenn Dauernbzw. Formproportionen durch für den
Komponisten oder allgemein relevante
und signifikante Zahlen determiniert
werden. Solche Verbindungen, geradezu
Wahlverwandtschaften, stehen im Zeichen der Semantik wie der Pragmatik,
der musikimmanenten Bedeutung wie
musiktranszendicrenden - hier im Pnnzip dem Werk jeweils vorgängigen Motivierungcn der Produktion. Dabei
gilt generell: Je komplexer und ungewöhnlicher die Zahlen selber sind,
desto eher ist der Standardeinwand
vom «Zufall» als Generator solcher
Beziehungen erledigt.
.
.
^
Zahlensemantik genügt als Methode - Symbolik, Allegorik, Emblematik sind historisch allerdings ernst
zu nehmen. Sie sind Gegenstand der
Musikgeschichtsschreibung wie der historischen Musikanalyse. Es ist damit
etwas grundsätzlich anderes, als wenn
dergleichen substanziell geglaubt oder
gar als wirkend vorgestellt wird - etwa
dahingehend, dass das mit der geheiligten Dreizahl in Stimmen- wie Mensurenzahl einfach und vielfach auskomponierte «Ter Sanctus» einen Gott
erfreuen und gnädig stimmen würde.
Gerade in der Distanz von theologisch-kosmologischer Exegese wird
etwas davon deutlich, wie fern uns
trotz der Traditionszusammenhänge
das quadrivialc Musikverständnis vor
allem in seinen Implikationen und seinen Auswirkungen in der Musik selbst
ist, und wie wenig wir wohl davon bislang wirklich begriffen haben, wie
wenig wir also in vieler Hinsicht die
Mcnschen und die Weltbilder der Antike wie des europäischen Mittelalters
verstehen.
Das Spektrum der Gegenstände
von musikalischer Zahlensemantik ist
denkbar weit und reicht vom sozialen
Lebensprozcss bis zum biografischen
Detail, von Herrscherlob bis zu ero-
tischer Zueignung. Als Teilbereich des
Sozialkontexts von Musik liefern Person, Lebensumstände, Biografie der
Komponierenden zum einen mit den
Antrieben, Wünschen, Zielsetzungen,
sozialen Bedingtheiten der Subjekte
die entscheidende Vermittlungsinstanz,
zum andern vormusikalischc Materialien, d. h. Quellen für Gegenstände,
Themen, Stoffe der Produktion. Die
Einbeziehung dieser Bereiche und
Vermittlungen macht das Werk für die
Dimension der Kultur, der Vorstellungen von der Welt, der allgemeinen wie
historisch später dann auch individuellen Lebensverhältnisse durchlässig.
Es handelt sich hier, semiotisch
gesprochen, um die pragmatische Dimension der Zeichenbenutzung nicht
nur genetisch, eben im Hinblick auf
universistischen (Mikro- und Makrokosmos per analogiam u. ä. zusammendenkenden), bei uns vor allem als «pythagoräisch» bekannten Tradition. Die
Einbettung dieser Ansätze in eine rationale, ideengeschichtlich sogar rationahstisch akzentuierte Traditionshnie
hindert nicht nur nicht an Aufmerksamkeit für nicht-rationale, emotionale,
intuitive Aspekte von Musik, sondern
fördert diese Sensibilität geradezu.
Im Laufe der Geschichte verlagert sich als Haupttendenz der Akzent
von der Magie zum Spiel, vom Allgemeinen aufs Individuelle: Offenlegen
von Intimität mindestens für Eingeweihte und zugleich Verbergen eben
durch das Verfahren der Codierung
bzw. Chiffrierung. Das geht manchmal
bis ins fast absurde Detail hinein, etwa
die vielfältigen Rückbeziehungen auf
biografische Sachverhalte, sondern auch
in funktionaler Perspektive, die mit
der Autorenintention hinsichtlich der
Wirkungen und Zwecke beginnt. Der
Wirkungs- und Adressatenbezug des
Komponierens gehört explizit mit
dazu. Er war stets mehr oder minder
bewusst. Und dieser Bezug war mindestens bis zur Durchsetzung bürgerlicher Kultur- bzw. kapitalistischer
Marktverhältnisse meist auch im Werk
präsent - so etwa der Herzog von Ferrara, Ercole I. d'Esté, in Form des berühmten soggetto cavato «Hercules
Dux Ferrariae» in Josquins vier- bis
sechsstimmiger Messe (ca. 1501/1505),
aufgedeckt wohl erst von Zarlino
1558. Dieser Adressatenbezug vermittelt zugleich zwischen Intention, Objektivation und Funktion.
Diese semantischen Operationen sind nicht als fauler Zauber, Hirngespinste, abgetane «Gotik» und Scholastik zu behandeln, wie sie besonders
in der Polemik der Aufklärung (etwa
bei Johann Mattheson) mit ihrer Betonung des Affekts erschien - wobei der
sensuahstische Flügel der Aufklärung
hier weit rigoroser war als der rationalistische. Sie sind aber zu entmystifizieren. Dabei zu vermeiden sind die
Fallstricke sowohl einer ausufernden
theologischen Exegese wie einer unvermittelten Fortsetzung der großen
bei Brahms oder Berg oder Schönberg
(s. a. den Beitrag von Thomas Phleps
in diesem Heft): Die Einbeziehung des
Rationalen, der Zahlen, führt geradezu
zu Enthüllungen - weniger im Biografischen selber als im Werk, dort allerdings so weit und tief gehend, dass das
doch fast sensationell erscheint. Der
musikalische Analytiker ist dabei so
wenig wie der ticfenpsychologischc zur
Einhaltung bürgerlicher, konventioncl1er Anstandsregeln verpflichtet,
Immer wieder zeigt sich, gegen
die immer noch gängige anti-biografisehe Tendenz in heutiger Musikwissenschaft, dass die Person des Komponisten als eine wesentliche Vermittlungsinstanz fürs Werk gelten muss,
Die eigentümliche Dialektik von Enthüllen und Verbergen ist hier ein
Spezialfall der Spannung zwischen
Hcrmetik und Propaganda, der Codierung etwa theologischer Lehren und
Symbole und der ästhetisch-sinnlichen
Wirkungsintention,
Leben wie Werk ihrerseits sind
aber natürlich ebenfalls für Zeitverhältnisse, Soziales, Politisches durchlässig. Zu bedenken sind daher neben
direkten aktuellen Bezügen auch nähere
oder entferntere überindividuelle Traditionsbezüge - musik- wie allgemeinhistorische. Musikalische Analyse weitet sich so stellenweise nicht nur zu
Gattungs- wie Rezeptions- bzw. Wir-
14
thema
kungsgeschichte, sondern auch zu
Ideen- und Mentalitätsgeschichte.
In der bürgerlichen Gesellschaft
werden auch die zahlensemantischen
Bezüge privatisiert, individualisiert:
symbolisch, aber primär biografisch
bezogen. Daneben existiert natürlich
die kosmologisch-universistische, pythagoräische, «harmonikale» Linie weiter, wiewohl verdünnt. Sowohl bloße
materiale und/oder formale Organisation durch Zahlen wie universistischkosmologische Bezüge vertragen sich
im Zweifelsfall mit der Ideologie der
«absoluten» Musik. Der Universismus
gibt ihr sogar eine Substanzialität und
Tiefenperspektive, die ihr in der flachen semiwissenschaftlichen Vorstellung fehlt (initiiert von Hanslick nach
1848, anders als noch emphatisch bei
E. T. A. Hoffmann z. B. in der Phase
der Klassik und Frühromantik).
.. , .
..
^^ i n n 11 (—IPIK pit"
Und VernunrC
Konträre bis kontradiktorische
Bestimmungen der Musik, die sich in
pythagoräische «tönende Mathematik»
oder als «verborgene Rechenkunst des
seines Zählens nicht bewussten Geistes» (J. G. Leibniz) und aristotelische
«Sprache des Herzens» bzw., weiter
und zugleich genauer gefasst, «Mimesis der Praxis» (Friedrich Tomberg)
aufspalten, sind als im Rahmen der
komplexen Einheit von Katharsis, Mimesis, Poiesis und Aisthesis als komplementäre Bestimmungen zusammenzudenken. Sicherlich vertritt dabei der
Zahlenzauber vorwiegend die Dirnension der Poiesis und Mimesis. Der
unmittelbaren Aisthesis ist er schwer
zugänglich: Zu hören ist er in der
Regel kaum - umso weniger, als beim
Hören von Musik auch diejenigen, die
ansonsten durchaus bis drei zählen
können, dies meist allenfalls vorbewusst tun. Sich jedoch vor wie nach
dem unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmen im Gesamt des Rezeptionsprozesses Rechenschaft abzulegen, ist
durchaus nützlich und scheint nur
für eine irrationalistische, dilettantisehe Musikauffassung kunstfremd. Die
Ablehnung der Ratio - geläufig als
«Bauch» statt «Kopf» - ist ein Aspekt
der Dummheit in der Musik.
Die vermittelte Einheit von
Sinnlichkeit und Vernunft, Rationalität
und Emotionalität, Struktur und Bedeutung ist wesentlich für Produktion
wie Rezeption von Musik. Sinn und
Bedeutung werden in Material, Technik und Form der Musik objektiviert
und wieder rezeptiv-subjektiv angeeignet. Im Hinblick auf Gehalte und
Strukturen wie auf Zweckbestimmungen und Ziele des Komponierens,
jenes Teilstück des Musikprozesses
also, in der Musik wieder in die gesellschaftliche Praxis zurückkehrt, in der
sie auch entstand, hat der Musikprozess immer eine kognitive, ideelle Dimension. Das Problem der (sinnlichen)
Wahrnehmung steht fast buchstäblich
auf einem andern Blatt. Die sinnlichmateriale, affektive, nicht unmittelbar
zeichenhafte Dimension der Musik
bzw. Nachrechnen auch ist - als musikaiisches ist es, analog zur Musizierpraxis, stets auch Interpretation und
lässt daher oftmals Spielräume offen.
Manchmal ist es sogar unter anderem
mangels Kontextinformationen unmöglieh, die Botschaft zu deuten - und
manchmal mögen Musik und MusikZahlen vielleicht sogar keine enthalten,
Während im Bereich der Ökonomie heute gerade im Zeichen des
ebenso globalen wie brutalen Neoliberalismus einmal mehr die Ideologie des
«anything goes» triumphiert, dominieren im Bereich des Ideologisch-Kulturellen eher pessimistische, haselnussbraune oder olivgrüne Tendenzen, die
zusammen mit der technizistischen
Rationalität und «instrumentellen Vernunft» (um Max Horkheimers nicht
unproblematischen Begriff zu zitieren)
Erkenntnis, Fortschritt und Vernunft
überhaupt verwerfen. Vernunft jedoch
ist zwar mehr als Rationalität (so, wie
bzw. des Musikprozesses (semiotisch
Zeichenträger oder <Zeichenmaterial>)
ist jedoch gerade im Hinblick auf
einen intensiven, umfassenden Begriff
von Bedeutung in Musik durchaus
nicht zu vernachlässigen. Diese - eigenwertige - Dimension ist selbst Teil
nicht nur der Katharsis, sondern auch
der Mimesis in der Musik. Der Musikprozess geht nie im unmittelbar Vorfindlichen, im klingenden Material auf.
Die Bestimmung von Musik als spezifischer Sprache, in der und mit der als
Musik zugleich über anderes als
Musik, über Gott und/oder die Welt
geredet wird, trägt dieser inneren Vielschichtigkeit von Musik Rechnung.
Zwischen Hermetik und Hermeneutik
ist da ein weites Feld. Die Botschaft
der Musik, die etwas mehr und anderes
ist als die Frohbotschaft (alias EvangeHum), kommt nur dann angemessen
zum Zuge, wenn alle Dimensionen der
Musik bzw. des Musikprozesses samt
deren musiktranszendierenden Referenzpunkten bedacht und einbezogen
werden: Zahl, Wort und Bild, Klang
und Bedeutung.
Nicht immer ist es leicht, die
Botschaften zu entziffern, die Codes
zu dechiffrieren. So rational Rechnen
Denken mehr als Berechnen ist), aber
nicht ohne diese zu haben, anders lautenden modischen Gerüchten zum
Trotz. Ein angemessenes Verständnis
von Musik wiederum ist nicht ohne
Vernunft zu haben - die sich zur Sinnlichkeit gerade hier nicht kontradiktorisch, sondern komplementär verhält.
Was in frühen Hochkulturen
vorzugsweise Musik-Magie war, im
historischen Prozess seit Antike und
Feudalismus neben Beibehaltung magisch-religiöser Residuen allmählich
vorzugsweise Zahlensymbolik zwisehen Astrologie und offizieller Hochreligion, Anspielung und Spiel wurde,
lässt sich hier und heute als musikalisches Zahlen-Spiel und -Semantik mit
oft zauberhaften, charmanten, verblüffenden Aspekten und Einsichten beerben, immer wieder erneut aneignen
und fortführen: sowohl in der realitätsbezogenen ars inveniendi - der
Kunst der Erfindung und Komposition als Zusammensetzung von Verschiedenem und Auseinandersetzung
mit der Vielfalt der Welt - als auch in
der Kunst des Hörens und Analysierens, die beide, sinnlich-emotional und
rational-verbal, zugleich Synthesen
sind.
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