DIE NEUDEFINITION DES GESCHLECHTS

Werbung
DIE NEUDEFINITION DES GESCHLECHTS
Immer mehr Studien zeigen: Unsere Vorstellung von zwei Geschlechtern ist allzu simpel nicht nur aus anatomischer, sondern auch aus genetischer Sicht.
Claire Ainsworth
© fotolia / new_photo
Als klinischer Genetiker ist Paul James daran gewöhnt, mit seinen Patienten die heikelsten
Themen zu besprechen. Doch Anfang 2010 hatte er ein Gespräch, das selbst für ihn nicht
ganz einfach war.
Eine 46-jährige werdende Mutter kam zu ihm in das Royal Melbourne Hospital in
Australien und wollte das Ergebnis der Amniozentese erfahren, mit der die Chromosomen
ihres Babys auf Fehler untersucht worden waren. Das Baby war gesund – aber über die
Mutter selbst hatte sich Erstaunliches ergeben: Ihr Körper bestand aus Zellen zweier
Individuen, möglicherweise weil Zwillingsembryos in der Gebärmutter ihrer Mutter zu
einem Embryo verschmolzen waren. Das war aber noch nicht alles. Ein Teil ihrer Zellen
trug zwei X-Chromosomen, also jene Erbträger, die normalerweise eine Person zur Frau
machen. Andere Zellen dagegen hatten ein X- und ein Y-Chromosom, und so erfuhr sie im
Alter von 46 Jahren und mit ihrem dritten Kind schwanger, dass ein Großteil ihres Körpers
eigentlich dem Geschlecht nach männlich war [1]. "Für die Frau, die nur das Ergebnis der
Amniozentese abholen wollte, muss sich das nach Sciencefiction angehört haben", erzählt
James.
Die Frage nach dem Geschlecht eines Lebewesens kann viel komplizierter sein, als man
zuerst meint. Auf den ersten Blick ist die An- oder Abwesenheit des Y-Chromosoms
ausschlaggebend: mit Y heißt männlich, ohne heißt weiblich. Aber Medizinern ist schon
lange bewusst, dass bei so manchem die Grenzen verschwimmen, wenn die
Geschlechtschromosomen das eine sagen und die Keimdrüsen (Eierstöcke und Hoden)
oder anderen Geschlechtsmerkmale etwas anderes. Eltern von Kindern mit
Besonderheiten und Störungen der Geschlechtsentwicklung, auch DSD für "disorders of
sexual development", Intersexualität oder Sexualdifferenzierungsstörungen genannt,
sehen sich oft der schwierigen Entscheidung gegenüber, ob sie ihr Kind als Junge oder als
Mädchen aufziehen sollen. Laut Spezialisten hat sogar jeder Tausendste eine Form von
DSD [2].
Betrachtet man die Genetik, verschwimmt die Grenze zwischen den Geschlechtern noch
mehr. Wissenschaftler haben viele der Gene identifiziert, die an den Hauptformen von
DSD beteiligt sind und auf subtile Weise die Anatomie und Physiologie des Einzelnen
beeinflussen. Neue Techniken der DNA-Sequenzierung und Zellbiologie machten deutlich,
dass fast jeder von uns zu einem gewissen Grad aus verschiedenen Zellen besteht,
gleichsam wie ein Patchwork. Dabei haben manche unserer Zellen ein Geschlecht, das
zum Rest des Körpers eigentlich nicht passt. Auch das Verhalten einer Zelle scheint über
Quelle: http://www.spektrum.de/news/die-neudefinitiondes-geschlechts/1335086
Seite 1
von 9
komplexe molekulare Systeme von seinem Geschlecht beeinflusst zu werden. "Es gibt
eine wesentlich größere Vielfalt der Geschlechter als nur das der Männer und das der
Frauen; und es gibt sicherlich Betroffene, die sich in unserem binären System nicht
ausreichend definiert sehen", sagt John Achermann, der zu den Themen
Geschlechtsentwicklung und Endokrinologie am University College London's Institute of
Child Health forscht.
Die Bandbreite der Geschlechter
Wissenschaft
© Spektrum der
Ein typischer Mann hat ein X- und ein Y-Chromosom (XY), eine typische Frau hat zwei XChromosomen (XX). Auf Grund genetischer Variationen oder zufälliger Ereignisse in der
Entwicklung passen manche Mitmenschen nicht genau in diese Kategorien. So stimmen
bei Menschen mit Besonderheiten und Störungen der Geschlechtsentwicklung (DSD für
"disorders of sexual development") die Geschlechtschromosomen nicht mit der Anatomie
der Geschlechtsteile überein.
Quelle: http://www.spektrum.de/news/die-neudefinitiondes-geschlechts/1335086
Seite 2
von 9
Diese neuen Erkenntnisse passen nicht so recht in eine Welt, in der es nur zwei
Geschlechter gibt. Nur wenige Rechtssysteme erlauben Mehrdeutigkeiten beim
biologischen Geschlecht, und Rechtsansprüche sowie sozialer Status einer Person sind
stark davon beeinflusst, ob in der Geburtsurkunde männlich oder weiblich vermerkt ist.
"Das Hauptproblem bei einer starken Dichotomie ist immer die Mitte, wo sich die
Übergänge nach und nach verschieben und wir nun bestimmen müssen, wo genau die
Grenze zwischen Mann und Frau liegt", meint Arthur Arnold, der biologische
Geschlechtsunterschiede untersucht. "Das ist aber sehr schwierig, weil man das
Geschlecht auf verschiedenste Weise definieren kann."
Was definiert das Geschlecht?
Dass sich Mann und Frau rein physisch unterscheiden, ist klar. Aber am Anfang ihres
Lebens ist das noch ganz anders. In den ersten fünf Wochen kann sich der Embryo in
Richtung männlicher oder weiblicher Anatomie entwickeln. So entstehen seitlich der
Nieren zwei Genitalleisten und zwei Paar Gänge, von denen einer die weibliche
Gebärmutter und Eileiter bilden kann und der andere die Anhangsgebilde der männlichen
Genitalien, nämlich Nebenhoden, Vas deferens und Samenblasen. Nach sechs Wochen
fällt dann die Entscheidung für den weiteren Entwicklungsweg: Eierstöcke oder Hoden.
Kommt es zur Entwicklung von Hoden, setzen diese Testosteron frei, das die Ausbildung
männlicher Samengänge unterstützt. Dazu werden weitere Hormone gebildet, welche die
potenzielle Gebärmutter und die Eileiter schrumpfen lassen. Wenn die Gonaden sich aber
in Richtung Eierstock entwickeln, sezernieren diese Östrogene, und der Mangel an
Testosteron lässt die männlichen Anlagen schwinden. Die Sexualhormone steuern auch
die Entwicklung der äußeren Genitalien und spielen insbesondere in der Pubertät bei der
Entstehung der sekundären Geschlechtsmerkmale wie Brustdrüsen und Barthaare eine
wichtige Rolle.
Jegliche Änderung in diesem Entwicklungsprozess kann einen dramatischen Einfluss auf
das Geschlecht des Menschen haben. Genmutationen im Rahmen der
Gonadenentwicklung können dazu führen, dass sich trotz XY-Chromosomen weibliche
Merkmale entwickeln, und Veränderungen im Hormonsystem können die männliche
Entwicklungslinie einleiten, obwohl XX-Chromosomen vorliegen.
Chirurgen entdeckten eine Gebärmutter bei dem Mann – er war bereits
70 Jahre alt
Viele Jahre lang glaubten Wissenschaftler, dass die Entwicklung zur Frau eine Art
"Default" in der Geschlechterentstehung ist und erst durch das Vorhandensein bestimmter
Gene auf dem Y-Chromosom aktiv auf die männliche Entwicklung umgeschaltet wird. Im
Jahr 1990 machten Wissenschaftler mit der Entschlüsselung eines Gens Schlagzeilen,
das sie SRY nannten [3,4]. Das Gen allein bewirkt, dass aus den Gonaden Hoden statt
der Eierstöcke entstehen. So entwickelt sich ein Mann, wenn zwar XX-Chromosomen
vorliegen, aber zusätzlich ein Fragment aus dem Y-Chromosom mit dem Gen SRY
vorhanden ist.
Die Ansicht von der "Voreinstellung" des weiblichen Geschlechts geriet schon vor etwa
15 Jahren ins Wanken, als Gene wie WNT-4 entdeckt wurden, die aktiv die Entwicklung
von Eierstöcken unterstützen und das testikuläre Programm unterdrücken. Menschen mit
XY-Chromosomen und zusätzlichen Kopien des WNT-4-Gens haben atypische Genitalien
und Gonaden mit rudimentärer Gebärmutter und Eileitern [5]. Auch das Gen RSPO1 ist an
der Entwicklung der Eileiter beteiligt. Wie Forscher im Jahr 2011 zeigen konnten [6], führt
Quelle: http://www.spektrum.de/news/die-neudefinitiondes-geschlechts/1335086
Seite 3
von 9
ein fehlerhaft funktionierendes RSPO1-Gen bei Menschen mit XX-Chromosomen zur
Ausbildung eines Ovotestis, also einer Mischung aus ovarialem (Eierstock-) und
testikulärem (Hoden-)Gewebe.
Die neuen Erkenntnisse zeugen von komplizierten Abläufen in der
Geschlechtsentwicklung, bei der zwei unterschiedliche genetische Regulationsnetze im
Wettstreit miteinander stehen. Die Veränderung der Aktivität oder der Menge an
Molekülen wie WNT-4 kann die Balance ins Kippen bringen und zu einem Geschlecht
führen, das allein die Chromosomen so nicht vermuten lassen. "In gewisser Weise hat es
unsere Sichtweise auf das Geschlecht verändert, und wir sehen die Entwicklung
inzwischen mehr als Balanceakt", erklärt Eric Vilain, der Mediziner und Direktor des Center
for Gender-Based Biology an der University of California in Los Angeles. "Das ist natürlich
eher eine systembiologische Sichtweise."
Karyogramm
© Spektrum Akademischer Verlag
Neben den 22 Chromosomenpaaren besitzen Männer ein X- und ein Y-Chromosom (XY,
rechts), Frauen dagegen zwei X-Chromosomen (XX). Auf Grund einer
Chromosomenanomalie kann es jedoch vorkommen, dass Menschen nur ein XChromosom aufweisen (X0) oder beispielsweise die Kombination XXY tragen.
Kampf der Geschlechter
Laut einigen Wissenschaftlern kann sich das Geschlecht lange Zeit nach Abschluss der
eigentlichen Entwicklung auch wieder ändern. Nach Untersuchungen an Mäusen taumeln
die Gonaden sogar ihr ganzes Leben lang zwischen männlich und weiblich hin und her. In
einer Veröffentlichung aus dem Jahr 2009 berichteten Wissenschaftler über die
Inaktivierung des Gens Foxl2 in erwachsenen weiblichen Mäusen [7] und wie sich
hierdurch die Granulosazellen, die eigentlich die Entwicklung von Eiern unterstützen, in
Sertolizellen umwandelten und die Spermienentwicklung einleiteten. Zwei Jahre später
zeigte ein anderes Forschungsteam die umgekehrte Reaktion, indem sie das Gen Dmrt1
inaktivierten und damit die Transformation von testikulären Zellen in ovariale Zellen
erreichten [8]. "Die Weiterentwicklung nach der Geburt war für uns ein großer Schock",
erinnert sich Vincent Harley, der als Genetiker am MIMR-PHI Institute for Medical
Research in Melbourne die Entwicklung der Gonaden untersucht.
Aber es gibt auch noch andere Ursachen für die Variationen in der
Geschlechtsausbildung. Eine ganze Reihe von DSDs wird durch Veränderungen von
Hormonsignalen der Gonaden und anderer Drüsen ausgelöst. Bei kompletter
Androgenresistenz (CAIS) reagieren die Zellen nicht auf männliche Sexualhormone, meist
weil die Funktion der Hormonrezeptoren gestört ist. Betroffene mit CAIS haben zwar ein YChromosom und innen liegende Hoden, ihre äußeren Geschlechtsorgane sind aber
weiblich, und sie entwickeln sich in der Pubertät zur Frau.
Quelle: http://www.spektrum.de/news/die-neudefinitiondes-geschlechts/1335086
Seite 4
von 9
Die medizinische Definition von DSD (disorders of sexual development), beschreibt
Besonderheiten und Störungen der Geschlechtsentwicklung, bei denen das anatomische
Geschlecht einer Person nicht mit dem Geschlecht seiner Chromosomen und seiner
Gonaden übereinzustimmen scheint – diese Bedingungen sind selten, und nur etwa einer
von 4500 Menschen ist betroffen [9]. Manche Wissenschaftler plädieren aber inzwischen
auch dafür, die Definition zu erweitern und subtile anatomische Variationen
einzuschließen, wie zum Beispiel eine leichte Hypospadie, bei der die Mündung der
Harnröhre auf der Unterseite des Penis liegt und nicht an seiner Spitze. Wenn man alle
diese möglichen Variationen betrachtet, zeigt jeder Hundertste eine Form der DSD, hat
Vilain errechnet.
Aber das muss lange noch nicht alles sein. Seit den 1990er Jahren haben Forscher mehr
als 25 DSD-Gene identifiziert, und Next-Generation-Sequencing hat in den vergangenen
Jahren eine ganze Reihe von Varianten aufgedeckt, die zu individuellen Unterschieden
führen und nicht unbedingt als DSD anzusehen sind. "Aus biologischer Sicht ist das ein
Spektrum", sagt Vilain.
Beim angeborenen androgenitalen Syndrom (CAH, congenital adrenal hyperplasia)
beispielsweise produziert der Körper übermäßig viel männliche Geschlechtshormone.
Betroffene mit XX-Chromosomen werden mit uneindeutigen Geschlechtsorganen geboren,
wie einer vergrößerten Klitoris und mit Schamlippen, die ähnlich wie ein Skrotum
verwachsen sind. Die Ursache ist in der Regel ein schwerer Defekt des Enzyms 21Hydroxylase. Mutationen, die zu einer abgeschwächten, nichtklassischen Form des CAH
führen, finden sich bei einer von 1000 Personen. Dabei kann es bei Frauen zu einer eher
männlich anmutenden Gesichts- und Körperbehaarung kommen oder zu unregelmäßigen
Monatsblutungen sowie Fertilitätsproblemen – es können aber auch keine Symptome
auftreten. Derzeit sind viele Forscher vom Gen NR5A1 fasziniert, dessen Variationen
unterschiedlichste Effekte verursachen [10], von unterentwickelten Gonaden bis hin zur
leichten Hypospadie (angeborene Entwicklungsstörung der Harnröhre) bei Männern und
zu vorzeitigen Wechseljahren bei Frauen.
Viele der Varianten werden nie erkannt oder nur, weil sich die Leute wegen Infertilität oder
anderer Probleme in Behandlung begeben. 2014 wurde beispielsweise berichtet, dass
Chirurgen im Rahmen einer Hernien-Operation bei einem Mann eine Gebärmutter
entdeckten [11]. Der Mann war immerhin schon 70 Jahre alt und hatte vier Kinder gezeugt.
Das Geschlecht der Zellen
Beim Geschlecht gibt es keine einfache Dichotomie, zeigen die Studien zu DSD. Noch
komplizierter werden die Dinge, wenn man die Zellen des Einzelnen betrachtet. Die
allgemeine Annahme, jede Zelle eines Individuums hätte dasselbe Set von Genen, ist
schlichtweg falsch. Manche Menschen offenbaren ein genetisches Mosaik: Sie entwickeln
sich zwar aus einem einzelnen befruchteten Ei, doch ihre Zellen tragen eine teils
unterschiedliche genetische Ausstattung. Eine der Ursachen kann sein, dass die
Geschlechtschromosomen in der frühen Entwicklung des Embryos nicht gleichmäßig
aufgeteilt werden. So kann die Entwicklung beispielsweise als XY beginnen und dann im
Lauf der Zeit in einem Teil der Zellen ein Y-Chromosom verloren gehen. Wenn die meisten
Zellen lediglich ein X-Chromosom aufweisen, entsteht eine Frau mit dem Turner-Syndrom,
Quelle: http://www.spektrum.de/news/die-neudefinitiondes-geschlechts/1335086
Seite 5
von 9
mit kleiner Körpergröße und unterentwickelten Eierstöcken. Diese Art von Mosaik ist zwar
selten, betrifft aber doch einen von 15 000 Menschen.
Die Auswirkungen dieser Mosaike können minimal sein oder aber erheblich. Ein paar Fälle
sind bekannt, bei denen aus einem Embryo mit XXY-Mosaik ein Mix aus zwei Zelltypen
entstand – nämlich XX-Zellen und XXY-Zellen, die sich dann sehr früh in der Entwicklung
in zwei Embryos aufteilten [12]. Das Ergebnis waren "eineiige" Zwillinge mit
unterschiedlichem Geschlecht.
Ein Mosaik von Zellen mit unterschiedlichen Geschlechtschromosomen kann sich auch
anders zeigen: So war James' Patientin eigentlich eine Chimäre. Sie entwickelte sich aus
einer Mischung von zwei befruchteten und miteinander verschmolzenen Eiern, die
normalerweise Zwillingsembryonen in der Gebärmutter bilden würden. Diese Art von
Chimärismus ist aber sehr selten und betrifft nur etwa ein Prozent aller DSD-Fälle.
Eine andere Form des Chimärismus scheint jedoch relativ weit verbreitet zu sein. Der so
genannte Mikrochimärismus tritt auf, wenn Stammzellen des Fötus über die Plazenta in
den Körper der Mutter gelangen oder umgekehrt Zellen der Mutter in den Fötus wechseln.
Das Phänomen wurde schon in den frühen 1970er Jahren entdeckt; die große
Überraschung kam aber erst mehr als zwei Jahrzehnte später: Forscher fanden nämlich
heraus, wie lange diese Cross-over-Zellen nach ihrem Übertritt überleben können, obwohl
sie eigentlich als fremd vom Immunsystem erkannt und eliminiert werden sollten. Schon
eine Studie aus dem Jahr 1996 beschrieb, wie im Blut von Müttern mehr als 27 Jahre nach
Geburt ihrer Kinder noch fötale Zellen zu finden waren [13]. Eine andere Studie berichtete
von Zellen der Mutter, die im Kind bis zum Erwachsenenalter erhalten blieben [14].
Deshalb können Männer Zellen ihrer Mütter in sich bergen und Frauen nach Geburt eines
Jungen männliche Zellen in sich tragen, was die Grenzen zwischen den Geschlechtern
natürlich weiter verwischt.
Wenn man alle Variationen betrachtet, zeigt jeder Hundertste eine Form
der DSD
Mikrochimäre Zellen wurden schon in vielen Geweben entdeckt. Auch die Immunologin
Lee Nelson beschrieb im Jahr 2012 mit ihrem Team an der University of Washington in
Seattle XY-Zellen in Gehirnproben verstorbener Frauen [15] – die älteste von ihnen wurde
94 Jahre alt. Dabei scheinen die Zellen nicht einfach nur anwesend zu sein, sondern
integrieren sich in ihre neue Umgebung und erwerben spezielle Funktionen. So wurde im
Mausmodell gezeigt, wie sie Neurone im Gehirn bilden können [16]. Unklar ist aber, wie
verstreute XY-Zellen in der Frau oder XX-Zellen im Mann die Gesundheit und
Eigenschaften der Gewebe beeinflussen – zum Beispiel die Anfälligkeit für Erkrankungen,
die besonders häufig beim jeweils anderen Geschlecht auftreten. "Das ist eine unglaublich
wichtige Frage, der bisher nur noch niemand nachgegangen ist", sagt Nelson. Einig sind
sich die Wissenschaftler allerdings darüber, dass ein paar mikrochimäre männliche Zellen
im Gehirn einer Frau wohl keinen wesentlichen Einfluss auf ihr Verhalten haben sollten.
So langsam wird aber deutlich, dass XX- und XY-Zellen auch unabhängig von
Sexualhormonen unterschiedlich reagieren. "Ehrlich gesagt war es für uns überraschend
zu sehen, wie groß der Einfluss der Geschlechtschromosomen ist", gesteht Arnold. Mit
seinen Kollegen konnte er in Mäusen nachweisen [17], dass die Anzahl der XChromosomen den Stoffwechsel der Tiere beeinflusst. Außerdem zeigten ZellkulturExperimente im Labor [18], wie unterschiedlich XX- und XY-Zellen auf molekularer Ebene
Quelle: http://www.spektrum.de/news/die-neudefinitiondes-geschlechts/1335086
Seite 6
von 9
arbeiten, beispielsweise bei der Stressantwort des Stoffwechsels. Die nächste
Herausforderung bestehe darin, den zu Grunde liegenden Mechanismus aufzudecken.
Seine Arbeitsgruppe arbeitet schon länger an verschiedenen X-chromosomalen Genen,
die in Frauen aktiver sind als in Männern. "Ich glaube, es gibt viel mehr Unterschiede in
den Geschlechtern, als wir kennen", fügt er noch hinzu.
Jenseits des Binärsystems
Biologen haben inzwischen eine sehr differenzierte Sichtweise der Geschlechter – die
Gesellschaft muss hier erst noch aufholen. Natürlich haben Aktionen von Lesben,
Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Aktivisten in den letzten 50 Jahren die
Einstellung vieler Bürger zur sexuellen Orientierung und zum Geschlecht gelockert, und in
vielen Gesellschaften ist es inzwischen auch akzeptiert, wenn die klassischen
Geschlechterrollen in der Mode, der Karriere oder dem Sexualpartner aufgeweicht
werden. Beim biologischen Geschlechtsbegriff ist aber nach wie vor das binäre Modell das
einzige akzeptierte System.
Dieser gesellschaftliche Druck führt dazu, dass bei DSD oftmals eine chirurgische
"Normalisierung" der Geschlechtsorgane durchgeführt wird. Das ist zweifelsohne ein
kontroverser Eingriff, weil die Operationen häufig schon im Babyalter erfolgen und die
Betroffenen nicht selbst mitentscheiden können. Dem Kind per Zufall ein endgültiges
Geschlecht zuzuteilen, bedeutet aber auch, ihm ein Geschlecht aufzupfropfen, für das es
vielleicht nie ein Gefühl entwickeln wird. Interessenvertreter von Intersexuellen wollen
erreichen, dass Ärzte und Eltern zumindest so lange warten, bis das Kind seine
Geschlechtszugehörigkeit mitteilen (normalerweise etwa im Alter von drei Jahren) oder bis
es sogar selbst über eine Operation entscheiden kann.
Erneute Diskussionen kamen auf, als im Mai 2013 in South Carolina von den Adoptiveltern
des Kindes MC eine Klage eingereicht wurde. MC war mit ovotestikulärer DSD geboren
worden, Bedingungen, bei denen sich sowohl ovariales als auch testikuläres Gewebe in
den Genitalien und Gonaden entwickelt. Als MC 16 Monate alt war, führten die Ärzte eine
Operation durch, bei der das Kind ein weibliches Geschlecht erhielt – der inzwischen
achtjährige MC entwickelte sich aber immer mehr in Richtung eines Jungen. Weil sich MC
zum Zeitpunkt der Operation unter staatlicher Fürsorge befand, unterstellte die Anklage
nicht nur einen Behandlungsfehler, sondern auch Verwehren des Grundrechts auf
körperliche Unversehrtheit und Fortpflanzung. Im vergangenen Monat verhinderte ein
Gerichtsentscheid, dass es auf Bundesebene zur Verhandlung kommt; die Klage gegen
den Bundesstaat läuft aber weiter.
Quelle: http://www.spektrum.de/news/die-neudefinitiondes-geschlechts/1335086
Seite 7
von 9
Welche Tür darf es sein?
© fotolia / ekostsov
Im Grunde stellt schon der einfache Gang auf die Toilette manche Menschen vor die Qual
der Wahl: Hinter welchem Türchen fühlt man sich aufgehoben? An immer mehr
Örtlichkeiten wird daher auch eine dritte, geschlechtsneutrale Toilette zur Verfügung
gestellt.
"Für Kinder mit intersexuellen Merkmalen kann die Entscheidung des Rechtsstreits von
großer Tragweite sein", sagt Julie Greenberg, die als Spezialistin für
Rechtsangelegenheiten in Sachen Geschlecht und Sexualität an der Thomas Jefferson
School of Law in San Diego in Kalifornien arbeitet. Der Fall werde hoffentlich in Zukunft
Ärzte von Operationen abhalten, wenn die medizinische Notwendigkeit noch in Frage
steht, kommentiert sie den Fall. Vielleicht führt der Rechtsstreit zu einem besseren
Verständnis dafür, was "Intersexuelle emotional und körperlich durchmachen, wenn Ärzte
ihnen dazu verhelfen wollen, angeblich besser in unsere Gesellschaft zu passen", sagt die
Soziologin Georgiann Davis, die mit CAIS geboren wurde und nun an der University of
Nevada in Las Vegas an Intersexualität forscht.
Auch wenn Ärzte und Wissenschaftler diese Bedenken sehr wohl nachfühlen können, so
zeigt ihnen der Fall doch auch, wie viel wir noch über die biologischen Ursachen des
Geschlechts lernen müssen [19]. Nach Ansicht vieler reicht es auch nicht aus, einfach die
medizinische Praxis durch gesetzliche Regelungen zu ändern. Stattdessen würden sie
gerne mehr darüber wissen, welche langfristigen Auswirkungen die Operationen etwa auf
Lebensqualität und Sexualleben der Betroffenen haben. Nur so könne man letztendlich
über die jeweils beste Behandlung von Menschen mit DSD entscheiden. Einige solcher
Studien haben bereits begonnen.
Früher stellte man die Diagnose DSD anhand von Hormontests, körperlicher
Untersuchung und Bildgebung, gefolgt von mühevoller Analyse der einzelnen Gene. Mit
Quelle: http://www.spektrum.de/news/die-neudefinitiondes-geschlechts/1335086
Seite 8
von 9
Hilfe moderner genetischer Methoden können nun mehrere Gene gleichzeitig analysiert
werden, so dass rasch eine genetische Diagnose gestellt werden kann und die betroffenen
Familien weniger belastet werden. Eric Vilain setzt bei XY-Patienten mit DSD
beispielsweise das "Whole-Exome-Sequencing" ein, bei dem die proteinkodierenden
Regionen des gesamten Genoms eines Menschen untersucht werden. 2014 konnte seine
Arbeitsgruppe zeigen, dass das Genanalyseverfahren bei 35 Prozent der
Studienteilnehmer, bei denen keine genetische Ursache der DSD bekannt war, eine
Diagnose mit hoher Wahrscheinlichkeit lieferte.
Nach Meinung von Vilain, Harley und Achermann werden die Ärzte langsam umsichtiger
mit Genitaloperationen. DSD-Kinder werden inzwischen von multidisziplinären Teams
betreut, um eine maßgeschneiderte Behandlung und Unterstützung sowohl dem Kind
selbst als auch seiner Familie anzubieten. In der Regel läuft dies allerdings darauf hinaus,
dass ein DSD-Kind entweder als männlich oder als weiblich aufgezogen wird, auch wenn
keine Operation erfolgt. Darin sind sich Wissenschaftler und Interessensverbände laut
Vilain einig: "Es kann für ein Kind äußerst schwierig sein, mit einem Geschlecht
aufzuwachsen, das es in dieser Form gar nicht gibt." In den meisten Ländern ist es rein
rechtlich unmöglich, etwas anderes als männlich oder weiblich zu sein.
Doch wenn die Wissenschaft immer wieder verschiedene Varianten der bekannten
Geschlechter nachweist, dann müssten sich Staat und Gesellschaft auch mit den
Konsequenzen und Definitionen befassen. Viele Transgender- und Intersex-Aktivisten
träumen von einer Welt, in der das biologische oder persönliche Geschlecht einer Person
irrelevant ist. Wenn auch inzwischen einige Regierungen sich in diese Richtung bewegen,
bleibt Greenberg pessimistisch – zumindest was die USA betrifft. "Es wird sicherlich
schwierig, die Festlegung der Geschlechter völlig abzuschaffen oder ein drittes
undefiniertes Geschlecht durchzusetzen."
Wenn also per Gesetz verlangt wird, dass eine Person männlich oder weiblich ist, sollte
das Geschlecht dann anhand der Anatomie, der Hormone, der Zellen oder der
Chromosomen bestimmt werden? Und was ist zu tun, wenn die verschiedenen Methoden
zu widersprüchlichen Ergebnissen führen? "Ich glaube, es gibt nicht den einen
biologischen Parameter, der alles abdeckt. Damit wird letztendlich die Geschlechtsidentität
des Einzelnen der sinnvollste Parameter sein", resümiert Vilain. Mit anderen Worten:
Wenn Sie wissen wollen, ob jemand männlich oder weiblich ist, scheint es das Beste zu
sein, einfach nachzufragen.
Dieser Artikel erschien unter dem Titel "Sex redefined" in Nature 518, S. 288-291, 2015.
© Spektrum.de
Quelle: http://www.spektrum.de/news/die-neudefinitiondes-geschlechts/1335086
Seite 9
von 9
Herunterladen