1 Freie Universität Berlin Institut für Soziologie Garystrasse 55, 14195 Berlin Prof. Dr. Klaus M Schmals Seminar „Das Individuum im öffentlichen Austausch – Alltagssoziologie mit Erving Goffman im SoSe 2006 Jeweils Montag von 10.15 bis 11.45 Uhr, Raum 203 B 5. Veranstaltung Wahrnehmung, Interaktion und Interpretation 1 Wahrnehmung ist mehr als nur das „Ablesen öffentlicher Räume“, einer „sozialer Situationen“ in öffentlichen Räumen und mehr als die Kommunikation zwischen einem Subjekt und einem Objekt. Wahrnehmung lernen wir auf drei miteinander vernetzten Ebenen kennen. Dies sind die physikalisch-physiologische, die psychologische und die soziologische Ebene. Hiernach sind im Wahrnehmungsprozess Reize, Sinnesorgane und Nervenzellen, Vorstellungen, die soziale Lage des/r Wahrnehmenden und die interpretative Kompetenz einer/s RollenträgerIn von Bedeutung. Mit K. Lynch können wir die „Mental Map-Methode“ kennen lernen (vgl. Kevin Lynch 1965: Das Bild der Stadt, Frankfurt/Main). Er stellte die These auf, dass eine Stadt durch uns - ähnlich einem bedruckten Stück Papier – abgelesen werden kann und wir uns in dem damit verbundenen Wahrnehmungsprozess eine „Erinnerungskarte“ anlegen. Im Rahmen seiner Analysen untersuchte Lynch die „Bildhaftigkeit städtischer Lebensräume“ mit Hilfe von identitäts-, strukturund bedeutungsbildenden Symbolen. Als Symbolträger dienten ihm dabei u.a. Wege, Kreuzungen, Gebäude, Brücken, Kanäle, Türme oder Plätze eines Quartiers. Ziel der Untersuchung war es herauszufinden, was man als eine „allgemeine Vorstellung“ von einem „geistigen Bild“ bezeichnen kann. Ein Bild, das eine große Anzahl von Bewohnern eines Stadtteils „in sich“ trägt. Weiterhin können wir uns bezogen auf (inter-)kommunikative Prozesse in sozial-räumlichen Situationen mit der These von Umberto Eco auseinander, wonach unser „Bild von öffentlichen Räumen“ oder von „sozialen Situationen“ in kommunikativen Prozessen entsteht (vgl. U. Eco, 1994: Einführung in die 1 2 Semiotik, München, 8. Auflage). Für U. Eco – einem Semiotiker – ist auch ein öffentlicher Raum, eine soziale Interaktion ein Zeichensystem. Im Rahmen der Semiotik werden Zeichen- und Symbolsysteme auf der Bedeutungs-, Grammatik- und Gebrauchsebene untersucht. Kommunikation meint weiterhin den aktiven und passiven Austausch von Informationen. Von Informationen, die z.B. in quartierlichen Zeichen und Symbolen (Brücken oder Gebäuden) eingeschrieben sind. Inhalte von Kommunikation sind der Austausch von Informationen zwischen Subjekten und Objekten (die Menschen und Dinge sein können) selbst und der funktionalen (denotativen) und bedeutenden (konnotativen) Seite eines Objekts. Die Objekte unseres „Kommunikationsraums“ sind codiert (und zwar entsprechend ihrer funktionalen und konnotativen Seite). In diesem Rahmen werden Codes (Symbole, Funktionen und Bedeutungen) zum Gegenstand kommunikativer Beziehungen und zum Inhalt unserer Bilder von öffentlichen Räumen und sozialen Interaktionen in ihnen. Im soziologischen Konzept des „Symbolischen Interaktionismus“ wird Kommunikation/Interaktion zwischen „Subjekt und Objekt(en)“, zwischen „ego und alter“ noch einige Schritte differenzierter vorgestellt. 2. Im Rahmen des soziologischen Konzepts des „Symbolischen Interaktionismus“ spielen „Interaktion und Interpretation“ „(Selbst-)Verstehen und Fremdverstehen“ und die „gesellschaftliche Konstruktion von sozialer Wirklichkeit“ eine prägende Rolle. „Interaktion und Interpretation“ stehen im Kern dieses soziologischen Paradigmas. Verbale und nonverbale Mitteilungen treffen in Wahrnehmungsprozessen bei einem menschlichen oder dinghaften Gegenüber auf Erwartungen oder „Reaktionen“ (z.B. aufgrund einer Interaktionssituation oder einer „Bildaussage“). Sie können nur dann verstanden werden, wenn wir sie zu interpretieren wissen. Dabei hat Interpretation eine „doppelte Bedeutung“: „sie ist Grundannahme über menschliches Verhalten und wissenschaftliche Methode zugleich“ (A. Treibel, 1994: Das interpretative Paradigma. In: Dies., Einführung in soziologische Theorien..., Opladen, S. 108). VertreterInnen dieses Paradigmas gehen davon aus, dass Interagierende in Permanenz interpretieren und Interaktion unter Einbezug gesellschaftlicher Bestimmungsfaktoren interpretiert wird (wobei wir auf die Regeln der Interpretation noch genauer eingehen werden). Dem „Symbolischen Interaktionismus“ ist kein Gegenstand der Gesellschaft zu nichtig. Gegenstände können unser „Sitzen auf Parkbänken“, unser Prominieren in Fußgängerzonen, „street art“, das „Rollenspiel von FilmschauspielerInnen, das Musizieren in einem Orchester, das Rollenspiel von „normalen und stig2 3 matisierten“ Menschen oder der Verkauf einer Obdachlosenzeitung in der SBahn sein (vgl. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen, Hg., 1975: Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Reinbek bei Hamburg). Soziales Handeln – an anderen Personen oder an Objekten orientiertes und dadurch in seinem Ablauf bestimmtes Handeln – gilt als symbolvermittelt und theoriegeleitet: durch ihre Interpretation definieren Akteure eine soziale Situation (vgl. hierzu insbesondere auch Max Weber). Situationsdefinition Im Rahmen des sog. „Thomas-Theorems“ (vgl. William I. Thomas, 1863-1947) definieren wir soziale Situationen aufgrund der für uns bestimmenden subjektiven und situationsgebundenen Anteile: „Soziale Wirklichkeit gibt es nicht von sich aus, sondern nur durch das wechselseitig aneinander orientierte und interpretierende Handeln von Individuen“ (A. Treibel, a.a.0., S. 109). Das Individuum als ‚generalisierter Anderer’ Wie kommt nun Interaktion zustande? George H. Mead (1863-1931) erarbeitete hierfür das Konzept des „Individuums als generalisierter Anderer“: „Im Prozeß der Kommunikation ist das Individuum ein anderer, bevor er es selbst ist. Indem es sich selbst in der Rolle eines anderen anspricht, entsteht seine Ich-Identität in der Erfahrung. Die Entwicklung von organisierten Gruppenaktivitäten in der menschlichen Gesellschaft (...) teilte dem Individuum eine Vielzahl verschiedener Rollen zu (...) und gerade aus der Organisation dieser Rollen zu einer Gesamt-Handlung ergab sich die ihnen gemeinsame Eigenschaft: sie zeigten dem Individuum an, was es zu tun hatte. Das Individuum kann jetzt als generalisierter Anderer in der Einstellung der Gruppe oder Gemeinschaft zu sich selbst Stellung nehmen“ (G.H. Mead, 1983: S. 217 (zitiert nach A. Treibel, a.a.0., S. 112)). Interaktionen werden vor diesem Hintergrund durch drei Aspekte geprägt (das „I“, das „Me“ und das „Self“) und durch Symbole (wie Gesten, sprachliche Ausdrücke, Mimik, Spiel-Regeln) vermittelt. Der „Symbolische Interaktionismus“ basiert auf einer Reihe zentraler Prämissen. Dabei treten auch die Wegbereiter dieses Paradigmas wie Herbert Blumer (1900-1987 (ein Schüler von Mead)), Edmund Husserl (1859-1938), Alfred Schütz (1899-1959), Thomas Luckmann und Peter L. Berger in Er-scheinung (vgl. hierzu H. Blumer, 1975: Der methodologische Standort des Symbolischen Interaktionismus. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen Hg., a.a.0., 80 ff.) sowie P.L.Berger und Th. Luckmann (ein Schüler von A. Schütz), 1980: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt/Main). Strukturen der Lebenswelt 3 4 Für Alfred Schütz ist die Welt, in der er lebt, die er erlebt und in der er handelt, ihm vorgängig. Es ist eine Welt, in der er sich bereits befindet, wenn er handelt. Die Lebenswelt das Handlungsalltages ist nicht eine private, sie ist intersub-jektiv und durch diese Prägung „sozial“. Unsere Lebenswelt existiert nicht nur, sie muss auch ausgelegt werden. Indem ich meine Lebenswelt auslege, finde ich mich zurecht, erfahre ich Sinn. Die Auslegung unserer Lebenswelt geschieht vermittelt unserer Wissensvorräte (Gewohnheitswissen), Erfahrungen (Vertrautheit auf immer Wiederkehrendes) und Typisierungen (vgl. dazu konkret A. Schütz, 1972: Der Fremde. In: Gesammelte Aufsätze. Bd. 2, Studien zur soziologischen Theorie, Den Haag). Vgl. hierzu insgesamt A. Treibel, a.a.0., S. 119124. Im Aufsatz der Fremde wendet Schütz sein theoretisches Konzept und seine methodischen Vorstellungen an. Er zeigt die Zuwanderung von Fremden z.B. in ein ihnen fremdes Land. Dort treffen sie auf „soziale Gruppen“ oder „soziale Situationen und Interaktionen“. Diese definieren sich – wie die Fremden – durch Wissensvorräte (der Rahmen der Gruppe im Aufnahmeland). Will der Fremde aufgenommen werden, muss er die ihm fremde Lebenswelt analysieren und – vor seiner Lebenswelt – auslegen (vgl. die grafische Zusammenfassung des Aufsatzes „Der Fremde“). Zentrale Annahmen des „Symbolischen Interaktionismus“ sind: 1) Menschen handeln „Dingen“ gegenüber aufgrund der Bedeutungen, die diese für sie besitzen. 2) Bedeutung entsteht aus der sozialen Interaktion mit den entsprechenden „Dingen“ (Menschen, Sachen, Situationen oder Institutionen). 3) Bedeutungen entstehen weiterhin in einem interpretativen Prozess, den eine Person in ihrer Auseinandersetzung mit den ihr begegnenden Dingen (z.B. eines Stadtquartiers bei K. Lynch) benutzt, handhabt und ändert. 4) Die „Lebenswelt“ ist unsere fraglos gegebene Wirklichkeit. Sie ist Schauplatz und Ziel unseres Handelns. 5) Lebenswelt existiert nicht nur, sie muss auch ausgelegt werden (dann finde ich mich in ihr zurecht, erfahre ich Sinn). 6) Die „Auslegung der Lebenswelt“ beruht auf der Verwendung unserer Wissensvorräte (Fertigkeiten, Gebrauchswissen, Rezeptwissen), Erfahrungen (Vertrauen) und Typisierungen (wie sieht die Natur (ein Wald), die Kulturwelt (Kino, Theater) oder die Sozialwelt (ALG II, Sozialgeld) aus). 7) Je komplexer und differenzierter eine Gesellschaft ist, desto größer ist die Vielfalt der Beziehungsformen. Dabei werden Beziehungen auch anonymer und austauschbarer. „Ihr-Beziehungen“ nehmen zu, „Wir-Beziehungen“ treten in den Hintergrund. Zwischenmenschliche Kontakte werden von indirekten oder unverbindlichen Kontakten überlagert (Die ersten drei Annahmen beziehen sich auf H. Blumer, die 4., 5. und 6. Annahme auf A. Schütz und die 7. Annahme auf P.L. Berger/Th. Luckmann). 4 5 3. Die Wahrnehmung sozialer Wirklichkeit erfolgt an zentraler Stelle durch Interaktion und Interpretation. Von Interesse ist dabei die Auslegung der uns erscheinenden sozialen Wirklichkeit. Die soziale Wirklichkeit erscheint uns nach ihren Zeichen und Symbolen. Ernst Cassirer schrieb im Jahr 1922/23 eine für unsere Interessen wichtige Arbeit, „Die Philosophie der symbolischen Formen“. In dieser Arbeit charakterisierte nicht nur den Menschen als ein „animal symbolicum“, sondern versuchte auch eine Abgrenzung von „Zeichen“ und „Symbol“ (um die wir uns aber noch weiter bemühen werden). Ich denke, dass die Ideen von Cassirer den Begründern des „Symbolischen Interaktionismus“ bekannt gewesen sind. Entsprechend seiner „anatomischen Struktur“ - so Reiner Matzker in einer Abhandlung über Cassirer (vgl. ders., 1998: Der Mensch als ‘animal symbolicum‘. In: Ders., Anthropologie, München, S. 150 f.) – „besitze der Mensch ein „Merknetz“ und ein „Wirknetz“ (...), und er könne ohne das Zusammenspiel zwischen beiden Netzen oder „Systemen“ nicht leben. Dieses Zusammenspiel ergibt sich folglich aus den Bestimmungen der Rezeption, durch die Art und Weise wie äußere Reize aufgenommen werden, und Applikation, der wiederum zur Anwendung gebrachten Rezeption. Daß dieses Zusammenspiel von Merken und Wirken beim Menschen durch ein ‚Symbolnetz‘ oder ‚Symbolsystem‘ optimiert wird, ist Cassirers grundsätzliche These: Anders als das Tier könne der Mensch organisch unmittelbare ‚reactions‘ durch ‚responses‘ (Antworten, A.d.V.) verzögern. Durch lange Denkprozesse können spontane Reaktionen unterbrochen werden, Denkprozesse, die sich ganz und gar bestimmt zeigen durch sprachliche Formen, Bilder, Symbole, Riten. Der Mensch als ‚animal symbolicum‘ zeigt sich in der Lage der Sinngebung; er entwickelt Symbole, gibt den Dingen schöpferisch Gestalt und Struktur. Dies geschähe in einem Ausmaß, daß es der Mensch kaum noch mit den Dingen zu tun habe, sondern statt dessen nur noch mit sich selbst, mit seinen artifiziellen Produkten. Und er könne nichts mehr sehen oder erkennen, ohne daß sich dieses ‚artifizielle Medium‘ zwischen ihn und die Wirklichkeit schöbe“. Hiernach hat sich der Mensch mit/aus/durch Sprache, Mythen, Kunst oder Religion ein „symbolisches Universum“ geschaffen. Dabei entstand auch die Differenz zwischen „Zeichen“ und „Symbol“. Auf Zeichen reagieren wir. Symbole vermitteln Sinn. 5 6 Der damit verbundene Wandel des Raumes wird charakterisiert als Wandel vom „abstrakt-mathematischen Raum“ zum „Wahrnehmungsraum“ (der Rahmen unserer Wahrnehmung). Diesen Wandel widerum bezeichnet E. Cassirer als „eine verstärkte Abkehr von der konkreten Funktion des Bezeichnens im Übergang zu einer allgemeineren und allgemeingültigeren Funktion des Bedeutens“ (R. Matzker, 1998: a.a.0., S. 154 f.). Vergleiche hier die „sinnbezeichnende und sinnvermittelnde Funktion des „Rahmens“ bei E. Goffman. 4. Die Untersuchung von Wahrnehmung, Interaktion und Interpretation führte uns über „Erinnerungskarten“, Stadtstrukturen als Zeichensysteme, die „Auslegung der Welt“, symbolische Interaktion bis hin zum Menschen als „animal symbolicum“. Beenden werden wir diese Reflexion vorläufig durch den Einbezug der Überlegungen von Jacques Lacan „Was ist ein Bild/Tableau“ (In: G. Boehm, Hg., 1995: Was ist ein Bild?, München, 2. Auflage). Mit den Überlegungen von Lacan wird die Position des Wahrnehmenden weiter erkundet. Er stellt sich u.a. die Frage, was geschieht, wenn uns ein Bild (einer Situation) anschaut, uns irgend etwas an diesem Bild interessiert, sich Bild und Blick verschränken, sich uns ein subjektives Bild erschließt und dieses Bild Interaktionsprozesse in sozialen Situationen (mit-)bestimmt? Gliederungspunkte (wird zu einem späteren Zeitpunkt im Seminar vorgestellt): - Linie und Licht -- das Auge (als Organ), -- das Dreiecksverhältnis aus Objekt, Blick und Bild -- Anpassung -- Befriedigung -- das „Objekt a“ - Was ist ein Bild? -- das Konzept der „Blick-Bild-Verschränkung -- Bild und Bildhaftigkeit Berlin, den 27.5.2006. 6