Außeralltäglichkeit und Grenzerfahrung im Kontext von

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Außeralltäglichkeit und Grenzerfahrung
im Kontext von Gewalt
Ethnographische Streifzüge durch die Spezialkulturen
der Sadomasochisten, Paintball-Spieler
und Hooligans
Inauguraldissertation
zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie
im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften
der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität
zu Frankfurt am Main
vorgelegt von
Linda (Dietlinde) Steinmetz
aus Trier
2001
Dank
Herzstück der vorliegenden Dissertation ist die empirische Analyse gewaltaffiner Spezialkulturen, wie sie sich im Phänomen des Sadomasochismus, des Paintballspiels und der Hooligans
manifestieren. Ohne die Unterstützung all jener aus der SM-, Paintball- und der HooliganSzene, die mir Rede und Antwort standen, mir bei meinen Feldexplorationen behilflich waren
und mir so ihre ‘Kultur’ transparent gemacht haben, wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Für das ganz besondere Engagement danke ich meinem Kontaktmann bei der Polizei, der
mir den Weg in die Hooligan-Szene ermöglicht hat. Ebenso dem Hooligan ‘Blubber’, der
mich bei meinen Streifzügen durch die Szene begleitet hat. Hervorheben möchte ich die Unterstützung durch die Paintball-Spieler Marko Pollak, Frank Gensthaler und Jörg Höhle. Sie
haben mir die Nennung ihrer Namen an dieser Stelle gestattet.
Danken möchte ich auch allen, die mich ermuntert haben, das Projekt ‘Dissertation’ zu Ende
zu bringen. Herzlichst möchte ich mich hier bei meinem Erstgutachter, Herrn Prof. Dr. Klaus
Neumann-Braun, für seine wertvollen Anregungen und die Unterstützung insgesamt bedanken. Herrn Prof. Dr. Klaus Allerbeck danke ich für seine Tätigkeit als Zweitgutachter. Namentlich nennen möchte ich ebenfalls Herrn Prof. Dr. Wilhelm Schumm sowie Herrn Dr.
Christian Stegbauer, die mir die Ergänzungsprüfung im Fach Soziologie abgenommen haben.
Mein Dank gilt ebenso meinem langjährigen Mentor Herrn Prof. Dr. Roland Eckert sowie der
Arbeitsgemeinschaft sozialwissenschaftliche Forschung und Weiterbildung e.V. an der Universität Trier.
Herr Hans Spängler und Frau Ulrike Abele als meine Vorgesetzten bei der Allianz Lebensversicherungs-AG brachten mir für die Fertigstellung meiner Arbeit viel Verständnis entgegen. Besonders motiviert wurde ich auch durch den Fachbereichsleiter Vertrieb, Herrn Thomas Fischer.
Christa Reis, Natalia v. Levetzow-Hartleb, Gerhard Keim sowie all meine Kolleginnen und
Kollegen bei der Allianz ermunterten mich immer wieder und leisteten mir Zuspruch.
Zu danken habe ich schließlich meinen lieben Kollegen Eberhard Loos für das Redigieren der
Arbeit und Frank Mühleck für die technische Unterstützung. Meinem Lebenspartner Hermann
Dahm danke ich für die kritische Lektüre, die Drucklegung sowie für seine Geduld mit mir.
Gewidmet habe ich diese Arbeit meiner Mutter und meinen Töchtern Nastasja und Yessica.
Stuttgart, im Juni 2001
Linda Steinmetz
Vorwort
Die vorliegende Arbeit basiert auf meinen umfangreichen Forschungsaktivitäten, die ich unter
der Leitung von Prof. Dr. Roland Eckert, Lehrstuhl Allgemeine Soziologie, an der Universität
Trier im Rahmen verschiedener, stiftungsfinanzierter Forschungsprojekte durchgeführt habe.
Die Analyse stellt Auszüge aus groß angelegten Studien der Arbeitsgemeinschaft sozialwissenschaftliche Forschung und Weiterbildung e.V. an der Universität Trier (ASW) dar. Zu
nennen ist das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt zum Thema
Sadomasochismus, das die hetero- und homosexuelle SM-Szene in Deutschland zu Beginn
der neunziger Jahre beleuchtet. Ebenso die von der Volkswagen-Stiftung finanzierte Arbeit,
die sich mit gewaltaffinen Gruppen (hier z.B. auch: Rechte, Autonome, HipHop- und Technogruppen, Breakdancer und Wagendorfbewohner) beschäftigt. Im Rahmen dieses Projektes
habe ich die Paintball-Spieler und Hooligans untersucht.
Einzelne Teile der Arbeit sind - teilweise modifiziert - bereits in verschiedenen Forschungsberichten, Buch- und Zeitschriftenpublikationen erschienen.
Inhalt
I.
Einleitung und Forschungsfrage ..................................................................................... 7
I.
Methodologie, Feldzugang und Forschungsinventar................................................... 17
1. Die ethnographische Sozialwissenschaft ..................................................................... 17
2. Retrospektive Wegbeschreibung - der Zugang zum Untersuchungsfeld ..................... 21
3. Erhebungsverfahren und empirische Basis .................................................................. 29
3.1 Originäre Felddaten .............................................................................................. 30
3.2 Forschergenerierte Daten...................................................................................... 31
3.2.1
Problemzentrierte Interviews.................................................................. 31
3.2.2
Beobachtungen: Reisestationen, ‘Happenings’, ‘Events’....................... 32
3.2.3
Gruppendiskussionen.............................................................................. 35
4. Auswertungsstrategien ................................................................................................. 36
II. Die empirische Analyse - Zur Phänomenologie gewaltaffiner Spezialkulturen....... 38
1. Sadomasochismus: Szenen und Rituale ....................................................................... 40
1.1 Exkurs: Sadomasochismus im Spiegel öffentlicher Diskussion und
wissenschaftlicher Theorien ................................................................................. 47
1.1.1
Sadomasochismus und öffentliche Meinung.......................................... 47
1.1.2
Konstitutive Merkmale menschlicher Sexualität.................................... 48
1.1.2.1 Der Sexualtrieb ....................................................................................... 48
1.1.2.2 Sozio-kulturelle Formung sexueller Verhaltensweisen.......................... 49
1.1.3
Sadomasochismus im Spiegel bisheriger Forschung.............................. 55
1.1.3.1 Etymologie des Begriffs ......................................................................... 55
1.1.3.2 Die frühe Sexualwissenschaft................................................................. 57
1.1.3.3 Neuere Untersuchungen ......................................................................... 58
1.2 Erste Berührungspunkte und Entdeckung der sadomasochistischen Neigung ..... 63
1.3 Persönliche Beziehungen...................................................................................... 76
1.3.1
Chancen bei der Partnerwahl.................................................................. 76
1.3.2
Monogame Beziehungen ........................................................................ 78
1.3.3
Promiskuitive Beziehungen.................................................................... 81
1.3.4
Gruppenveranstaltungen und Feten ........................................................ 84
1.3.5
Exkurs: Die professionelle Domina-Szene............................................. 93
1.4 Codes und Symbole ............................................................................................ 103
1.4.1
Kontaktanzeigen ................................................................................... 103
1.4.2
Kleidung und Schmuck ........................................................................ 106
1.4.3
Fetischismus und Sadomasochismus.................................................... 110
1.5 Das sadomasochistische Szenario....................................................................... 112
1.5.1
Die Praktiken ........................................................................................ 113
1.5.2
Die sozialen Mechanismen im SM-Arrangement ................................ 127
1.6 Faszination, Gefühle und Erlebnismuster........................................................... 134
1.6.1
Das erotisierte Herrschaftsverhältnis.................................................... 134
1.6.2
Schmerz und Ekel................................................................................. 141
1.6.3
Sadomasochismus als Außeralltäglichkeit und Grenzerfahrung .......... 150
1.7 Das Problem der Gewalt ..................................................................................... 152
1.8 Die Trennung von Alltag und Sadomasochismus .............................................. 161
1.9 Frauen und Sadomasochismus............................................................................ 165
1.9.1
Weiblicher Sadomasochismus in der wissenschaftlichen Diskussion.. 165
1.9.2
Die SM-Debatte in der Frauenbewegung ............................................. 168
1.9.2.1 Frauen und SM - Ein Boom-Thema zu Beginn der 90er Jahre ............ 168
1.9.2.2 Weibliche Sexualphantasien................................................................. 169
1.9.2.3 Praktizierter Sadomasochismus............................................................ 171
1.9.2.4 Frauen in der SM-Szene ....................................................................... 176
1.9.2.5 Fallbeispiele masochistischer und sadistischer Frauen ........................ 177
1.9.2.6 Frauen zwischen Dominanz und Submission....................................... 211
2. Paintballspieler - Normalität unter Gewaltverdacht................................................... 215
2.1 Herkunft und aktuelle Lebenssituation............................................................... 224
2.2 Die Gruppe.......................................................................................................... 227
2.3 Wahrgenommene Gruppenperipherie................................................................. 245
2.4 Intergruppenbeziehungen ................................................................................... 249
2.5 Gruppenverlauf ................................................................................................... 251
3. Hooligans - Gewalt macht Spaß................................................................................. 252
3.1 Herkunft und aktuelle Lebenssituation............................................................... 256
3.2 Gruppenwirklichkeit ........................................................................................... 259
3.3 Wahrgenommene Gruppenperipherie................................................................. 272
3.4 Intergruppenbeziehungen ................................................................................... 274
3.5 Gruppenverlauf ................................................................................................... 278
III. Spezialisierte Affektkulturen in der Erlebnisgesellschaft ......................................... 280
1. Zur Erlebnisgesellschaft ............................................................................................. 280
2. Spezialkulturen in der Erlebnisgesellschaft ............................................................... 281
3. Außeralltäglichkeit, Gewalt und Zivilisation ............................................................. 282
AnhangLiteratur................................................................................................................... 296
Literatur ................................................................................................................................ 297
Glossar ................................................................................................................................... 321
Beispiele Datenerhebungsmaterial...................................................................................... 329
I. Einleitung und Forschungsfrage
Von Himmelsfahrten und Höllenspektakeln
Als besonderes Phänomen unserer Zeit hat sich eine Vielzahl unterschiedlicher Formen des
‘Reizkonsums’ (vgl. Hauck 1989) herausgebildet. In den westlichen bzw. industrialisierten
Ländern - und hier vor allem auch in den USA und Japan - wagen sich immer mehr Menschen
freiwillig an die Grenzen ihrer physischen und psychischen Belastbarkeit. Sie tun vermeintlich unangenehme, ‘verrückte’ Dinge, mit denen sie sich (und zum Teil auch andere) nicht
selten in (Lebens-)Gefahr bringen. Und sie tun es, nicht nur ‘trotz’ eines subjektiv empfundenen oder objektiv existierenden Risikos, sondern - entsprechend der Zeitgeistdevise ‘No Risk
- No Fun’ - gerade wegen des Risikos (vgl. Apter 1994). Le Breton (1995, S. 105 bemerkt
dazu: „Neue Praktiken fassen (...) Wurzel, Gewächse der jüngsten Moderne: Werbung, Sport,
Sensationsleistungen, Fitneßwettbewerb, intensive Freizeitgestaltung.“
Oftmals handelt es sich um junge Leute auf der Suche nach der außeralltäglichen Erfahrung,
doch die ‘Erlebnisgesellschaft’ (vgl. Schulze 1993; 1999) der Superlative bleibt nicht nur ihnen vorbehalten. Viele Erwachsene, wobei es sich nicht zuletzt um in Beruf, Politik und Sport
hochgestellte Persönlichkeiten handelt, unterliegen der Faszinationskraft von Aktivitäten, die
nicht nur Kraft und Mut erfordern, sondern ein mehr oder weniger großes Risiko in sich bergen. Selbst ‘eine’ Steffi Graf (mit Amüsement ob dieser Stilblüte erlaube ich mir dieses Zitat)
weiß - auf der Suche nach dem Sinn des Lebens (?) - der Langeweile ihrer Post-Tennis-Ära zu
entkommen: Vor laufenden Kameras springt sie von einer Brücke in die Tiefe, aufgefangen
nur von einem an ihren Fußgelenken befestigten Gummiseil, das sie vor dem scheinbar nahenden Aufprall auf der Wasseroberfläche eines Flusses rettet. Ein Traum, den sie sich nach
ihrer eigenen Aussage schon immer einmal verwirklichen wollte, dessen Umsetzung ihr berauschende Glücksgefühle bescherte. Und - selbstverständlich: Auch wenn die Story zuerst
bei den Privatsendern im TV ‘on air’ war, der Boulevardpresse (Bild) schien dies dann noch
im nachhinein ein Titelthema wert.
Doch nicht nur die Kicks der Prominenten werden als aktuelle und interessante Themen von
den Medien gierig aufgegriffen und dramatisch inszeniert. Hartmann hat seit 1992 eine Vielzahl einschlägiger Sendungen verschiedener TV-Kanäle aufgezeichnet:
7
„Kein Sender, der sich nicht regelmäßig in fasziniert-enthusiastischen und/oder
skeptisch-kritischen Features mit diesen und jenen Thrilling Fields befaßt und extreme Outdoor-Aktivist/inn/en jeglicher Provenienz zu seinen etablierten Talkshows und Diskussionsrunden eingeladen hätte - kein Wunder auch: Das Thema
ist im doppelten Wortsinn spektakulär, und seine Protagonist/inn/en kommen gut
an“ (Hartmann 1996, S. 67ff).
Wie oben bereits angedeutet, steht das ‚Abenteuer’ im Mittelpunkt des Interesses insbesondere der privaten Sender. Jüngste Auswüchse sind die Real-Life-Adventure- und SurvivalShows von RTL (Expedition Robinson) und SAT 1 (Inselduell), die im Sommer 2000 zum
erstenmal gesendet wurden. Hier müssen Männer und Frauen auf einer Insel in Malaysia nach
dem Motto ‘Back to the Roots’ regelrecht ums Überleben kämpfen, inseltypische Aufgaben
erledigen (z.B. Nahrungsbeschaffung aus dem Wasser, Früchte sammeln etc.), in einer Art
‘Spiel ohne Grenzen’ Wettkämpfe austragen oder auch Mobbing-Attacken der Teilnehmer
abwehren.1 Mit besonderem Blick auf die USA erstaunt der Erfindungsgeist der Produzenten,
insbesondere wenn es um solche Arrangements geht, die Identität, Integrität und Würde der
Teilnehmer regelrecht zu vernichten suchen. Im militärischen Szenario des ‘Boot Camp’2 setzen sich Menschen 28 Tage lang extremen Erniedrigungen aus (‘sich fühlen wie der letzte
Depp’), herbeigeführt durch willkürliche Drills der vermeintlichen Vorgesetzten (Offiziere).
Hart gesotten müssen auch die Spieler der japanischen Produktion von ‘Takeshi’s Castle’
(dreimal täglich! gesendet auf DSF) sein. Sie haben mehr oder weniger sportliche Aufgaben
zu erledigen, die nahezu unmöglich ohne ‘Verluste’ durchführbar sind: Durch die besondere
Anlage sind schwerste Stürze vorprogrammiert, landet das Gesicht in kloakenähnlichen Trögen oder wird die Kleidung vom Leib gerissen. Die Teilnehmer werden öffentlich (im Fernsehen) der Lächerlichkeit Preis gegeben. In diesen Shows amalgamieren körperliche Anstrengung, Nervenkitzel, psychische Belastung, Mobbing und Erniedrigung. Dies verlangt physische wie auch mentale Höchstleistungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer.
Zur Grundstruktur der ‘Freizeitgesellschaft’3 gehören erlebnisorientierte Spezialisierungen,
die sich in den vielfältigsten Ausprägungen medialer Inszenierungen, von Mutproben, gefähr-
1
Aufsehen erregte ein schwedischer Sender, der 1996 die erste der Inselshows produzierte. Ein Teilnehmer
beging nach deren Ende Selbstmord (vgl. Stuttgarter Zeitung vom 03.07.2000, S. 15).
2
Die Übersetzung lautet ‘Armee-Ausbildungslager’. Der semantische Raum spricht für sich: Jemanden rausschmeißen, über der Arbeit sterben, vor Angst fast umkommen, kräftig zutreten/-schlagen, jemanden niedermachen, jemandem einen Tritt versetzen (vgl. Pons Großwörterbuch Englisch 1999, S. 1123)
3
Eine ausführliche Theoriebildung findet sich insbesondere in den Arbeiten von Bourdieu (1984); Gluchowski
(1988); Rastetter (1996); Riesman (1958); Stengel (1996); Tokarski/Schmitz-Scherzer (1985); Uttlitz (1985)
und Vester (1988).
8
lichen Spielen, sportlichen Ereignissen (Abenteuer-, Extrem- und Risikosport) und Reisen
(Abenteuer- und Extremtourismus) etabliert haben. Wie selbstverständlich legen wir in Vergnügungsparks und auf Jahrmärkten unseren Körper in den Schoß computergesteuerter Fahrbetriebe und Bungee-Springer haben - wie das Beispiel der Tennisspielerin Steffi Graf zeigt schon längst den Charakter des durchgeknallten und ausgeflippten Außenseiters verloren.
Diese und ähnliche Aktivitäten sind in breite gesellschaftliche Schichten diffundiert und erlauben ‘kleine Fluchten aus dem Alltag‘ (Enzensberger 1971) für jeden Geschmack. An vorderster Front die Fun-, Ausdauer- und Risikosportarten. Dazu einige Beispiele:
• „Extreme Skiing: Steilwandabfahrten; ‘verrücktestes’ Beispiel (von Hans Kammerlander und Diego Vellig): auf einer 60 Grad steilen Route vom 8125 m hohen Nanga
Parbat hinunter; (...)
• Free-/Solo Climbing: ‘elegantes’ Extremklettern bei Verwendung möglichst weniger
Sicherungshaken/Alleinklettern unter Extrembedingungen, zumeist ohne Seil; (...)
• House Running: möglichst schnelles ‘Hinunterrennen’ von hohen Häusern, angeseilt,
die Füße gegen die Fassade gestemmt und das Gesicht zur Straße gekehrt“ (Hartmann 1996, S. 70ff).
Die ‘Eventkultur’ wird von der Freizeitindustrie aktiv vermarktet: Fun-Sportmessen und Veranstaltungen; kaum eine große Kaufhauskette, deren Sportabteilung nicht auch ähnliche wenn auch weniger extreme - Offerten im Repertoire hat.4 Und auch der Extrem-Tourismus
ist schon lange keine Angelegenheit mehr von Einzelkämpfern wie Reinhold Messner, wenngleich dessen Leistungen eine Sonderstellung einnehmen. Dem Ideenreichtum der ‘Sensation
Seeker’ (Zuckerman/Bone 1972) sind scheinbar keine Grenzen gesetzt:5 „Zu Fuß unterwegs
4
In einer Broschüre des einst eher konservativ-bürgerlichen ‘Konsumpalastes’ Breuninger in Stuttgart aus dem
Jahr 1997 (‘City & Events - Fun & Sports - Adventure & Nature - Far & Away’, S. 23) findet sich z.B. ein
Angebot zum Action-Weekend in Engelberg: „Wie alle anderen Seilbahnbenutzer verlassen auch BungeeJumper die Kabine durch die Türe - allerdings nicht in der Tal- oder Bergstation, sondern irgendwo unterwegs auf der Strecke. (...) In Engelberg könnt Ihr Euch (vor Ort) zwischen einem 70 Meter- oder einem 120
Meter-Sprung entscheiden - Nervenkitzel inklusive! Ergänzend (...oder alternativ) zu diesem ‘Höhenrausch’
bieten wir eine Gletschertrekking-Tour am Groß Titlis (3.238 m.ü.M) an.“
In der Werbe-/Marketingzeitung Horizont (28.07.2000, Nr. 28) wird unter der Rubrik ‚Fernseh News’ über
„Extremsport im Olympiafieber“ berichtet. „UPC-TV und Extreme Group, Joint-Venture-Partner des europäischen Extreme Sports Channels, veranstalten in Zusammenarbeit mit Online Sports Marketing die World
Extreme Games. Auf die offizielle Olympiade folgend, finden die Spiele vom 1. bis 3. Dezember ebenfalls in
Melbourne (Australien) statt.“
5
Schon der Blick auf das immense Angebot spezialisierter Zeitschriften und Magazine in den Presseforen der
Bahnhöfe lässt ein schier unüberschaubares Angebot vermuten.
9
in der Arktis, Elefantenwaschen in Indien, (...) bei Kopfjägern und Kannibalen, (...) per Hubschrauber zum ‘Survival training’ in die menschenleere kanadische Wildnis“6 oder zum ‘Gorillatrekking’ nach Afrika.7 Auch die riskanten Reisen der Kriegsberichterstatter und nicht
zuletzt die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesen und ähnlichen Themen lassen sich dem
Phänomen der ‘Thrilling Fields’ (Hartmann 1996) zuordnen .8
Diese Verhaltensweisen bzw. ihre Folgen sind in verschiedene Richtungen an ein komplexes
Netzwerk institutioneller Veränderungen geknüpft. So haben sich z.B. die alpinen Rettungswachten wie selbstverständlich auf die gefährlichen Touren der Ski- und Snowboardfahrer
eingestellt, die fernab der gesicherten Pisten nicht selten todbringende Lawinen auslösen.
Traurige Beispiele sind die Unglücke Anfang 2000 in Österreich und der Schweiz. Und schon
längst wurde die Branche der Versicherer auf den Plan gerufen und hat reagiert. Die Frage
nach riskanten Hobbys und Freizeitaktivitäten gehört mittlerweile zum Repertoire der Standardfragen der Anträge für Unfall- und Lebensversicherungen. Je nach dem werden Preisaufschläge verlangt, da sich das Risiko und damit die Zahlungswahrscheinlichkeit für die Versicherer bei frühzeitigem Tod erhöht.
Bioenergetik, Meditation, Spiritualität, (Designer-)Drogen (Techno, Ecstasy), Sekten, Okkultismus (Grufty-Szene) und die Vielfalt medialer Inszenierungen von Schrecken und Gefahr
sind weitere Beispiele für die ‘Ausbruchsversuche’ (Cohen/Taylor 1977) der zivilisationsmüden Individuen unserer Gesellschaft. Außeralltäglichkeit, Nervenkitzel und Thrill sind allerdings nicht immer in eine organisierte bzw. institutionalisierte, kommerzielle Eventkultur
eingebunden, sondern haben oftmals subkulturellen Charakter. Beispiele hierfür sind Verhaltensmuster der in den Großstädten von Langeweile geplagten Jugendlichen, wie es Le Breton
(1995, S. 84) beschreibt:
„Surfistas, Jugendliche zwischen fünfzehn und zwanzig Jahren in den Vororten
Rio de Janeiros, benutzen regelmäßig die Dächer der übervollen Züge, die zwischen ihren Wohnorten in den Vorstädten und der Innenstadt verkehren, um ihre
Surfwettbewerbe auszutragen. Sie versuchen bei Geschwindigkeiten von bis zu 70
6
Krippendorf (1984, S. 87)
7
Vgl. Kohnen/Braun (1989)
8
An dieser Stelle muss explizit auf den Sammelband ‘Freizeit in der Erlebnisgesellschaft’ (Hartmann/Haubl
1996) verwiesen werden. In Anlehnung an das Schulzesche Konzept der Erlebnisgesellschaft (1993) werden
in acht unterschiedlichen Beiträgen aus Psychologie und Soziologie erlebnisorientierte Freizeitbereiche skizziert. Themen sind (Massen)Tourismus, Fun- und Extremsportarten, Fußball, Popmusik, ’süchtiges’ Einkaufen als Zeitvertreib, Körperkult, Konfliktsimulationsspiele und virtuelle Vergnügungen im Cyberspace. Nicht
unerwähnt bleiben soll auch die bemerkenswerte Arbeit von Keim (1999), eine ethnographische Analyse
zeitgenössischer Konsumkultur am Beispiel des Kaufhauses ‘Breuninger’ in Stuttgart.
10
Stundenkilometern (...) das Gleichgewicht zu bewahren, ohne sich abzustützen
und trotz des Fahrtwindes. (...) ‘An einen Unfall’, sagt einer dieser Surfistas, daran denkt man schon. (...) Am Anfang legst du dich so flach hin wie möglich, den
Bauch gegen das Dach gepreßt. Aber bald wird das langweilig. Dann setzt du
dich, dann versuchst du aufrecht zu stehen. Du kriegst den Wind voll in die Fresse, und dann beginnt das Spiel so richtig. Bald kommst du ohne dieses Gefühl
nicht mehr aus, schlimmer als Rauchen ist das. Es gibt sogar welche, die nachts
einen Surf hinlegen. Sie können fast nichts mehr sehen, sie gehen dann nach ihrem Instinkt, und das ist noch aufregender (Liberation, 20. Januar 1988).“
In ihrer Ausgabe vom 10.10.2000 (Nr. 234) hat die Stuttgarter Zeitung über ‘MöchtegernSchumis’ berichtet, die der Polizei durch illegale Autorennen Sorgen bereiten. Bei solchen
Aktivitäten handelt es sich um abweichendes Verhalten, das nicht selten im Sinne von Delinquenz an strafrechtliche Konsequenzen geknüpft ist.9
Die hier beschriebenen Aktivitäten finden nicht nur das Interesse ihrer Anhänger und eingeschworenen Fangemeinden sowie der breiten Öffentlichkeit, sondern auch der anthropologischen, psychologischen und soziologischen Wissenschaft. Neben den (oben teilweise bereits
zitierten) ‘Klassikern’ (Balint 1982; Callois 1982; Cohen/Taylor 1977; Csikzentmihalyi
(1985); Elias/Dunning 1970; Huizinga (1987); Zuckerman/Bone 1972), die Angstlust, Körper- und Grenzerfahrung oder das Spiel und den Wettkampf thematisieren, setzen sich vor
allem auch Apter (1994) oder Le Breton (1995) ausführlich mit den modernen Abenteurern,
S-Bahn-Surfern, Elevator-Ridern, Autocrashern und Airbaggern, Rallyefahrern u.v.m. auseinander.10 Doch nicht nur die ‘realen’, auch die ‘fiktiv-virtuellen’ Erfahrungsräume11 sind spannende Themen der sozial- und gesellschaftswissenschaftlichen Forschung. Mediale Inszenierungen von ‘Grauen und Lust’ stehen im Mittelpunkt der Studien der Arbeitsgemeinschaft
sozialwissenschaftliche Forschung und Weiterbildung e.V. an der Universität Trier (ASW)
9
Zum Thema Jugend, Risikoverhalten und Delinquenz vgl. Allerbeck/Hoag 1985; Eckert u.a. (1998; 2000);
Engel/Hurrelmann (1993); Ferchhoff u.a. (1995); Freese u.a. (1985); Janke/Niehues (1995) Raithel (2001);
Rogge (1988)
10
Vgl. hierzu z.B. auch: Böhnisch (1999); Boltz (1994); Damm (1995); Freese u.a. (1985); Huber (1994);
Kühnel/Matuschek (1995); Semler (1994); Virilio (1994)
11
An dieser Stelle sei noch auf eine von vermutlich unzähligen ähnlich gearteten Webpages hingewiesen: ‘Rotten.com’ bietet dem Normalbürger Ein- oder besser gesagt Anblicke, die sonst nur Notärzten, Leichenbeschauern und Pathologen oder Kriminologen vorbehalten bleiben. So z.B. das zerstörte Gesicht eines Mannes
nach einem Motorradunfall, halbverweste Leichen ehemaliger Scientology-Mitglieder, deren Todesursache
nie geklärt werden konnte (glaubt man der Behauptung der ‘Anbieter’), der Körper eines Menschen, der von
einer Riesenschlange verschlungen wurde oder ein Penis, an dem sich ein Aal festgebissen hat. Diese Bilder
befinden sich gleichsam in einem virtuellen Raum, der öffentlich zugänglich ist. Aufgrund der fehlenden Zugangsberechtigung konnte ich nicht klären, was sich demjenigen offenbart, der über einen entsprechenden
Userlevel an ‘die wirklich harten Bilder’ kommt.
11
um Prof. Dr. Roland Eckert. Die unterschiedlichen qualitativ-ethnographisch orientierten Studien zeigen, wie Horror- und Pornovideos oder entsprechende Computerspiele und -aktivitäten (Internet) den Nutzern das Erleben von sexueller Erregung, Grauen und Ekel ermöglichen
(vgl. Eckert u.a. 1990; Eckert u.a. 1991; Winter 1995).
Gewaltaffine Spezialkulturen - Sadomasochismus, Paintball oder Gotcha und das Phänomen
der Hooligans
Und damit möchte ich nun zum eigentlichen Thema der vorliegenden Arbeit kommen: Im
Mittelpunkt des Interesses stehen nämlich verschiedene Erlebnisformen, die noch vielmehr als
die oben beschriebenen Aktivitäten im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit bzw. Kritik
stehen und Kirchenvertreter, Pädagogen, Psychologen, Polizei und Politiker, aber auch die
bürgerliche Öffentlichkeit wachrufen. Viele Menschen suchen Situationen, in denen außeralltägliche Körpererfahrungen und mentale Grenzgänge in engem Zusammenhang mit gewaltaffinen oder gewalttätigen Handlungen stehen. Exemplarisch werde ich dies an drei Beispielen
bzw. emotionalen Erfahrungsräumen erläutern, die seit Beginn der achtziger und neunziger
Jahre immer wieder auf sich aufmerksam machen: 1) Sadomasochismus, 2) Paintball/Gotcha
und 3) das Phänomen der Hooligans. Die drei Themen bzw. Gruppen mögen auf den ersten
Blick wenig Gemeinsamkeiten aufweisen. ‘Das Auge des Ethnographen’ (Leiris 1985) jedoch
zeigt, dass es eine Vielzahl motivationaler und struktureller Übereinstimmungen gibt.
Zentraler Stellenwert wird dem Thema Sadomasochismus eingeräumt, mit dem ich mich bereits seit Ende der achtziger Jahre theoretisch und empirisch beschäftige (vgl. Steinmetz
1990). Es nimmt somit den größten Teil der Arbeit ein. Dem Phänomen der Paintballer oder
Gotcha-Spieler, das ebenso über mehrere Jahre im Zentrum meiner Analysen stand, wird ähnlich dezidiert nachgegangen, wenn auch nicht vergleichbar ausführlich. Mehr oder weniger
exkursorischen Charakter hat das Thema ‘Hooligans’, auch wenn ich mich empirisch intensiv
damit beschäftigt habe und ganze Wochenenden nahezu rund um die Uhr mit Szenemitgliedern verbrachte bzw. in der Szene unterwegs war. Die Gründe liegen vor allem darin, dass die
Erforschung der ‘Hooligans’ - im Vergleich zum Sadomasochismus und vor allem zum Paintball - in der Pädagogik und Soziologie eine lange wissenschaftliche Tradition hat. Allerdings
spielt hier auch die besondere Form der Gewalt im Sinne von immer häufiger werdenden Eskalationen eine Rolle. Die Fußballweltmeisterschaft in Frankreich resp. die Ausschreitungen
in Lens haben gezeigt, dass hier Rahmen des gegenseitigen Einvernehmens gesprengt werden
und Externe (Polizei und andere) schlimmste körperliche und psychische Verletzungen bzw.
bleibende Schäden davontragen. Darin unterscheiden sich - wie noch zu zeigen sein wird Hooligans von Sadomasochisten und Paintball-Spielern.
12
Bei der empirischen Annäherung an alle drei Bereiche habe ich mich am qualitativinterpretativen Paradigma orientiert. Neben Szenen-Ethnographien war es das Ziel dieser
Vorgehensweise, die typischen Sinnmuster der weitgehend unerforschten ‘Kulturen’ zu rekonstruieren; letztlich das sichtbar zu machen, was für den ‘Fremden’ unsichtbar ist. Bei den
‘Real-Life-Explorationen’ ging es um den subjektiv gemeinten Sinn der Akteure, um ihre
Perspektive bezüglich Aggression, Gewalt und Sexualität.
Die Probanden wurden nach dem Schneeballverfahren rekrutiert. Dieses Auswahlprinzip erlaubt keine Aussagen über die quantitative Verteilung von bestimmten Merkmalen. Auch
wenn Hypothesen formuliert werden können, bleibt die statistische Verteilung der Geschlechter oder des Alters im Dunkeln. Dies war aber auch nicht Zielsetzung der Arbeit. Vielmehr ist
sie im Sinne qualitativer Forschungsstrategien als exploratives Vorhaben konzipiert. Die gewählte Untersuchungsmethode hat es schließlich auch nicht ermöglicht, Abweichler im Sinne
von Straftätern, die sich der Körperverletzung oder gar einer Tötung schuldig gemacht haben,
zu befragen, weil diese in den Szenen selbst ausgeschlossen werden. Eine Ausnahme sind
einzelne Mitglieder der Hooligan-Szene.
1) Sadomasochismus
Erschien Sadomasochismus noch Mitte der siebziger Jahre als periodisch auftauchendes, aber
verstecktes Thema in Werbung und Presse, wurde dieses Phänomen insbesondere in den achtziger Jahren und Anfang der neunziger Jahre in der Bundesrepublik Deutschland (und vor
allem in den USA) popularisiert. Die sadomasochistische Ikonographik drang verstärkt in die
verschiedensten Bereiche der populären Kultur und rangierte in den ‚Media Agendas’ ganz
oben. Man begegnet ihr heute immer wieder in Pop-Videos, der Belletristik, der Modewelt
oder der (Zigaretten)Werbung. Auch in den zahlreichen Life-Style-Zeitschriften wurde und
wird der Sadomasochismus thematisiert. Gerade in letzteren findet die ‚schwarze Leidenschaft’ immer wieder besondere Beachtung. Dazu bemerkt Schorsch (1980b, S. 113) treffend:
„Belletristik und Unterhaltungsindustrie lieben die Lederkleidung, es rasseln die Ketten, das
modische Spiel mit dem Extravaganten scheut auch vor einem schwül erotisierten, sadomasochistisch getünchten Faschismus nicht zurück.“ Und dennoch: Das in der Öffentlichkeit herrschende Bild vom Sadomasochismus ist von vielfältigen Vorurteilen und negativen Stereotypen wie ‚krankhaft gestörtes Sexualverhalten’ oder gar ‚Sexualverbrechen’ geprägt. Ja selbst
die wissenschaftlich-soziologische Beschäftigung mit diesem Thema sollte sich als etwas
‘Anrüchiges’ erweisen. Kolleginnen und Kollegen rümpften die Nase ob der Beschäftigung
mit diesem Forschungsgegenstand (immer noch muss ich darüber schmunzeln, dass dieselben
13
Kolleginnen und Kollegen später dann die Publikation der Forschungsergebnisse in den detaillierten Beschreibungen der Praktiken kannten).
Diese Vorurteile innerhalb der öffentlichen Meinung gegenüber Sadomasochismus sind nicht
zuletzt darauf zurückzuführen, dass sich innerhalb der wissenschaftlichen Diskussion bisher
keine einheitliche Bewertung herauskristallisieren konnte. Die Forschung in diesem Bereich
hat vielmehr heterogene Ergebnisse hervorgebracht und man hat sich weitestgehend mit den
möglichen Ursachen und Therapieformen beschäftigt. Daneben werden häufig Fragen aufgeworfen, ob und inwiefern sich die verschiedenen Formen von Sadismus und Masochismus
einander bedingen, also mögliche gesellschaftliche und soziale Ursachen des sexuellen Sadomasochismus diskutiert (vgl. Kap. III.1.1; III.1.9.1). Solchen oder ähnlichen Fragen soll im
Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht nachgegangen werden. Sadomasochistische Sexualpraktiken - als Wechselspiel von Dominanz und Unterwerfung, bei dem das Zufügen und Erleiden
physischer und psychischer Schmerzen eine Rolle spielt - stehen aus der subjektiven Perspektive der Betroffenen und einer ethnographischen Analyse der etablierten Szene im Mittelpunkt. Angemerkt sei noch, dass ich angesichts der besonderen Bedeutung, die der Rolle der
Frau in der soziologischen, psychologischen und politischen Diskussion zukommt, hier ein
eigenes Kapitel über die Biographie sadomasochistischer Frauen ausgearbeitet habe.
2) Paintball oder Gotcha
Auch die Paintball- oder Gotcha-Spieler haben in den letzten Jahren verstärkt auf sich aufmerksam gemacht und sind zunehmend ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Mit waffenähnlichen sogenannten ‘Markierern’ ausgerüstet, schießen sie mit bunten Gelatinekugeln, die beim
Aufprall platzen, ‘zum Spaß’ auf Menschen (Mitspieler). Hier sei bereits angemerkt, dass
diese Farbkugeln in der Regel keinerlei schlimmen Verletzungen verursachen, sondern ‚nur’
einen bunten Farbfleck (hin und wieder ein Hämatom) hinterlassen. Diese quasi kriegerische
Handlung ist jedoch Dreh- und Angelpunkt der kritischen Diskussionen um dieses ‘Spiel’.
Schlagworte wie ‘Kriegsverherrlichung’, ‘Rechtsradikalismus’ und das ‘Schießen auf einen
Menschen’ kennzeichnen die Richtung der Befürchtungen und sind die thematischen Rahmen
für die mehrheitliche Berichterstattung der Medien. Selten bemüht man sich um eine differenzierte Betrachtungsweise und verfällt anstelle dessen in moralische Diskussionen oder dramatische Beschreibungen in dem Glauben, einmal mehr rechten Gruppierungen auf die Spur
gekommen zu sein.
Ungeachtet dessen hat sich Paintball über Amerika und England auch in Deutschland verbreitet und auch hierzulande seit Anfang der neunziger Jahre eine Szene etabliert. Die Paintball-
14
und Gotcha-Szene wird ethnographisch analysiert, subjektive Motivations- und Einstellungsmuster werden herauskristallisiert.
3) Hooligans
Das Phänomen der Hooligans nimmt generell eine besondere Stellung unter den Fußballfans
ein. Hooligans distanzieren sich deutlich von den sogenannten ‘Kuttenträgern’ (das sind Fans,
die sich und ihre Jacke über und über mit Vereinsemblemen schmücken) und heben sich von
den ‘normalen’ unauffälligen Fußballbegeisterten ab. Sie nutzen den Rahmen des Fußballspiels für gewalttätige Auseinandersetzungen unter ihresgleichen - in jüngster Vergangenheit
aber verstärkt auch mit Dritten bzw. der Polizei. Eine Affinität zu autoritär-nationalistischen
Einstellungen ist bei einem Teil der Hooligans erkennbar und hinsichtlich des zum Teil zu
Tage tretenden Gewaltniveaus sind strafrechtlich relevante Handlungen nicht untypisch.
Die vorliegende Arbeit versteht alle drei Phänomene als die Herausbildung von ‘Spezialkulturen’, in deren Enklaven gewaltaffine Affekte - fiktiv und real - im Sinne außeralltäglicher
Erfahrungen und der Suche nach Action und Thrill ausgelebt werden können (vgl. Kap. IV.).
Dies erscheint zunächst provokativ: Vor dem Hintergrund der amtlichen Statistiken (Bericht
des Innenministers/Polizeiliche Kriminalstatistik) und der Ereignisse der jüngsten Vergangenheit haben wir sicherlich allen Grund zur Sorge um die Gewalt in unserer Gesellschaft.
Seit Anfang der neunziger Jahre mehren sich die fremdenfeindlichen Anschläge (vgl. Willems
u.a. 1993) und die Zahlen des Verfassungsschutzes verweisen auf die zunehmende Gewalt
gegenüber Ausländern. Überhaupt steigt seit einigen Jahren das Gewaltniveau der Jugendlichen an (vgl. Pfeiffer u.a. 1998). Geschürt durch die Berichterstattung in den Medien avancieren Ereignisse wie der Amoklauf eines Schülers in Bad Reichenhall und der Schülermord an
einer Lehrerin in Meißen in der Öffentlichkeit gleichsam zum ‘pars pro toto’. Große Ratlosigkeit, wie der Gewalt von und unter Jugendlichen zu begegnen sei, macht sich breit.12 Deshalb
ist zu fragen, wie sich gewaltaffine Affektkulturen wie die der Sadomasochisten, PaintballSpieler und Hooligans mit den Werten unserer dem Frieden und der Freiheit verpflichteten
Gegenwartskultur vertragen. Wie stellt sich der soziale Charakter dieser Gewalt gegenüber
anderen Gewaltformen dar? Können die Akteure noch zwischen Fiktion und Realität unter-
12
Dazu schreiben Eckert u.a. (2000, S. 13): „Die gesellschaftliche Reaktion ist hilflos: wieder einmal ertönt der
Ruf nach Werterziehung, ohne daß wir wissen, ob es nicht gerade die Verteidigung von Werten ist, die den
Kampf anleitet; der Ruf nach Strafverschärfung, ohne daß wir wissen, ob Strafe überhaupt abschreckende
Wirkung hat, der Ruf nach Absenkung des Strafmündigkeitsalters, ohne daß wir wissen, was wir mit Kindern
in einer Strafvollzugseinrichtung anfangen könnten. Kurzum, das Phänomen ist Gegenstand öffentlicher Erregung, ohne daß wir wissen, was zu tun wäre.“
15
scheiden? Wenn ja, wie können ‘Spiel’ und Alltag unterschieden werden? Schließlich: wird
die Affektkontrolle, die wir in Jahrhunderten des Zivilisationsprozesses gelernt haben (vgl.
Elias 1976), wieder hinfällig?
Zur Beantwortung dieser Fragen möchte ich zunächst die methodologische Einordnung, den
Feldzugang, das Forschungsinventar und die Auswertungsstrategien beschreiben (Kap. II.).
Den Hauptteil stellen dann die empirischen Ergebnisse dar (Kap. III.). Hier zeichne ich die
Phänomene Sadomasochismus, Paintball/Gotcha und Hooligans im Sinne einer Szenen- (Sadomasochismus, Paintball) und Gruppenethnographie (Hooligans) nach. Dabei berücksichtige
ich insbesondere folgende Analyseebenen: Biographische Hintergründe, Zugangsmuster und
Erfahrungen, Identitäten und Alltagsrollen. In Kap. IV. skizziere ich die (zivilisations)theoretische Rahmung (Spezialkultur, Gewalt, Alltag und Außeralltäglichkeit - Abenteuer
und Risiko, Sensation Seeking) und formuliere abschließend Thesen mit besonderem Blick
auf die Gewaltdiskussion.
16
I. Methodologie, Feldzugang und Forschungsinventar
1. Die ethnographische Sozialwissenschaft
Das Erfahren und Erforschen des Fremden ist eines der zentralen Themen der Ethnologie.
Mittels geeigneter Forschungsstrategien soll der Forscher die Gewohnheiten und Alltagsbedingungen fremder Kulturen, aber auch spezifische kulturelle Bedeutungen und Regelsysteme
verstehend untersuchen. Rudolph (1983, S. 49) charakterisiert den Gegenstand der Ethnologie
als die Untersuchung von Menschengruppen „unter dem Aspekt von spezifischen Unterschieden ihrer Daseinsform bzw. - komplementär dazu - spezifische Unterschiede der Daseinsform
von Menschengruppen überhaupt, d.h. nicht unter dem Gesichtspunkt der Verschiedenheit zu
einer (jeweils) eigenen, gewissermaßen als Richtschnur vorausgesetzten Daseinsform (...).“
Diese Ethnien zeichnen sich durch bestimmte Gewohnheiten und Alltagsbedingungen, aber
auch durch spezifische kulturelle Bedeutungen und Regelsysteme aus.13
Diese Art der Forschung haben sich auch einige Soziologen zu eigen gemacht. Im 20. Jahrhundert gibt es mehrere Forschungsrichtungen, die derlei ethnologisches Gedankengut mit
soziologischen Theorie- und Forschungsansätzen zu verbinden suchen.14 Auch die vorliegen-
13
Ethnologie ist eng verknüpft mit völkerkundlicher, sozial- und kulturanthropologischer Forschung. Als einer
der frühen und bekanntesten Vertreter ethnologischer Forschung gilt Bronislaw Malinowski (1884-1942). Er
hat das Fremde systematisch und akribisch analysiert und uns z.B. in seiner Arbeit über ‘das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwestmelanesien’ die Sexualität auf der anderen Seite des Globus näher gebracht (vgl.
ders. 1979). Seine Leistung besteht nicht im Berichten des Einzigartigen und Sensationellen, sondern vielmehr darin, eine vollständige Übersicht über die Phänomene zu liefern (vgl. Messner 1996). Erwähnt werden
sollten in diesem Zusammenhang schließlich auch die Arbeiten von Benedict (1949), Lévi-Strauss (1989)
oder Mead (1965).
14
In Deutschland hat R. Thurnwald den Grundstein zum Konzept der Ethnosoziologie gelegt. Zu seinen bedeutendsten Veröffentlichungen zählt das fünfbändige Werk 'Die menschliche Gesellschaft in ihren ethnosoziologischen Grundlagen' (1931-1935). 1925 gründete er die 'Zeitschrift für Völkerkunde und Soziologie',
die nach 1950 unter dem Namen 'Sociologicus' wieder erschien. Die von ihm hergestellten Verknüpfungen
zwischen den beiden Disziplinen wurden später von seinem Schüler R. König und auch von W.E. Mühlmann
weiterentwickelt. Heute sind im deutschsprachigen Raum unter anderem die Studien von R. Girtler zur Prostituiertenszene (1990), die Arbeiten von R. Hitzler und A. Honer zu den Heimwerkern (1988), die Abhandlungen über Kaffeefahrten und Wünschelrutengänger von Knoblauch (1985; 1991), die Forschungsprojekte
zu den Themen ‘Medien’, ‘Jugend’ und ‘Gewalt’ von R. Eckert u.a. (z.B. 1990; 1991; 1998; 2000) oder die
kultursoziologische Dissertation von G. Keim (1999) zur Konsumkultur zu nennen. Einen Überblick zur ethnographischen (ethnologischen) Methode liefern: Amann/Hirschauer (1997); Berg/Fuchs (1993); Denzin
(1997); Fetterman (1989); Hammersley/Atkinson (1993); Lindner (1990) oder Stagl (1995). Mit ethnographischen Ansätzen in der deutschen Jugendforschung haben sich Neumann-Braun/Deppermann (1998) auseinandergesetzt. Auch in den angelsächsischen Ländern hat die Verknüpfung von ethnographischen und sozio-
17
de Arbeit gehört in diesen Rahmen. Ethnographisch-soziologische Forschung in dieser Tradition meint, dass nicht nur fremde Völker, sondern kulturelle Sonderwelten untersucht werden,
die sich durch spezifische Differenzierungs- und Segregationsprozesse innerhalb der eigenen
Gesellschaft gebildet haben. War die „Ethnologie ein Jahrhundert lang wissenschaftliche
Begleiterin von Kolonisation und Dekolonisation“ (Luyken 1996, S. 35), so untersucht der
moderne Ethnologe nicht die Stämme im Busch. Wer Exotik sucht, muss nicht (mehr) in die
entlegenen Winkel der Erde reisen, sondern findet sie gleich um die Ecke, in der New Yorker
Bronx, in den Pariser Banlieues, in den U-Bahnen (vgl. Augé 1994) und - mit Blick auf die
vorliegende Arbeit - hinter ganz normalen deutschen Gardinen. Diese vielfach als Subkulturen - in der Begrifflichkeit hier als Spezialkulturen - bezeichneten Enklaven werden genau so
untersucht, als handele es sich bei ihnen um fremde Ethnien.15 Unter Kultur ist dabei im Anschluss an die kulturanthropologische Tradition ein Komplex von Bedeutungen und Vorstellungen, der symbolisch ausgedrückt wird, zu verstehen. Geertz (1983, S. 9) zufolge ist „der
Mensch ein Wesen, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei Kultur
als dieses ‘Gewebe’ anzusehen ist.“ Deshalb liegt die Aufgabe einer ethnographisch orientierten Kulturanalyse, die sich mit unserer Gesellschaft beschäftigt, im Verstehen von Sinnmustern. Sie verkörpern sich in den Handlungen, Ritualen und Gegenständen, mittels derer die
Mitglieder von Spezialkulturen miteinander kommunizieren.16
logischen Ansätzen eine lange Tradition. Insbesondere die Vertreter der Chicago School in den USA verknüpften ethnologisches Wissen mit soziologischen Fragestellungen und gewannen nachhaltigen Einfluss auf
die Soziologie. Besonders R.E. Park (1952) und W.L. Warner (1953) wurden durch ihre ethnologische Großstadtforschung bekannt. Zu nennen sind weiter die Arbeit von F.M. Thrasher (1927) zu kriminellen Gangs,
die Street-Corner-Society-Studie von W.F. Whyte (1943) und die Arbeiten von H.S. Becker (1973) und J.
Thomas (1983). Nicht zuletzt die Subkultur-, Jugend- und Medienforschung des ‘Center for Contemporary
Cultural Studies’ in Birmingham mit Arbeiten von P. Willis (1981; 1991), J. Clarke u.a. (1979) oder J. Fiske
(1987) sind in diesem Zusammenhang zu nennen.
15
Der französische Soziologie M. Maffesoli (1988) bezeichnet diese Segmentierung als 'Neo-Tribalismus'. Er
lehnt sich damit begrifflich an ethnologisches Gedankengut an. So, wie bestimmte archaische Stammesformen eigenständige Kulturen hervorbringen, tun dies auch die Neo-Tribalisten in ihren Lebensräumen.
16
Bleibt noch darauf hinzuweisen, dass ethnologische Forschungsansätze resp. ethnographische Methoden
Einzug in die kommerzielle Marktforschung gehalten haben (vgl. Hörz 1996; Keim 1999; Miller 1995;
Shields 1992; Sherry 1995). Das auf qualitative Methoden spezialisierte Marktforschungsinstitut GIM (Gesellschaft für innovative Marktforschung) mit Sitz in Heidelberg hat im Jahr 1997 für den Musiksender MTV
eine ethnographische Jugendstudie durchgeführt. ‘Real-Life-Explorationen’ mittels Tiefeninterviews, Beobachtungen, Feldtagebüchern und Photodokumentationen geben Aufschluss über die thematischen Bereiche
Medien, Shopping, Sport, Mode, Ernährung oder Nightlife und erlauben Aussagen zu grundsätzlichen Werthaltungen, der Markenverwendung und Marken-Settings von Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 29 Jahren. Im Vorwort des (veröffentlichten) Berichtes heißt es: „Generell haben die klassischen Erhebungsinstrumente der Marktforschung ihre Grenzen, wenn es um die Erfassung der sozialen Wirklichkeit und ihrer Dynamik geht. Dies gilt besonders für die Zuschauerschaft von MTV. So sind junge Opinion Leaders nicht nur
schwer für klassische Marktforschungsprojekte zu gewinnen, ihre mentale Komplexität (besonders in bezug
auf das Konsumverhalten) kann man genauso wenig auf vorgefertigte Standard-Items in Fragebögen reduzieren. Qualitative Studien sind sicherlich kein Ersatz für die quantitativen Markt- und Mediastudien. Sie sind
18
Zu diesen kulturellen Enklaven hat der Sozialforscher, der zwar dem gleichen übergreifenden
Kulturkreis wie die zu untersuchende Spezialkultur entstammt, weder einen selbstverständlichen Zugang, noch ist das Verstehen von diesen Welten ohne Weiteres möglich. Deshalb
muss er zuallererst die notwendige Sensibilität für diese Fremdheit entwickeln und die unvertraute Kultur prinizpiell als eigenständige Symbol- und Sinnwelt begreifen. Nur wer das
Fremde wahrnimmt und sich auf diese Wirklichkeit einlässt, hat die Chance, die zu untersuchende Kultur wirklich zu erkennen.17 Dementsprechend kann ein solches Forschungsvorhaben nur dann gelingen, wenn die normativen Bezugssysteme der eigenen Wirklichkeit temporär aufgegeben werden. Der Forscher muss sich auf die Relevanzsysteme der fremden Ethnien
einlassen. Seine Aufgabe ist es dabei, „eine Kultur oder eine Gesellschaft oder eine Sitte so
gut wie möglich in dem Bezugsrahmen der Gesellschaft, die er studiert, statt in seinem eigenen zu verstehen. Also nicht häßlich zu finden, was er häßlich findet, und wenn möglich zu
verstehen, wie das kommt“ (Wolff 1981, S. 345). Gleichzeitig jedoch muss der Forscher darauf achten, dass die Perspektive der fremden Kultur nicht zur eigenen wird, denn nur so kann
die objektivierende Beobachterposition erhalten bleiben.
Angesichts der fortschreitenden Diversifizierung und Pluralisierung von Lebenswelten in unserer Gesellschaft (vgl. Beck 1986; Eckert/Winter 1990) wird diese Forderung immer wichtiger. Mit den Fremden unter uns teilen wir einige Gemeinsamkeiten, z.B. bestimmte Formen
der Alltagsorganisation oder ähnliche Reproduktionsbedingungen. In den Bereichen, die für
das Selbstverständnis dieser Personen und mitunter auch für ihre Identität wichtig sind, etwa
die ‚Lust am grausamen Bild’ bei den Horrorfans (vgl. Eckert u.a. 1990) oder - im vorliegenden Fall - die Neigungen der Sadomasochisten, Paintball-Spieler und der Hooligans, versagt
unser Verstehen, wenn wir unsere gewohnten Relevanzrahmen und Normen auf die fremden
Erfahrungsräume übertragen. Dies macht es auch unumgänglich, die eigenen ästhetischen und
aber eine notwendige Ergänzung, um Licht in die ‘Black Box’ junger Konsumenten zu bringen. Die Studie
‘Viewing the Viewers’ dient primär dem Verständnis der Bedürfnisse junger Zielgruppen. Sie ist somit relevant für die Programmplanung und für die Entwicklung einer ganzheitlichen Positionierungsstrategie von
MTV. Gleichzeitig kann diese Art qualitativer Marktforschung auch ein wichtiges Tool für die Entwicklung
von Marketingstrategien für ‘junge’ Produkte von Markenartiklern sein“ (MTV/GIM 1997). Ich selbst habe
schließlich als Mitarbeiterin der GIM zusammen mit Gerhard Keim und in Kooperation mit dem Lehrstuhl
für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität Berlin eine groß angelegte, von einem Auftraggeberkonsortium aus den Bereichen Medien, Kosmetik, Pet Food/Human Food und Automobil finanzierte, ethnographische Grundlagenstudie zum Thema ‘Senioren/50 Plus als attraktive Zielgruppe für das Marketing’
durchgeführt.
17
Die allzu häufige Nichtbeachtung dieser Aufgabe macht König (1984, S. 23) der Soziologie zum Vorwurf:
"So erweist sich nur allzu deutlich, wenn man auch nur ein Mindestmaß an Kenntnis der gängigen soziologischen Forschung hat, daß das Phänomen des 'Fremden' eigentlich nirgendwo zu seinem wirklichen Gewicht
in die Arbeit eingebracht wird, was natürlich der hemmungslosen Ausbreitung von Vorurteilen Tür und Tor
öffnet."
19
moralischen Wertungen für den Prozess der Analyse zu suspendieren. Ohnedies könnten Forscher für Wertungen keine spezielle Autorität in Anspruch nehmen, die über die anderer Bürger hinausgehen könnte. Wissenschaftler beschreiben das ‚Sein’ und dafür können sie Sachautorität beanspruchen. Zu beurteilen, was sein soll, sind wir alle - Forscher und Laien - gleichermaßen kompetent. Die Untersuchung soll entsprechende Wertungen - der Leser, der Juristen, des Gesetzgebers - ermöglichen, nicht aber vorwegnehmen; eine Forderung, die Max
Weber (1917/1973, S. 499) schon zu Beginn dieses Jahrhunderts erhoben hat:
„Auf das Katheder gehört sie [die Wertung, L.S.] nicht, - sondern in die politischen Programme, Bureaus und Parlamente. Die Wissenschaften, normative und
empirische, können den politisch Handelnden und den streitenden Parteien nur einen unschätzbaren Dienst leisten, nämlich ihnen zu sagen: 1. es sind die und die
verschiedenen ‘letzten’ Stellungnahmen zu diesem praktischen Problem denkbar;
2. so und so liegen die Tatsachen, mit denen ihr bei eurer Wahl zwischen diesen
Stellungnahmen zu rechnen habt.“
Bei der empirischen Annäherung an die Spezialkulturen der Sadomasochisten, PaintballSpieler und Hooligans waren Wertungen - so weit dies möglich ist - zu vermeiden. Wenn
dennoch Begriffe wie ‘normal’ und ‘abweichend’ verwendet werden, so ist dies nicht wertend
gemeint, sondern als Bezugnahme auf die Vorstellungen der Mehrheit zu verstehen.
Mit Hilfe eines streng ethnographischen Forschungsverständnisses werden über subjektnahe
wie auch verstehende Strategien die typischen Sinnmuster dieser fremden - und auch von der
soziologischen Forschung kaum berührten - Welten rekonstruiert. Methodisch ist diese Art
der Erkenntnisgewinnung auf ‚the actor’s point of view’ zentriert.18 Eine ethnographisch ausgerichtete Kulturforschung sucht das Subjekt deshalb in seiner Sozialwelt auf und versucht
jene Strukturen und Bezüge zu untersuchen, die für sein Verhalten und seine Sinnorientierungen bedeutsam sind (vgl. Bergmann 1985). Bezogen auf die Sadomasochisten, Paintballer und
Hooligans heißt dies, dass ihre Spezialisierung immer auch Teil einer umfassenden Lebenswelt ist, mit der sie auf vielfältige Weise verbunden sind.19
18
Blumer (1966, S. 542) führt dazu aus: "Since action is forged by the actor out of what he perceives, interprets
and judges, one would have to see the operating situation as the actor sees it, perceive objects as the actor
perceives them, as certain their meaning in terms of the meaning they have for the actor, and follow the actor's line of conduct as the actor organizes it - in short, one would have to take the role of the actor and see
his world from his standpoint."
19
Auf diese soziale Verflechtung des einzelnen hat bereits Mead (1934/1968, S. 266) mit Nachdruck hingewiesen: "Doch selbst in den modernsten und entwickelsten Spielarten der menschlichen Zivilisation nimmt der
einzelne, wie originell und schöpferisch er in seinem Denken auch sein mag, immer und notwendigerweise
eine definitive Beziehung zum allgemein organisierten Verhaltens- oder Tätigkeitsmuster ein und reflektiert
es in der Struktur seiner eigenen Identität oder Persönlichkeit, ein Muster, das den gesellschaftlichen Le-
20
Diese Vorgehensweise, die die subjektive Perspektive der Betroffenen, ihre ‚Story’ in den
Vordergrund stellt, wird von Neumann-Braun/Deppermann (1998, S. 242) u.a. mit Bezug auf
Bergmann (1985) kritisiert: Sie gebe „rekonstruierende Darstellungen der Alltagspraxis, nicht
jedoch die Alltagspraxis selbst und auch nicht die Praxis des Darstellens“ wieder.20 Zuzustimmen ist, dass der Forscher Gefahr läuft, „von bewußter Täuschung, selektiven (möglicherweise sogar vorbewußten) Rekonstruktionen und interessegeleiteten Korrekturen (z.B.
aus Gründen der sozialen Erwünschtheit)“ (Eckert u.a. 2000, S. 29) in die Irre geleitet zu werden. Den einseitigen Selbstbeschreibungen stehen hier allerdings folgende Strategien gegenüber:
1) Die Begleitung einzelner Gruppenmitglieder über einen längeren, teilweise mehrjährigen Zeitraum. Insofern handelt es sich nicht nur um retrospektive/biographische, sondern auch um Prozessdaten, die Widersprüche und Veränderungen aufzudecken vermögen.
2) Hinzu kommt die Perspektivenvielfalt der einbezogenen Personen. Befragt habe ich
auch Familienmitglieder, Nachbarn, Freunde und Bekannte sowie Experten.
3) Schwach-reaktive Daten (Beobachtung durch den Forscher) erlauben die Kontrolle der
Inhalte der Interviews. Feldmaterialien sind als natürliche, unverfälschte Kommunikation zu interpretieren.
2. Retrospektive Wegbeschreibung - der Zugang zum Untersuchungsfeld
Ethnographische Forschung findet in den alltäglichen Bezügen der untersuchten Subjekte
statt, denn die sinngemäße, authentische Rekonstruktion ihrer Erfahrungen, Gefühle und kulturellen Muster ist nur über unmittelbare Kontakte gewährleistet. Die Auswertung von ausschließlich sekundären Datenmaterialien (Presseberichte, Fernsehsendungen, Berichte von
Dritten, Bücher usw.) bringt dagegen beinahe zwangsläufig Verzerrungen wie auch Fehlinterpretationen mit sich. Übertragen auf die hier untersuchten Spezialkulturen würde z.B. eine
Analyse von Artikeln aus der Regenbogenpresse eher Erkenntnisse über Vorurteile und Informationsdefizite erbringen, als über die tatsächliche Lebenssituation der Betroffenen; d.h.
über ihre Erfahrungen, Gefühle und Ängste würde man vermutlich kaum etwas erfahren. Der
Forscher muss deshalb - soll seine Forschung alltags- und subjektnah sein - das Feld aufsu-
bensprozeß manifestiert, in den er eingeschaltet ist und dessen schöpferischer Ausdruck seine Identität oder
Persönlichkeit ist."
20
Vgl. auch Willems (1998)
21
chen und ‚soziale Welten aus erster Hand’ (vgl. Filstead 1979) beschreiben.21 Damit wird der
Zugang zum Untersuchungsfeld entscheidend für den Erfolg ethnographischer Forschung.
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass der Zugang zum Untersuchungsfeld für den ethnographischen Forscher nicht exakt planbar und antizipierbar ist. Er hängt im hohen Maße vom
Erfindungsgeist des Forschers, seiner Kreativität, seinem zeitlichen Engagement und seiner
Bereitschaft, sich auf das zu erforschende Phänomen einzulassen, ab. Gleichzeitig ist der
Feldzugang immer auch sehr stark von zufälligen Ereignissen bzw. glücklichen Umständen
bestimmt, und nicht zuletzt auch von Sympathien und Antipathien. Dies mag den methodologisch-methodisch gebildeten Leser aufschrecken: Wer allerdings behauptet, Emotionen völlig
ausschließen zu können, hat den Blick für die Wirklichkeit verloren. Wenn Aussehen, Kleidung, Gestik, Mimik, Sprache etc., kurz ‘der Stil des Forschers’ dem Gesprächspartner im
Feld nicht gefällt, kommt der intensive Kontakt erst gar nicht zustande. Der Forscher selbst
kann dem Untersuchungsgegenstand (der zu befragenden Person) gegenüber seine eigene
Haltung reflektieren, und muss Bewertungen soweit wie möglich vermeiden. Umgekehrt jedoch stehen die Gesprächspartner im Feld nicht in der Pflicht und können ihre Unterstützung
von Gefallen und Missfallen abhängig machen.
Somit kann die Reise in fremde Kulturen - das soll ‘retrospektive Wegbeschreibung’ in der
Überschrift zu diesem Kapital zum Ausdruck bringen - immer nur im nachhinein beschrieben
werden. Es gibt keine ‘Routenplanung’, keine Richtlinien, grundsätzlich erfolgversprechenden Vorgehensweisen, die Erfahrene den weniger erfahrenen Feldforschern mit auf den Weg
geben könnten. Allerdings möchte ich aus meiner mehrjährigen Erfahrung insbesondere auch
mit ‘abweichenden’ oder gar ‘kriminellen’ Subkulturen als einziges handlungsleitendes Paradigma formulieren: ‘Anything goes’. Dies impliziert, dass jede noch so kleine oder mit hohem
Aufwand verbundene Chance genutzt werden soll oder besser: muss. Keine Kontaktmöglichkeit darf frühzeitig als mehr oder weniger erfolgversprechend (dis-)qualifiziert werden.
Girtler (1988, S. 54) bemerkt zu diesem Problem:
„Zu der am Beginn seiner Forschung wohl schwierigsten Frage des Forschers gehört die nach der Einleitung des Kontaktes zu der ihn interessierenden Gemeinschaft. Diese Frage ist eminent wichtig, da ein gelungener Zugang entscheidend
für die Durchführung und den Erfolg der Untersuchung ist. Es wird oft übersehen,
daß gerade hierin das vielleicht größte Problem des Forschenden liegt. Manche
Eleven in der Soziologie und der Ethnologie meinen, der erste Schritt könne nicht
21
Für Haeberle (1989, S. 75) ist die Erfahrung vor Ort essentiell: "Ein Sexologe, der etwa Bordelle, Sexkeller,
Herrensaunen, Nacktbadestrände, Sadomasochistenclubs und ähnliches nur aus Büchern kennt, hat seinen
Beruf verfehlt." Diese Feststellung ist auch auf andere Lebensbereiche und -welten übertragbar.
22
schwer sein, und es würde sich schon jemand finden, der sie z.B. den Leuten vorstellt. Die weiteren Schritte und die Akzeptierung durch die betreffenden Personen würden sich von selbst ergeben usw. Der erfahrene Feldforscher weiß jedoch,
daß ein guter und wirkungsvoller Zugang mit Mühen und auch mit einer Portion
Glück verbunden ist.“
Im Falle der vorliegenden Arbeit war es das Ziel, den Status des ‚nichtteilnehmenden Beobachters’ und des akzeptierten Gesprächspartners zu erreichen. Doch dies war keineswegs einfach. Ehe ich ein erstes Gespräch mit einem Sadomasochisten, Paintballer oder Hooligan führen konnte, musste ich zunächst einmal eine Mauer aus Misstrauen, Angst, Schamgefühlen
und Desinteresse überwinden, und um die Befragten für ein Interview zu gewinnen, musste
zunächst eine Vertrauensbasis geschaffen werden. Dementsprechend schwierig hat sich der
Zugang - „the first and most uncomfortable stage of fieldwork“ (Wax 1971, S. 15) - in die
unterschiedlichen Szenen gestaltet.
Die Chronologie des Feldzugangs kann in der Abfolge Recherchieren, Kontaktieren, Informieren (unidirektionales Verhalten), Kommunizieren und Akzeptieren (interaktiv) beschrieben werden.
Recherchieren
Zunächst einmal galt es, sämtliche (vorhandenen) Möglichkeiten der Kontaktaufnahme mit
den Szenen resp. Spezialkulturen und ihrer Mitglieder zu eruieren: Bereits bekannte Ansprechpartner aus vorangegangenen Forschungsprojekten (hier ist insbesondere das Forschungsprojekt ‘Grauen und Lust’ zum Thema Videopornographie zu nennen; vgl. Eckert u.a.
1990), Kontakte durch Forscherkolleginnen und -kollegen, themenaffine Professionen und
nicht zuletzt auch Studierende aus den Seminaren an der Universität sowie Freunde und Bekannte (jeder kennt jemanden, der jemanden kennt, der jemanden kennt...). Neben diesen persönlichen Kontakten zu Mittelspersonen war die Lektüre von Szene- und Fachpublikationen
sowie die Abfrage im Internet ein wichtiger erster Schritt ins Feld. Aus der Sichtung sogenannter Fanzines (Fanmagazine aus den Bereichen SM, Paintball, Fußball/Hooligans) konnten wichtige ‘Persönlichkeiten’ aus den einzelnen Szenen ausfindig gemacht werden. Personen, deren Namen in Kontaktanzeigen, Kaufgesuchen, Leserbriefen oder Szeneberichten immer wieder auftauchten, stellten sich dann im Nachhinein auch als wichtige Kontakte heraus.
Aber auch in wissenschaftlichen Publikationen oder z.B. Erfahrungsberichten von Streetworkern ließen sich Namen und Adressen von möglichen Kontaktpersonen finden.
23
Zu Beginn sammelte ich Namen, Telefonnummern sowie Anschriften möglicher erster Gesprächspartner. Zu jedem einzelnen möglichen Kontakt fertigte ich dann Protokolle mit kurzen Beschreibungen zur Herkunft bzw. Quelle des Kontaktes sowie Informationen über den
Gesprächspartner oder die Gesprächspartnerin an. Also z.B. ‘Marko, 22 Jahre, schreibt regelmäßig Artikel für Paintballmagazine, Tages- und Wochenzeitungen. Zentrale Person in einem
Club, die Szene scheint ihn zu kennen, man berichtet über ihn’.
Kontaktieren und Informieren
Diese Kontakte habe ich dann systematisch abgearbeitet. Entweder, indem ich die Personen
anrief, sie anschrieb oder - im Falle von Geschäftsleuten mit öffentlich zugänglichem Laden sie direkt besuchte. Es war notwendig, mehrere hundert Telefonate zu führen und ebenso viele
Briefe zu verschicken, in denen ich mich und das Forschungsanliegen vorstellte. Die Briefe
waren weitestgehend individuell, d.h. beispielsweise mit Bezug auf die jeweiligen Anzeigentexte aus Magazinen etc. formuliert. Standardmäßig fügte ich ein Informationsblatt bei, das
die soziologische Forschungsperspektive, die methodische Vorgehensweise, die Finanzierung
des Projektes, datenschutzrechtliche Rahmenbedingungen und den ‘Verwendungszweck’
skizzierte.22 Neben dem Versenden von Briefen legte ich Informationsmaterial mit meiner
Kontaktadresse in entsprechenden Szene-Lokalen und -Treffs oder Beratungsstellen aus. Mit
Blick auf die unterschiedlichen Szenen waren dies Videotheken, Sex-Shops, SM-Läden, Domina-Studios, Bordelle, AIDS-Hilfen oder Waffengeschäfte, die Paintballzubehör verkaufen.
Um an die Hooligans zu gelangen, stellte ich Mitarbeitern der Polizei Informationsmaterial zu
meinem Anliegen zur Verfügung.
Die Nutzung bestehender Kommunikationswege in den jeweiligen Spezialkulturen ist - diese
Erfahrung machte ich auch in anderen Forschungsfeldern23 - ein wichtiger Teil eines erfolgreichen Feldzugangs. Werden die Befragungspersonen über ihnen vertraute Wege und Medien
angesprochen, wird dem Forscher nicht selten ein Vertrauensvorschuss entgegengebracht, der
den Weg in das Feld ebnen kann.
Zusammenfassend gilt festzuhalten, dass den Zugang zur SM-Szene insbesondere Besitzer
von SM-, Leder- und Dessous-Boutiquen ebneten, die entweder selbst praktizierten oder eben
22
Vgl. z.B. das Informationsblatt und den Brieftext für die Paintball-Spieler im Anhang.
23
So z.B. im Projekt 'Datenreisende - Die Kultur der Computernetze' (vgl. Wetzstein u.a. 1995). Das Ansprechen von Interviewpartnern über ihre elektronischen Kommunikationswege hat den Zugang zur Welt der Datenreisenden wesentlich erleichtert.
24
nur geschäftlich interessiert waren. Daneben waren AIDS-Hilfen und Organisatoren von Szene-Treffen sowie Clubsprecher beim Feldzugang behilflich. Nicht zu vergessen: Professionelle Dominas haben uns Kontakte zu Kunden und in die Prostituierten-Szene vermittelt. Ein
erster Kontakt zur Paintball-Szene gelang mir über in der Szene akzeptierte und angesehene
Persönlichkeiten. Der Zufall wollte es, dass ich diese gleich zu Beginn der Recherchen über
Kontaktanzeigen in Paintballmagazinen ausfindig machen konnte. Der Zugang zu den Hooligans gelang im wesentlichen über einen auf die Szene spezialisierten Mitarbeiter der Polizei,
der trotz des ‘feindlichen Status’ großes Ansehen genießt und als Vertrauensperson akzeptiert
war. Er nahm mich mit zum ‘Dienst’ - hier: ins Fußballstadion zum Samstagsspiel - und stellte mich einigen Hools vor. Die ersten Ansprechpartner sollten dann später als Multiplikatoren
oder besser gesagt als Promotoren für die Forschungsarbeit fungieren. Mit ihnen konnten weitere Strategien der Kontaktaufnahme erarbeitet werden, sie haben mich und mein Anliegen in
der Szene ‘empfohlen’ und mir weitere interessante Gesprächspartner vermittelt und vorgestellt.
Kommunizieren und Akzeptieren
Von der Bekanntmachung des Projektes bis zur Durchführung eines Interviews oder ungestörter Beobachtungseinheiten im Rahmen von Veranstaltungen etc. waren aber noch einige Hürden zu überwinden bzw. lag ein langwieriger Vertrauensbildungsprozess. Fast alle Interessenten erfragten in zum Teil sehr ausführlichen Briefen oder Telefongesprächen genauere Informationen über meine inhaltlichen Ziele. Insbesondere die Art und Weise, wie die Interviews
durchgeführt und später ausgewertet werden sollten, war in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Gerade der Umstand, dass sich (vor allem bei den Sadomasochisten) auch viele Akademiker unter den Befragten befanden, führte dazu, dass Fragen zur Methodenauswahl, zu
Interpretationsverfahren etc. ausführlich beantwortet werden mussten. Die Offenlegung des
forschungsmethodischen Vorgehens wie auch der geplanten Auswertungsstrategien trug wesentlich zur Akzeptanz bei. Ebenso wichtig war die Betonung von Anonymität und Datenschutz. Hier waren besondere Vorkehrungen notwendig. So musste ich dem überwiegenden
Teil der Befragten garantieren, dass die Aufnahmebänder unmittelbar nach der Transkription
gelöscht werden, was auch geschah. Daneben habe ich in den Interviews völlig auf die Nennung von Namen, Orten, Lokalen oder Shops verzichtet und weitestgehend auch den jeweiligen Dialekt unkenntlich gemacht. Andere Personen haben erst überhaupt keine persönlichen
Daten von sich bekannt gegeben. Mit ihnen musste ich in langwierigen Briefwechseln über
Postfächer Termine ausmachen. Die Treffen fanden zumeist an neutralen Orten (Lokale,
Parks, öffentliche Plätze o.ä.) statt, und nicht selten wurde der Abend oder die Nacht als Zeit-
25
punkt gewählt. Hin und wieder habe ich die mitunter sehr langen Anfahrten von mehreren
Stunden umsonst gemacht, weil die zu Befragenden nicht erschienen. Im allgemeinen haben
sich die Interviewpartner aber an die Gesprächstermine gehalten. Einige Befragungspartner
waren zwar nicht zum persönlichen Interview bereit, haben dann aber auf schriftlichem Wege
Stellungnahmen abgegeben bzw. meine Fragen beantwortet.
Zentral für den Vertrauensbildungsprozess war aber die Beantwortung der Frage nach meinem Erkenntnisinteresse, insbesondere ob ich psychiatrische, psychologische oder psychoanalytische Forschungsziele verfolgen würde. Dass ich diese Forschungsrichtungen aus den Untersuchungsfragen ausgeschlossen habe und stattdessen in einer ethnographischen Vorgehensweise die Perspektive der Feldakteure herausarbeiten wollte, hat der Forschungsarbeit
sicherlich entscheidend weiter geholfen. Viele Befragten versprachen sich von dieser Vorgehensweise mehr Toleranz und Verständnis in Öffentlichkeit und Wissenschaft:
“Angesichts des Unfugs, der in vielen wissenschaftlichen wie auch allgemeinen
Veröffentlichungen zu diesem Thema geschrieben wurde (und wird), hat jede einigermaßen unvoreingenommene Aufarbeitung des Themas aus wissenschaftlicher Sicht Unterstützung verdient“ (Zum Thema Sadomasochismus; Antwortbrief).
“Ich würde Ihnen nicht helfen, wenn Sie uns als ‚Kranke’, ‚Hilfsbedürftige’ oder
‚Perverse’ darstellen würden. Das haben andere schon oft genug getan” (Zum
Thema Sadomasochismus; Antwortbrief).
„Hallochen Linda!
Obwohl, wie so oft, die Zeit knapp ist, werde ich Dir hier kurz Deinen Brief beantworten. Entschuldige bitte, dass ich Du zu Dir sage, aber ich glaube, wir sind
doch alles aufgeschlossene und aufgeweckte Menschen. (...) Es gibt natürlich immer wieder Menschen, die an ‘Alles’ was auszusetzen haben ... die nicht mal Wert
auf eine Erklärung legen ... die von vornherein alles verachten. Diese Leute wollen nichts verstehen und können es auch nicht, weil sie blind und stur durchs Leben gehen und nicht von ihrer Linie runter wollen. (...) Ich hoffe, Du machst das
besser!” (Zum Thema Paintball/Gotcha; Antwortbrief).
Mit dem Gefühl, dass ich die Interviewpartner ernst nehme, hat sich ihr Interesse gefestigt.
Aber erst das intensive persönliche Gespräch und das Kennenlernen schaffte das nötige Vertrauen für ein Interview: ‚Nachdem Sie Ihr Projekt in unserem Club vorgestellt haben, bin ich
gerne bereit, Ihre Forschungsarbeit mit einem Interview zu unterstützen’. Dass ich für diese
Gespräche auch die entsprechenden Szene-Treffpunkte (Sex-Läden, Dominastudios, Bordelle,
Lederbars, private Treffen, ein Paintballturnier, Clubräume und Wohnungen der Paintballer,
Fußballstadien und Hooligan-Kneipen) aufgesucht habe, hat die Akzeptanz meines Anliegens
zusätzlich verstärkt.
26
Resümierend ist festzuhalten, dass die Vertrauensbildung entscheidend durch das persönliche
Gespräch in der Szene gefördert wurde. Indem sich der Forscher in diese Welt begibt, ermöglicht er ihren Mitgliedern, sich ein Bild über die Forschung und die involvierten Personen zu
machen. Dazu gehörte auch die Öffnung der eigenen Person, meiner Interessen, Möglichkeiten und Grenzen. Letztere beschreiben insbesondere die erforderliche Distanz zum und die
Neutralität gegenüber dem Forschungsgegenstand, allerdings auch die deutliche Kommunikation, dass der Forscher (im Gegensatz zum Journalisten) im Bereich devianten Verhaltens der
Aussagepflicht unterliegt. Dies war allerdings nahezu ausschließlich relevant mit Blick auf
die Hooligan-Szene und entsprechende (nicht-)teilnehmende Beobachtungen.
Der emotionalen Öffnung des Forschers wird in der wissenschaftlichen Literatur eher weniger
Bedeutung beigemessen. Sie erscheint konträr zum Forschungsanspruch ‘neutral’ und ‘distanziert’ zu sein. Die Bedeutung der Bereitschaft, auch ein Stück von sich Preis zu geben und
auch bis zu einem gewissen Grad den Wünschen der Personen des Untersuchungsgegenstands
entgegen zu kommen, darf jedoch auf keinen Fall unterschätzt werden. Bevor ein Gesprächspartner intime Details seiner Wünsche oder Lebensentwürfe berichtete, war es selbstredend
notwendig, auch über das eigene Leben zu sprechen. Damit sind Fragen nach der Einstellung
zu Partnerschaft und Familie, der familiären Situation aber auch ‘verfänglichere’ Fragen nach
dem eigenen Interesse z.B. an SM-Praktiken, einer möglichen eigenen Faszination durch
Paintball oder auch Fragen wie die nach der (Bewertung der) Attraktivität eines gerade von
seiner Freundin verlassenen Hooligans gemeint. Dazu drei Beispiele: Ein SM-orientiertes
Ehepaar um ein mehrstündiges Interview inklusive Besichtigung der hauseigenen ‘Folterkammer’ zu bitten, gleichzeitig jedoch deren Wunsch abzuschlagen, selbst einmal in ein Lederkleid zu schlüpfen, wäre für den Fortgang der Erhebung fatal gewesen. Ebenso die Verweigerung, selbst einmal an einem Paintballturnier teilzunehmen oder mit den Hooligans vor
der Polizei zu flüchten. Nur indem man bereit ist, nicht nur als Forscher, sondern auch als
Mensch aufzutreten, kann Vertrauen geschaffen werden. Ich möchte allerdings nicht versäumen, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass dabei häufig auch Grenzgänge entstanden sind.
Einer der Hooligans sagte mir, dass er sich in mich verliebt habe. Es waren extreme Anstrengungen nötig, ihm klar zu machen, dass ich an ihm nicht als ‘Mann’, sondern in seiner Rolle
als Hooligan interessiert war.
In der Phase der Vertrauensbildung kann der Forscher auch eine Art Lehrzeit absolvieren, die
es ihm erlaubt, sich den Szene-Regeln entsprechend zu verhalten, bestimmte Codes zu studieren und so die Fremdheit seines Eindringens zu minimieren. Kontaktpersonen, deren Vertrauen man gerade gewinnt oder gerade gewonnen hat, machen den Forscher mit den Gepflogenheiten, Eigenarten, ungeschriebenen Gesetzen etc. der Szenen vertraut. Sie machen ihn auch
27
auf bestimmte Ungeschicktheiten aufmerksam, die aus der Unkenntnis spezifischer Verhaltenskonventionen resultieren.24
Nicht zuletzt werden immer wieder richtige Prüfungen durch die Feldakteure inszeniert, in
denen der Forscher seine Felderprobtheit unter Beweis stellen muss. Ein Beispiel: Bei einem
Termin in einer größeren Stadt hing bei der angegebenen Adresse an der Haustür ein Zettel
mit dem Hinweis ‚Uni Trier, bitte den Eingang durch den Garten benutzen’. Anhand einer
zusätzlichen kleinen Skizze fanden mein Kollege, der mit mir zum Interviewtermin unterwegs
war, und ich den Weg in den Garten. Von dort gelangten wir zum hinteren Hauseingang, der
offen stand. Als wir eintraten, wurden wir von einer Frau in Domina-Kleidung empfangen.
Sie führte uns eine Treppe hinauf in das Dachgeschoss der Villa. Schon beim Hinaufsteigen
der Treppe ahnte ich, dass uns eine Überraschung erwartete. Der Interviewpartner hing nackt
und gefesselt an Deckenhaken. Während der Vorführung war es wichtig, ein neutrales Verhalten zu zeigen, auch wenn es angesichts der Darbietungen nicht immer einfach war und zuweilen für alle Beteiligten komische oder auch belustigende Situationen entstanden. Der Interviewpartner machte sich nämlich - nachdem die Domina ihn von der Decke abgehängt hatte einen Spaß daraus, mehrfach splitternackt und mit Gewichten an den Hoden dicht an mir (ich
saß auf einem Designer-Sofa) vorbeizugehen und spitzzüngig zu fragen: ‘Na Frau Steinmetz?
Ist Ihnen das jetzt peinlich?’ Natürlich war es mir ‘auch’ peinlich und ich sah meinen Kollegen sich innerlich schütteln vor Lachen, schaffte es dann aber, die Contenance zu bewahren.
Erst nach der bestandenen Probe konnte das Interview beginnen.
Das Erlernen solcher Verhaltensweisen (das Meistern ‚kritischer’ Situationen) hat sich bei
jeder Aktivität in der Szene ausgezahlt; nicht zuletzt hat es sich auch in den vielen anderen
Interviewsituationen als förderlich erwiesen. Es gelang mir, zumindest in Teilen der Szenen
akzeptiert und im Folgenden zu Szenetreffen, Events, Turnieren, privaten Partys, in DominaStudios oder zu den Gesprächspartnern nach Hause eingeladen zu werden. Andere Szenemit-
24
In diesem Zusammenhang werde ich ein erstes Gespräch mit einer Geschäftsfrau und professionellen Insiderin der SM-Szene nie vergessen: Trotz des Wohlwollens und der späteren intensiven Unterstützung durch
diese ‘Dame’ wurden mir zunächst Hohn und Spott zuteil, als ich nach der Bedeutung szenespezifischen Vokabulars fragte: „Mädchen, wenn Du etwas über die SM-Szene erfahren möchtest, dann musst Du diese Dinge aber beherrschen“ war ihr Kommentar. Trotz aller Bemühungen und Reflexion war meine Sprache zunächst noch weit entfernt von der in der Szene üblichen weil wissenschaftlich-theoretisch oder zu normalbürgerlich. Dies sollte sich jedoch ändern und bald schon setzte eine Erfahrung ein, die Malinowski (1922, S.
7) für den Ethnologen folgendermaßen beschreibt: "His life in the village, which at first is a strange, sometimes an intensely interesting adventure, soon adopts quite a natural course very much in harmony with his
surrounding."
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glieder warben Interviewpartner und stellten sogar ihre Wohnungen für die Interviews zur
Verfügung. Nur in manchen Fällen musste ich - wie bereits angedeutet - neutrale Treffpunkte
in verschiedenen Großstädten ausmachen. Viele Personen fragten des Öfteren nach dem Stand
der Arbeit oder erkundigten sich nach der ein oder anderen Literaturliste zum Themenfeld
Sexualität und Sadomasochismus, Paintball oder zum Phänomen der Hooligans.
Nach sehr aufwendigen Maßnahmen zur Vertrauensbildung lag die fremde Welt dann aber
mehr oder weniger offen vor mir; ich konnte mit der Entdeckungsreise beginnen.
3. Erhebungsverfahren und empirische Basis
In der vorliegenden Untersuchung habe ich mich nicht auf eine bestimmte Methode beschränkt, sondern versucht, das ganze Spektrum alltäglicher Wahrnehmungsformen für meine
empirische Arbeit fruchtbar zu machen. Dazu bemerkt der ‚Kulturwissenschaftler auf dem
Fahrrad’:
„Der gute Forscher im Feld, der Kontakte zu Menschen sucht und wissen will,
wie Menschen leben und wie ihre Rituale aussehen, darf sich nicht von einem exakten Forschungsplan leiten lassen. Ein solcher Plan, wie ihn für gewöhnlich Leute aufstellen, die mit Fragebogen arbeiten oder Experimente mit Gruppen durchführen, ist für die Erforschung menschlichen Handelns eher hinderlich. Nur wer
sich dem Leben einer Gruppe, die er studieren will, vorbehaltlos überläßt, hat die
Chance, tatsächlich herauszufinden, warum die Menschen in bestimmter Weise
handeln und gewisse Symbole verwenden. Ein solcher Feldforscher hat es freilich
nicht leicht, vor allem wenn er mächtige Gruppen oder kriminelle Subkulturen erforschen will. Ist er geschickt und setzt sich vielleicht gar mit den betreffenden
Menschen zu Wein und Bier, so hat er schon einen gewaltigen Schritt in Richtung
einer guten Studie gemacht“ (Girtler 1991, S. 20).
Entsprechend diesem offenen methodischen Verständnis25 habe ich mich in den verschiedenen gewaltaffinen Spezialkulturen umgeschaut und Daten gesammelt, ohne mich auf thematische Leitfäden zu beschränken.
25
Auch Strauss (1991, S. 32) wendet sich gegen einen Methodendogmatismus und -purismus: "Geleitet von
einer falschen (auf spekulativer Philosophie beruhenden) Vorstellung, derzufolge eine effektive Forschungsarbeit exakt, präzise und klar in der Technik sei, gehen Studenten und Sozialwissenschaftler oft davon aus,
daß es möglich sein müßte, Regeln festzulegen, nach denen sozialwissenschaftliche Untersuchungen durchgeführt werden. Wir halten dies für eine nicht zutreffende Beschreibung davon, wie Arbeit - gleich welcher
Art - verrichtet wird. (...) Wir möchten diesen Gedanken nicht weiter ausführen, sondern nur noch einmal
wiederholen, daß in der Sozialforschung etliche strukturelle Bedingungen gegen eine strikte Systematisierung
von methodologischen Regeln sprechen. Zu diesen Bedingungen gehören die Vielfalt von sozialweltlichen
Gegebenheiten und die damit verbundenen Zufälligkeiten."
29
Grundsätzlich lassen sich dabei zwei unterschiedliche Datentypen unterscheiden. Die einen
produziert das kulturelle Feld ohne Zutun des Forschers, die anderen werden durch den Einsatz von wissenschaftlichen Methoden erzeugt.
3.1
Originäre Felddaten
In jeder Kultur wird eine Vielzahl von Symbolen, Medien und Bedeutungsträgern hergestellt
und weitergegeben. Diese Daten sind für den Forscher eine wichtige Fundquelle. Insbesondere Historikern (und Kulturwissenschaftlern) stehen hierdurch völlig unterschiedliche Informationsquellen zur Verfügung: „Aufzeichnungen, Memoiren, offizielle und persönliche Briefe,
Tagebücher, Zeitungen, Landkarten, Photographien und Gemälde“ (Strauss 1991, S. 27).
Auch die Spezialkulturen der Sadomasochisten, Paintballer und Hooligans sind reich an solchen Materialien. So gibt es eine Vielzahl an Magazinen, Heften, Filmen und Texten oder
auch Webpages. Hier finden sich Materialien wie Leserbriefe, Stellungnahmen, Diskussionen,
Kontaktgesuche, Terminübersichten, Veranstaltungslisten, Kauf- und Tauschangebote etc. Ich
habe eine größere Zahl dieser Medien-Produkte gesichtet und zur Auswertung verwendet. Mit
Blick auf die SM-Szene standen mir mehrere Hundert Zeitschriften zur Verfügung, die durch
einige Dutzend pornographische Filme ergänzt wurden. Zur Analyse der Paintballszene habe
ich ca. zwanzig verschiedene Magazine berücksichtigt. Zusätzliche Datenquellen waren Briefe von Szene-Insidern, Stellungnahmen zu meinem Forschungsanliegen, Einladungsschreiben
von Clubs, Flugblätter und Briefwechsel zwischen Szenemitgliedern. Diese füllten mehrere
Ordner. Informationen aus vereinseigenen Datenbanken zur Mitgliederverwaltung und Eventorganisation, Tagebücher und Fotos oder auch juristische Korrespondenz mit Polizei, Gerichten und Anwälten ergänzten meine empirischen Materialien.
Die Verwendung dieser Daten soll es dem Forscher (und Leser) erleichtern, sich in die fremden Welten hineinzuversetzen. Sie geben gleichzeitig Auskunft über Praktiken und Kommunikationsformen im Feld. Glaser/Strauss (1979, S. 103) verweisen darauf explizit, wenn sie
herausstellen:
„Das (...) Problem besteht darin, die erforschte soziale Welt so lebensnah zu beschreiben, daß der Leser ihre Bewohner buchstäblich sehen und hören kann. (...)
Um dies zu erreichen, setzt der Forscher gewöhnlich verschiedene Darstellungsmittel eines recht umfangreichen Arsenals von Verfahren ein. Er kann direkt aus aufgezeichneten Befragungen oder Unterhaltungen zitieren. Er kann dramatische Passagen seiner unmittelbar im Forschungskontext angefertigten Notizen in die Darstellung aufnehmen. Er kann aus Erzählungen von Informanten zitieren. Er kann in Fallstudien den Ablauf von Ereignissen und Lebensberichte von
Personen plastisch darstellen. Er kann einzelne Ereignisse und Handlungen zu be-
30
schreiben versuchen; und häufig wird er zumindest Hintergrundinformationen über Ort und Zeit einfügen.“
Im vorliegenden Fall bedeutet dies, dass z.B. die sprachliche Tabuierung von Sexualität und
Gewalt, die in der Hochsprache und also auch der Wissenschaft gilt, ignoriert werden muss.
Die Semantik des sadomasochistischen Feldes beispielsweise ist nur begrenzt übersetzbar.
3.2
Forschergenerierte Daten
Neben dem Sammeln von Daten im Feld, spielt die methodisch kontrollierte Produktion von
Daten durch den Forscher eine wichtige Rolle. Dazu habe ich verschiedene sozialwissenschaftliche Techniken im Rahmen eines Mehr-Methoden-Designs verwendet. Im Mittelpunkt stand dabei das problemzentrierte Interview (vgl. Witzel 1982), das durch Gruppendiskussionen und Beobachtungen ergänzt wurde.
3.2.1
Problemzentrierte Interviews
Das Kriterium der Problemzentrierung hat „eine doppelte Bedeutung: einmal bezieht es sich
auf eine relevante gesellschaftliche Problemstellung und ihre theoretische Ausformulierung
als elastisch zu handhabendes Vorwissen des Forschers; zum anderen zielt es auf Strategien,
die in der Lage sind, die Explikationsmöglichkeiten des Befragten so zu optimieren, daß sie
ihre Problemsicht zur Geltung bringen können“ (ebd., S. 69). In gesprächsstruktureller Hinsicht bedeutet dies, die Interviewten als Experten des Alltags zu behandeln, d.h. Kontaktaufnahme und Kommunikationsformen so zu gestalten, dass eine Gesprächssituation entsteht, in
der sich die Befragten ernst genommen fühlen und Interesse an der Thematisierung des Gegenstandsbereichs gewinnen.
Im Unterschied zu anderen Formen des qualitativen Interviews - so etwa dem narrativen Interview, wie es von F. Schütze (1977) entwickelt wurde - geht der Forscher beim problemzentrierten Interview nicht ohne jegliches (theoretisches) Vorwissen in die Erhebungsphase,
sondern bereitet sich durch Literaturstudium, eigene Beobachtungen und Expertengespräche
auf das Gespräch vor. Auf der Basis dieser Vorüberlegungen werden die Schlüsselbegriffe für
einen Gesprächsleitfaden formuliert, die dem Interviewer, etwa bei stockendem Gespräch
oder unergiebiger Thematik, inhaltliche Anregungen geben. Wichtig für die Interviewdurchführung bleibt aber die Offenheit. Der Interviewte soll frei antworten können, ohne vorgegebene Antwortalternativen. Die auf diese Weise durchgeführten Interviews wurden, das ausdrückliche Einverständnis der Befragten vorausgesetzt, mit Tonband aufgezeichnet. Diese
31
Registrierform besitzt den Vorteil, dass der gesamte verbale Gesprächskontext und damit
auch die Rolle, die der Interviewer im Gespräch spielt, erfasst wird. Gleichzeitig ist dadurch
auch die Möglichkeit gegeben, sich voll auf die Gesprächssituation und den -verlauf zu konzentrieren.
Insgesamt standen mir aus den Teilprojekten 79 auf Tonband aufgezeichnete Interviews mit
Sadomasochisten, Paintballern und Hooligans mit einer Dauer von ca. 40 bis 180 Minuten zur
Verfügung (übersetzt: mehrere tausend Seiten transkribiertes Gesprächsmaterial). Alle Interviews wurden durch Postskripte ergänzt, um wichtige nonverbale Informationen (z.B. Wohnungseinrichtung, die Ausstattung der privaten Folter- oder Materialräume, die Gesprächsatmosphäre, Geschehnisse außerhalb des eigentlichen Interviews wie z.B. Besuche von
Freunden oder Verwandten, Telefonanrufe etc.) festzuhalten. Die Tonbandexplorationen wurden durch weitere (Kurz)Interviews, die nicht aufgezeichnet werden konnten, ergänzt. Dazu
habe ich jeweils Gesprächsprotokolle angefertigt. Hinzu kamen schriftliche Befragungsunterlagen. Auch hier variierte die Länge der Interviews beträchtlich. Manche Personen antworteten stichwortartig auf zwei bis drei Seiten, andere wiederum führten ihre Antworten auf 20
und teilweise bis 50 Seiten aus. Die schriftlichen Interviews boten den Vorteil, dass ich auch
Personen erreichen konnte, die aus Gründen der Anonymität kein mündliches Interview geben
wollten. Auf diese Weise war sichergestellt, dass ich nicht nur Personen interviewen konnte,
die selbstsicher und offensiv mit ihrer Neigung und Ihren Interessen umgehen. Andere wiederum bevorzugten den Weg über das Telefon. So habe ich eine ganze Reihe von Interviews
und zahlreiche Kurzgespräche geführt.
3.2.2
Beobachtungen: Reisestationen, ‘Happenings’, ‘Events’
Beobachtung ist ein alltägliches Erfahren von Welt. Auch die wissenschaftliche Beobachtung
folgt der allgemeinen Grundstruktur dieser menschlichen Wahrnehmungsform. Zwischen der
alltäglichen und der wissenschaftlichen Beobachtung bestehen aber hinsichtlich Strukturierung, Planung und Zielorientierung wichtige Unterschiede. Beobachtung wird dann zum wissenschaftlichen Verfahren, wenn sie einem bestimmten Forschungszweck dient, systematisch
geplant und aufgezeichnet wird und nicht nur eine Sammlung von Zufälligkeiten darstellt. Sie
lässt sich demnach „als ein Verfahren definieren, durch welches der Beobachter sinnlich
wahrnehmbares Handeln erfassen will. Er selbst verhält sich bei der Beobachtung gegenüber
dem zu Beobachtenden grundsätzlich passiv (was aber nicht heißt, daß er nicht auf das Handeln in der betreffenden Gruppe einwirkt), wobei er gleichzeitig versucht, seine Beobachtung
im Sinne seiner Fragestellung zu systematisieren und den Beobachtungsvorgang kritisch hinsichtlich einer Verzerrung durch seine Perspektive zu prüfen“ (Girtler 1988, S. 44).
32
In der Literatur zur Beobachtung wird zwischen verschiedenen Techniken unterschieden, etwa zwischen der teilnehmenden und nicht-teilnehmenden, der strukturierten und unstrukturierten, der offenen und verdeckten, der direkten und indirekten, der künstlichen und
natürlichen Beobachtung (vgl. Dechmann 1978; Faßnacht 1989). Ich habe mich für ‚nichtteilnehmende Beobachtungsstrategien’ entschieden. Der Übergang zur teilnehmenden Beobachtung war jedoch insbesondere bei meinen Recherchen in der Paintballszene und bei den
Hooligans gegeben. So war ich ein ganzes Wochenende mit einem Paintballclub unterwegs,
um an einer Meisterschaft, der ‘Bielefeld open’ teilzunehmen. Bedingung, dass ich bei diesem
Event dabei sein durfte war, dass ich versprechen musste, selbst auch einmal an einem Spiel
teilzunehmen. Und dann gehörte ich als Forscher automatisch ein Stück weit dazu, wenn ich
bei Kaffee und Kuchen, den die Spielerfrauen gebacken hatten, die Siegerehrung und die Pokalverleihung am Ende des Turniers beobachten konnte .
Insgesamt habe ich in den unterschiedlichen Szenen verschiedene typische Orte ‚live’ in Augenschein genommen. Um der Gefahr einer vorschnellen Bedeutungszuweisung zu entgehen,
war ich zu verschiedenen Zeitpunkten unterwegs und habe meine Beobachtungen und Aufzeichnungen immer wieder mit Szenemitgliedern ‘kommunikativ validiert’ (vgl. Lescher
1982).
Die Auflagen der Probanden haben meinen Beobachtungen selbstredend Grenzen gesetzt. So
konnte ich z.B. auf meinen Streifzügen durch die Hooligan-Szene keine Fotoaufnahmen machen. Dies war mir von meinen Kontaktpersonen untersagt worden, da die Fotos zu einem
späteren Zeitpunkt von der Polizei hätten beschlagnahmt und als Beweismittel benutzt werden
können. Zur Erklärung sei hier angemerkt, dass ich im Anschluss an ein Fußballspiel bei einer
‘Schlacht’ live dabei war, Schlägereien beobachten konnte und mit den Hools vor der Polizei
flüchten musste. Schließlich war besondere Aufmerksamkeit hinsichtlich delinquenter Handlungen (auch: Wird der Forscher selbst zum Delinquenten?) und mit Blick auf den doch oft
recht hohen Alkoholkonsum der Hooligans geboten.
Domina-Studios
Im Rahmen meiner Zugangsbemühungen ist es mir gelungen, zu verschiedenen DominaStudios Kontakt aufzunehmen. Von einigen Dominas wurde ich zu einem Gespräch eingeladen und bekam bei dieser Gelegenheit auch die Studios gezeigt. Die meisten dieser Besuche
fanden während der Öffnungszeiten statt, so dass ich auch ein wenig den Besucherverkehr
beobachten konnte. Manche Kunden waren auch bereit, Interviews zu geben. Durch die Beobachtungen war es möglich, einen authentischen Eindruck vom Dominagewerbe zu gewinnen,
33
der mir auch bei der späteren Interpretation der Ergebnisse weiterhalf. Manchen Studios waren Bordelle angegliedert, so dass ich auch den normalen Freierverkehr beobachten konnte.
Auch hier machte ich die Erfahrung, dass der Forscher zum eher teilnehmenden Beobachter
werden kann bzw. man ihn als Teilnehmer antizipiert. Ich saß um die Mittagszeit zusammen
mit drei Prostituierten im Empfangsraum eines Bordells und beobachtete den Besucher- bzw.
Freierverkehr. An der Rezeption erkundigten sich die Männer nach den unterschiedlichen
Preisen für verschiedene Leistungen und auch für unterschiedliche ‘Modelle’. Einer der Männer fragte schließlich: ‘Was kostet die da?’ - und deutete auf mich.
Szene-Lokale und Clubräume
Beobachtungseinheiten ließen sich in den verschiedensten Räumen durchführen. Zu nennen
sind z.B. schwule SM-Lederbars, stadtbekannte Hooligan-Kneipen oder Vereinsräume der
Paintball-Spieler. So war ich bei einem Ledermänner-Treffen aus verschiedenen europäischen
Ländern anwesend und konnte mir auf diese Weise einen nachhaltigen Eindruck von den verschiedenen Interaktionsritualen machen. An zwei Wochenenden war ich jeweils im Anschluss
an Fußballspiele und anschließende Schlägereien mit einigen Hooligans in deren Lieblingskneipen unterwegs. Hier fand eine Mischung aus Beobachtungs- und Interviewsituation statt,
wobei ich die Gespräche selbstredend nicht systematisch und per Tonband aufzeichnen konnte. Die Paintball-Spieler habe ich mehrfach in Clubräumen besucht, konnte mir so einen guten
Eindruck über Aktivitäten, Organisation des Clubs bzw. Vereins u.ä. verschaffen.
Spezialgeschäfte
Die in fast jeder größeren Stadt vor zu findenden Spezialgeschäfte bilden wichtige Kristallisationspunkte der SM- oder auch der Paintballszene. In Sexshops, Leder-, SM- und Fetischboutiquen treffen sich - vorzugsweise am Wochenende - die Insider. Diese Treffen bieten
Gelegenheit, unter seinesgleichen über SM-Probleme und -Faszinationen zu sprechen, neue
Moden anzuprobieren usw. Paintball-Spieler tauschen sich in den entsprechenden Läden über
innovative Ausrüstungsgegenstände (Markierer/Drucksysteme), Schutzmasken, Turnierpläne
oder Mitfahrgelegenheiten zur nächsten Meisterschaft aus. Manche dieser Treffpunkte sind
regelrecht institutionalisiert, so dass es schon längst nicht mehr nur um SM oder Paintball
geht. Auch Kinder und Familie, Sport und Auto, Urlaub und Arbeit sind Themen, über die
gesprochen wird. Diese Treffpunkte waren, neben ihrer Funktion als Beobachtungsort, vor
allem für das Knüpfen von Kontakten und die Durchführung von Interviews von Bedeutung.
Zudem konnte ich mir einen Eindruck von der typischen SM-Kleidung und den SM-
34
Werkzeugen sowie dem Paintballzubehör verschaffen. Nicht zuletzt konnte ich hier Zeitschriften sammeln und lesen.
Szene- und Privattreffen
Der Zugang zu Szene- und Privattreffen war nicht einfach. Ohne persönliche Empfehlungen
bestand kaum eine Chance, Einlass zu finden. Mit Blick auf die SM-Szene fällt der Forscher
selbst bei mehr oder weniger öffentlichen Großveranstaltungen zumeist schon deswegen auf,
weil er anders gekleidet ist. Der Kostümierungszwang (‚strictly dresscode’) ist gleichsam der
Minimalbeitrag für den Eintritt. Es war nicht nötig, selbst im ‚hippesten’ SM-Dress anwesend
zu sein, aber das bunte Kleid habe ich schließlich gegen die schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt ausgetauscht. Mit der Hilfe von Szene-Insidern konnte ich an solchen Treffen teilnehmen, wobei ich allerdings als Nichtteilnehmer - bildlich gesprochen - zumeist im ‚Foyer’
verbleiben oder zu bestimmten Zeitpunkten die Party verlassen musste bzw. wollte. Aber
selbst der ‚Beobachterposten im Vorzimmer’ bietet neben dem unverzichtbaren Vorteil, Eindrücke im Feld zu sammeln, Möglichkeiten, Kontakte mit möglichen Untersuchungspersonen
anzubahnen und bei ihnen die Bereitschaft zu wecken, sich im weiteren Verlauf des Forschungsprozesses zu engagieren.
Beobachtungen im Rahmen von Paintballturnieren gestalteten sich unkomplizierter. Dies liegt
darin begründet, dass zu größeren Veranstaltungen ohnehin meist Gäste (Freunde, Bekannte,
Familienmitglieder) eingeladen sind und ich unter einer Vielzahl von Besuchern eigentlich
nicht weiter aufgefallen bin. Schwieriger war es dann wieder bei den Hooligans. Die wenigen
Frauen, die an Treffen teilnehmen, sind meist als Freundin oder Frau ‘von’ bekannt. Als
‘Neue’ musste ich also schnell auffallen. Deshalb war es wichtig, dass mir meine Kontaktperson mehr oder weniger dauernd zur Seite stand; zumindest während des ersten gemeinsamen
Wochenendes. Beim zweiten Mal war die Situation wesentlich entspannter.
3.2.3
Gruppendiskussionen
Ihre starke Affinität zu alltagstypischen Situationen und Gruppen ließ die Gruppendiskussion
auch für meine Untersuchung bedeutsam werden. Insbesondere im Hinblick auf den ständig
umfangreicher werdenden Anteil von organisierten Gruppen stand hier ein Instrumentarium
zur Verfügung, das eine tiefergehende Explorierung von kommunikativen Prozessen und
Verhaltensstilen erlaubte. Zum Thema SM erschien mir die Gruppendiskussion zunächst
problematisch, weil ich davon ausging, dass das Gespräch über derart intime Themen in der
35
Gruppe nicht möglich und auch nicht fruchtbar sei. Diese Einschätzung war falsch. Verschiedene Szene-Insider bevorzugten diese Form des Austauschs. Bei einer Gruppendiskussion mit
heterosexuellen Personen in einem Lederstudio überraschte mich beispielsweise die offene
Art, wie die anwesenden Personen über ihre sexuellen Praktiken und Neigungen sprachen.
Auf meine Rückfrage erklärten die Befragten, dass dies in der Szene üblich ist; man wisse
schließlich alles voneinander. Eine ähnlich offene und lockere Atmosphäre habe ich bei einer
Gruppendiskussion mit schwulen Sadomasochisten erlebt.
Mein Erkenntnisinteresse richtete sich dabei auf die Art der Thematisierung von SM in der
Gruppe. Damit die Diskussionssituation möglichst authentisch war, fanden die Gespräche
allesamt in Szene-Treffpunkten statt.
Besonders rege haben sich auch die Paintball-Spieler an den Gruppendiskussionen beteiligt.
Hier fand ich gleichsam optimale Bedingungen zur Anwendung dieses Instrumentes. Eine
Vielzahl von Themen wurde von den Befragten selbst aufgegriffen und führte zu heftigsten
Debatten, die zum Teil sehr sachlich, zum Teil sehr emotional geführt wurden. Sehr schön
deutlich wurden die unterschiedlichen Rollen der Szene-Mitglieder im Sinne von Ansehen
und Hierarchie.
Trotz der insgesamt immens zeitaufwendigen Datenerhebung in der Hooligan-Szene (NonStop-24-Stunden-Begleitung, mehrfache Stadionbesuche etc.) konnte ich keine Gruppendiskussionen im strengen methodischen Sinne durchführen. Dies liegt an der Besonderheit der
Szene bzw. Gruppe: sie aktualisiert sich nur anlässlich der entsprechenden Fußballspiele mit
anschließender ‚Randale’. Die Begegnungen fanden deshalb in erster Linie während und nach
der ‘dritten Halbzeit’ statt. Von einer ‘geordneten’ Diskussionssituation kann angesichts des
hohen Alkoholkonsums und Schlägereien deshalb keine Rede sein.
4. Auswertungsstrategien
Zur Auswertung des umfangreichen Befragungsmaterials mussten die verbalen Äußerungen
zunächst, wie schon erwähnt, verschriftlicht werden. Um die Informationseinbuße bei der
Transkription möglichst gering zu halten, wurden die verschriftlichten Aufzeichnungen durch
den Vergleich mit den Tonbandprotokollen kontrolliert. Für die Auswertung und Dokumentation der verbalen Daten wurden diese aus Gründen der Anonymisierung und der verständlicheren Darstellbarkeit behutsam in die Hochsprache ‚übersetzt’ und weitestgehend den Regeln der Schriftsprache angepasst. Im Anschluss daran begann die eigentliche Auswertungsarbeit. Dabei wurde eine Analyse und Interpretation angestrebt, die sowohl der originären
36
Sichtweise der Befragten, als auch einer vergleichenden Systematisierung Rechnung trug. Ich
habe unterschiedliche Auswertungs- und Darstellungsformen berücksichtigt.
Im ersten Fall zielte die Rekonstruktion auf individuelle Handlungs- und Sinnprofile. Sie
kann als Einzelfallanalyse bezeichnet werden. Die Grundlage für diese Auswertungsform bildeten die problemzentrierten Interviews in Verbindung mit Telefonaten, ständigen Briefwechseln und Wiederholungsinterviews, die ich zu biographisch orientierten Falldarstellungen
ausgearbeitet habe. Diese sehr zeitintensive Auswertungsform habe ich aber nicht generell
eingesetzt. Aus noch zu erläuternden Gründen habe ich sie nur für die Beschreibung der spezifischen SM-Partizipationsformen von Frauen verwendet. Datenerhebungs- und Auswertungsprozess standen hier in einem Wechselverhältnis, weil die beschriebenen Frauen ihre
Sicht immer wieder in die Fallrekonstruktion in Form von Ergänzungen und Korrekturen einbrachten (vgl. Kap. III. 1.9.2.5).
Bei der anderen Auswertungsform wurde eine ‚typologisierende Interpretation’ angestrebt,
d.h. aus den Einzeläußerungen wurden fallübergreifend Strukturen und Zusammenhänge, Typisches und Wiederkehrendes herausgearbeitet. Ich fragte hier in erster Linie nach bestimmten vorherrschenden Mustern, die dann in Form eines Textextraktes oder einer themenbezogenen Synopse, welche die Einheit der Transkripte auflöste, in die Auswertung und Datenpräsentation mit einbezogen wurden. Diese Vorgehensweise erlaubt die hinter singulären Aussagen sichtbar werdenden Strukturmerkmale und -relationen der Szenen und ihrer spezialisierten Teilnehmer offen zu legen. Gleichzeitig erlaubt diese vergleichende Strategie die Offenlegung bestimmter Inszenierungs- und Selbstdarstellungsformen der Befragten gegenüber dem
Forscher. Dadurch kann die Gefahr, dass der Forscher nur speziell für die Interviewsituation
konstituierte Selbstdarstellungen und Täuschungsmanöver wiedergibt, systematisch gemindert werden. So zeigte sich z.B. während der Datenerhebung, dass einige Befragte ihre Verhaltensformen zu verharmlosen oder Selbstzweifel und Probleme zu verheimlichen suchten.
Insbesondere Problembereiche, wie z.B. das Vorkommen unfreiwilliger Handlungen wurden
immer wieder negiert, obwohl sie in den ‚Randzonen’ des SM und insbesondere auch bei den
Hooligans doch des Öfteren vorkommen.
Einige weitere Hinweise sind noch anzuschließen: Die vielfältigen Feldnotizen (vgl. Lofland
1979) sind ebenfalls unter Verwendung dieser Auswertungsstrategien in die Analyse eingeflossen. Die ausgewerteten Daten und Begriffe aus der Szene sind im Fließtext generell kursiv
gedruckt. Interviewpassagen sind entweder kursiv in den laufenden Text integriert oder in
Synopsen (eingerückt) herausgestellt.
37
II.
Die empirische Analyse -
Zur Phänomenologie gewaltaffiner Spezialkulturen
In dem nun folgenden empirischen Teil der Arbeit soll die Faszination von Gewalt als Mittel
zur Generierung außeralltäglicher Erfahrungen am Beispiel der Sadomasochisten, der Paintballer und der Hooligans dargestellt werden. Besonderes Augenmerk liegt demnach auf der
emotionalen Komponente eines exklusiven, zeitlich eingegrenzten Erlebens, das als Thrill,
Kick oder Grenzerfahrung bezeichnet werden kann. Zum besseren Verständnis der sich dahinter verbergenden Motivationsstrukturen, insbesondere jedoch der Einordnung innerhalb einer
Gewaltdiskussion, genügt es nicht, dieses Moment isoliert zu betrachten. Vielmehr muss auch
nach den Rahmenbedingungen gefragt werden: Biographien und Zugangsmuster sind ebenso
zu berücksichtigen wie eine exakte Beschreibung der Phänomene sowie ihrer organisatorischen und sub- bzw. spezialkulturellen Einbettung.
Die Daten der vorliegenden Arbeit wurden im Rahmen unterschiedlicher, groß angelegter
Forschungsprojekte, in denen ich zwischen 1990 und 1996 als wissenschaftliche Mitarbeiterin
an der Universität Trier und danach als freie Mitarbeiterin für die Arbeitsgemeinschaft sozialwissenschaftliche Forschung und Weiterbildung e.V. an der Universität Trier (ASW) gearbeitet habe, erhoben. Vor diesem Hintergrund ist die Struktur der Analyse uneinheitlich. Wie
bereits erwähnt, nimmt das Phänomen des Sadomasochismus als außeralltägliche Erfahrung
(inhaltlich) den größten Teil der folgenden Analyse ein. Mit diesem Thema habe ich mich
über mehrere Jahre beschäftigt und entsprechend umfangreiches theoretisches wie auch empirisches Material zusammengestellt. Dies war der Ausgangspunkt meiner Überlegungen zum
Thema Außeralltäglichkeit und Gewalt. Im Laufe meiner weiteren empirischen Arbeit im
Rahmen anderer Forschungsprojekte zum Thema Jugendkultur und Gewalt haben sich dann
Parallelen gezeigt, die ich mit den Paintball-Spielern und den Hooligans aufgreife bzw. thematisiere.
Die empirische Analyse zum Sadomasochismus nimmt ihren Ausgangspunkt bei typischen
Zugangsmustern und Beziehungsformen. Im Anschluss daran werden Codes und Symbole
sowie das sadomasochistische Szenario bzw. die Praktiken dargestellt. Schließlich geht es um
Faszinationen, Gefühle und Erlebnismuster und ihre Trennung vom Alltagsrahmen. Zudem
wird auf das Problem der Gewalt eingegangen. Besonderes Augenmerk liegt dann noch einmal auf der Analyse des weiblichen Sadomasochismus - dies mit Blick auf die Diskussion
zum Masochismus der Frau Anfang der neunziger Jahre; aber auch vor dem Hintergrund, dass
38
andere gewaltaffine Spezialkulturen überwiegend durch männliche Mitglieder gekennzeichnet
sind.
Hooligans und Paintballer werden anhand einzelner Gruppen innerhalb der Szenen betrachtet.
In Anlehnung an die Konzeption des Forschungsprojektes ‘„Ich will halt anders sein wie die
anderen“ - Abgrenzung Gewalt und Kreativität bei Gruppen Jugendlicher’ (vgl. Eckert u.a.
1998; 2000) folgt die Darstellung einem Analyseraster, das eine Rekonstruktion der jeweiligen Gruppenwirklichkeiten ermöglicht und die Vergleichbarkeit der Gruppen erlaubt (hier im
‘Teilprojekt’: Paintballer und Hooligans, im Gesamtprojekt auch: Punks, rechte Gruppierungen, multiethnische Gruppen, Bosnier oder Breakbeater).
1) Herkunft und aktuelle Lebenssituation: Hier geht es um den Einfluss lebensweltlicher Hintergründe (Eltern, Wohnung, Bildung) auf die Zugehörigkeit zur jeweiligen Spezialkultur.
2) Gruppenwirklichkeit: Die ‘Entstehungsbedingungen’ der Gruppe geben Auskunft über die
Umstände der Gruppenbildung, den Bestehungszeitraum etc. Das ‘Selbstverständnis’ zeigt
(jugend)kulturelle bzw. weltanschauliche Bezugsszenen und deren Interpretation in der
Gruppe.
3) Wahrgenommene Gruppenperipherie: Hier ist beschrieben, wie die Gruppe/Szene durch
die Umwelt wahrgenommen und bewertet wird, und wie sich die Gruppe demgegenüber
selbst sieht.
4) Intergruppenbeziehungen: ‘Allianz’ umfasst die akzeptierenden und freundschaftlichen
Beziehungsformen. ‘Ambivalenz’ bezeichnet jene Beziehungsmuster, die sich durch uneindeutige und wechselnde Bewertungen auszeichnen. Besonders wichtig ist die ‘Abgrenzung’ von „anderen“, die negativ bewertet werden.
5) Gruppenverlauf: Die Rekonstruktion des Gruppenverlaufs soll Aussagen über die ‘Eigendynamik’ von Gruppenprozessen und vor allem auch über deren Stabilität und typische
Auflösungsmuster ermöglichen.
39
1. Sadomasochismus: Szenen und Rituale
Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre wurde der deutsche Buch- und Zeitschriftenmarkt von Selbstbekenntnissen vor allem masochistischer Frauen nahezu überflutet. Mit teilweise missionarischem Charakter traten Männer und Frauen mit ihrem ‘Sadomasochismus’
aus der Anonymität, und fast schon schämen mussten sich diejenigen, die immer noch eine
langweilige, weil ‘normale’ Sexualität praktizierten. Es gab kaum eine Talkshow, kaum ein
Magazin (ob Stern, Focus, Spiegel, Lifestyle- oder Frauenzeitschrift), das sich nicht dieser
besonderen Thematik mehr oder weniger sachlich, mehr oder weniger ‘sensationsgeil’ angenommen hat.
International und auch in Deutschland hat sich bereits seit vielen Jahren eine gut funktionierende Szene etabliert, in der Menschen ihre Obsessionen von Dominanz, Submission und
Gewalt - sadomasochistische Neigungen - ausleben können. Diese Szene ist in sich stark ausdifferenziert entsprechend grundsätzlicher sexueller Orientierung (heterosexuell/homosexuell)
und der Vorliebe für spezifische Praktiken (vgl. Grimme 2000; Hitzler 1993; Spengler 1979;
Steinmetz 1990).
Die Etablierung der Thematik in den Medien sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass
diesem Phänomen in der breiten Öffentlichkeit nach wie vor das Stigma des Kranken, Perversen, ja sogar Kriminellen anhaftet. Vor diesem Hintergrund wurde von 1991 bis 1993 unter
der Leitung von Prof. Dr. Roland Eckert eine von der DFG geförderte Studie durchgeführt,
die sich der Thematik aus soziologisch-ethnographischer Perspektive angenommen hat. Sowohl der heterosexuelle als auch homosexuelle (Schwule und Lesben) Sadomasochismus
wurden untersucht. Es wurden Zugangsmuster, Praktiken und Motivstrukturen analysiert sowie die Bedeutung der Phantasien und der Pornographie herausgearbeitet (vgl. Wetzstein u.a.
1993).
Die hier vorliegende Analyse spiegelt meine Arbeit im Rahmen dieser Studie wider.26
26
Zu den Themen ‘Die Bedeutung der Phantasien’, ‘Die Rolle der Pornographie’, ‚AIDS und SM’, ‚Abweichende Karrieren’ sowie zur ausführlichen und differenzierten Darstellung des ‘homosexuellen Sadomasochismus’ vgl. Wetzstein u.a. (1993).
40
Empirie
Von der Forschergruppe wurden insgesamt 65 auf Tonband aufgezeichnete Interviews mit
einer Dauer von 40 bis 180 Minuten durchgeführt. Hinzu kamen Gruppendiskussionen und
Beobachtungen sowie schriftliche Befragungsunterlagen, deren Länge zwischen drei und 50
Seiten variiert. Insgesamt haben wir 143 Personen befragt. Dass die Zahl der interviewten
Personen höher ist als die Zahl der Interviews, erklärt sich aus dem Umstand, dass in manchen
Interviews zwei oder drei - resp. in den Gruppendiskussionen noch mehr - Personen befragt
wurden. Die Soziodemographie und sexuellen Präferenzen der Befragten wurden zudem standardisiert erfasst und ausgewertet.
Zur Überprüfung der Validität der Daten und zur Aktualisierung habe ich diesen Datenpool
durch ein weiteres Interview im August 2000 mit zwei Szenemitgliedern, Beobachtungen und
Recherchen im Internet sowie in Szeneläden (Frankfurt , Hamburg und Leipzig) ergänzt.
Ausgewählte Merkmale unter den Befragten
An dieser Stelle möchte ich auf die soziodemographischen Merkmale sowie die Rollenverteilungen im quantitativen Sinne eingehen. Die hier dargestellten Ergebnisse sind auf Grund
stichprobentheoretischer Voraussetzungen und Bedingungen jedoch nicht verallgemeinerbar,
sondern können nur lediglich zur Hypothesenbildung herangezogen werden.
Soziodemographie: Sadomasochistische Verhaltensformen und Interessen kommen in allen
Altersbereichen vor, wobei die meisten Befragten bis 40 Jahre alt waren. Der Jüngste war 18
Jahre und der Älteste 78 Jahre alt.
41
Hinsichtlich der einzelnen Variablen ergaben sich folgende Verteilungen:
Tab.: Die Altersstruktur der Befragten
Altersklasse
Prozent
18-30 Jahre
38,8%
31-40 Jahre
34,5%
41-50 Jahre
10,1%
51-60 Jahre
10,8%
über 60 Jahre
5,8%
Gesamt:
100,0%
Auch bei unseren Beobachtungen in Studios und Sexshops haben wir festgestellt, dass offenbar alle Altersklassen von Erwachsenen in der Szene repräsentiert (und aktiv) sind.
Bezüglich der geschlechtlichen Verteilung hat Spengler (1979, S. 57f) in seiner Studie darauf
hingewiesen, dass sich nur wenige Frauen in der SM-Szene bewegen: „Das Zahlenverhältnis
von Männern und Frauen kann anhand der Zahlen aus den heterosexuellen Teilgruppen der
Organisationen, die wir kennen, ungefähr abgeschätzt werden. (...) In der regionalen Teilgruppe dieser Organisation, die wir genauer kennengelernt haben, gibt es etwa 50 feste und
weitere 100 locker assoziierte Mitglieder, aber nur etwa 20 Frauen. (...) Der Kontakt zu einer
Organisation kann die Tatsache nicht überbrücken, daß nur extrem selten einmal nichtprostituierte Frauen zu einem sadomasochistischen Erlebnis bereit sind.“ Dieses Bild wird
von einigen älteren Studien27 bestätigt. Für unsere Untersuchung ergibt sich folgende geschlechtsspezifische Verteilung:
27
Vgl. z.B. Gebhard (1969); Hunt (1974); Litman/Swearingen (1972)
42
Tab.: Die Verteilung der Geschlechter
Geschlecht
Prozent
Weiblich
38,0%
Männlich
62,0%
Gesamt:
100,0%
Insgesamt haben wir mehr Männer als Frauen befragt.28 Von diesen Daten kann zwar noch
nicht auf den Frauenanteil in der SM-Szene geschlossen werden, es scheint aber zutreffend zu
sein, dass es mehr Männer als Frauen in der SM-Szene gibt. Um diese Hypothese weiter zu
prüfen, haben wir einige andere Analysen durchgeführt, so z.B. die Auswertung von Kontaktanzeigen. Sie bestätigen dieses Bild: Von 143 Partnergesuchen in einem SM-Magazin wurden
104 von Männern aufgegeben und 39 von Frauen, wobei bei letzteren in 23 Fällen finanzielle
Interessen eine Rolle spielten. Schließlich haben wir selbst mehrere Annoncen in szenetypischen Magazinen aufgegeben. Es meldeten sich fast ausschließlich Männer. Dieses Phänomen
ist aber kein Charakteristikum des SM-Bereichs, denn bei anderen Sexualitäten sind Männer
in der Anzeigenszene und den entsprechenden Realisierungsformen ebenfalls aktiver. Auch
hierzu haben wir Auszählungen durchgeführt. In einem Kontaktmagazin, das auf verschiedene sexuelle Interessen (z.B. Gruppensex, Fetischismus) abzielt, ergab sich folgende Geschlechterverteilung: Gegenüber 425 Männern, die eine Partnerin suchten, annoncierten nur
46 Frauen. Daneben suchten noch 72 Paare überwiegend eine weibliche Ergänzung. Eine von
uns geschaltete Annonce in einer überregionalen Tageszeitung bestätigt dieses Ergebnis. Aus
dem Anzeigentext war weder zu erkennen, ob ein Mann oder eine Frau gesucht wird, noch
waren Rückschlüsse auf sexuelle Präferenzen möglich.29 Das Resultat spricht für sich: Innerhalb von zwei Tagen haben wir über 200 Anrufe erhalten, ausnahmslos von Männern, die eine
Partnerin für die unterschiedlichsten Sexualpraktiken gesucht haben. Auch wenn solche Einzelergebnisse nicht generalisierbar sind, können sie als Indikator für den chronischen Männerüberschuss in der Szene gewertet werden.
28
In der SM-Szene spielen mitunter auch Transsexuelle und Transvestiten eine Rolle. Sie sind gelegentlich in
den Studios oder auf privaten Treffen zu finden. Allerdings konnten wir - trotz umfangreicher Bemühungen niemanden aus diesem Kreis interviewen und sind deshalb auch nicht weiter auf diese Frage eingegangen.
29
Mit dieser Annonce sollten wir einem Paar, das uns angeschrieben hatte, unser Interesse an einem Interviewgespräch bestätigen. In der Samstagsausgabe einer bestimmten Zeitung haben wir daraufhin folgenden - mit
diesem Paar vereinbarten - Text veröffentlicht: Möchten Euch Kennen Lernen.
43
Es wird deutlich, dass Männer beim Ausleben ihrer Sexualität eher in eine Öffentlichkeit gehen, z.B. indem sie Annoncen aufgeben oder Gruppensex-Veranstaltungen besuchen. Aber
nicht nur wegen dieses offensiveren Verhaltens sind sie in den verschiedenen Szenen überrepräsentiert, sondern auch deshalb, weil Frauen ihre Sexualität offensichtlich eher privat inszenieren. So hat z.B. unsere Studie zur Nutzung von Videopornographie (vgl. Eckert u.a. 1990)
gezeigt, dass Frauen durchaus solche Filme anschauen, gleichzeitig aber den Weg in die Videothek eher meiden. Ausleihen ist eine Männerdomäne. Ein ähnlicher Effekt könnte in der
SM-Szene wirksam werden, wenn es darum geht, an Gruppentreffen und Partys teilzunehmen. Daraus nun zu folgern, Frauen interessierten sich weniger für SM, wäre problematisch.
Denn bisher ist eher unzureichend untersucht, was sich in den privaten Räumen abspielt.
Trotz der unergiebigen Datenlage in Bezug auf die Quantifizierung der Geschlechteranteile in
der SM-Szene, scheint sich der Frauenanteil aber in den letzten Jahren - und darin stimmen
alle von uns kontaktierten Szenemitglieder und -insider überein - kontinuierlich erhöht zu
haben.30
Die Differenzierung nach bestimmten sozio-ökonomischen Merkmalen kann anhand der Variablen ‚Bildungsabschluss’ und ‚beruflicher Status’ dargestellt werden:
Tab.: Der Bildungsabschluss der Befragten
Bildungsabschluss
Prozent
Niedrig
10,0%
Mittel
26,9%
Hoch
63,1%
Gesamt:
100,0%
Die hohen Bildungsabschlüsse überwiegen mit einem Anteil von fast zwei Dritteln deutlich.
Die Aufschlüsselung nach dem beruflichen Status zeigt folgende Verteilung:
30
Aus Untersuchungen in den USA geht hervor, dass Frauen in der sadomasochistischen Spezialkultur zunehmend repräsentiert sind (vgl. Moser 1988; Breslow u.a. 1985).
44
Tab.: Beruflicher Status
Berufsgruppe
Prozent
Selbständige/Freiberufler(in)
21,9%
Leitende Angestellte
14,5%
Angestellte
39,5%
Beamter/in
5,6%
Arbeiter(in)
2,4%
Student(in)
8,9%
Sonstige
7,2%
Gesamt:
100,0%
Statushöhere Berufsgruppen sind mit einem recht hohen Anteil repräsentiert. Hier schließt
sich die Frage an, inwieweit sadomasochistische Sexualität vorzugsweise bei höheren
Schichtsegmenten zu finden ist. Wir haben eine Reihe von Einzeldaten erhoben, die diese
Hypothese stützen. Auf privaten Treffen, Partys, Feten, Großveranstaltungen oder DominaStudios sind hauptsächlich Akademiker, leitende Angestellte etc. anzutreffen. Personen, die
aufgrund ihres Berufes oder ihrer Tätigkeit viel mit Sadomasochisten zu tun haben (z.B. Dominas, Zuhälter, Therapeuten, Ärzte), berichten übereinstimmend, dass die Klientel aus den
oberen Schichten in der Mehrheit ist. Trotz dieser Einzelergebnisse stehen repräsentative Daten für diese Hypothese noch aus, so dass verallgemeinerbare Schlüsse gegenwärtig nicht
möglich sind.
Neben den sozio-demographischen Variablen interessierte uns auch die Verteilung von Sexualitätsmerkmalen. Bezogen auf die Unterscheidung homo-, bi- und heterosexuell ergab sich
für unsere Studie folgendes Bild: 65% der von uns befragten Personen waren heterosexuell,
ca. 8% bisexuell und etwa 25% homosexuell. Ein weiteres Merkmal ist die eingenommene
SM-Rolle. Die Bezeichnungen in der Szene für die einzelnen Rollen variieren. Manche Personen
benutzen
die
Begriffe
passiv/aktiv
für
die
Typisierung
milderer,
sadis-
tisch/masochistisch hingegen für die Kennzeichnung härterer SM-Ausprägungen. Diese Begrifflichkeiten sind in ihrer Verwendung aber sehr uneinheitlich, weswegen sie in dieser Arbeit synonym gebraucht wird. Im Einzelnen sind die Rollenmuster folgendermaßen verteilt:
45
Tab.: Präferierte SM-Rolle
Präferierte SM-Rolle
Prozent
Aktiv
31,7%
Wechselnd
23,9%
Passiv
44,4%
Gesamt:
100,0%
Etwas weniger als die Häfte der Befragten ist passiv, rund ein Drittel ist aktiv orientiert, und
ein Fünftel der Befragten gab an, beide Rollen einzunehmen. Die quantitative Auswertung
unserer Befragungsdaten in Bezug auf den Zusammenhang von Geschlecht und präferierter
SM-Rolle erbrachte im Einzelnen folgende Verteilung:
Tab.: Geschlechtszugehörigkeit und SM-Präferenz
Präferierte SM-Rolle
Männer
Frauen
Aktiv
28,7%
37,0%
Wechselnd
17,3%
35,2%
Passiv
54,0%
27,8%
100,0%
100,0%
Gesamt:
Zunächst einmal ist darauf hinzuweisen, dass das sogenannte ‚role switching’, also die wechselnde Einnahme der S- und der M-Rolle, bei Männern und Frauen vorkommt, wobei Frauen
die Rolle im SM-Arrangement deutlich häufiger wechseln. Noch markanter sind die Unterschiede allerdings im Hinblick auf die passive Rolle: Fast doppelt so viele Männer als Frauen
geben an, passiv orientiert zu sein. Masochismus ist also, etwas drastisch gewendet, zuallererst ein typisch männliches und weniger ein weibliches Phänomen. Die Rollenpräferenz bei
den Frauen ist fast gleichmäßig über alle Rollenoptionen verteilt, allerdings sind sadistische
Frauen leicht in der Überzahl.31 Die Frage nach der Bedeutung und der Verbreitung des Masochismus von Frauen müsste auf dieser Basis also neu gestellt werden, denn weder ein natürlicher noch ein zwanghaft kulturell codierter spezifischer weiblicher Masochismus kann angenommen werden (vgl. Kap. III. 1.9.1). Erwähnt werden soll noch, dass in manchen SzeneTeilen Geschlechtszugehörigkeit und SM-Rolle als Ausdruck einer Prestige-Hierarchie begriffen werden. Von oben nach unten rangiert ergibt sich dabei folgende Reihenfolge: S-
31
Professionelle Dominas sind in dieser Analyse nicht berücksichtigt.
46
Mann - S-Frau - M-Frau - M-Mann. Diese Wertung ist uns aber nur selten begegnet und keineswegs generell üblich, so dass ich im Folgenden nicht weiter auf diesen Aspekt eingehe.
1.1
Exkurs: Sadomasochismus im Spiegel öffentlicher Diskussion und wissenschaftlicher Theorien
1.1.1
Sadomasochismus und öffentliche Meinung
Individuen, die Vorlieben für sadomasochistische Praktiken zeigen, haftet das Stigma des
Pathologischen, Triebhaften und Unberechenbaren an (vgl. Schorsch 1979; Walter 1985). Es
ist unbestritten, dass es Problemfälle gibt, in denen Menschen ihre sadistischen Neigungen in
Verbindung mit sexueller Befriedigung nicht kontrollieren können und dass als kriminell oder
krankhaft zu bewertende Handlungen begangen werden. Die Tatsache, dass es solche gestörten Persönlichkeiten gibt, besagt aber noch nicht, dass alle Individuen, die sadomasochistische
Sexualpraktiken bevorzugen, potentielle Lustmörder oder Triebtäter sind - also eine Gefahr
für die Öffentlichkeit darstellen und deshalb therapeutischer Hilfe bedürfen oder ‘eingesperrt’
werden müssen.
Diese Vorurteile innerhalb der öffentlichen Meinung gegenüber dem Sadomasochismus sind
nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass sich innerhalb der wissenschaftlichen Diskussion
bisher keine einheitliche Bewertung herauskristallisieren konnte. Die Forschung in diesem
Bereich hat vielmehr heterogene Ergebnisse hervorgebracht, und man hat sich weitestgehend
mit den möglichen Ursachen und Therapieformen beschäftigt (vgl. Kap. III. 1.1.3). Daneben
werden häufig Fragen aufgeworfen, ob und inwiefern sich die verschiedenen Formen von
Sadismus und Masochismus einander bedingen; es werden also mögliche gesellschaftliche
und soziale Ursachen des sexuellen Sadomasochismus diskutiert.32
Die Uneinheitlichkeit der wissenschaftlichen Datenlage im Bereich ‘abweichenden’ Sexualverhaltens hängt mit dem Phänomen der menschlichen Sexualität insgesamt zusammen. Sie
hat ihren Ursprung darin, dass es keine normierte Sexualität im Sinne eines instinktgesicherten Verhaltens gibt. Deshalb will ich im Folgenden - bevor ich auf die aktuellen Manifestationen des Sadomasochismus eingehe - neben biologischen Bedingungen die Transformationen
menschlicher Sexualität aus historischer, ethnologischer und soziologischer Perspektive auf-
32
Vgl. Barry (1983); Burgard/Rommelspacher (1989); LeSoldat (1989); Schorsch/Becker (1977); ferner Lawrenz/Orzegowski (1988) oder Valverde (1989)
47
zeigen. Denn ohne die Einbeziehung der sozialen und kulturellen Transformationen kann nur
eine bloße Momentaufnahme gelingen, die in ihrer A-Historizität wenig aussagekräftig ist.
Menschliche Affekte im Allgemeinen und die Sexualität im Besonderen resp. ihre verschiedenen ‘abweichenden’ Varianten sind - so eine im zivilisationstheoretischen Kontext formulierte Schlüsselthese - nur dann zu bewerten, wenn sie in eine historisch-rekonstruierende Analyse eingebettet sind. Eine solche Perspektive zeigt nämlich, dass die Sexualität des Menschen vielfältigen sozio-kulturellen Formungen unterliegt.
1.1.2
1.1.2.1
Konstitutive Merkmale menschlicher Sexualität
Der Sexualtrieb
Lange Zeit wurde angenommen, dass es sich bei der menschlichen Sexualität um ein instinktives Verhalten, gleichsam um einen festgelegten Verhaltenskomplex handelt. Der Mensch
unterscheidet sich aber gerade vom Tier durch das Fehlen artspezifischer Instinkte. Allenfalls
lassen sich Instinktresiduen feststellen. Auf die Instinktentbundenheit weist nicht zuletzt die
Unterschiedlichkeit der Verhaltensformen in verschiedenen Gesellschaften hin.
Zweifellos ist menschliche Sexualität - wie andere Primärtriebe auch - durch endogen erzeugte Antriebe bedingt. Dennoch wird das konkrete Sexualverhalten nicht von diesen ‘Trieben’
geregelt, sondern ist die Folge sozial-kultureller Definitionen von Befriedigung. (Sexual)Kultur stellt für den Menschen gleichsam einen Instinktersatz dar (vgl. Hahn 1972). Den Ergebnissen des Verhaltensforschers Konrad Lorenz zufolge unterscheidet sich menschliche
Sexualität durch zwei Merkmale vom instinktgesicherten Fortpflanzungsverhalten der Tiere:
1) Eine weitergehende Instinktreduktion geht einher mit einem sexuellen Antriebsüberschuss. Das menschliche Geschlechtsleben zeichnet sich durch das Fehlen eines jahreszeitlichen Rhythmus der sexuellen Antriebe (Brunstzeiten) aus, und die sexuellen
Bedürfnisse von Mann und Frau sind weitaus größer als ihre Fortpflanzungsfähigkeit.
Der Mensch verfügt weder im Einsatz noch im Ablauf seines Sexualverhaltens über
angeborene Schemata und eindeutige Instinktmechanismen. Sein Verhalten beruht
nicht auf angeborenen Handlungsketten mit dazugehörigen Endhandlungen (vgl. Lorenz 1937).
2) Das sinnliche Lustgefühl ist vom Gattungszweck ablösbar. Gehlen (1974) spricht in
diesem Zusammenhang von einer fast universalen Plastizität menschlichen Sexualverhaltens. Die Vertreter der modernen Anthropologie (z.B. R. Benedict, B. Malinowski,
48
M. Mead) sehen in der Sexualität - wie auch in anderen biologisch bedingten Antrieben des Menschen - weitgehend unspezialisierte Bedürfnisse, die gerade in ihrer biologischen Ungesichertheit der Formung und Führung durch soziale Normierung und
der Stabilisierung in einem kulturellen Überbau von Interessen bedürfen. Ähnlich argumentiert auch der Soziologe Schelsky (1971, S. 135): „Dabei erweist sich die instinktschematisch ungesicherte Plastizität menschlicher Sexualbedürfnisse gerade als
eine Chance zur Ausbildung einer höheren Selektivität der Sexualziele, die über den
bloßen Gattungszweck hinausführt und die Einfügung von seelischen, kulturellen oder
sozialen Differenzierungen in die sexuelle Antriebssphäre zuläßt.“
Von einer ausschließlich biologischen Determination menschlicher Sexualität kann also nicht
gesprochen werden, sondern neben endogenen Antrieben sind kulturelle Bedingungen, Normen und Werte der jeweiligen Gesellschaft für das konkrete Sexualverhalten verantwortlich.
Sie bestimmen das Bild der Sexualität, wie im Folgenden gezeigt werden soll.
1.1.2.2
Sozio-kulturelle Formung sexueller Verhaltensweisen
Beschäftigt man sich mit der Frage der ‘Normalität’ resp. ‘Abweichung’ sexueller Verhaltensweisen, so zeigt ein Blick auf fremde Kulturen und die unterschiedlichen historischen
Epochen, dass Sexualität resp. abweichendes Sexualverhalten auch sozio-historisch bedingt
ist. Jede Gesellschaft entwickelt für das Sexualverhalten ihrer Mitglieder Maßstäbe, Regeln
und Normen, die zwischen den verschiedenen Gesellschaften und historischen Epochen variieren. In dem Ausmaß, in dem eine Gesellschaft ihre eigenen Normen und Werte dogmatisiert, stempelt sie gleichzeitig Individuen mit anderen Vorstellungen zu Außenstehenden und
Abweichenden, was sich in extremen Fällen in der strafrechtlichen Verfolgung oder Pathologisierung spezifischer Verhaltensmuster äußert. Dies weist schon darauf hin, dass sexuelle
Normen immer relativ sind, ihr konkreter Inhalt hängt von gesellschaftlichen Bedingungen ab.
Kultur konstituiert demnach ein moralisch-ethisches Wertesystem, das Triebäußerungen,
Phantasien und Verhaltensweisen gleichsam ‘formt’ (vgl. Gindorf/Haeberle 1986; Kentler
1973).
Deshalb soll im Folgenden die Bedeutung sexueller Normen aus ethnologischer und historischer Perspektive dargestellt und im Anschluss daran die zivilisationstheoretische Genese des
Perversionsbegriffs erläutert werden.
49
Die ethnologische Perspektive
Bereits die Untersuchungen der frühen Ethnologie zeigen, dass die abendländische Zivilisation nicht an der Absolutheit eigener Normen und Wertvorstellungen festhalten kann, ohne sie
zu hinterfragen: Ein Blick auf fremde Kulturen macht deutlich, dass die Begriffe ‘Abweichung’ und ‘Normalität’ jeweils anders gewichtet werden. Dass das ‘Normale’ im Bereich der
Sexualität interkulturellen Varianzen unterliegt, beschreibt beispielsweise Mead (1965) in
‘Kindheit und Jugend auf Samoa’ sehr anschaulich. In dieser Kultur sind Onanie, Homosexualität oder auch ungewöhnliche Formen der Heterosexualität weder verboten noch werden sie
gefördert. Die Varianten heterosexuellen Verkehrs, die als ‘normal’ angesehen werden, sind
zahlreich. Die Etikettierung ‘Abweichler’ in diesem Bereich ist eher selten. Demgegenüber
konstatiert Malinowski (1979) für die Eingeborenen der Trobriand-Inseln, dass ‘Verirrungen’
des Geschlechtstriebes (Sexualverhalten wie Sodomie, Homosexualität, Fetischismus und
Masturbation) verpönt sind. Inwieweit Sadismus und Masochismus in dieser primitiven Kultur vorkommen, kann Malinowski im Rahmen seiner Feldstudien nicht eindeutig beurteilen.
Er stellt aber fest, dass Formen sexueller Praktiken wie Kratzen, Beißen und Spucken, die vor
allem der Mann über sich ergehen lassen muss, als Element der Erotik im Sexualleben der
Trobriander bekannt sind. Am Beispiel einiger Papua-Stämme in Neu-Guinea zeigt BleibtreuEhrenberg (1979), dass das Phänomen der Pädophilie dort ein Mittel zur Herstellung sozialer
Integration darstellt und homosexuelle Kontakte problemlos gehandhabt werden. Bei den Siwahl in Nordafrika war es bis zu Beginn dieses Jahrhunderts selbstverständlich, dass alle
‘normalen’ Männer homosexuellen Geschlechtsverkehr hatten (vgl. Haeberle 1983).
Mit solchen Ergebnissen haben Anthropologie und Ethnologie wesentlich zu der Erkenntnis
beigetragen, dass die abendländischen Sexualnormen keineswegs Universalien sind, wie z.B.
von konservativen Moraltheoretikern der katholischen Kirche noch heute angenommen wird.
Sie sind vielmehr sowohl in der Handlungs- als auch in der Wertdimension Produkt kultureller Erfahrung und Sinnsetzung. Diese Auffassung zählt mittlerweile zu den Basisannahmen
soziologischer und ethnologischer Theorien, was aus der folgenden Einschätzung von Berger/Luckmann (1972, S. 52) deutlich wird: „Wenn der Begriff ‘normal’ irgend etwas anthropologisch Fundamentales oder kulturell Universales bezeichnen soll, so kann weder dieser
Begriff selbst noch sein Gegenteil auf die zahllosen Formen menschlicher Sexualität rechtens
angewendet werden. (...) Jede Kultur hat eine für sie bezeichnende Auffassung von Sexualität,
mit eigenen Spielregeln für sexuelles Verhalten und eigenen ‘anthropologischen’ Voraussetzungen. Die Relativität dieser Auffassungen, ihre große Vielfalt und ihr Reichtum an Erfindungen verweisen darauf, daß sie eher Produkte sozio-kultureller Schöpfungen als einer biologisch fixierten Natur sind.“
50
Gerade für das Sexualverhalten im Abendland lassen sich bei sozio-historischer Betrachtungsweise Differenzen zwischen den einzelnen historischen Epochen nachzeichnen. Diese
Perspektive macht deutlich, dass die menschlichen Affekte und ‘Triebe’ primär ‘soziogenetischen’ und nicht ‘bio-genetischen’ Ursprungs sind.
Die Disziplinierung der Sexualität
Dass Sexualität und die damit verbundenen Normen nicht schon immer so waren, wie sie heute sind, zeigt nicht zuletzt ein Blick in die Antike. Im alten Griechenland beispielsweise wird
Sexualität als eine elementare Lebenskraft angesehen und alle sexuellen Gefühle werden von
daher als grundsätzlich gut bewertet. Sexualität ist Bestandteil der Alltagskultur und wird in
zahlreichen Schriften thematisiert. Man spricht zwanglos von Sexualität und die griechische
Vasenmalerei gibt hinreichend Zeugnis für das breite Spektrum sexueller Praktiken (vgl.
Reinsberg 1989). Das gilt z.B. für die Päderastie. Sie bedeutete für die Griechen die Liebe
eines Mannes zu einem Knaben, wobei ethische und sinnliche Momente nebeneinander existierten: Die Unterrichtung des jüngeren durch den älteren Mann spielte ebenso eine Rolle wie
die körperliche Liebe zwischen beiden. Homosexuelle Praktiken sind sowohl bei Männern als
auch bei Frauen anzutreffen. Neben der Homosexualität gibt es aber auch zahlreiche andere
sexuelle Verhaltensvarianten: Begriffe wie Nymphomanie, Päderastie, androgyn, Zoophilie
etc. sind auf Betätigungen bezogen, die schon bei Homer erwähnt werden (vgl. Tannahill
1982). Die zwanglose Handhabung der Sexualität stellt die sittliche und moralische Kontrolle
in die Zuständigkeit des Individuums. Die Griechen haben in dieser Zeit keinen religiösen
Glauben oder Institutionen, die mit der Autorität ausgestattet sind, sexuelle Verbote auszusprechen und deren Befolgung zu erzwingen. Lediglich der Glaube an den jungen Gott Eros,
Sinnbild der Liebe und des sexuellen Verlangens, der je nach Laune von den Menschen Besitz
ergreifen konnte, ist von Bedeutung. Sich seinem Lenken zu widersetzen, wäre frevelhaft und
sinnlos. Nahezu alles ist erlaubt, was im Sinne der ‘enkrateia’ (maßvoller Genuss) realisiert
wird, wie es Foucault (1989, S. 237) beschreibt: „Der Gegensatz zwischen einem Mann, der
sich zu mäßigen und beherrschen weiß, und einem, der sich den Lüsten hingibt, war vom Gesichtspunkt der Moral aus viel wichtiger als der zwischen verschiedenen Kategorien von Lüsten, denen man sich am liebsten widmen mochte.“
Auch in der römischen Gesellschaft ist ein breites Spektrum sexueller Verhaltensmuster erlaubt und toleriert. Im Unterschied zur hellenistischen Sexualität gewinnen in Rom brutale
und sadistische Elemente an Bedeutung (Hyde 1964). Die Rute (fasces) als Instrument der
häuslichen Züchtigung und als Zeichen der Herrschaft spielt eine wichtige Rolle. Ihr Einsatz
variiert dabei von milden Riemen (scutica), dem Rohrstab (ferula) und der Gerte (virga) bis
51
hin zu schweren Arten von Peitschen (flaggelum). Die Rute ist aber nicht nur Züchtigungsund Machtwerkzeug, sondern dient auch zur sexuellen Stimulanz. Krafft-Ebing (1886/1984)
verweist auf die Dichtungen Juvenals, aus denen hervorgeht, dass nicht nur Männer ‘auf diese
Weise zu Lüsternheit erregt und entflammt wurden’, sondern auch römische Frauen sich um
des Vergnügens Willen peitschen ließen. Auch im ‘Satyricon’ des Gaius Petronicus finden
sich Hinweise auf flagellantische Sexualpraktiken. Flagellantismus war aber nicht die alleinige ‘Spielart’; im Gegenteil, „jede Art sexueller Perversion, von der oralen Kopulation (fellatio) bis zur Sodomie (paedicatio) und der Defloration kleiner Mädchen“ (Hyde 1964, S. 71)
ist in zahlreichen Zeugnissen dokumentiert.
Unter dem Einfluss des Christentum beginnen sich die moralischen und ethischen Maßstäbe
in Europa grundlegend zu ändern. Askese und Keuschheit werden in einem bisher nicht gekannten Ausmaß idealisiert und für alle verbindlich erklärt. Foucault (1983, S. 31) zufolge ist
nicht nur die unmittelbare körperliche Äußerung von dieser Entwicklung betroffen, sondern
auch der geheime Wunsch, das innere Begehren: „Es ist ein Imperativ errichtet worden, nicht
nur die gesetzeswidrigen Handlungen zu beichten, sondern aus seinem Begehren, aus seinem
gesamten Begehren einen Diskurs zu machen.“
Die Verinnerlichung vor allem kirchlicher Regeln und die damit beginnende ‘Produktion des
disziplinierten Menschen’ (Felhofer 1987) war jedoch ein allmählicher Prozess, bei dem zunächst äußere Zwänge zur Durchsetzung der neuen moralischen Ordnung von zentraler Bedeutung sind. Wo ihre normierende Wirkung entfällt, kümmert man sich recht wenig um die
moralischen Prämissen. Erst ganz allmählich - und dies nicht nur im Bereich der Sexualität schlagen die ‘Fremdzwänge’ in ‘Selbstzwänge’ um (vgl. Elias 1976). Die zivilisatorischen
Transformationen führen so auch zu tiefgreifenden psycho-genetischen Veränderungen. Affekte und körperliche Reaktionen werden mehr und mehr kontrolliert. Selbstbeherrschung und
‘gutes’ Benehmen (erkennbar z.B. am verstärkten Aufkommen von Benimm-Fibeln) werden
zu markanten Charakteristika des ‘zivilisierten’ Menschen. Entscheidend für diese Entwicklung ist die Verfeinerung der Selbstbeobachtungs- und Selbstthematisierungstechniken, als
deren materielle Basis Hahn (1982, S. 409) „das Aufblühen der Städte, die größere lokale
Mobilität, die Überregionalität des Handels, die stärker werdende berufliche Differenzierung,
das Entstehen ausgedehnter Spielräume für persönliche Initiativen, die Entfaltung des geistigen Lebens (Universitäten)“ beschreibt.
Elias (1976) zeigt diese Entwicklung am Beispiel der höfischen Gesellschaft, Weber (1972)
für den puritanischen Unternehmer und Hahn (1982) für die Katholiken insbesondere seit der
Gegenreformation. Nach und nach etabliert sich auf diese Weise eine Selbstkontrollapparatur,
52
die zunehmend als Automatismus funktioniert, und das aus ihr folgende Verhalten wird als
‘natürliches’ Verhalten gewertet - so, wie es immer schon war.
Von diesem Prozess ist auch die Sexualität nicht ausgeschlossen. So kann sich schließlich die
bürgerliche Sexualordnung des 17. Jahrhunderts nicht nur in öffentlichen Räumen etablieren,
sondern dringt auch in das Intim- und Privatleben ein. Es errichtet sich - um mit Foucault
(1977, S. 230) zu sprechen, „eine Mikrojustiz der Zeit (Verspätungen, Abwesenheiten, Unterbrechungen), des Körpers (falsche Körperhaltungen und Gesten, Unsauberkeit), der Sexualität
(Unanständigkeit, Schamlosigkeit).“
Die damit verbundene Verdrängung der Sexualität aus dem öffentlichen Alltag führt zur
Schaffung von Ausweichräumen, in denen Tabuverletzungen mehr oder minder toleriert werden, wie Eckert u.a. (1990, S. 101) für die Pornographie festhalten: „Die Ausgrenzung der
Sexualität aus dem Alltag evoziert sozusagen die Schaffung medialer Bildwelten, die zur
Konstitution von Ausweichräumen oder Nischen beitragen und in denen man die strengen
Alltagsnormen umgehen kann.“ Dies zeigt sich gerade am Beispiel des puritanischen Englands, das gekennzeichnet ist durch den Widerspruch zwischen öffentlicher Sittenstrenge und
ihrer gleichzeitigen Überschreitung im Verborgenen (vgl. Kleinspehn 1989). In diesem Zusammenhang entstand hier eine wahre Flut pornographischer Schriften.
Im 20. Jahrhundert haben sich die zivilisatorischen Standards verändert; sie werden sichtbar
gelockert, aber keineswegs aufgehoben. Mittlerweile ist die Psycho-Genese so weit fortgeschritten, dass in den verschiedensten Bereichen externe Kontrollmechanismen überflüssig
geworden sind. Sie werden durch situatives Verhalten ersetzt (vgl. Kap. III. 1.8). Dies gilt
auch für den Bereich der Sexualität und Körperlichkeit.
Zivilisationstheoretische Aspekte der Perversionen
Von der Transformation der Sexualität sind auch die Formen sexuellen Verhaltens betroffen,
die heute vor allem in ‘zivilisierten’ Gesellschaften im ‘Kanon der Perversionen’ zu finden
sind. In der Antike durchaus zum ‘normalen’ Sexualverhalten gehörend - „as an ordinary part
of the range of human eroticism“ (Boswell 1980, S. 333) - werden sie seit Beginn der Neuzeit
gerade unter dem Einfluss der Kirche zunehmend verpönt. Das Erlaubte und Verbotene wird
nicht mehr - wie im hellinistischen Griechenland - in großen Teilen vom Individuum selbst
geregelt, sondern durch Sittenvorschriften und Zwänge, die in engem Zusammenhang mit
kanonischem Recht, christlicher Pastoraltheologie und Zivilrecht stehen. Walter (1985) weist
darauf hin, dass vor allem seit dem Aufstieg des Christentums zur Staatsreligion das ganze
53
Mittelalter hindurch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts religiöser Fanatismus und inquisitorische Verfolgung dieses Feld beherrscht. Im Mittelalter, als die christliche Kirche den größten
Einfluss genießt, war der Unterschied zwischen normalem und abweichendem Sexualverhalten der zwischen Rechtschaffenheit und Sünde. Seit dem Beginn der Moderne reduziert sich
der Einfluss der Kirche zugunsten weltlicher Mächte. Der Unterschied zwischen normalem
und abweichendem Sexualverhalten ist nun vergleichbar dem zwischen Gesetzestreue und
Verbrechen (vgl. Haeberle 1983). Die moralischen Richtlinien der Kirche und die gesetzlichen Bestimmungen der bürgerlichen Gesellschaft werden aber vom ‘normalen’ Individuum
nicht als ‘Oktroyierung einer sexuellen Zwangsdiktatur’ empfunden, sondern gehören mit
zum selbstverständlichen und ‘gesunden’ Sexualempfinden. Wer ‘es mit Tieren treibt’, wer
die sexuelle Erfüllung durch Schmerz erlangt oder wer sein eigenes Geschlecht liebt, wird
von der ‘normalen Mehrheit’ als krank, degeneriert oder gar als Verbrecher etikettiert.
Gerade die aufkommende Sexualwissenschaft im 19. Jahrhundert etabliert die Medikalisierung der Sexualität im Allgemeinen und die Pathologisierung ihrer Spielarten im Besonderen.
Die Justiz tritt eine Vielzahl von Fällen ‘abweichenden’ Verhaltens an die Medizin ab. Theologen und Juristen werden durch Psychiater als die neuen Experten für abweichendes Sexualverhalten abgelöst. Perverse werden zu Kranken, die man nicht für ihr Verhalten verantwortlich machen kann, und die einzig vernünftige Reaktion auf ihr Verhalten ist nicht die moralische Verurteilung oder die gesetzliche Bestrafung, sondern die psychiatrische Therapie. Unter
dem wachsenden Einfluss der Psychiatrie werden immer mehr Menschen als ‘Psychopathen’
klassifiziert. Mit der Diskursivierung der Sexualität im Allgemeinen ‘entstehen’ gleichsam
neue Formen der Perversion. Hierzu schreibt Foucault (1983, S. 50): „Durch eine Unzahl von
Diskursen hat man die juristischen Verurteilungen der kleinen Perversionen vermehrt, hat
man die sexuelle Abweichung mit der Geisteskrankheit verkettet, hat man eine Norm der sexuellen Entwicklung der Kindheit bis ins Alter aufgestellt und sorgfältig alle möglichen Abweichungen charakterisiert, hat man pädagogische Kontrollen und medizinische Heilverfahren organisiert, und um der geringsten Phantasien willen haben die Moralisten, aber auch vor
allem die Mediziner ein empathisches Greuelvokabular aufgewärmt.“
Die Sexualwissenschaftler dieser Zeit (Psychiater) entwickeln immer spezifischere Verzeichnisse sexueller Abnormitäten und Perversionen. Auffälligkeiten werden erst einmal katalogisiert und mit Namen versehen (z.B. Fetischismus, Koprolagnie, Sadismus, Masochismus):
„Der erste Akt der Sexualwissenschaft war also, Ordnung zu schaffen, vergleichbar der Ordnung, die die systematische Botanik im Pflanzenwirrwar schuf, allerdings folgenreicher“
(Schmidt 1988, S. 12). Die Pathologisierung durch die Wissenschaften hat die ungewöhnliche, perverse Sexualität zwar aus der moralischen Betrachtung und strafrechtlichen Verfolgung herausgelöst, jedoch auch gleichzeitig eine neue Zwangs- und Diskriminierungsappara54
tur eingerichtet. Denn mit dem Katalog sexueller Krankheiten steht nun ein Instrumentarium
bereit, mit dem alle Menschen, die den sexuellen Konventionen nicht entsprechen, klassifiziert und zu potentiellen Patienten psychiatrischer Behandlung gemacht werden können.
Genau so vielfältig wie die Perversionen ist auch das therapeutische Arsenal. Im 19. Jahrhundert werden beispielsweise Geschlechtsorgane verätzt oder verbrüht oder sonstige Verstümmelungen der Geschlechtsorgane zum Zwecke der Heilung sexueller Perversionen vorgenommen. Denn es steht einzig die Norm des ‘richtigen Geschlechtsverkehrs’ mit der ‘richtigen Person’ im Mittelpunkt. So wird das, was nicht der familiären Fortpflanzung dient, regelrecht deviant; von der ‘Sexual-Philosophie’ des antiken Griechenlands ist nichts mehr übrig
geblieben. Augenscheinlichstes Beispiel für den Prozess der sexuellen Normierung sind die
zahlreichen ‘Aufklärungs- und Verhütungskampagnen’, die sich gegen die Masturbation richteten (vgl. Rutschky 1977; Glantschnig 1987).
Zusammenfassend gilt festzuhalten, dass sich das Verhältnis des Menschen zu seinem Körper,
zu seiner Sexualität im Laufe der Zeit geändert hat. Die verschiedenen Epochen sind geprägt
durch unterschiedliche Normen, die das Sexualverhalten der Individuen bestimmen. Darüber
hinaus verweisen die Ergebnisse der Anthropologie und Ethnologie auf normative Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen. Vor allem Verhaltensweisen, die heute in zivilisierten Gesellschaften als ‘Perversionen’ bezeichnet werden, unterliegen intra- und interkulturellen Varianzen. In der Antike gewünscht und geduldet, zeugten sie im Mittelalter von Sünde
und galten zu Beginn der Neuzeit als Verbrechen. Und mit der Entstehung der modernen Sexualwissenschaft im 19. Jahrhundert (innerhalb der Psychiatrie als Sexualpathologie) werden
sie als Krankheit bewertet.
Die Entwicklung der modernen Sexualwissenschaft sowie die Theorien ihrer wichtigsten Vertreter sollen im folgenden Kapitel im Hinblick auf das Phänomen des Sadomasochismus dargestellt werden. Dabei soll auch - unter besonderer Berücksichtigung der Frau - gezeigt werden, wie sich der Begriff des Sadomasochismus in der sexualwissenschaftlichen, psychoanalytischen und soziologischen Auseinandersetzung geändert hat.
1.1.3
1.1.3.1
Sadomasochismus im Spiegel bisheriger Forschung
Etymologie des Begriffs
Der Begriff ‘Sadomasochismus’ wurde von dem Sexualforscher Richard v. Krafft-Ebing
(1840-1902) geprägt und setzt sich aus den Bezeichnungen ‘Sadismus’ und ‘Masochismus’
55
zusammen. Krafft-Ebing zufolge stellen Sadismus und Masochismus zwei Formen sexueller
Perversionen dar, die insbesondere durch violente Elemente gekennzeichnet sind.
Den Begriff des Sadismus verwendet Krafft-Ebing in Anlehnung an das Werk des Marquis de
Sade (1740-1814), in dessen Romanen ‘Wollust’ und ‘Grausamkeit’ zentrale Topoi bilden
(vgl. Kap. III. 1.4.1). Als Sadismus definiert Krafft-Ebing (1886/1984, S. 69) „die Empfindung von sexuellen Lustgefühlen bis zum Orgasmus beim Sehen und Erfahren von Züchtigungen u.a. Grausamkeiten, verübt an einem Mitmenschen oder selbst an einem Tier, sowie
der eigene Drang, um der Hervorrufung solcher Gefühle willen anderen lebendigen Wesen
Demütigung, Leid, ja selbst Schmerz und Wunden widerfahren zu lassen (...).“ Auch den
Begriff des Masochismus leitet Krafft-Ebing (ebd., S. 104) aus literarischen Vorlagen ab nämlich dem Werk von Leopold v. Sacher-Masoch33 - und verwendet ihn wie folgt: „Unter
Masochismus verstehe ich eine eigentümliche Perversion der psychischen Vita sexualis, welche darin besteht, dass das von derselben ergriffene Individuum in seinem geschlechtlichen
Fühlen und Denken von der Vorstellung beherrscht wird, dem Willen einer Person des anderen Geschlechtes vollkommen und unbedingt unterworfen zu sein, von dieser Person herrisch
behandelt, gedemütigt und selbst mißhandelt zu werden.“ Masochismus ist also das Pendant
zum Sadismus. Während der Sadist darauf ausgerichtet ist, Schmerzen zuzufügen, kommt es
dem Masochisten darauf an, sich der Gewalt unterworfen zu fühlen.
Ganz zentral bei der frühen Sexualforschung - wie auch später bei der Psychoanalyse - ist die
Annahme, dass es zwischen den Geschlechtern bedeutsame Unterschiede im sexuellen Habitus gibt. Der Mann - so eine Schlüsselthese - nehme naturgemäß eine aktive, die Frau hingegen eine passive Rolle ein. Dies zeigt sich im ‘normalen’ sexuellen Verhalten, insbesondere
aber beim Phänomen des Sadomasochismus. Diese geschlechtsspezifischen Differenzen werden hier zum zentralen Erklärungsprinzip für die Richtung (sadistisch/masochistisch) der sadomasochistischen Perversion (vgl. Kap. III.1.9.1)
Im Folgenden soll nun gezeigt werden, wie sich in den sexualwissenschaftlichen Diskursen
die Vorstellungen zum Phänomen des Sadomasochismus geändert haben. Die Erklärungsversuche der frühen Sexualforscher und der Psychoanalyse werden neueren, soziologischen Ansätzen gegenübergestellt.
33
Der Roman ‘Venus im Pelz’ thematisiert die Geschichte einer Liebesbeziehung zwischen einer dominanten
Frau und einem masochistischen Mann, der immer mehr in den Bann seiner Herrin gerät. Zur Schilderung
dieses Arrangements bedient sich Sacher-Masoch einer sehr zurückhaltenden und metaphorisch beschreibenden Sprache; Stilmittel also, die weitab vom Metier der heutigen Mainstream-Pornographie liegen. Die Bedeutung dieses Romans ist mehr literarischer Natur; längst schon hat er seine pornographische Verruchtheit
abgestreift und zählt zu den literarischen Klassikern. Gleichwohl gilt er als Kultroman in der SM-Szene.
56
1.1.3.2
Die frühe Sexualwissenschaft
Der Frage, unter welchen Umständen die sogenannten Perversionen entstehen, ist in der wissenschaftlichen Diskussion bisher besondere Beachtung geschenkt worden. Dies gilt vor allem für die frühe Sexualwissenschaft,34 mit der die ‚Psychiatrisierung der perversen Lust’
(vgl. Foucault 1983) ihren Anfang nahm. Als pervers galten Abweichungen „in der Richtung
des Geschlechtstriebes (in obiecto) und in seiner regelrechten Ausübung“ (Imielinski 1967, S.
6). Damit sind alle sexuellen Handlungen gemeint, die nicht dem Geschlechtsakt zwischen
Mann und Frau sowie der Fortpflanzung dienen: Homosexualität, Fetischismus, Sadomasochismus, Sodomie, Nekrophilie, Exhibitionismus, Voyeurismus und Pädophilie sind hier ebenso zu nennen wie die Masturbation. Auch wenn die Auffassungen und Theorien über die
Ursachen der ‚psychopathia sexualis’ sehr unterschiedlich waren, lassen sich „die vielen Verfasser in zwei große gegensätzliche Lager einteilen, d.h. einerseits die Anhänger der Psychogenie von Geschlechtsperversionen, andererseits in diejenigen, welche in den Geschlechtsperversionen ein Ergebnis erblich-konstitutioneller und angeborener Einflüsse erblicken“ (ebd. S.
13).
Ein Beispiel für letztere Auffassung ist die Arbeit von Krafft-Ebing (1886/1984). Seiner Entartungstheorie zufolge sind Perversionen hauptsächlich durch eine fortschreitende Verschlechterung des Erbmaterials bedingt, was zu Erkrankungen von Gehirn und Zentralnervensystem führt. Diese verursachen ihrerseits geschlechtliche Verirrungen. Hirschfeld (1920)
vertritt eine ähnliche Position, indem er Perversionen als Störungen des Sexualchemismus
versteht.
Freud misst hingegen genetischen und endokrinologischen Störungen bei der Genese von
Perversionen keine Schlüsselbedeutung zu. Für ihn gehören Sexualabweichungen zur allgemeinen Anlage des Geschlechtstriebes und entstammen der infantilen, prägenitalen Sexualität
- der polymorphen Perversität - des Kindes. Sie zerfällt in verschiedene Partialtriebe (z.B. der
anale Partialtrieb), die zunächst unabhängig voneinander nach Befriedigung streben, im Laufe
der Entwicklung aber immer mehr in einer umfassenden sexuellen Organisation integriert
werden. Im Gegensatz zur normalen Sexualität kommt es bei der Perversion zu einer „Triebentmischung, [bei der] isolierte Partialtriebe ausschließlich und fast zwanghaft zur Erlangung
der Befriedigung dienen sollen“ (Kurth 1976, S. 513). Aus dieser Perspektive erscheinen die
34
Aus der Vielzahl der damaligen Arbeiten seien beispielhaft folgende genannt: Bloch (1909); Eulenburg
(1902); Freud (1905/1972); Hirschfeld (1917); Kaan (1844); Kraepelin (1899); von Krafft-Ebing
(1886/1984); Kronfeld (1923); von Schrenck-Notzing (1902); Stekel (1925). Steinmetz (1990) liefert dazu
eine ausführliche Darstellung.
57
Perversionen von Erwachsenen als die Persistenz oder das Wiederauftreten eines partiellen
Elementes der kindlichen Sexualität. Vereinfacht ausgedrückt könnte man auch formulieren:
Man wird nicht pervers, sondern man bleibt es. Auch Sadismus und Masochismus werden
von Freud als Perversionen begriffen. Ohne im Weiteren auf das komplexe Theoriegebäude
der Psychoanalyse detailliert einzugehen,35 sei die grundlegende Idee Freuds zur Entstehung
sexueller Perversionen mit Becker/Schorsch (1980, S. 159) nochmals kurz zusammengefasst:
„In dieser frühen Phase [der Freudschen Theorieentwicklung] wurden die perversen Triebäußerungen zu den Formen der kindlichen Sexualentwicklung in Beziehung gesetzt und die wesentlichen Grundelemente der psychoanalytischen Lehre gelegt, die auch in der späteren Weiterentwicklung relativ unverändert wiederkehren: vor allem die Lehre von den kindlichen
Partialtrieben, die in den sexuellen Perversionen wieder aufleben, ferner die Bedeutung des
Kastrationskomplexes, der die Dynamik der Regression auf die Partialtriebe in Gang setzt.
Der Hauptakzent liegt in dieser Phase auf den triebdynamischen Mechanismen der Entstehung
sexueller Perversionen.“ Damit wird deutlich, dass sich Freud und später seine Anhänger weit
von den Ansätzen Krafft-Ebings oder Hirschfelds entfernen.
Trotz aller Gegensätzlichkeit ist den Erklärungsmustern der frühen Sexualforschung wie auch
der Psychoanalyse gemein, dass sie eine ‚normale’ Sexualität definieren und für die Perversionen bzw. ihre Persistenz bestimmte Ursachenkomplexe ausmachen. Gelten die Ätiologien
der frühen Sexualwissenschaft schon lange als obsolet und überholt (vgl. Bräutigam 1962), so
wird sadomasochistisches Sexualverhalten auch heute noch mit der Psychoanalyse als Folge
von Störungen innerhalb frühkindlicher Entwicklungsphasen erklärt.36
1.1.3.3
Neuere Untersuchungen
Die umfangreichen empirischen Studien Kinseys (1948; 1953) haben deutlich gemacht, dass
bei der Untersuchung des Sexualverhaltens der Menschen nicht nur biologische und psychische Faktoren, sondern auch die soziale Rahmung des individuellen Sexualverhaltens eine
Rolle spielt. So lässt sich als einer der grundlegenden Paradigmenwechsel in der Erforschung
der menschlichen Sexualität die Einbeziehung sozialer Variablen sehen, Gindorf/Haeberle
(1986) sprechen in diesem Zusammenhang sogar von der ‘Sexualität als sozialem Tatbestand’. Vor dem Hintergrund der sozialpsychologischen und soziologischen Wende in der
35
Hier sei auf die bereits zitierte Arbeit von Walter (1985) verwiesen.
36
In diesem Zusammenhang seien folgende Arbeiten genannt: Blum (1978); Socarides (1974); Stolorow
(1975).
58
Sexualforschung nun aber anzunehmen, medizinische, psychologische und psychoanalytische
Ansätze seien in den Hintergrund gedrängt worden, wäre sicherlich falsch. Im Folgenden sollen deshalb die wichtigsten Studien, die in jüngerer Zeit zum Themenbereich ‘Perversionen’
(und hier insbesondere sadomasochistische Orientierungen) durchgeführt wurden, kurz rezensiert werden.
Medizinisch-psychiatrisch und psychoanalytische Untersuchungen
Medizinisch-psychiatrische Untersuchungen beschäftigen sich hauptsächlich mit der individuellen Genese sowie den pathologischen, klinischen und therapeutischen Aspekten des
‘Triebschicksals’. Dabei ist auffällig, dass - trotz sehr unterschiedlicher Fragestellungen - vor
allem immer psychoanalystische Erklärungsansätze herangezogen werden. Schorch (1985, S.
259) beispielsweise interpretiert sexuelle Perversionen unter klinischem und neurosenpschychologischem Aspekt als psychische Abwehrformen, die eine Stabilisierungsfunktion für das
psychische Gleichgewicht übernehmen und daher unter einem ‘reparativen’ Aspekt zu verstehen sind: „Im psychodynamischen Ausdrucksgehalt (der sadomasochistischen Perversion)
geht es um Wünsche nach Selbstaufgabe, Verschmelzung einerseits, um die Abwehr damit
verbundener Ängste vor Selbstverlust und Selbstauflösung andererseits. In der sadomasochistischen Aktion gelingt punktuell der Kompromiß (...).“ Auch Walter (1985) beschäftigt sich
im Rahmen seiner Arbeit mit Genese, Psychodynamik und der funktionalen Bedeutung sexueller Perversionen aus der Sicht der Psychoanalyse. Er sieht - unter Berücksichtigung neuerer
Forschungen auf dem Gebiet der Entwicklungspsychologie, der Narzissmus-Theorie sowie
der detaillierten Untersuchung der Objektbeziehungen - sexuelle Perversionen mit Problemen
und Störungen in Entwicklungsprozessen verbunden. Blum (1978) hingegen versteht sadomasochistische Perversionen nicht nur aufgrund frühkindlicher Erfahrungen, sondern als Wirkung schrecklicher Kriegserfahrungen und des ‘survivor syndroms’. Karol (1981) und Wilson
(1981) gehen unter psychoanalytischer Perspektive dem Zusammhang zwischen sadomasochistischen Phantasien und Asthmakrankheit nach.
Es ließe sich noch eine Vielzahl weiterer psychoanalytisch orientierter Arbeiten nennen, die
sich mit den Ursachen und therapeutischen Möglichkeiten der Perversionen respektive des
Sadomasochismus beschäftigen.37 Es geht aber weniger darum, die einzelnen Abhandlungen
vorzustellen, als vielmehr zu zeigen, dass die Forschung auf diesem Gebiet durch heterogene
37
Vgl. dazu z.B. Arlow (1967); Avery (1977); Schorsch/Becker (1977); Socarides (1974); Sigusch (1980);
Stolorow (1975)
59
Fragestellungen und divergierende methodische Vorgehensweisen gekennzeichnet ist. Sie
lassen eine Verallgemeinerbarkeit der Aussagen über den gewählten Forschungsrahmen hinaus kaum zu. So beschäftigen sich etwa laborexperimentell ausgerichtete Untersuchungen mit
den Auswirkungen von medialen Inszenierungen mit sadomasochistischen Inhalten auf das
Verhalten der Versuchspersonen: Zillman/Bryant (1981) lassen im Rahmen eines Versuchs
männliche Studenten von gleichgeschlechtlichen Personen provozieren und setzen sie anschließend Erotika verschiedener Art aus. Sie kommen dabei zu dem Ergebnis, dass bei der
Darstellung sadomasochistischer Erotika die Neigung, ‘Vergeltung zu üben’, zunimmt. Zu
ähnlichen Ergebnissen kommen Feshbach/Malamuth (1979). In ihrer Untersuchung gehen sie
der Frage nach, ob und inwiefern sich Sadomasochismus in erotisch-pornographischen Darstellungen auf die Reaktionen und Einstellungen zur Vergewaltigung und ihrer MedienInszenierungen auswirkt. Aufgrund ihrer Laborversuche kommen sie zu dem Schluss, dass
durch die Verbindung von Sex und Gewalt in sadomasochistischen Szenen beim Betrachter
Hemmungen, mit denen normalerweise auf Schmerzsignale reagiert wird, gelöst und - vor
allem bei Männern - Vergewaltigungswünsche geweckt werden.
Neben den oben genannten medizinischen und psychoanalytischen Fragestellungen wird nicht
zuletzt auch versucht, Sadomasochismus im Zusammenhang mit der Immunschwächekrankheit AIDS zu diskutieren. So beschäftigt sich Selg (1988) mit AIDS und den Schwierigkeiten,
das Sexualverhalten zu ändern. Im Hinblick auf diese Krankheit werden Ratschläge gegeben,
verletzungsträchtige sadomasochistische Praktiken zu unterlassen.38
Die synoptische Durchsicht der verschiedenen Studien und Experimente zu den (neurosen)psychologischen Aspekten von sadomasochistischem Sexualverhalten macht deutlich - und
diese Aussage lässt sich für dieses Forschungsfeld generalisieren -, dass Fragestellungen und
methodische Vorgehensweisen voneinander abweichen und man den Ergebnissen geringe
externe Validität zusprechen kann. Hinzu kommt, dass die Perspektive des Subjekts (Gefühle,
Erfahrungen, Beziehungs- und Deutungsmuster, Auswirkungen auf andere Lebensumstände
etc.) und die Konsequenzen, die mit einer solchen Spezialisierung auf bestimmte Sexualpraktiken verbunden sind, nicht berücksichtigt werden. Dies erscheint gerade aus ethnologischer
und soziologischer Perspektive ein entscheidender Mangel vor allem laborexperimenteller
Designs zu sein. Im Folgenden ist deshalb untersucht, inwieweit die Forderung nach Berücksichtigung der ‘Lebensweltperspektive’ in soziologischen und sozialpsychologischen Studien
eingelöst wurde.
38
Eckert u.a. (1993) beschäftigen sich ausführlich mit dem Thema AIDS und SM unter besonderer Berücksichtigung der Perspektive der Betroffenen resp. der Handhabung innerhalb der SM-Szene.
60
Soziologische Studien
Innerhalb der Soziologie hat man sich bisher auch eher unzureichend mit dem Phänomen des
Sadomasochismus beschäftigt. Die vorhandenen empirischen Untersuchungen konzentrieren
sich vor allem auf die USA. Hier ist insbesondere die Langzeitstudie von Weinberg u.a.
(1984) zu nennen. Sie untersuchten über einen Zeitraum von acht Jahren sadomasochistische
Gruppen (sowohl hetero- als auch homosexuelle Männer und Frauen) und entwickelten ein
soziologisches Modell des Sadomasochismus. Dabei haben sie versucht, die begrenzte
Reichweite traditioneller Konzepte zu überwinden und kritisieren die bisherige Vorgehensund Denkweise vor allem hinsichtlich der folgenden Aspekte:
a) Erfahrungen, die im Zusammenhang mit kriminellen Personen oder solchen, die klinische
Problemfälle darstellen, gemacht wurden, werden ohne Bedenken auf alle Sadomasochisten übertragen. D.h., es wird häufig vom Verhalten eines Vergewaltigers oder Lustmörders
beispielsweise auf das einer Person geschlossen, die sadomasochistische Sexualpraktiken
bevorzugt.
b) Der Begriff Sadomasochismus sollte nicht verwendet werden, um eine Person in ihrer Gesamtheit zu beschreiben, sondern nur um bestimmte Aktivitäten zu definieren. Nicht Personen, sondern Rollen sind sadomasochistisch.
c) Traditionelle Modelle betonen individuelle Motive und ignorieren die Existenz einer SMSubkultur, die ein Set von Bedeutungs- und Verhaltensmustern bereitstellt, das von jedem
‘benutzt’ werden kann, um seine eigene Sexualität zu definieren, zu variieren und zu erweitern.
Aufgrund ihrer Ergebnisse verstehen Weinberg u.a. Sadomasochismus als ein Spiel von Dominanz und Unterwerfung (z.B. Herr und Sklave) mit einem vorher festgelegten ‘Drehbuch’.
Zwischen den Interaktionspartnern besteht Konsens darüber, wer welche Rolle einnimmt und
welche Grenzen nicht überschritten werden dürfen. Ihren Ergebnissen zufolge sind SMPraktiken also eher ein ‘Bühnenspiel’ mit festen Regeln (die auf gegenseitigem Einvernehmen
beruhen) und keineswegs - wie viele Vorurteile vermuten lassen - eine pathologische
Zwangshandlung. Damit kommen sie zu einem ähnlichen Ergebnis wie Patrias (1978).39
Ähnlich ist auch der Tenor der in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführten Studie von
Spengler (1979). Angelehnt an die Subkulturforschung wurde hier versucht, die ‘fremde
39
Vgl. hierzu auch die Zusammenfassung von Weinberg (1994) zu zwei Jahrzehnten Forschung über Sadomasochismus aus der soziologischen Perspektive.
61
Welt’ der Sadomasochisten auszuleuchten. Allerdings beschreibt diese Studie nur sadomasochistisches Verhalten bei Männern. Ausgehend von der These, dass diejenigen Individuen, die
aufgrund ihrer sadomasochistischen Neigungen delinquent geworden sind und sich von daher
in gesetzlicher Verwahrung oder medizinisch-psychologischer Betreuung befinden, nur einen
geringen Teil der Sadomasochisten insgesamt darstellen, führte er eine „deskriptive Studie
mit explorativem Charakter über die soziale Situation und das sexuelle Verhalten von heterosexuellen, bisexuellen und homosexuellen Männern mit manifest sadomasochistischer Orientierung“ (Spengler 1979, S. 17) durch. Dabei stand der soziale Bezug des ‘devianten’ Verhaltens im Mittelpunkt des Interesses. Es ging darum, die sozialen Organisationsformen von
Sadomasochisten, die subkulturellen Gruppen, zu eruieren. Dargestellt wird beispielsweise,
wie sich Sadomasochisten mit ihren sexuellen Wünschen auseinandersetzen und sie
realisieren
(Partnersuche,
Partizipation
an
Subkulturen),
welche
Präferenzen
für
sadomasochistische Rollen und Praktiken gelten und welche sozialen und psychischen
Konsequenzen mit dieser sexuellen Orientierung verbunden sind. Nicht zuletzt wurde auch
die Frage der Selbstakzeptanz untersucht.
Neben den subkulturellen Vergesellschaftungsformen, individuellen Präferenzen und Distinktionen, spielt in der soziologischen SM-Forschung vor allem auch die Frage nach dem Stellenwert Frauen im Bereich dieser sexuellen Orientierung eine Rolle. Auch hiermit hat sich
Spengler beschäftigt, ebenso wie die Autoren Bornemann (1974), Gebhard (1969), Gosselin/Wilson (1980), Hunt (1974), Levitt (1994), Litmann/Swearingen (1972) und Weinberg
(1984). An dieser Stelle soll nicht weiter auf die Ergebnisse eingegangen werden, da sie bereits einleitend sowie im weiteren in Kap. III.1.9.1 und 1.9.2 dargestellt sind. Konstatieren
möchte ich jedoch, dass diese Studien darauf verweisen, dass der Anteil der Frauen im SMBereich wesentlich höher ist als bisher angenommen wurde.
Einen weiteren Untersuchungsschwerpunkt stellt neben dem Interesse von Frauen an sadomasochistischen Sexualpraktiken die Rollenverteilung dar. Welche Partizipationsformen lassen
sich nun für SM-interessierte Frauen nachzeichnen? Ist die These von der weiblichen Prädisposition für masochistische Rollen, wie sie z.B. von den Anhängern der Psychoanalyse
vertreten wird, aufrecht zu erhalten? Die Ergebnisse polarisieren, zumindestens hinsichtlich
realem Verhalten und Phantasien. Bei realem Verhalten scheint es keine signifikante Neigung
der Frauen in die eine oder andere Richtung zu geben (vgl. Breslow u.a. 1985; Janus u.a.
1977). Zwar wird eingeräumt, dass weibliche Sexualphantasien durch eine Vielzahl von Inhalten (Submission wie auch Dominanz) geprägt sind (vgl. Crepault 1977; Lohs 1983; Talbot
1980; Trukenmüller 1982), alles in allem aber - und hierauf verweisen die Textsammlungen
von weiblichen Sexualphantasien (vgl. Friday 1989; Lawrenz/Orzegowski 1988) - scheinen
masochistische Imaginationen zu überwiegen. Auch die zahlreichen Veröffentlichungen von
62
Frauen, z.B. im Jahrbuch der Erotik ‘Mein heimliches Auge’ (vgl. Gehrke/Schmitt 1988-90),
zeigen den Stellenwert der submissiven Vorstellungsinhalte.
Versucht man die verschiedenen Forschungsanstrengungen zum Phänomen des Sadomasochismus in einem kurzen Fazit zu bewerten, dann ist festzuhalten, dass unterschiedliche Fragestellungen und methodische Vorgehensweisen zu ambivalenten und widersprüchlichen Ergebnissen geführt haben.
Die individuelle Perspektive wurde vorrangig vor dem Hintergrund medizinischer Ursachen
und möglicher Therapieformen diskutiert. Therapie wird dabei von vielen Autoren in einer
Beseitigung dieser sexuellen Spezialisierung und nicht in einer Versöhnung mit den eigenen
sadomasochistischen Wünschen und Praktiken gesehen. Nur wenige versuchen, sich der ‘SMKultur’ alltagsnah und subjektbezogen zu nähern (vgl. auch Pertiller 1999, Pokroppa 1999).
1.2
Erste Berührungspunkte und Entdeckung der sadomasochistischen Neigung
Die ätiologische Frage ist, wenn überhaupt, mit dem vorliegenden empirischen Material nicht
zu lösen. Gleichwohl lassen sich aus der subjektiven Biographie-Rekonstruktion unterschiedliche Zugangswege beschreiben.
Erotische Literatur und Pornographie
Gefragt nach der Entdeckung ihrer sadomasochistischen Neigungen geben manche Befragte
an, dass die Pornographie dabei eine wichtige Rolle gespielt hat. Auffallend ist, dass beinahe
das ganze Spektrum pornographischer Produkte - also Bücher, Magazine und Filme (und
mittlerweile auch das Internet) - genannt wird, wobei die einzelnen Medien je nach Person
unterschiedlich wichtig sind.
In den Hardcore-Szenarien werden Wünsche und Bilder entdeckt, die schon lange in den inneren und zumeist vorbewussten Drehbüchern der Phantasien eine Rolle spielen. Die latenten
Phantasie-Inhalte bekommen durch die Pornographie erstmals visualisierte Konturen. Die
Affinität von Pornographie und Tagträumen - beide sind auf ihre Weise ein Spiel mit den
‚Rahmen’ (vgl. Goffman 1980), und in beiden kommen Bedürfnisse ans Licht, „die vom ‚öffentlichen Leben’ durch soziale Tabus ferngehalten werden“ (Lewin 1951/1982, S. 418) begünstigt solche Effekte. Gleichzeitig wird damit deutlich, dass es irrig wäre, Pornographienutzung und sadomasochistische Verhaltensformen in einen kausalen Zusammenhang zu stellen. Die Befragten, die die Entdeckung ihres Interesses am Sadomasochismus auf mediale
63
Ereignisse zurückführen, rekonstruieren vermutlich das erste lustvolle Zulassen oder Empfinden ihrer Neigungen:
Holger: Ich habe einmal einen Porno gesehen, der spielte im Militärmilieu. Da
hatten sie einen Mann in der Mangel, dem sie eine Zigarette auf dem Schwanz
ausdrückten und eine Frau, die sie mit einem Gewehrlauf festgehalten und gevögelt haben. Das hat mich angemacht. So richtig hat mich aber so ein japanisches
Bondage-Magazin angemacht. Die Japaner machen ziemlich heftige BondageSachen. Viel mit verrenkten Stellungen und Aufhängen an den Beinen. Die Frauen, die hängen halt nicht mehr oder weniger genüsslich in ihren Seilen, sondern
man merkt, dass sie Schmerz empfinden. Das hat mich dann nicht mehr losgelassen (38 Jahre, S, heterosexuell).
Marion: Mit fünfzehn habe ich die ‚Geschichte der O’ gelesen. Ich weiß bis heute
noch die Situation, in der ich das gelesen habe. Es war bei einer Busfahrt und ich
weiß noch, wie mir der Atem gestockt hat. Es war, als ob sich eine unbekannte
Welt öffnet, und ich habe gewusst, ‚Das ist, was du willst’. Noch nie vorher hat
mich etwas so erregt und fasziniert. Und in Büchern und Zeitschriften habe ich
das weiterverfolgt (36 Jahre, M, heterosexuell).
Bei den lesbischen Sadomasochistinnen haben wir diese Form des Medien-Erlebens nicht
nachzeichnen können. Zum einen spiegelt diese Lücke den Umstand wider, dass für lesbische
Sadomasochistinnen nur wenige pornographische Produkte hergestellt werden, zum anderen
ist dieses Ergebnis auch Ausdruck der feministischen Ablehnung des Umgangs mit Pornographie. Auch wenn es einige pornographische Produkte für lesbische Frauen gibt, ist das Verhältnis der Lesben zu den Hardcores noch immer ambivalent. Für einen nicht unbeträchtlichen
Teil der Frauen, die sich im feministischen Weltanschauungsspektrum bewegen, ist die Ablehnung der Pornographie - als Symbol männlicher Allmachtswünsche und unterdrückter
Frauen - immer noch Ehrensache.40
Die Lust auf das Besondere
War der Zweck der Ehe bis in unser Jahrhundert hinein die Fortpflanzung, so ist sie heute ein
Ort erotischer Experimente und Ausschweifung (vgl. Hahn 1988; Bruckner/Finkielkraut
1981). Diesen erotischen Ansprüchen steht das Problem der Gewöhnung entgegen, wenn die
Partnerschaft über einen längeren Zeitraum besteht. Hierauf verweisen jedenfalls einige Stu-
40
Zur Pornographie-Debatte unter Frauen sei hier exemplarisch auf den von Claudia Gehrke (1988) herausgegebenen Sammelband Frauen und Pornographie verwiesen.
64
dien, die zu dieser Frage durchgeführt wurden.41 Eine zurückgehende Koitusfrequenz, geringere Attraktivitätsbewertungen des Partners oder auch die Suche nach anderen Sexualbeziehungen können Indikatoren eines solchen Prozesses sein. Um dieser Entwicklung gegenzusteuern, suchen manche Paare ihre Sexualität durch neue und exotische Erfahrungsmuster zu
bereichern und so der Routinierung zu begegnen. Der Einsatz pornographischer Medien kann
einer dieser Wege sein. Nicht selten wird die Paarsexualität aber auch durch die Hinwendung
zu anderen Praktiken, im vorliegenden Falle dem Sadomasochismus, modifiziert und attraktiver gemacht. Die Lust auf außeralltäglichen Sex und die Flucht vor der ‚Hasennummer einmal im Monat’ kann so der Anstoß für die Hinwendung zum Sadomasochismus sein:
Tamara: Es verschafft Abwechslung, die mir unheimlich gut tut. Ich möchte es
auch nicht mehr missen. Wenn wir SM jetzt aus irgendeinem Grunde abhaken
würden, dann würde mir was fehlen, eben die ganzen Spezialitäten, die wir bis
jetzt entwickelt haben. Es ist eine Erweiterung der Erlebensmöglichkeit.
Paul: Ich denke auch, dass sich Gefühle und Praktiken abnutzen. Wenn ich mal so
zurückdenke, wie es mit 15 war, da hatte ich einen Orgasmus, wenn mich eine
Frau nur berührte. Das läuft heute nicht mehr. Wenn man lange mit einer Frau zusammen ist, dann kann die Sexualität z.B. auf der SM-Schiene wieder bereichert
werden, interessanter gestaltet werden (Tamara, 30 Jahre, M; Paul, 36 Jahre, S,
beide heterosexuell).
August: Für mich ist einfach alles, was über das Normale hinausgeht, etwas Besonderes. Das ist eine Variante, eine Facette, die einem viel mehr Möglichkeiten
bietet - ich bin mit meiner Frau jetzt 14 Jahre zusammen und kann eigentlich nur
sagen, dass das sicherlich dazu beigetragen hat, dass wir ein harmonisches Eheleben führen. (...) Es ist genauso eine Bereicherung, wie ich einmal zuhause koche
und einmal in das beste Lokal essen gehe. Ich fahre Auto, ich fahre Eisenbahn,
und ich gehe zu Fuß (51 Jahre, M, heterosexuell).
Carla: Irgendwann hatten wir eine schwere Krise und im Bett ist nichts mehr gelaufen. Ich habe dann für mich so festgestellt, ‚Bei den SM-Lesbierinnen, da gibt
es doch ganz andere Sachen’. Die fand ich spannend und prickelnd und wirklich
auch geil. Nicht dieser langweilige Blümchen-Sex. Und zaghaft, mit viel Nervösität haben wir dann allmählich mit SM angefangen. Und im Laufe der Zeit wurde
es immer schöner (37 Jahre, S/M, lesbisch).
41
Schon Kinsey u.a. (1948/1967) konnten zeigen, dass mit zunehmender Dauer einer (ehelichen) Partnerschaft
die sexuellen Aktivitäten zurückgehen. Dies liegt zum einen an dem biologischen und altersbedingten Rückgang sexueller Aktivitäten, zum anderen an Gewöhnungsprozessen in Partnerschaften. Pakesch (1977) zufolge nimmt die Zufriedenheit mit dem Partner im Laufe einer Ehe auch im sexuellen Bereich ab. Nach Giger
(1981) wünschen sich 44 % der befragten Ehemänner qualitative und quantitative Veränderungen in Bezug
auf die Sexualität mit dem Partner.
65
Franz: Noch während des Studiums bin ich mit meinem Freund zusammengezogen. Wir haben uns wirklich gemocht. War eine tolle Zeit. Wir sind dann beide irgendwann berufstätig geworden. Seitdem ging es nur noch bergab. Wir haben uns
zu sehr aneinander gewöhnt, die Spannung war weg. Ich hatte viele Beziehungen
nebenbei laufen, flüchtige Erlebnisse. Dann bin ich - wie es genau dazu kam weiß
ich nicht mehr - in die Lederszene reingekommen und habe SM kennengelernt.
Das habe ich dann mit meinem Freund auch mal gemacht, und da hat es wieder so
richtig gefunkt. Nicht, dass wir uns nochmal verliebt haben, aber es war ein wirklich wahrhaftiger geiler Sex, und das machen wir auch heute noch (35 Jahre, S/M,
schwul).
Der Markt kommt diesen Bedürfnissen nach Abwechslung und exotischer Sexualität, nach
neuen Varianten und Praktiken durch ein breites Angebot an Sexartikeln entgegen: Kleidung
aus Lack, Leder und Gummi, Werkzeuge aller Art, mediale Gebrauchsanleitungen und Animationen können in fast jedem Sexshop oder Lederstudio gekauft werden. Hinzu kommen die
beständigen Ermunterungen aus einigen Gazetten, doch einmal eine andere Erotik zu versuchen. Die sexuellen Varianten werden - ganz zugeschnitten auf die Bedürfnisse sexuell frustrierter Personen - als Ekstase- und Lustparadiese bejubelt. Solche Medienbotschaften können
den Sadomasochismus auch denjenigen näherbringen, die sich bis dato von solchen Praktiken
distanziert haben.
Partner- und Szenekontakte
Der Zugang zum Sadomasochismus kann sich auch über den Lebenspartner oder sonstige
persönliche Beziehungen vollziehen. Hier fällt das Erkennen der Neigungen gelegentlich mit
dem ersten Praktizieren zusammen. In Bezug auf dieses Herangehen lässt sich ein selbst- und
ein fremdinitiierter Weg nachzeichnen. Bei Ersterem liegt möglicherweise schon länger ein
latentes Interesse am Sadomasochismus vor. Durch gezieltes Suchen und Finden eines entsprechenden Partners (z.B. über Kontaktannoncen oder dem Besuch von Szenetreffen) können die persönlichen Voraussetzungen für das Ausleben der Interessen geschaffen werden.
Diese Personen nehmen also von sich selbst aus wahr, dass sie solche Wünsche haben und
beginnen selbsttätig mit dem Aufbau von dementsprechenden Erlebensräumen:
Rita: Als mir dann irgendwann alles klar war und ich gesagt habe ‚Das ist es
[SM], was ich will’, habe ich zunächst einmal Kontaktanzeigen aufgegeben. Ich
habe dann einige Männer kennen gelernt. Die meisten waren Schrott, aber einige
haben mir auch gefallen. Ich habe mich so richtig in die ganze Sache eingearbeitet, bin mit zu Partys gegangen usw. (...) Heute bin ich in der Szene bekannt und
werde sowieso eingeladen (36 Jahre, M, heterosexuell).
66
Anders verhält es sich beim fremdinitiierten Weg zum Sadomasochismus. Hier versuchen der
Lebenspartner oder andere Personen, bei den Betreffenden ein persönliches Interesse aufzubauen. So kann beispielsweise die Ehefrau vom bereits sadomasochistisch erfahrenen Mann
für diese sexuelle Spezialisierung gewonnen werden. Nicht selten geht diesem Ansinnen eine
lange Phase der Geheimhaltung voraus. Kommt es dann - motiviert durch den Wunsch, die
Partnerin oder den Partner in die Neigung einzubeziehen - zur Offenlegung, polarisieren die
Reaktionen. In manchen Fällen kann ein solcher Schritt die Beziehung stark belasten oder
sogar zur Trennung führen. Bei anderen ist die Reaktion hingegen nicht so ablehnend. Der
umworbene Novize willigt dem Partner zuliebe in ein Arrangement ein. Aus diesem anfangs
zögerlichen Mitmachen kann mitunter ein eigenes, stabiles Interesse werden:
Maria: Ich bin durch eine Partnerschaft dazu gekommen und habe damit ziemlich
spät angefangen. Ich bin schon siebenundfünfzig und habe etwa mit vierzig Jahren
damit angefangen. Ich bin verheiratet, wir leben aber getrennt. Nach der Trennung
habe ich mich nach einem Partner umgesehen. Da habe ich dann per Zufall jemanden kennen gelernt, der beides tut, der sowohl aktiv, als auch passiv ist. Mit dem
war ich sehr eng befreundet. Der hat mir das nahegebracht, und das hat mir gefallen. Inzwischen habe ich mich von ihm getrennt. Das ist jetzt auch schon zehn
Jahre her, und ich mache es weiter, weil es mir Freude macht und mich befriedigt
(57 Jahre, S, heterosexuell).
Margit: Ich hatte lange Jahre eine ganz intensive Beziehung zu einer Freundin.
Die hat mich so allmählich da eingeführt, sehr behutsam, aber auch intensiv. (...)
Ich habe mir früher nie Gedanken darüber gemacht, dass mir das Spaß machen
könnte (30 Jahre, S/M, lesbisch).
Erste Berührungen mit dem Sadomasochismus können auch durch Kontakte zu SzeneInsidern entstehen. Diese Personen übernehmen die Rolle des Mentors und führen den Novizen in die Szene ein.42 Sie vermitteln Kontakte, führen in Gruppenveranstaltungen ein und
machen mit den Regeln, Codes und spezifischen Bedeutungen der Szene vertraut.
Die Szene bietet ein Netzwerk, das zur Aufnahme vielfältiger persönlicher Beziehungen genutzt werden kann. Die Nähe zu ihr kann damit für die Beschäftigung mit sadomasochistischen Sexualpraktiken ausschlaggebend sein. In Anlehnung an die Theorie der differentiellen
Assoziation resp. Gelegenheiten könnte man auch von einer spezifischen Lernstruktur und
einer Struktur von Zugangschancen sprechen.43 Diese Feststellung muss allerdings hinsicht-
42
Diesen Zusammenhang beschreibt auch Patrias (1978, S. 152): "Once's socialization into sexual sadomasochism almost always begins as a result of some kind of contact with a participant. (...) Such contact
leads to the novice's first sexual sado-masochistic scene."
43
Vgl. hierzu: Sutherland/Cressey (1939/1955) und Cloward/Ohlin (1960).
67
lich der Einfachheit des Zugangs differenziert werden. In den letzten Jahren hat die SM-Szene
aus verschiedenen anderen Szenen Zulauf bekommen, so etwa aus links-alternativen oder aus
Yuppie-Kreisen. Diese Newcomer inszenieren ihren Sadomasochismus zu Beginn der neunziger Jahre als bislang nicht da gewesenes, halböffentliches Experimentierfeld und Happening
mit Flugblättern, Hobby-Zeitschriften, Plakaten, Manifesten, Partys, Selbsterfahrungsgruppen
und emanzipatorischen Ansprüchen. Mittlerweile hat sich eine neue - oder zumindest andere Szene etablieren können. Ihre Mitglieder machen, ganz wie die Schwulen in den sechziger
und siebziger Jahren, ihre Neigung öffentlich und treten für eine breitere Akzeptanz ein. So
konnte ich bei einem Besuch der Reeperbahn im August 2000 mehrere SM-Paare in entsprechendem Outfit und provokativer Gestik beobachten: Ein Mann (S) beispielsweise führte seine Freundin (M), die ein Lederhalsband trug, an der Leine ‘aus’. Es machte den beiden sichtlich Spaß, vom ‘Spießbürger’ beobachtet bzw. taxiert zu werden.
Ziel ist eine ähnlich ausdifferenzierte sadomasochistische Szene-Infrastruktur, wie sie bei den
Schwulen schon zu finden ist. Insbesondere die Hamburger Gruppe ‚Sündikat’, welche die
Szenezeitschrift ‚Schlagzeilen - SM aus der Szene für die Szene’ herausgibt, ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Inzwischen haben sich nach ihrem Vorbild in der Bundesrepublik
Deutschland eine Reihe weiterer Gruppen etabliert, die alle miteinander in Verbindung stehen. Waren es 1993 noch ca. 25 regionale und überregionale Zusammenschlüsse (vgl. Wetzstein u.a. 1993), so haben sich Ende der neunziger Jahre bereits ca. 78 regionale und 13 überregionale Gesprächsgruppen und Arbeitskreise etablieren können (vgl. Grimme 2000), und es
dürften mittlerweile schon wieder mehr geworden sein. Schon längst zur Selbstverständlichkeit sind schließlich die vor allem in der Hamburger Szene stattfindenden ‚Newcomer Partys’
geworden, ein ‚SM & Fetisch Café’ oder auch die ‚After Work Flag Party’. Dadurch ergeben
sich neue Zugangsmöglichkeiten. Die Szene ist durch die öffentlichen und öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten auch für den Novizen leicht ausfindig zu machen. Er findet in der Regel hier ohne Probleme Zugang.
Diese alltagskulturelle Verbreitung und Rahmung des Sadomasochismus geht den Personen,
die um die Exklusivität ihrer Neigung besorgt sind, zu weit. Sie befürchten, dass der spezifische Reiz von SM, nämlich die von vielen gesuchte Außeralltäglichkeit, verloren gehen könnte. In ihren Augen setzt durch den Aktivismus der Szene-Neulinge ein Normalisierungsprozess in Bezug auf den Sadomasochismus ein, welcher der schwarzen Sexualität das Flair des ‚Perversen’ und ‚Anrüchigen’ entzieht und ihr damit einen wesentlichen Faszinationsquell raubt. Sie wenden sich deshalb ebenso gegen das Herantreten an die Öffent-
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lichkeit, wie gegen das Bemühen um Toleranz und Akzeptanz. Dementsprechend schwierig
ist der Zugang zu ihnen.
Biographisierung und Selbstthematisierung
Wiederum andere Personen können ihre ersten Berührungen mit dem Sadomasochismus nicht
an einem spezifischen Ereignis festmachen. Für sie ist ihr spezialisiertes Sexualinteresse in
die gesamte lebensgeschichtliche Entwicklung eingebunden. Dies erklärt sicherlich auch die
zum Teil sehr langen Ausführungen dieser Befragten, wenn wir sie auf die Entdeckung ihrer
Neigung angesprochen haben.44
Generell ist für biographische Erzählungen vorab zu bemerken, dass sie ein Konstrukt darstellen: „Denn jedes Konzept kann nur beschreiben, was ihm nach seiner Logik in den Blick
kommt; es wählt aus der Totalität des Ereignisstroms ‚Lebenslauf’ aus und fügt die ausgewählten Momente nach seiner Logik zu einem Bild auch wieder zusammen, so daß der Lebenslauf stets nur als das erscheint, als was er beschrieben wird: Mit anderen Worten, eine
‚Rekonstruktion’ des Lebenslaufs in diesem Sinne erzählt den Lebenslauf, konstruiert ihn als
Biographie und identifiziert darin das Subjekt. Kein solches Konzept kann die Totalität des
Lebenslaufs insgesamt erfassen. Die paradigmatische Rekonstruktion ist nicht mehr nur Beschreibung, sondern Darstellung, im genauen Sinn des Wortes ein Bild des beschriebenen
Lebens und damit des Individuums“ (Leitner 1982, S. 16). Dies gilt auch für die Sadomasochisten. Sie richten den Blick aus ihrer SM-Rolle in die Vergangenheit und erzählen den
Werdegang vermutlich nicht so sehr als Ablauf des tatsächlich Erlebten; vielmehr bestimmen
„strukturierte Selbstbilder“ (Fischer 1978, S. 319) des Gegenwärtigen das Kompositionsprinzip. Im Einzelnen lassen sich drei verschiedene Muster biographischer Rekonstruktion beschreiben, die sich hinsichtlich Inhalt und Selektion unterscheiden.
Beim ersten Typ ist auffallend, dass sich Kristallisationspunkte mit fallübergreifenden inhaltlichen Ähnlichkeiten feststellen lassen. Bestimmten Lebensphasen (z.B. Kindheit, Pubertät),
Ereignissen oder besonderen Lebensumständen (z.B. das Aufwachsen im Bordell) wird eine
zentrale Bedeutung für die Herausbildung von sadomasochistischen Neigungen zugewiesen.
SM ist für diese Befragten kein ‚Tatbestand’, sondern Resultat einer Entwicklung:
44
Die Antworten können ohne die Gefahr von Sinnverzerrungen nicht gekürzt werden, so dass sie hier in voller
Länge wiedergegeben sind.
69
Rena: Der rote Faden dabei ist mein Vater. Er war eine sehr, sehr dominante Person, die mich wirklich unterdrückt hat. Konsequent und sehr brutal. Meine Erziehung basierte überwiegend auf Brachialgewalt. Das Ganze unterlag einer stringent
katholischen Erziehung. Wirklich nach dem Motto, ‚Du darfst keine anderen Götter haben außer mir’. Die Schizophrenie in dieser Erziehung war, dass er mir auf
der anderen Seite, wenn alles so lief, wie er es wollte, ein ungeheures Selbstvertrauen vermittelt hat. Die Tendenz war, ‚Lass’ dir von niemanden etwas gefallen.
Und wenn irgendjemand was von dir will, überlege gut, ob es o.k. ist oder nicht;
und wenn du der Meinung bist, dass du keinen Fehler gemacht hast, dann wehre
dich’. Ich kriegte ungeheuere Rückenstärkung dadurch. Nur wenn es dann gegen
Daddy ging, und das ging irgendwann als ich zehn, elf wurde, so los, wurden die
Praktiken, die er Erziehung nannte, sehr kriminell. Im Nachhinein betrachtet waren es klar sadistische Muster. Er hat mich fünf Stunden auf Erbsen liegen lassen,
mich in seinen Hobbykeller genommen und mir gedroht, die Hand abzuhacken,
weil ich auf dem Vorplatz der Kirche zehn Pfennig gefunden hatte und mir einen
Kaugummi kaufte. Ich denke, dass da eine Prägung stattgefunden hat. Ich habe
meinen Vater gehasst und ich habe ihn geliebt, beides gleichzeitig. (...) Ich bin
dann aber mit 16 von zuhause abgehauen. (...) Der letzte Schritt dazu, den ich
wirklich sehr bewusst erlebt habe, war dieses Einsteigen in das, was ich als meinen persönlichen Masochismus definiert habe. (...) Ich habe mir immer Männer
gesucht, die irgendwo in einer Richtung dem Bild meines Vaters entsprachen. (...)
Die ersten Versuche, meinen Vater für mich erneut in mein Leben zu holen, waren
wohl diese Beziehungen. Dann bin ich umgeschlagen in das krasse Gegenteil. Ich
habe mich eingelassen auf jemanden, der wirklich sehr sanft und sehr verständnisvoll war, und das war es auch nicht. Da habe ich mich zum ersten Mal gefragt,
‚Warum fragt er mich, ob wir bumsen sollen, warum macht er es nicht einfach?’
(40 Jahre, M, heterosexuell).
Joseph: Die Geschichte stellt sich so dar: Ich bin 1936 geboren und im Alter von
neun Jahren war der Krieg aus. Wir hatten eine Sechs-Zimmer-Wohnung. Mein
Vater war noch in Gefangenschaft. Ich war das einzige Kind und lebte mit meiner
Mutter in dieser Sechs-Zimmer-Wohnung. Also die Kindheit war ja abgebrochen
durch diese Kriegssituation. Und da war man etwas reifer als vielleicht so ein
Neunjähriger im Allgemeinen. Ich kam mir jedenfalls so vor. Und dann Einzelkind, das spielt ja auch eine Rolle. Immer eigenes Zimmer und alles. Dann, mit
einem Mal, hat mir meine Mutter eröffnet ‚Wir müssen hier ein bisschen enger
zusammenrücken, hier werden Damen zu uns kommen, und du wirst auch nicht
mehr dein eigenes Zimmer haben, du bist nach Möglichkeit bei mir in der Küche.’
(...) Und dann hat meine Mutter zu mir gesagt ‚Hier kommen also mehrere Soldaten, die sind befreundet mit den Damen, die wir hier haben’. Um es kurz zu machen: Die Wohnung wurde unten als Bordell angeschlagen. Und dann bin ich also
praktisch da hineingewachsen, das heißt also, die [Name], die war meine Liebste,
und die hat mich sehr viel in ihr Zimmer mitgenommen. Ich habe also den ganzen
Tag alles mitbekommen (...). Und die [Name], die hat mich eben, wenn man so
will, in der Zeit zur Brust genommen und hat mich eingeweiht in alles, was überhaupt einzuweihen war. Wenn Besuch da war, wurde ich unter das Bett geschoben. Dann habe ich also praktisch die ganze Sache miterlebt, wie sie sich da abgespielt hat. Ich habe also manchmal stundenlang weiter nichts zu Gesicht bekommen als Beine, Schuhe, Strümpfe und alles, was sich da noch abgespielt hat. Ich
70
bin der Meinung, dass das in der Zeitspanne wesentlich dazu beigetragen hat, dass
ich gewissermaßen so einen Fetisch entwickelt habe. Meine Mutter, die hat mir
zwar Vorträge gehalten, aber ich habe sie die ganze Zeit lang kaum zu Gesicht
bekommen. Und der war das wahrscheinlich auch egal, wo ich nun gerade war.
Schule und so weiter gab es in der Zeit noch nicht. Es war ein Zeitraum, von
1945-1948, drei Jahre, die mich doch sehr geprägt haben. Und [Name] war, was
das Äußere anbelangt, sehr sinnlich. Brünettes Haar, volle Lippen, also sehr, sehr
sinnlich. Und dementsprechend hat die mich so fasziniert. Alles, was sie geschenkt gekriegt hat, was damals so in Mode kam, die Nylons und Schuhe und
Schmuck und Kosmetika, das hat die natürlich alles an sich verarbeitet. Dementsprechend habe ich das auch mitbekommen. Dann hat sie mich mal geschminkt
und dies und das und ihre Scherze mit mir gemacht. Wenn sie wütend war, dann
hat sie mich mit Handschellen ans Bett angefesselt. Das hat sich bis zum Exzess
gesteigert bei der Frau. Sie selbst war feminin, sehr stark, diese Frau. Bloß war die
Sache eben bizarrer. Fangen wir mal vom Kopf an: Die Haare mussten wilder,
toupierter sein, meinetwegen wie heute Tina Turner. Das Gesicht: ganz dick aufgetragene Schminke. Es musste ja alles irgendwie wirken. Ob nun die Nägel, ob
dies und das, jedenfalls alles superbetont, bizarr würde man heute dazu sagen.
Gewisse dominante Frauen rennen ja in ihrem Studio auch so rum. (...) Wenn es
um das Essen ging, hat sie mich mitessen lassen. Oder sie hat mir das vorgekaut
und hat es mir gegeben. (...) Im Zimmer war ein Waschbecken, ich musste oft neben dem Waschbecken hocken, dann hat sie teils ins Waschbecken hineinuriniert
und teils zu mir ins Gesicht. Wenn ich mich also in irgendeiner Form abgewendet
hätte oder dagegen demonstriert hätte, hätte sie mich geschlagen. (...) In den Lebensjahren später ging das alles wie ein Film an mir vorbei. Und dann habe ich
eben gemerkt, dass das in irgendeiner Form zur Sucht wurde. Ich habe also praktisch immer danach getrachtet, wenn ich dann später auf der Straße war: Welche
Frau geht so und so angezogen? Wie läuft die? Was hat die für Schuhe? Aus welchem Blickwinkel kann ich mir das genauer ansehen? Also richtig voyeuristisch
und ein bisschen zum Fetischismus, das heißt ja dann beim Fetischismus, dass
man das auch berühren will in irgendeiner Form. (...) Schuhe, Strümpfe und alles,
was dieses Superweib, wenn ich das mal so ausdrücken darf, an sich hatte. Ob das
ein Parfum war, ob das die Schminke war, ob das war, wie die sich die Nägel lackiert hat und dies und das. Und wie sie sich gebärdet hat. Wenn sie schlecht gelaunt war, hat sie mich angespuckt. Wie ein Tier hat die mich behandelt. Ich habe
zu Anfang dagegen rebelliert, aber nachher nicht mehr. Nachher war ich daran
gewöhnt wie so ein Hund. Und das muss einen gewissen Knacks gegeben haben
(55 Jahre, M, heterosexuell).
Manfred: Gewisse Phantasien hatte ich schon in vorpubertären Zeiten. Und wie es
halt so im zarten Kindesalter ist, wo man Banden gründet und auch so härtere
Spiele macht, Mutproben zum Beispiel. Ich komme aus [Ort], das war da gang
und gäbe in dieser Bande. Das war auf jeden Fall noch vor der Konfirmation. (...)
Dann gab es Pfadfinderspiele, Geländespiele und so. Ja, und dann war halt lange
Schluss, aber die Phantasien blieben. Da kam dann auch das Sexuelle langsam
auf, dass ich das damit verbunden habe, phantasiemäßig. Ich dachte ‚Das ist doch
eigentlich ganz geil’. Aber es tat sich nichts, bis ich in eine andere Stadt kam. (...)
Und bin dann also noch als Tourist nach [Stadt] gekommen. Da habe ich vor dreieinhalb oder vor vier Jahren das erste Mal bewusst aus sexuellen Motiven Flagel-
71
lantismus praktiziert. Ja, so war mein Einstieg in die Szene. (...) Also dazu muss
ich sagen, was bei manchen der Fall ist, dass sie irgendwie von den Eltern geschlagen worden sind oder so, war bei mir nie der Fall. Ich bin absolut ohne
Schläge erzogen worden. Das ist nicht der Einstieg gewesen. So was wird ja oft
angenommen (25 Jahre, M, schwul).
Diese Zugangsmuster verweisen am ehesten auf bestimmte entwicklungspsychologische Ursachen resp. Störungen für die Entstehung sadomasochistischer Neigungen. So ließe sich beispielsweise ‚Renas’ Masochismus als Konsequenz der Auseinandersetzungen in Kindheit und
Jugend mit dem autoritären Vater begreifen. Im Fall von ‚Manfred’ zeigt sich hingegen das
Gegenteil. Er ist offenbar ohne ‚exzessive’ Zwangsmethoden erzogen worden. Auffallend an
den Interviewausschnitten ist des Weiteren, dass sich bei der Ausbildung von fetischistischen
Interessen eindeutiger bestimmte ‚Schlüsselszenen’ feststellen lassen. So zeigt das Beispiel
‚Joseph’, dass neben der SM-Neigung auch vermutlich eine ‚Prägung’ auf bestimmte Formen
des Schuhfetischismus stattgefunden hat. Explizit wird ein ähnlicher Zusammenhang von einem
weiteren
Interviewpartner
herausgestellt:
Das
sind
dann
so
Krankenhaus-
Schlüsselszenen. Das ist noch in den fünfziger Jahren gewesen. Ich glaube, da war ich sechs,
als ich wegen einer Blinddarmoperation ins Krankenhaus musste. Da wurde ich dem Arzt
noch auf den Schoß gesetzt. Der hatte eine Gummischürze und man kriegte noch eine Maske
auf den Kopf, wo Äther drauf geträufelt wurde. Ich würde behaupten, dass da was passiert ist,
dass da was kanalisiert wurde. Dann trat das wieder mit dreizehn Jahren auf. Seitdem ist das
bei mir so mit diesen fetischistischen, ich habe Tick gesagt, aber es sind Neigungen, Veranlagungen. Diese Befunde verweisen auf bestimmte Erklärungsansätze. So wird im Rahmen von
Lerntheorien „gewöhnlich irgendeine Form des klassischen Konditionierens in der soziosexuellen Lerngeschichte [angenommen]. So kann zum Beispiel ein Junge während seiner
ersten sexuellen Erfahrungen vor Bildern von Frauen, die in schwarzes Leder gekleidet sind,
masturbieren“ (vgl. Davison 1979, S. 287). Andere Autoren (z.B. Winnicott 1969) vermuten
eine bestimmte Urszene, in der eine Fixierung auf einen fetischistischen Gegenstand erfolgt,
etwa die Gummiunterlage des Kinderbettes oder bestimmte Erfahrungen im Krankenhaus.
Bei dem zweiten Typ liegen der biographischen Strukturierung explizite Theorien zugrunde,
die mehr oder weniger eigenwillig auf die individuelle Situation übertragen werden. In diesen
Fällen überlagert der Erklärungsversuch die tatsächlich erlebten Ereignisse. Die Kindheit wird
nicht anhand von biographischen Fakten, sondern beispielsweise als ‚Hospitalismusschock’
oder ‚repressive Erziehungsmethode’ rekonstruiert. Dementsprechend erfährt der Leser oder
der Forscher nur wenig über die Lebensgeschichte an sich und wird stattdessen mit einer theoretisch abstrahierten Fassung der Lebensgeschichte konfrontiert. Viele der von uns befragten
Personen erwähnten in Vorgesprächen oder Interviews, dass sie wissenschaftliche Theorien,
die sich mit der Genese des Sadomasochismus beschäftigen, auch selbstexplorativ anwenden,
72
um Aufschlüsse über ihr individuelles - und von der Normalität abweichendes - Triebschicksal zu gewinnen:
Nikolaus: Jahrzehntelang habe ich mich mit Verhaltensforschung beschäftigt und
mich dabei gefragt, ob dies nicht im Instinktverhalten nachzuweisen ist. Und die
Antwort musste zunächst einmal ganz klar zwischen Männern und Frauen trennen. SM wird von beiden völlig gegensätzlich empfunden. Der Mensch ist ein
Herdentier, das stärkste Männchen leitet das Rudel, die Weibchen gehören alle
ihm, denn der Nachwuchs muss stark und überlebensfähig sein. Die anderen
Männchen bestreiten dem Stärksten das Recht und kämpfen um die Weibchen. Sie
verlieren dabei immer wieder und ziehen die Verachtung der Weibchen auf sich.
Der Stärkste wird für die Weibchen dadurch immer bewunderungswürdiger, anbetungswürdiger. Ihm gegenüber - und nur ihm - entwickelt sich ein glückseliges
Abhängigkeitsgefühl der Geborgenheit, Hörigkeit (Zugehörigkeit). Wenn man so
will: Sklavinnen. Irgendwann hört der Stärkste auf, Stärkster zu sein, wird besiegt
und vertrieben und er erlebt nun die Verachtung der Weibchen wie viele andere
vor ihm. Die Verlierer müssen mit dieser Verachtung leben. Sie haben überhaupt
keinen Sex, obwohl sie von Natur aus reichlich dafür ausgestattet sind. Der Mann
muss zehn Frauen versorgen können, die Frau aber kommt nur jedes zehnte Mal
dran. Beide Geschlechter sind dafür programmiert. Die Frauen brauchen es nicht,
die Männer brauchen es oder die Frauen brauchen es nur jedes zehnte Mal. Die
Verlierer wären ja schon froh, wenn es eine Frau gäbe, die, wenn sie sie auch verachtet, immerhin akzeptieren würde. (...) Daraus ergibt sich: Junge Frauen neigen
leicht dazu, Sklavin eines einzigen Herrn zu sein. Ist der ‚weg vom Fenster’, hört
die Hörigkeit auf. Er wird verachtet und in die Wüste geschickt. (...). Der älter
werdende Mann wird daher je länger, je mehr masochistisch, wenn er seinem Instinkt folgt. Folgt er aber seiner Erziehung, so wird er weiter ‚des Weibes Haupt’
sein wollen, macht sich lächerlich und schafft Probleme. Somit ergibt sich: Junge
Frauen und alte Männer sind (möglicherweise) Masochisten, während junge Männer und ältere Frauen zur Herrschaft neigen, was sich bei masochistischen Partnern zum Sadismus ausweiten kann. Der Sadismus als solcher ist niemand auf den
Leib geschrieben. Er wird lediglich vom masochistischen Partner erbeten: Die
Verachtung des Verlierers. (...) In diesen Rahmen muss ich mein Leben stellen
(64 Jahre, M, heterosexuell).
Ferdinand: Vergewaltigung durch Hospitalismus im ersten Lebensjahr und autoritäre, repressive Erziehungsmethoden trugen das ihre dazu bei. Logisch, dass aufoktroyiertes Schuldbewusstsein durch Religion und Kirche nebst sublimierter Sexualität in der Kleinfamilie eine Rolle gespielt haben (43 Jahre, S/M, bisexuell).
Miriam: Als preußisch und protestantisch Erzogene und damit als kulturfrommes
Subjekt mit entsprechend ‚gutem Benehmen’ hatte ich S/M als Freiraum entdeckt,
der eine quasi kompensatorische Funktion zu den inzwischen internalisierten
Zwängen erfüllt (27 Jahre, S, lesbisch).
Diese Selbstanalysen sind Ausdruck einer umfassenden Diffusion von Modellen aus Psychoanalyse und Psychologie oder Sozialisationsforschung und Pädagogik in das Deutungswissen
73
von Sadomasochisten.45 Insbesondere in akademischen Kreisen kann die Darstellung der Lebensgeschichte auch als Ausdruck theoriegestützter Deutungsmuster begriffen werden (vgl.
Klausa 1981; Kohli 1981). Und diese Gruppe der höher gebildeten und besser verdienenden
Personen ist in der Szene - wie bereits beschrieben - vermutlicherweise überdurchschnittlich
repräsentiert. So ist es wahrscheinlich, dass Sadomasochisten häufig über eine Vorbildung
verfügen, die es ihnen ermöglicht, sich solche Theorien anzueignen. Nicht selten waren sie
ohnehin Bestandteil ihrer Ausbildung, etwa bei den Pädagogen, Psychologen oder Ärzten, die
wir befragt haben. Diese Personen prägen - gleichsam als Meinungsführer - die Diskussionen
in der Szene. Ihre Meinungen und Auffassungen über den Sadomasochismus erreichen auch
diejenigen, die von sich selbst aus vielleicht nicht mit diesem Wissen in Berührung gekommen wären. Wissenschaftliche Erklärungsmodelle diffundieren aber nicht nur über interpersonale Kommunikationswege. Diejenigen, die in Ausbildung oder Beruf nicht mit Theorien
und Paradigmen zur Genese des Sadomasochismus in Berührung gekommen sind, suchen aus
eigenem Antrieb nach Erklärungsansätzen. Die vielen Sachbücher und halbpornographischen
Werke, die in der Szene kursieren, können dabei ein erster Anknüpfungs- und Orientierungspunkt sein.
Der dritte Biographie-Typ lässt sich am ehesten als ‚Lebenslauf nach Maß’ charakterisieren,
den Berger (1973, S. 203/204) folgendermaßen beschreibt: „Nun gibt es allerdings Fälle, in
denen eine Uminterpretation der Vergangenheit absichtlich und voll bewusst vorgenommen
wird und ein integrierter Bestandteil eines umfassenderen Vorganges ist - wenn es sich nämlich um die Konversion zu einer anderen religiösen oder politischen Weltanschauung handelt,
das heißt zu einem neuen Sinnsystem, in dessen übergreifendes Ganzes sich die eigene Biographie einbeziehen lässt. Der Konvertit kann sein ganzes bisheriges Leben als von der Vorsehung gewollten Weg ansehen - bis hin zu dem Augenblick, da der Nebel vor seinen Augen
sich lichtete. (...) Etwas derartiges trifft erwiesenermaßen auf religiöse Konversionen und
mysthische Verwandlungserlebnisse zu. Aber auch säkularisierte Glaubenskomplexe der
Neuzeit bieten ihren Anhängern ähnliche Erlebnisse. (...) In der amerikanischen Gesellschaft
sowie einigen westeuropäischen Ländern verhilft auch die Psychoanalyse vielen Menschen zu
einer sinnvollen Neu- und Umordnung biographischer Fragmente. (...) Väter und Mütter,
Brüder und Schwestern, Ehefrauen und Kinder werden der Reihe nach in den brodelnden
Kessel der Theorie geworfen und kommen als metaphorische Wesen im psychoanalytischen
Pantheon wieder heraus.“ Auch bei einem Teil der von uns befragten Sadomasochisten könnte
45
Die Autobiographie von Marcus (1987) ist ein bekannt gewordenes Beispiel, in dem sie ausführlich beschreibt, wie sie bei der Suche nach den Ursachen ihres Masochismus auch wissenschaftliche Erklärungsmodelle herangezogen hat.
74
die lebensgeschichtliche Verankerung des neuen Sinnsystems möglicherweise Ausdruck der
Suche nach Stabilität für dieses abweichende Verhaltensmuster sein. Ähnlich wie etwa bei
neuen Mitgliedern in Sekten wird der bisherige Lebenslauf als Weg begriffen, der zwangsläufig in die neue Sinnwelt führt:
Franz-Joseph: Ich weiß nicht, was ich vorher gemacht habe. Erst seit ich SM gefunden habe, bin ich wirklich ein Mensch. Eigentlich müsste man allen Menschen
vermitteln, welches Glück im Sadomasochismus zu finden ist (36 Jahre, M, heterosexuell).
Die ‚Bekehrung’ öffnet den Blick für die eigentliche ‚Berufung’. Nicht selten wird das, was
vorher war, als Irrweg begriffen. Die Entdeckung der Neigung wird zu einem ‚Vom-Sauluszum Paulus-Erlebnis’. Bei diesen Personen gewinnt der Sadomasochismus mitunter den Charakter einer Weltanschauung:
Franz-Joseph: Sadomasochismus ist die bessere Sexualität. Das ist nicht nur das
stupide Herumgebumse wie die anderen das machen. SM ist etwas höheres, etwas
besseres. Das ist ein Weg (36 Jahre, M, heterosexuell).
Aus diesen ‚Überzeugungen’ kann ein elitärer Anspruch resultieren. Für diese Menschen steht
fest, dass sie den ‚Königsweg’ zu der richtigen und besten Sexualität gefunden haben. Zweifel
und negative Bewertungen in Bezug auf die neue Sinnwelt werden nicht geäußert. Die Stabilität solcher ‚Erleuchtungen’ wäre aber zu prüfen. Erste Eindrücke, die wir in diesem Kontext
gewonnen haben, weisen daraufhin, dass - um diese Metapher noch einmal aufzugreifen - aus
dem Paulus wieder sehr schnell ein Saulus werden kann.
Ungeachtet der inhaltlichen bzw. funktionalen Bedeutung der Lebensgeschichte ist festzuhalten: Die Antwort auf die Frage nach der Herkunft der SM-Neigung erbringt für den Forscher in einigen Fällen nur wenig Aufschlüsse über ätiologische Zusammenhänge. Ihm wird
nicht das Material für eine Erklärung angeboten, sondern der bereits erfolgte Versuch einer
Erklärung. Der Sadomasochist, der sich beispielsweise mit Freud und der Psychoanalyse beschäftigt hat, wird entsprechend bestimmte biographische Selektionen präsentieren, die in
diese Denktradition hineinpassen.
Gleichwohl sind diese Zusammenhänge interessant. Sadomasochismus ist nicht ohnmächtiges
Triebschicksal, sondern auch Focus von Selbstreflexion, Selbstthematisierung und Selbststilisierung. In Anlehnung an Hahn (1987) könnte man von einem Biographie-Generator sprechen. Wesentlicher Antrieb für die Suche nach dem roten Faden ist die Wahrnehmung der
Differenz von der Normalität der anderen und die eigene Abweichung. Die Frage ‚Warum bin
ich so?’ forciert so die Suche nach Sinn. Die biographischen Selektionen geben Aufschluss
75
darüber, wie Identitäten in den jeweiligen Spezialkulturen generiert und stabilisiert werden.
Sie sind Ausdruck eines beständigen Aushandelns der subjektiven Identität. Dementsprechend
haben die Personen, die ihren Zugang zu SM in der Lebensgeschichte verankert sehen, nicht
nur bestimmte ‚objektive’ Lebensumstände rekapituliert, sondern auch ihr Bestreben dokumentiert, ein beständiges Selbstbild zu entwickeln.
1.3
Persönliche Beziehungen
Personen, die sadomasochistische Neigungen bei sich entdeckt haben, wollen ihre diesbezüglichen Wünsche und Bedürfnisse zumeist auch realisieren. Die Möglichkeiten dafür sind unterschiedlich: „Dazu kann die unmittelbare Bereitstellung von Pornographie gehören, von
Lederbekleidung; damit kann der Raum gemeint sein, in dem die sadomasochistischen Interessen nicht verheimlicht werden müssen. Meist ist auch ein Bedürfnis gemeint, einfach mit
anderen Menschen reden zu können. Im Vordergrund steht die Realisierung in einer partnerschaftlichen sadomasochistischen Beziehung, die Suche nach einem ‚passenden’ Partner“
(Spengler 1979, S. 38). Das Ausleben der ‚Obsessionen’ in den Medien-Welten der Pornographie oder durch die Nutzung kommerzieller Angebote von Dominas und Prostituierten ist
für den Einzelnen - sofern die finanziellen Ressourcen ausreichen - ohne größere Probleme zu
verwirklichen. Zumeist werden aber feste Beziehungen angestrebt. Wie die Chancen bei der
Suche nach einem entsprechenden Partner verteilt sind und welche typischen Beziehungsmuster nachgezeichnet werden können, ist im Folgenden untersucht.
1.3.1
Chancen bei der Partnerwahl
Wie bereits dargestellt, sind Frauen in der SM-Szene gegenüber den Männern in der Minderzahl. Dementsprechend ist schon die statistische Wahrscheinlichkeit, dass Männer eine Partnerin finden, geringer als im umgekehrten Fall. Bei einigen gestaltet sich die SM-Neigung als
permanenter und erfolgloser Versuch, eine Partnerin zu finden. Der Weg über die Kontaktanzeige führt häufig zu einer professionellen Domina und überhaupt bietet das Dominastudio
mitunter die einzige Chance, die SM-Interessen auszuleben:
Alfred: Partnerinnen finde ich auf privater Ebene überhaupt keine, trotz etlicher
Versuche. Zwei Partnerinnen haben am Anfang, als wir uns neu kennen lernten
und die Begeisterung noch groß war, mitgespielt. Ich glaube, dass sie auch selber
Spaß daran hatten. Mit der ersten Partnerin ging das dann aber schnell auseinander. Und mit meiner jetzigen Partnerin, mit der ich schon acht Jahre zusammen
bin, war es so, dass ich mich am Anfang nicht getraut habe, was zu sagen. Nach
etwa einem Jahr bin ich damit rausgerückt, und dann hat sie auch anfangs mitge76
macht. (...) Das wurde dann immer weniger und seit drei Jahren haben wir nichts
mehr praktiziert. Wenn ich jetzt SM praktizieren will, bin ich auf professionelle
Angebote angewiesen (37 Jahre, M, heterosexuell).
Willi: Dominante Frauen ohne finanzielle Interessen sind über Kontaktanzeigen
kaum zu finden. Ich schätze, dass die Mehrzahl der Frauen auf Wunsch ihres Partners diese Rolle ergriffen hat und darum nicht auf der Suche nach einem Partner
ist. Auf eigene Inserate habe ich eine einzige Antwort erhalten, doch hat sich die
betreffende Frau auch nicht zu einem näheren Kennenlernen entschließen können.
Bezahlte Dominas gibt es viele und einzelne davon (die teuersten) sind auch sehr
fair und mit Talent gesegnet. Der alleinstehende Masochist ohne Geld hat wohl
den schwierigsten Stand in der ganzen Szene (32 Jahre, M, heterosexuell).
In den Domina-Studios findet sich aber nur die professionelle Partnerin, und in ‚normalen’
Kneipen ist die Suche nach einem ‚Pendant aus Leidenschaft’ durch Konventionen beschnitten:
Ralf: Ich kann ja schlecht eine Frau in einem Lokal ansprechen, ob sie vielleicht
sadomasochistisch veranlagt ist. Ich habe das einmal gemacht und ich hätte geschworen, es wäre eine dominante Frau. Sie hatte Stiefel und ein Lederkostüm an.
Normalerweise mache ich das nicht, aber ich war es einfach leid, immer Partnerinnen zu finden, die nachher doch nicht passen. (...) Sie war aber keine, und
durch meine direkte Frage habe ich mir eine gepfefferte Ohrfeige eingefangen.
Außerdem war es sehr peinlich (53 Jahre, M., heterosexuell).
Weil Sadomasochismus mit negativen Attributen wie z.B. pervers oder ekelhaft assoziiert
wird, löst die Frage danach empörte Reaktionen aus. Nur in den Rahmen, die von vornherein
als SM-Räume definiert sind, wird ein gezieltes Werbungsverhalten nicht als Affront aufgefasst. Hier ist das Stigma etwas Normales und Selbstverständliches, denn die „sympathisierenden anderen“ wissen „aus eigener Erfahrung (...), was es bedeutet, dieses bestimmte Stigma zu haben“ (Goffman 1967, S. 31). Sie betrachten ihresgleichen nicht als „diskreditierte
Person“ (ebd., S. 26). Sadomasochisten begegnen dieser Unvoreingenommenheit - welche die
Kontaktanbahnung erst ermöglicht - meist nur in ihren Sonderwelten. Gerade bei Partys und
ähnlichen Veranstaltungen ist dem alleinstehenden Mann der Zutritt versagt, damit das Zahlenverhältnis von Männern und Frauen nicht noch ungleichgewichtiger wird. Für heterosexuelle Frauen mit SM-Neigungen ist die Situation anders:
Theresa: Dann fing die Suche wieder an und ich habe selbst eine Anzeige aufgegeben. Ich hatte ein überwältigendes Resultat, und zwar 78 Briefe. Es war toll. Ich
war auch ganz überrascht, wie poetisch Männer sein können. Es waren wirklich
nur drei Briefe dabei, die ich wirklich abstoßend fand. Ich habe die Leute angerufen und mich mit einigen getroffen, wobei mir einer sehr gut gefallen hatte (22
Jahre, M, heterosexuell).
77
Klara: Als Frau kriegst du Hunderte von Zuschriften. Dadurch, dass es in die
Richtung auch sehr viele Spielarten gibt, musst du halt auch gucken, wen du anrufst, mit wem du dich triffst und wie das alles abläuft. Einen Kontakt herzustellen, ist überhaupt kein Problem, als Frau fressen einem die Männer in der SMSzene aus der Hand (34 Jahre, M, heterosexuell).
Die Knappheitsbedingungen auf dem Beziehungsmarkt für Männer schaffen ein ‚Überangebot’ für Frauen. Ihre Chancen, einen geeigneten Gefährten zu finden, sind ungleich günstiger als umgekehrt. In den Spezialkulturen der SM-Schwulen haben wir dagegen keine Probleme und Schwierigkeiten mit der Partnersuche nachzeichnen können:
Albert: Durch die Subkultur hat ein Schwuler sowieso mehr Freunde, sozusagen
mehr Eisen im Feuer. Wenn da eine Partnerschaft auseinander geht, findet man
normalerweise wieder schnell einen Partner. Das ist kein Problem. Auch bei SM
nicht (...). (27 Jahre, M, schwul).
Im Gegenteil, der Tenor der von uns erfassten Äußerungen macht deutlich, dass es auf dem
Beziehungsmarkt der SM-Schwulen offensichtlich keine Knappheitsphänomene gibt. Etwas
anders verhält es sich bei den SM-Lesben. Sie bilden unter personeller Perspektive eine kleine
Szene, die zudem nur in größeren Städten zu finden ist. Demnach ist die Partnerinnensuche
durch wenige Beziehungsalternativen und geographische Bedingungen erschwert.
Viktoria: Es ist so, dass unser Kreis sehr klein ist. (...) Ich habe immer sehr lange
suchen müssen, ehe ich eine Partnerin gefunden habe. Bis vor acht Jahren habe
ich in [Großstadt] gewohnt, da habe ich schon mal eher was gefunden. Seit ich
hier in der Provinz bin, ist es sehr schwer. Wenn es irgend ging, habe ich meinen
Urlaub in der Großstadt gemacht. Da war ich wenigstens ein bisschen aus dem
Ghetto heraus (28 Jahre, S/M, lesbisch).
Damit die Suche nach Partnerinnen nicht aussichtslos ist, haben die SM-Lesben eine eigene
Form der Partnerinnenvermittlung etabliert (vgl. Wetzstein u.a. 1993). Welche Struktur die
hetero- und homosexuellen Partnerschaften haben, wenn sie sich erst einmal konstituieren
konnten, ist Gegenstand des nächsten Kapitels.
1.3.2
Monogame Beziehungen
Feste Partnerschaften oder gar die Ehe sind Begriffe, die in den landläufigen Vorstellungen
von sexuellen Abweichungen keinen Platz haben. Ausschweifungen und ein ‚zügelloses Geschlechtsleben’ sind eher Attribute, die den „sexuellen Außenseitern“ (Simon/Gagnon 1970)
zugeschrieben werden. Auch in der Wissenschaft sind solche Bedenken nicht selten, so etwa,
wenn Kaunitz (1977, S. 80) die Ehe eines sadomasochistischen Paares als „living hell for
78
both“ bezeichnet. Damit wird unterschwellig die Vorstellung artikuliert, SM sei mit Lebensformen wie einer festen Partnerbeziehung nicht in Einklang zu bringen. Wie beurteilen Akteure ihre Beziehung? Dazu zunächst die Lesben:
Vanna: Ja, also ich selber fahre mehr auf Monogamie ab. Ich habe das mal versucht, so mit Nicht-Monogamie, so aus einem feministischen Ideal heraus, also
nach dem Motto ‚Monogamie ist die Stütze des Patriarchats’. Aber ich bin einfach
zu eifersüchtig und zu besitzergreifend. Das kriege ich nicht hin (22 Jahre, S/M,
lesbisch).
Brigitte: Ich habe mir schon vor dieser Beziehung Gedanken darüber gemacht, ob
eine Zweierbeziehung Bedingung ist. Und ich dachte: ‚Was anderes, das kannst
du dir nicht vorstellen.’ Für mich muss ich sagen, dass ich damit gut klarkomme.
Es ist das, was ich im Grunde genommen will: in einer monogamen Zweierbeziehung leben (27 Jahre, S/M, lesbisch).
Einige lesbische Frauen können sich Sexualität und Sadomasochismus nur in dyadischen Beziehungen vorstellen. Die Vorstellung einiger Feministinnen, wonach Monogamie als patriarchale Ideologie abzulehnen sei, ist in der Szene umstritten. Bei Schwulen ist dieses monogame Muster hingegen seltener (vgl. Dannecker/Reiche 1974). Wie noch gezeigt wird, gibt es
bei ihnen promiskuitive Angebote, die gleichsam selbstverständlich in den Alltag der Sub
eingebunden sind. So sind etwa die Verhaltensformen in den Darkrooms ein Indikator dafür,
dass Monogamie nicht unbedingt ein zentraler Wert in der schwulen Subkultur ist. Gleichwohl gibt es auch in dieser Szene feste Paarbeziehungen, wie die zahlreichen Heiratsanträge
von schwulen Paaren in der jüngsten Vergangenheit belegen. Möglicherweise ist bei diesen
Schwulen die sexuelle Treue von zentraler Bedeutung. Auch bei heterosexuellen Paaren kann
die ausschließliche Beziehung zu einem Partner typisch sein:
Marlene: Ich denke, Grenzen verändern sich. Aber ein paar Dinge sind für uns
fest. Die haben aber auch nicht unbedingt was mit SM zu tun. Zum Beispiel, dass
man nichts mit anderen Partnern macht, sondern nur in der Beziehung. Vielleicht
könnte ich es mir noch innerhalb unserer Gruppe vorstellen, also auf ganz niedrigem Niveau, z.B. so ein Kostümball, aber ohne anfassen. Also bei Sachen, die mit
Treue zu tun haben, da hört der Spaß einfach auf. Das ist eine grundsätzliche Beziehungsfrage, die eine Grenze setzt (27 Jahre, S, heterosexuell).
Alice: Ich erlebe SM ausschließlich in der Zweierbeziehung. Wir sind seit 30 Jahren verheiratet und haben einen zwanzigjährigen gemeinsamen SM-Weg hinter
uns. Gruppenangebote und Partys mit Gruppensex spielen für mich keine Rolle.
Toni: Ich erlebe SM nur in der Beziehung mit meiner Gattin. Wir sind bald 30
Jahre lang verheiratet und freuen uns immer noch am SM-Spiel, das wir durch die
Jahre hindurch aufgebaut und verfeinert haben (Alice, 51 Jahre, S; Toni, 52 Jahre,
M, beide heterosexuell).
79
Für einen Teil der heterosexuellen Sadomasochisten ist die Suche nach anderen Partnern tabu.
Sie leben ihre Spezialisierung ausschließlich in der Zweierbeziehung aus. Nicht selten handelt
es sich dabei um (Ehe)Paare, die ihre Neigung nur in den vier Wänden des eigenen Schlafzimmers zelebrieren. Dem Außenstehenden wird die Fassade eines bürgerlichen Lebens geboten, das keinen Anlass zu Vermutungen in Bezug auf bestimmte Sexualpraktiken gibt. Sadomasochismus ist bei diesen Personen Teil des familiären Privatismus, ohne dass es Berührungen mit der ‚Szene’ gibt. Solche ‚secret lives’ können mitunter sehr stabil und in eine lebenslange Partnerschaft eingebettet sein. Es gibt also Frauen, die genau wie Männer, ihren Sadismus oder Masochismus im Verborgenen ausleben. Sie sind bislang aber kaum untersucht und
dementsprechend in den einzelnen Studien nicht berücksichtigt worden. Gerade vor dem Hintergrund der möglicherweise privateren weiblichen Sexualität sind die Verhaltensformen und
der erotische Habitus dieser Frauen noch ein ‚weißer Fleck’ auf der sexualwissenschaftlichen
Karte. Ihre Erkundung ist aber gleichwohl eine wichtige Aufgabe. Sie könnte mit dazu beitragen, ein genaueres Bild von der weiblichen Sexualität und damit auch des Sadomasochismus
bei Frauen zu zeichnen.
Gleichsam eine Subform der Monogamie sind Beziehungen, in denen nur einer der Partner
eine Vorliebe für solche Neigungen entwickelt und sie nicht mit dem Partner ausleben kann.
Als Ersatz wird deshalb der sexuelle Kontakt zu einer dritten Person hergestellt. Auffallenderweise haben wir diese spezifische triadische Struktur nur bei heterosexuellen Männern feststellen können:
Felix: Ich lebe meinen Masochismus mit einer anderen Frau aus. Ich passe nur
auf, dass meine Ehefrau nicht darunter leidet. Der habe ich das andeutungsweise
gesagt, dass ich diese Veranlagung habe und auch geschildert, dass ich zeitweilig
mit Dominas befreundet war. Da ich eine sehr intelligente und sehr kluge Frau
habe, die wesentlich mehr denkt und weiß, als sie kundtut, gehe ich davon aus,
dass sie die Zusammenhänge weiß und zufrieden ist, dass wir miteinander eine
sehr, sehr glückliche Ehe haben. Denn sie hat mir ganz klar signalisiert, das ginge
bei ihr unter gar keinen Umständen. Damit war das Thema passé (55 Jahre, M, heterosexuell).
Die außerpartnerschaftliche SM-Beziehung und die SM-Neigung generell werden vor der
Lebenspartnerin verheimlicht. Der Sadomasochismus wird gezielt aus der Dauerbeziehung
fern gehalten und der Versuch einer Integration wird nicht unternommen. Die Fassade des
‚Normalen’ wird auch gegenüber der Lebenspartnerin aufrechterhalten. Nur die sadomasochistische Geliebte hat als Komplizin Zutritt hinter die Kulissen. Deswegen ist es auch nicht
verwunderlich, dass einige Dominas ihre Kunden in mancherlei Hinsicht besser kennen als
die Ehefrau.
80
Wie schon angedeutet, treffen manche Paare auch ein Übereinkommen, wonach sich einer der
Partner dazu bereit erklärt, die sadomasochistischen Vorstellungen des anderen mitzuspielen.46 Dies aber weniger aufgrund eigener Bedürfnisse, sondern aus dem Gefühl heraus, dem
Partner einen Gefallen tun zu müssen oder auch aus der Angst, ihn zu verlieren. Die Erlebnisqualität, die durch solche Zugeständnisse hergestellt wird, ist für beide Seiten vermutlich unbefriedigend und kann Konflikte schaffen. Ähnliche Spannungsfelder tauchen zwar auch im
Bereich der ‚normalen’ Beziehungen auf, dort gibt es in der Regel aber keine Unverträglichkeiten hinsichtlich der sexuellen Praktiken. Zudem ist der Partnermarkt zahlenmäßig nicht so
drastisch limitiert.
1.3.3
Promiskuitive Beziehungen
Seit den fünfziger Jahren hat die Bereitschaft zur Variation der sexuellen Praktiken und der
Beziehung zu anderen Partnern zugenommen. Jedenfalls deuten die Ergebnisse der wichtigsten empirischen Studien darauf hin. In ihrer Untersuchung zum Sexualverhalten des Mannes
gehen Kinsey u.a. (1948/1967) davon aus, dass etwa die Hälfte der Männer außereheliche
Beziehungen unterhalten. Für Frauen stellen Kinsey u.a. (1953/1967) fest, dass etwa 17% im
Alter von 29-40 Jahren außereheliche Partnerschaften eingehen. L.v. Friedeburg (1953) zufolge unterhalten 23% der Männer und 10% der Frauen sexuelle Beziehungen neben der Ehe.
Wottawa (1979) zufolge haben 28% der Ehefrauen schon einmal außerehelichen Verkehr gehabt, bei den Männern betrug der Anteil 53%. Hite (1988) konstatiert, dass 70% der Frauen,
die mehr als fünf Jahre und 72% der Männer, die mehr als zwei Jahre verheiratet sind, schon
außerpartnerschaftliche Beziehungen hatten. Schnabl (1988, S. 522) schreibt aufgrund seiner
empirischen Daten: „In mindestens jeder zweiten Ehe hatte mindestens ein Partner mindestens
einmal außereheliche Beziehungen. Damit sollen gemeint sein: erotische und/oder sexuelle
Beziehungen zwischen Partnern, von denen mindestens einer mit einer anderen Person verheiratet ist oder in eheähnlicher Gemeinschaft lebt.“ Promiskuitive Sexualkontakte scheinen
46
Weil insbesondere Männer wissen, dass sie alleine auf der Suche nach neuen Partnerinnen möglicherweise
chancenlos sind, nehmen sie mit ihrer Gefährtin vorlieb. Man könnte hier - ganz im Sinne Eckert u.a. (1989)
- von Konsensfiktionen sprechen, die auch in ‚normalen’ Ehen zur Herstellung eines bestimmten Ausmaßes
an Konsens benötigt werden. Diese Konstruktionen sind für die Kontinuität der Partnerschaft wichtig: "Die
Beziehungen leben von jenem Vertrauen in vorhandenen Konsens und wären ohne es nicht denkbar. Tatsächlich überzieht die Konsensunterstellung nicht nur den faktisch gegebenen, sondern auch den je möglichen.
Aber gerade dieser Kredit - der sich als solcher nicht durchschaut - hält die Beziehungen aufrecht." (ebd., S.
53). Unter Knappheitsbedingungen ist aber sogar die durchschaute Fiktionalität des Konsens noch tragfähig,
denn nicht wenigen der Befragten ist die Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Anspruch im Verlaufe der
Beziehung durchaus bewusst geworden. Insofern ist das Modell der Konsensfiktionen nur bedingt anwendbar.
81
mittlerweile also ein verbreitetes Phänomen zu sein.47 Auch ein Teil der hetero- und homosexuellen Sadomasochisten mit und ohne festen Partner unterhält Intimbeziehungen zu verschiedenen Personen. Für die partnerlosen Personen ist dies oft der einzige Weg, mehr oder
weniger regelmäßig sexuelle Kontakte zu haben. Bei denjenigen, die in einer festen Beziehung leben, impliziert die Entscheidung für einen Lebenspartner aber nicht - wie im Falle
monogamer Beziehungen - die Festlegung auf einen Sexualpartner. Beide sind sich darüber
einig, dass der Kontakt zu anderen Sexualpartnern wichtig und legitim ist. Oft spielen dabei
Tauscharrangements im weitesten Sinn eine Rolle, so dass auch die auf dem Beziehungsmarkt
weniger erfolgreichen Männer Partnerinnen finden können. Die besonderen Bedingungen auf
den ‚Liebesmärkten’ in der sadomasochistischen Spezialkultur schaffen so Gelegenheiten für
das Einüben promiskuitiver Verhaltensformen, ähnlich, wie sie bei den Schwulen zu finden
sind:
Lisa: Mein Traum war immer, mit zwei Männern zu schlafen, und ich habe das
dann irgendwann vor ein paar Jahren erlebt. Da war es ein Fiasko. Heute ist es
anders. Heute treffen mein Freund und ich uns regelmäßig mit noch einem Mann.
Und wir machen uns einen richtig schönen sexuellen Abend mit SM. Und ich
kriege wirklich alles als Frau. Ich genieße das (38 Jahre, M, heterosexuell).
Albert: Mein Partner hat noch andere Freunde, mit denen ist er auch schon in Urlaub gefahren und nicht mit mir. Was nicht weiter schlimm ist, ich bin dann mit
einem anderen schwulen Freund in Urlaub gefahren. Wenn ich mir das recht überlege, ist das schon erstaunlich, dass da keine Eifersucht aufkommt. Aber wir kennen uns alle kreuz und quer. Wir schätzen uns menschlich und finden uns sympathisch. Deswegen ist das vielleicht so. Vielleicht wäre es was anderes, wenn ich
seine Freunde unsympathisch fände (25 Jahre, M, schwul).
Lina: Heute habe ich keine feste Zweierkiste mehr, weil ich nicht monogam bin
und so etwas nicht vertrage. Ich habe viele Liebesbeziehungen nebeneinander,
und habe immer wieder die Tendenz, ‚Symbiose und Beziehung, bis dass der Tod
uns scheidet’. Und dann irgendwann, manchmal mit großen Schmerzen, manchmal ohne Schmerzen, ist die Kiste aus (33 Jahre, S/M, lesbisch).
Sexuelle Kontakte zu anderen werden deshalb bei diesen Sadomasochisten keineswegs zu
einem Vabanque-Spiel, in dem die Beziehung zum Lebenspartner jedes mal riskiert wird. Im
Gegenteil, das promiskuitive Sexualverhalten kann die Lebensgemeinschaft stabilisieren,
denn die ‚amourösen Abenteuer’ werden als aus der Beziehung ausgelagerte Formen der indi-
47
Die dargestellten Forschungsergebnisse bestärken zwar die Vermutung, wonach promiskuitives Sexualverhalten zugenommen hat, ihre Generalisierbarkeit ist aber eingeschränkt: Erstens gibt es keine zuverlässigen und kontinuierlich erhobenen Zahlen und zweitens sind die Stichproben der einzelnen Studien zumeist nicht repräsentativ.
82
viduellen Bedürfnisbefriedigung und keineswegs als Attacke auf die Partnerschaft interpretiert. Dementsprechend können die Optionen für die Befriedigung sexueller Wünsche in promiskuitiven Partnerschaften gewählt werden. Sie werden in verschiedenen personellen Konstellationen (z.B. mit dem eigenen Partner und anderen gleichzeitig oder voneinander unabhängig) realisiert und zumeist nicht verheimlicht.48 Die sexuellen Vorstellungen werden in
diesen Paarbeziehungen nach dem Motto ‚Erlaubt ist, was gefällt’ verwirklicht. Promiskuität
wird aber nicht - wie in den sechziger Jahren - als das Ende repressiver Strukturen (vgl.
Schrader-Klebert 1969) oder als das Ideal einer erotischen Partnerschaftskultur ideologisiert
und stilisiert. Der Umgang mit der sexuellen Treue ist pragmatisch, ganz im Sinne einer Abwägung von persönlichen Vor- und Nachteilen.49 Promiskuität ist hier die beidseitige Einlösung eines Individualitätsanspruches. Das Paar begreift sich nicht als ‚Wir’, sondern als ‚Ich’
und ‚Ich’. Es gilt nicht mehr - wie im romantischen Liebesideal50 - eine paarzentrierte eigene
Welt zu erschaffen. Vielmehr ist die Paarbeziehung in einen Partialisierungsprozess eingebunden, der die Rolle der Eheleute in immer mehr Teilrollen zerlegt, die wiederum mit der
Partizipation an je spezifischen Sinnwelten verbunden sind. Sicherlich gibt es gemeinsame
Interessen und emotionale Bindungen, es herrscht aber kein Gemeinsamkeitszwang.
Die in diesen Beispielen offenkundig werdende Individualisierung von Interessen und Lebenslagen ist ein charakteristisches Merkmal der Moderne.51 Sie dringt auch in Räume wie
die der Sexualität vor. Waren vormals traditionelle Moral, Fortpflanzungspflicht respektive gefahr oder auch die Paar-Verpflichtung zentrale Regulative für das sexuelle Verhalten, so ist
es heute für einen bestimmten Personenkreis das individuelle Bedürfnis. Sexuelle Treue erscheint als ein Wert, der sowohl mit Individualismus wie auch mit Selbstverwirklichung inkompatibel ist. Einige Paare praktizieren dementsprechend eine Partnerschaft, in der andere
48
Im weitesten Sinne erinnern diese Figurationen persönlicher Beziehungen an das Konzept der 'Open Marriage' (vgl. O'Neill/O'Neill 1972).
49
Die Besonderheit dieser promiskuitiven Verhaltensformen wird vor dem Hintergrund von solchen monogamen Orientierungen deutlich, wo schon der Blick zu einem anderen Sexualpartner aus einem 'Beziehungszwang' und nicht aus einem 'Beziehungsbedürfnis' heraus tabu ist: In diesen 'zwanghaften' Beziehungen bleiben solche Wünsche in der 'wirklichen Welt' verboten und auf die 'Phantasie-Welt' des Einzelnen beschränkt.
Beide Partner leben in solchen Fällen von der gegenseitig bekräftigten Vorstellung, dass ihnen ihr praktiziertes Sexualleben gefällt. Der "nomische Apparat" (Berger/Kellner 1965, S. 221) dieser Beziehungen lässt die
Realisierung darüber hinausgehender sexueller Wünsche nicht zu, weil sie nicht in die gemeinsam konstruierte Wirklichkeit passen. Die Personen bleiben in diesen Fällen letztendlich 'intimate strangers' (vgl. Rubin
1983), denen die tatsächlichen Bedürfnisse des Gegenübers fremd sind. Die Gemeinsamkeiten dieser Paare
basieren zu einem beträchtlichen Teil auf Verstehensunterstellungen und fiktiven Verständnissen (vgl. Hahn
1989).
50
Vgl. Dischner (1979); Luhmann (1982); Tyrell (1987)
51
Vgl. Beck/Beck-Gernsheim (1990); Heitmeyer/Olk (1990); Winter/Eckert (1990)
83
sexuelle Beziehungen durchaus ein mehr an Gemeinsamkeit bedeuten können, und die Monogamie ihre normative Kraft als Glücksideal verliert. Die ausschließliche moralische Legitimation bloß dyadischer Beziehungsmuster ist für diesen Personenkreis nur das Überbleibsel klerikalen Denkens.
Festzuhalten ist, dass Promiskuität und Monogamie als ‚gleichberechtigte’ Beziehungsmuster
im SM-Bereich zu finden sind. Diejenigen, die das Bedürfnis haben, monogam zu leben, erfüllen sich diesen Wunsch genauso selbstverständlich wie diejenigen, die über den Lebenspartner hinaus noch weitere Sexualkontakte haben wollen. Während Erstere die Partnerschaft
als gemeinsames und exklusives Projekt definieren, gehen Letztere eine solche generelle Verpflichtung nicht ein. Ob die Etablierung dieser Beziehungsmuster an bestimmte Spezialkulturen gebunden ist, oder ob sie in ähnlicher Weise für andere Teile der Gesellschaft nachzuzeichnen sind, kann mit dem vorliegenden Datenmaterial nicht entschieden werden.52
1.3.4
Gruppenveranstaltungen und Feten
Seit den fünfziger und verstärkt seit den sechziger Jahren ist der Gruppensex einer breiteren
Öffentlichkeit bekannt geworden: „Manche Paare sagten, sie betrieben das Swingen schon
seit zwanzig Jahren, aber alle schienen darin überein zu stimmen, dass der Partnertausch seinen großen Aufschwung 1963 und 1964 erlebte, etwa zu der Zeit, als die Antibabypille populär wurde“ (Bartell 1972, S. 14). Nachdem sich die Antibabypille als zuverlässiges Verhütungsmittel durchgesetzt hatte und die gesetzlichen Bestimmungen liberalisiert wurden (Unzucht, Kuppelei), nahm die Zahl der Gruppensex-Anhänger beträchtlich zu (vgl. ebd.). Schon
bald konstituierte sich eine regelrechte Szene mit eigenen Zeitschriften, Kontaktmagazinen
und Treffpunkten. Die sexuelle Aktivität in der Gruppe ist aber nicht auf ‚normale’ heterosexuelle Kreise beschränkt. Sie kommt auch im Bereich anderer Sexualitäten vor.
52
Burkart (1991) hat eine qualitative Studie zum Zusammenhang von gesellschaftlicher Individualisierung und
der Bedeutung von Treue durchgeführt. Im Ergebnis zeigte sich, dass die Promiskuität trotz Partnerschaft in
den einzelnen Milieus (Alternativ-, Akademiker- und Arbeitermilieu sowie technisch-innovatives und ländliches Milieu) eine unterschiedliche Akzeptanz erfährt. Insbesondere im Arbeitermilieu wurde Untreue entschieden abgelehnt. In den anderen Milieus - im ländlichen etwas abgeschwächt - gehen die Personen hingegen eher bedürfnisorientiert und 'individualisiert' mit diesem Problem um. Burkart (1991, S. 506) bemerkt
zusammenfassend: "Individualisierung (ist) kein gradliniger, reibungsloser und universeller Trend. Er läuft in
verschiedenen Milieus mit unterschiedlicher Geschwindigkeit ab, und daher ist eher eine Polarisierung zwischen Familialismus und Individualismus zu erwarten (...) und damit zwischen einem rigiden und einem flexiblen Treue-Prinzip. Selbst wenn der Individualisierungsprozeß zu einem Bedeutungsverlust von Treue führen würde, müßte man davon ausgehen, daß dies nur für spezifische Milieus gilt" (ebd., S. 506).
84
So inszenieren auch homo- und heterosexuelle Sadomasochisten ihre Sexualität als GruppenHappening. Die Rahmen für solche Veranstaltungen können sehr unterschiedlich sein. Die
private Party ist genauso zu nennen wie der Abend in einem Club, einem Dominastudio oder
die Großveranstaltung. Manche Anbieter organisieren Veranstaltungen, an denen bis zu 1000
Personen teilnehmen. Sie werden hauptsächlich von Kleidungs- und Materialfetischisten besucht. Aber auch Sadomasochisten, die sich dort gerne im bizarren Outfit zeigen oder andere
sehen wollen, kommen dort hin. Diese bizarren Bälle finden allerdings nur ein- bis zweimal
jährlich statt. Daneben haben sich kommerzielle und private Agenturen gebildet, die GruppenSM-Abende organisieren. Sie bieten den Teilnehmern die entsprechenden Räumlichkeiten
und Geräte bis hin zur Übernachtung mit Frühstück an. Beinahe alle Formen der privaten und
kommerziellen Gesellungsorganisation sind also vertreten. Im Folgenden soll aber nicht weiter auf die Organisationsaspekte eingegangen werden. Die Analyse fokussiert auf die Offenbeziehungsweise Geschlossenheit der Gruppen sowie ihre spezifischen Erfahrungsmöglichkeiten. Unter dieser Fragestellung werden themenzentrierte SM-Inszenierungen dargestellt;
des Weiteren Regeln, die in diesen Settings eine Rolle spielen.
Offenheit und Abschottung bei Gruppenveranstaltungen
Die sexuelle Betätigung in der Gruppe spielt in den erotischen Phantasien eine wichtige Rolle.53 Einige Menschen wollen diese Bedürfnisse auch ausleben und suchen Aufnahme in einen
erotischen Zirkel. Kann aber jeder ohne Weiteres an erotisch gebundenen Gruppen teilnehmen, oder sind nicht gerade hier besondere Zugangshemmnisse zu überwinden? Die Beantwortung dieser Frage ist von der jeweiligen Veranstaltungsform abhängig. Fetisch-Bälle, SMDiscos oder ‚Painballs’ sind mehr oder weniger öffentliche Veranstaltungen. In der Regel
kann jeder mit entsprechendem Outfit und einer Eintrittskarte teilnehmen. In den kleineren,
überwiegend privat organisierten Zirkeln, gibt es hingegen Zugangsbeschränkungen. Nur die
persönliche Empfehlung öffnet die Türen zu diesen Gruppen:
René: Es gibt die allgemein bekannten großen Partys, zu denen im Prinzip jeder
gehen kann. Dann gibt es aber auch noch die andere Seite. Das sind dann andere
Kreise. Das spielt sich in kleinen Zirkeln ab, meistens in einem Privathaus. Da
kommen dann so zwanzig Leute. (...) Das ist eigentlich am schönsten.
53
Hartmann (1989, S. 37) hat die Inhalte sexueller Phantasien untersucht und bildet dabei drei größere Kategorien (Intimität und Romantik, Ausprobieren und Vielfalt sowie sadomasochistische Themen). Zur zweiten
bemerkt der Autor: "Eine zweite, häufig vorfindbare Dimension ist diejenige vom Typ 'Ausprobieren' bzw.
'Vielfalt', deren Vorstellungsinhalte am ehesten in die Richtung Promiskuität oder Gruppensex gehen (...)."
85
F: Wie findet man den Zugang zu solchen Privatzirkeln?
René: Man muss die Leute kennen, die in so einer Gruppe integriert sind. Wenn
man Glück hat, wird man dahin empfohlen. So kommen auch hin und wieder
Neulinge. Die werden aber sehr sorgsam ausgesucht. In den USA bin ich in mehreren solcher Zirkel. Aber nur weil ich persönlich dorthin empfohlen wurde. Sonst
hat man keine Chance, in den Kreis aufgenommen zu werden, das muss ich betonen (42 Jahre, S, heterosexuell).
Franziska: Die Leute in meinem Zirkel sind gesiebt. (...) Wenn mich jemand anruft, dann entscheide ich oft schon beim Anruf, ob ich das Gespräch überhaupt
fortführe. Das offenbart sich mir schon sehr bald. Das merkt man an der Art zu
sprechen, am Tonfall, am Gebrauch der Worte usw. Da treffe ich schon eine
Auswahl. Die zweite Auswahl findet dann statt, wenn ich den Betreffenden sehe
(55 Jahre, S, heterosexuell).
Ähnliches gilt für die SM-Lesben. Sie inszenieren ihren Sadomasochismus als ‚invisible lives’ (vgl. Unruh 1983) ausgesprochen öffentlichkeitsfern. Der Zugang zu und die Integration
in ihre Gruppen ist selbst für Lesben problematisch:
Janine: Adressen und Kontakte sind bei uns so eine Sache. Da kommt noch lange
nicht jede dran. Eine, die sich eingeschlichen hat und nichts mit SM am Hut hat,
die fällt sofort auf. Du musst quasi empfohlen werden, sonst läuft nichts (33 Jahre,
S/M, lesbisch).
Allerdings sind es insbesondere feministisch orientierte Lesben, die sich rigoros abkapseln.
Andere lesbische Sadomasochistinnen sind hingegen gelegentlich auf Hetero-Veranstaltungen
zu finden und beschäftigen sich dort auch im Rahmen ihrer SM-Neigung mit Männern. Bei
den Schwulen ist insbesondere die Aufnahme in einen Club keineswegs selbstverständlich.
Ihre Darkrooms und Lederbars sind dagegen recht einfach zugänglich und bilden einen halböffentlichen Raum, der eigentlich nur Frauen verschlossen ist (vgl. Wetzstein u.a. 1993).
Mit der Organisationsform hängt auch der Grad der Intimität zusammen. Auf den größeren
Veranstaltungen ist der sexuelle Aktionsradius eindeutig begrenzt. Erlaubt ist das bizarre Outfit oder auch die gekonnt umrahmte Nacktheit. Plaudern, das obligatorische Büffet, Vorführungen, Shows sowie Tanz und Spiele bilden die Aktivitäts-Schwerpunkte. SM-Handlungen
kommen, je nach Gruppe, angedeutet im Rollenspiel oder als Sklavenvorführungen, die auch
etwas härter sein dürfen, vor. Wer diesen Rahmen überschreiten und selbst sadomasochistische Aktionen durchführen will, muss in die dazu vorgesehenen ‚chambres separées’ ausweichen oder auf die oftmals anschließend stattfindenden Privattreffen warten. Von ihrer sozialen
Konstruktion erinnern die Bälle und Tanzfeste damit am ehesten an Karnevalsveranstaltungen. Einige Regeln des Alltags und bestimmte Konventionen werden temporär außer Kraft
86
gesetzt:54 Frivolitäten sind erlaubt, in der Regel sogar erwünscht. Die Kleidung ist reduziert
auf ihre erotische Signalwirkung. Wie beim Karneval kann jeder in eine beliebige Rolle
schlüpfen: die grausame Domina oder der hündische Sklave, der Mann wird zur Frau und
umgekehrt. Doch auch hier werden „vereinbarte Grenzen etabliert, eine Definition des zu geringen und zu starken Engagements“ (Goffman 1980, S. 376) vorgenommen. Ein zu geringes
Engagement könnte z.B. dann vorliegen, wenn jemand nicht den geforderten Kleidungskonventionen bei einer Party entspricht. Der Ausschluss von der Veranstaltung kann die Folge
sein. Wird trotzdem Zutritt gewährt, wartet zumeist die Rolle des Außenseiters - etwa so, wie
der unverkleidete Besucher eines Masken- oder Kostümballs - mit dem keiner so recht etwas
anfangen kann. Umgekehrt kann auch das zu starke Engagement die Rahmenvorgaben verletzen, können etwa bestimmte SM-Darbietungen in unerlaubten Situationen stattfinden.
Je vertrauter der Teilnehmerkreis aber ist, desto intimer wird die Atmosphäre. In diesem Ambiente sind auch drastische Aktionen erlaubt. So erinnert sich eine 43jährige heterosexuelle
Sadistin:
Auf der letzten Fete ging ziemlich was ab. Die dauerte zwei Tage lang. Da hatten
sie eine Frau zugenäht. Das war eine Sache. Das war nicht der Geschmack von
vielen. Aber es ist komischerweise keiner weggegangen. Geguckt hat jeder, denn
es war einfach interessant. Allerdings wurde es von jemandem gemacht, der Ahnung hat. Es sah sehr schön aus. (...) Andere Paare machen was zusammen, mal
kommen dritte und vierte dazu. Aber nicht so, wie beim Rudelbumsen. Es geht
um SM. Manchmal behandeln auch mehrere Frauen einen Typen, z.B. die Hoden
an die Oberschenkel oder den Schwanz an den Bauch annähen, wenn es etwas
Hartes sein soll. Oder eben Hoden und Penis so abbinden, dass er um die doppelte
Länge länger wird. Oder Bondage, dass sie sich absolut nicht mehr bewegen können. So in die Richtung, das sind eben harte Sachen. Die können sie normalerweise in einer großen Gruppe nicht so machen, weil das nicht jeder mag. Das haben
wir halt öfters in einer kleineren Gruppe gemacht.
Die Personen in einer Kleingruppe sind sich meistens schon länger bekannt. Dementsprechend weiß jeder um die Unverträglichkeiten bei den anderen Teilnehmern. So ist normalerweise sichergestellt, dass Geschmäcker und Toleranzgrenzen das gleiche Niveau haben. Trotz
der weit gefassten Grenzen gibt es einen kleinsten gemeinsamen Nenner, der nicht verletzt
werden soll. Insbesondere dann, wenn Ekelbarrieren überschritten werden, entstehen häufig
negative Stimmungen, die das Ende der Veranstaltung bedeuten. Auf Dauer kann eine sexuel-
54
So bemerkt Runkel (1986, S. 101): "Im Karneval artikuliert sich in spielerischer Form das Unterdrückte und
Verdrängte. Es treten freiere Formen der Sexualität und die alte Sehnsucht der Frauen nach Abschaffung der
Männerherrschaft auf, z.B. am Schwerdonnerstag (Altweiberfastnacht), an dem im Rheinland noch immer
die Frauen (Möhnen) umherziehen, um den Männern den Schlips, ein Phallussymbol, abzuschneiden."
87
le Gruppe nur dann bestehen, wenn es ihren Mitgliedern gelingt, die Aversionen von Einzelnen gegenüber bestimmten Negativ-Stimuli nicht zu provozieren und die jeweiligen Bedürfnisse zu versöhnen. Wohl auch deshalb sind Gruppeninitiativen, die versuchen, alle sexuelle
Orientierungen in gemeinsamen Veranstaltungen zu integrieren, häufig zum Scheitern verurteilt.
Die Funktionen der Gruppe
Das Interesse an Aktivitäten in der Gruppe ist recht stabil. Die einzelnen Personen sind teilweise mehrere Jahre in eine Gruppe involviert und dort sexuell aktiv. An dieser Stelle stellt
sich die Frage nach den Motiven für die Gruppenzugehörigkeit. Was macht die Faszination
des Gruppenerlebnisses aus, und was treibt den Einzelnen mitunter über einen sehr langen
Zeitraum immer wieder zu diesen Veranstaltungen? Maßgebliche Bedeutung kommt dem
„Sehen und Gesehenwerden“ zu. Die Präsentation des eigenen (nackten, halbnackten oder
verkleideten) Körpers oder das Anschauen von anderen Teilnehmern wird zu einer wichtigen
Faszinationsquelle. Die Gruppe konstituiert so eine Situation, in der die Schaulust bisweilen
sogar erwünscht ist. Damit unterscheiden sich die gruppengebundenen von einigen anderen
Ausprägungen des Exhibitionismus und Voyeurismus, die durch Anonymität und Heimlichkeit charakterisierbar sind und auf einer „vorpersonalen Ebene“ (Schorsch 1980b, S. 124)
verbleiben.
Roman: SM in der Gruppe ist ein sehr interessanter Aspekt. (...) Das ist sicherlich
so eine Art von Vorführeffekt. Dass da noch jemand ist. Das ist nicht nur so eine
ganz enge Beziehung zwischen ihr und mir, sondern da ist noch eine andere Person oder zwei. Das ist so eine Quasi-Öffentlichkeit. Also ich würde es sicherlich
nie in der Öffentlichkeit tun, aber in diesem Rahmen ist es mir möglich, sehr intim
zu werden (40 Jahre, S/M, heterosexuell)
Christa: Also, was ich eben gerne mache, das ist in Verbindung mit Öffentlichkeit. Also ich gucke gerne zu, ich mache auch gerne was. Das ist das, was mich
dann daran reizt und eben, ja, dieses hautnahe Mitkriegen von dem, was andere
machen. Das kenne ich eben nur aus der SM-Szene. Sonst läuft das Vögeln heimlich zu zweit ab. Und wie es andere machen, wie sie überhaupt da rangehen, keine
Ahnung. Nur in der SM-Szene habe ich wirklich was von anderen mitbekommen.
Es gibt da keine falsche Scham, aber auch keinen Zwang. Und das mag ich eigentlich so an der Gruppe (28 Jahre, M, heterosexuell).
Christine: Ich mache auch gerne Gruppensex, aber die Gelegenheit ist natürlich
äußerst selten. (...) Als ich das das erste Mal gemacht habe, da ging es mir Tage
danach völlig gut. Dann habe ich gemerkt, das ist schon was, was mir völlig Spaß
88
macht, was mir am meisten bringt. Ich habe das sehr gerne, wenn ich anderen zuschauen kann oder auch von ihnen lernen kann (26 Jahre, S/M, lesbisch).
Eine weitere Funktion kommt der Gruppe als Partnersuch- und Tauschbörse zu. Befreit vom
Zwang des Verbergens der Neigung spielen sich Flirt und Anmachen genauso ab, wie es bei
Nicht-Sadomasochisten der Fall ist. Die Partner in der Gruppe können beständig wechseln,
etwa durch den Austausch der Sklaven. Dadurch wird die Gruppe auch zu einem Lern- und
Experimentierfeld, wo Praktiken und Variationen hautnah erlebt und ausprobiert werden können.
Lisa: Die Treffen sind einfach schön. Da lernst du mal wieder jemand kennen und
machst vielleicht mal was mit dem und so weiter. Das ist das Gute an der Gruppe,
du lernst eben immer Leute kennen, kannst Kontakte aufbauen (38 Jahre, M, heterosexuell).
Oliver: Mit der Zeit findet sich eine Gruppe, die sich schon länger kennt. Das ist
auch wichtig wegen der Kontakte. Da sagt der eine: ‚Guck mal, den und den, und
der würde mal gern mit dir.’ Und da macht man die Connection und geht mal zusammen in die Kammer rein. Durch ein Gespräch weißt du auch, was derjenige
von dir will, oder was ich von dem will. Auf jeden Fall ist es eine Möglichkeit,
Sexpartner zu finden (29 Jahre, S/M, schwul)
Auch eine therapeutische Funktion der Gruppe darf nicht übersehen werden. Sie konstituiert
einen Raum, wo ohne Scheu und Ängste über die eigene Neigung geredet und diskutiert werden kann. Nicht selten ist der Eintritt in eine Gruppe für den Einzelnen ein befreiendes Erlebnis. Übereinstimmend berichten viele Befragte, dass das Kennenlernen von Gleichgesinnten
den Leidensdruck ihrer Neigung erheblich reduziert oder gar gänzlich eliminiert hat: „Die
positive Bewertung der devianten Interessen innerhalb des subkulturellen Raums ist mehr als
eine Voraussetzung der partnerschaftlichen Beziehung. Sie ist für viele Betroffene bereits
Teil-Erfüllung ihrer Wünsche, dann nämlich, wenn direkte Begegnungen unmöglich oder
selten sind. (...) Die Entlastung, die in einer indirekten oder direkten Verbindung zu Gleichgesinnten besteht, die Befreiung von Schuldgefühlen und das Aufkommen manchmal kämpferischen Selbstbewußtseins, die ‚Selbstakzeptation’ sind Möglichkeiten der subkulturellen Organisation“ (Spengler 1979, S. 39).
Inszenierungen und Theaterstücke
Eine besondere Erlebnisform wird durch die Inszenierung des Gruppenerlebnisses mit einem
bestimmten Handlungshintergrund erzeugt. Wie bei einem Theaterstück werden Rollen an die
Teilnehmer vergeben. Es gibt einen oder mehrere Regisseure (zumeist die Vertreter der S-
89
Position), die das Drehbuch und die Dramaturgie festlegen. Solche Gruppen-Happenings bedürfen einer längeren Vorbereitung, damit die entsprechenden Räumlichkeiten, Requisiten
etc. beschafft werden können. Die Mitspieler werden zumeist lange vorher eingeladen und in
die Rolle eingewiesen. Solche Veranstaltungen werden von Domina-Studios für interessierte
Kunden oder auch von privaten Zirkeln organisiert. Thematisch drehen sich alle Inszenierungen um das Spiel von Macht und Erniedrigung, von Folter und Schmerz oder Strafe und Gehorsam. Die gesamte Themenvielfalt der populären Kultur oder auch der üppige historische
Fundus werden als Vorlagen bemüht. Dabei handelt es sich z.B. um mittelalterliche KerkerSzenarien, Zofenspiele oder Gerichtsverhandlungen mit anschließenden Verurteilungen.
Daneben können auch Bücher, wie z.B. die ‚Geschichte der O’, die Vorlage für ein Theaterspiel liefern. Eine besondere Variante des Strafthemas ist die Schulerziehung. Der passive
Teil schlüpft in die Rolle des Schülers, während der aktive Part den Lehrer spielt. Die Strafe,
die der Schüler für Falschlösungen oder Fehlverhalten erhält, wird in Form von Stockschlägen erteilt. Nicht zuletzt werden auch religiöse Themen verwendet, beispielsweise Kreuzigungen oder die Umgestaltung eines Passionsspiels. Bei den Schwulen gibt es als Sonderform
das Drill-Lager, das paramilitärische Rahmen adaptiert.
Ferdinand: Mir war die Teilnahme an einer recht genau inszenierten Jesus-Kreuzigung mit verteilten Rollen (Pilatus, Schergen, Schächer...) vergönnt. In verteilten
Rollen standen die Texte und Handlungen von vornherein fest. Der zu Kreuzigende hatte alles genau vorbereitet. Ca. acht Personen waren verkleidet und mit dem
notwendigen Instrumentarium versehen. Solche Inszenierungen werden aber eher
selten geplant und durchgeführt (43 Jahre, S/M, bisexuell).
Ralf: Ich habe Inszenierungen im Stile des Mittelalters erlebt. Ich war ein Lakai.
Es nahmen ca. dreißig Personen teil. Dabei sind natürlich Requisiten erforderlich.
Ca. zwei- bis dreimal im Jahr findet so etwas auf einer Burg mit Folterkammer
statt (39 Jahre, M, bisexuell)
Lina: Ich hatte mal eine Freundin auf der Bühne getopt. Die musste zu der Zeit
gerade Diät leben, weil sie sich auf einen Kickbox-Kampf vorbereitet hat, und ich
habe sie dann vor den ganzen Zuschauerinnen gezwungen, so richtig viel zu essen. Auch das Publikum habe ich mitgetopt. Meine Freundin musste zu denen
hinkriechen und sich füttern lassen. (...) Ich habe sie dann auch gefickt auf der
Bühne, mit der Hand. Sie ist völlig abgefahren darauf, es vor Publikum zu machen. Natürlich habe ich dann auch zwischendurch Dinge gemacht, von denen ich
wusste, die macht sie überhaupt nicht gerne, z.B., sie hasst Ketten. Wenn ich sie
dann in Ketten gelegt habe, hat sie immer das Gesicht verzogen und ist wütend
geworden und hat mich angespuckt, und dann konnte ich sie wieder bestrafen dafür (33 Jahre, S/M, lesbisch).
Thomas: Ich mache gerne Uniformspiele und wir versuchen, solche Sessions so
perfekt wie möglich in einem ‚Military Camp’ zu inszenieren. Da gibt es dann
90
Rekruten und einen oder manchmal auch mehrere Ausbilder. Wenn ich jetzt z.B.
Rekrut bin, dann werde ich da durch Wald und Wiesen gejagt, ich muss mich in
den Schlamm fallen lassen und so weiter. Natürlich finden die Ausbilder immer
einen Grund, um einen zu bestrafen. (...) Manchmal wirst du dann für Stunden an
einen Baum angebunden und keiner kümmert sich mehr um dich (29 Jahre, S/M,
schwul).
Die besonderen Reize bei diesen Inszenierungen sind die vielfältigen Möglichkeiten, den sadomasochistischen Arrangements ihre Beliebigkeit und Willkürlichkeit zu nehmen. Eingebettet in einen entsprechenden Handlungsrahmen werden Strafe und Schmerz zu einer dramaturgischen Notwendigkeit:
Marko: Ich finde es absurd, ‚grundlos’ gedemütigt und bestraft zu werden. Ich
möchte, dass dies im Rahmen einer ausgedachten ‚realen’ Situation geschieht. So
ist es viel leichter möglich, zu vergessen, dass man ja aufgrund des eigenen Wunsches dominiert wird - und eventuell sogar dafür bezahlt hat. Wenn eine Geschichte mit Requisiten etc. inszeniert wird, kann man sich leichter der Illusion
hingeben, dass das Ganze einem aufgezwungen wird, dass man hilflos und ausgeliefert ist (43 Jahre, M., heterosexuell).
Nicht die Anonymität der ‚Perversion’, die ‚Triebsituation’ oder das Gutdünken des dominanten Teils fordern den Schmerz, die Erniedrigung und Demütigung, sondern das Skript des
Spiels. Manche Akteure, die ihr Tun als krankhaft und regressiv empfinden, können sich für
den Zeitraum der Inszenierung vom Leidensdruck befreien. Sie verschmelzen in der Phantasie
und im Tun mit dem Spielrahmen. Die Theateraufführungen sind deshalb auch ein Versuch,
die Phantasie wirklich werden zu lassen. Die Grenzen der Wirklichkeit sind es aber, die immer wieder für Brüche sorgen und die Fiktion auflösen:
Reinhold: Ich finde, es kann leicht ins Lächerliche entgleiten, wenn eine Inszenierung zu dick aufgetragen wird. Reizvoller ist es fast immer, eine entsprechende
Stimmung herzustellen. Ein Beispiel: Wollte man eine Lehrer/Schüler-Situation
herstellen, ist es wichtig, die verbal-psychologische Stimmung zwischen Lehrer
und Schüler(in) herzustellen und darauf zu achten, dass die vorhandenen Accessoires dem nicht widersprechen. Also, in diesem Fall nicht unbedingt eine Schülerin mit Straps und High-Heels. Das ist auf jeden Fall unglaubwürdig. (...) Das
Faszinierende ist zum einen die Lust am Spiel schlechthin und zum anderen der
Versuch, sich möglichst dicht der Realität zu nähern, die ja die Vorbilder für SMInszenierungen liefert, aber eben nicht erreicht werden kann und soll (57 Jahre,
M., heterosexuell).
Einige Sadomasochisten nehmen wegen den desillusioniernden Realitätseinbrüchen nicht an
diesen Spielen teil. Sie fürchten, dass die Umsetzungsversuche ihrer Phantasie die Vollkommenheit raubt.
91
Regeln und Bestimmungen in der Gruppe
Weinberg (1973) hat den Umgang mit sexueller Schamhaftigkeit in FKK-Lagern untersucht.
Schamhaftigkeit und Nacktheit - so gängige Vorstellungen - passen nicht zusammen: „Die
Vorstellung, daß diese Kleidungsschranke plötzlich nicht mehr existiert, lässt sofort Bilder
von zügellosen sexuellen Wünschen, Promiskuität, Verlegenheit, Eifersucht und Schamgefühl
entstehen“ (ebd., S. 244). Dieser Einschätzung ist Weinberg empirisch nachgegangen. Er hat
festgestellt, dass FKK-Anhänger Nacktheit neu definieren. Nacktheit hat keinen Bezug zur
Sexualität, denn in den Lagern gibt es einen strengen Regelkanon, der die Situation entsexualisiert: Witze mit sexuellem Inhalt, Gespräche über Sex, Körperhaltungen, die als sexuelles
Signal interpretiert werden können, etwa das Spreizen der Beine bei Frauen oder auch das
Anstarren von Personen werden nicht geduldet.55 Alle Anwesenden überwachen die Einhaltung dieser Regeln und obwohl sich in einem FKK-Lager nur nackte Menschen begegnen,
benehmen sie sich so, als seien sie bekleidet. Bei der SM-Gruppenveranstaltung handelt es
sich per se um eine sexuell orientierte Situation. Aber auch hier bilden sich verschiedene Regeln heraus.
1) Um Neulingen den Zugang zu den Gruppenevents zu erleichtern, gibt es im weitesten Sinne Initiationsregeln: Das ist natürlich alles neu, ist doch ganz klar. Da guckst du erstmal.
Mir war auch nicht danach, irgendwas zu machen. Aber das Angenehme in dieser Gruppe
ist, die machen dir den Einstieg eben sehr einfach. Die kriegen das auch schon mit und
lassen dich erstmal da sitzen und gucken. (...) Wenn sich der erste Eindruck gesetzt hat,
helfen die einem schon weiter. Wenn sich die Novizen für den Verbleib in Gruppe entschieden haben, werden sie in die Regeln und Gepflogenheiten eingewiesen. Sie werden
gleichsam in das Gruppenleben hineinsozialisiert. Erst dann sind sie akzeptierte Mitglieder.
2) Für den Umgang innerhalb der Gruppe ist die Freiwilligkeit die wichtigste Regel. Niemand
darf zu etwas gezwungen werden: Wichtig ist, dass alles freiwillig ist. Ich meine, wenn ich
da zu etwas gezwungen werde, dann würde ich ausrasten. Aber ich kann mich nicht entsinnen, dass das schon einmal vorgekommen ist. Gerade im Bereich der Gruppenveranstaltungen ist Einhaltung der Freiwilligkeitsbestimmungen unverzichtbar und wer gegen diesen Grundsatz verstößt, wird normalerweise sofort ausgeschlossen.
3) Eng mit der vorhergehenden Regel ist die Bestimmung verbunden, wonach die individuellen Geschmacks- und Ekelgrenzen akzeptiert werden müssen: Wenn jemand einer Frau die
55
Weinberg (1973, S. 247) bemerkt, dass scheinbar niemand von der Nacktheit der anderen Anwesenden Notiz
nimmt: "Alle gucken in den Himmel, nicht einer guckt nach unten."
92
Schamlippen zunähen will, dann soll er es bitte in einem Eckchen oder einem anderen
Raum machen und sagen: ‚Da drüben wird das gemacht, wen es interessiert, der soll zugucken’. Die Verletzung von Ekelgrenzen kann mitunter die ganze Stimmung verderben
und das Ende der Veranstaltung bedeuten.
4) Eine weitere Regel besagt, dass bestehende persönliche Beziehungen respektiert werden
müssen: Es ist üblich bei solchen Treffen, dass man immer die Domina fragt ‚Darf ich
das? Darf ich Deinen Sklaven haben? Darf ich das machen?’ Das ist eigentlich üblich,
dass man da höflich fragt. Die Vorstellung, wonach Gruppenveranstaltungen ein regelloses
‚Rudelbumsen’ sind, kann nicht aufrecht gehalten werden. Aufgrund der spezifischen
Machtsituation im SM-Arrangement ist es üblich, dass der dominante Partner in die Behandlung seines Sklaven einwilligen muss. Das umgekehrte Einverständnis ist allerdings
nicht erforderlich, wenngleich vor der Veranstaltung des Öfteren zwischen aktivem und
passivem Partner entsprechende Übereinkünfte getroffen werden.
5) Neben diesen allgemeinen Regeln gibt es zahlreiche gruppenspezifische Übereinkünfte. So
ist z.B. in einigen Gruppen der Geschlechtsverkehr untersagt: Sie müssen eines verstehen.
Bei diesen Partys gibt es keinen Geschlechtsverkehr, wenn es eine richtige Sache ist.
Höchstens Ersatzhandlungen am Mann oder an der Frau sind zugelassen. Hinzu kommt,
dass das Spektrum der erlaubten Praktiken variiert. Was in der einen Gruppe als zu hart
abgelehnt wird, ist in einer anderen völlig normal. Auch die Handhabung von homosexuellen Aktivitäten ist uneinheitlich; bei manchen Gruppen sind sie erlaubt, bei anderen werden sie toleriert, und wiederum bei anderen sind sie untersagt.
6) Schließlich gelten in der Gruppe noch verschiedene weitere Regeln, die auch in der Zweierbeziehung gelten, etwa Grenzen, Stopcodes etc. Sie sollen ein mehr oder weniger sicheres sadomasochistisches Arrangement gewährleisten (vgl. Kap. III.1.5).
Dieser Verhaltenscodex findet sich sowohl bei homo- als auch heterosexuellen Sadomasochisten. Selbst in der scheinbar anarchischen Situation des Darkrooms gibt es Basisregeln,
die den Radius des Einzelnen begrenzen.
1.3.5
Exkurs: Die professionelle Domina-Szene
Hinter der Kellertür öffnet sich der purpurrote Samtvorhang und der Blick fällt in
einen kleinen, mit rotem Teppichboden ausgelegten Raum. In der Ecke stehen eine schwarze Ledercouch und ein Glastisch. Es ist ziemlich dunkel, und nur das
schwache Rotlicht lässt die Umgebung erkennen. An den weißen Wänden hängen
gerahmte Zeichnungen, die verschiedene SM-Praktiken zeigen. Ein langer Gang
93
mit vielen Türen führt zu verschiedenen Zimmern. Der nächste Raum ist mit
dunklem Holz verkleidet und teilweise mit Balken und Verstrebungen versehen.
Der Fußboden ist mit schwarzem PVC ausgelegt. An den Wänden hängen
schmiedeeiserne Werkzeuge und Lederkleidung: Peitschen in unterschiedlichen
Ausführungen, Rohrstöcke, Zaumzeug, Handschellen, Fesseln, High-HeelOberschenkelstiefel aus Leder, Pranger, Flaschenzug, Andreaskreuz, Sling,
Streckbank, diverse Dildos u.v.m. In einer Ecke steht ein Käfig und mitten im
Raum eine Streckbank. Der nächste Raum ist mit schwarz-roter Lackfolie verkleidet und mit schwarzem PVC ausgelegt. An einer Wand steht ein Bett, das mit
Gummibettwäsche bezogen ist: ein Laken und ein Kopfkissenbezug aus rotem Latex. An Haken und Kleiderständern hängt Gummikleidung in allen Variationen
und Farben: schwarz, rot, lila, Gummisäcke, Ganzanzüge, Gummimasken, Gummistrümpfe. Gummi und schwarzer PVC bestimmen auch das Ambiente des
nächsten Raumes. Über einem großen roten Gummibett ist an der Decke ein Spiegel installiert. An einer Wand steht eine ca. 2,50 m lange Wanne und ein Stuhl,
der aussieht, wie der beim Gynäkologen. Dann wieder ein langer Flur mit verschiedenen Türen. Weißer PVC-Boden, weiße Wände, an denen breite Aluminiumleisten befestigt sind, auf denen ‚Station A3’, ‚Zum OP’ und ‚Zu den Krankenzimmern’ geschrieben steht. An der Seite steht eine Bahre auf Rollen. Am Ende
des Ganges befindet sich ein Empfangschalter: Werbegeschenke von Pharmakonzernen, Kugelschreiber, Terminkalender, Neonröhren an der Decke, Telefon. Dahinter steht ein Schreibtisch mit einer Schreibmaschine. Im nächsten Raum: In der
Mitte eine riesige OP-Lampe, darunter ein Operationstisch, an den Wänden
Schränke aus Chrom. Eine Schublade ist geöffnet. Verschiedenes chirurgisches
Besteck ist dort einsortiert. Auf den Schränken liegen Spritzen in verschiedenen
Größen, Mullbinden, OP-Handschuhe; große, dicke, bis zum Oberarm reichende
Gummihandschuhe, Geburtszangen, eine Gasmaske, verschiedene Katheter mit
Urinbeutel, Vibratoren, Klistierbecher und -schläuche, Schüsseln, Wäscheklammern, Desinfektionsmittel, Alkohol, Milchpumpen, Wattetupfer. In einer abgetrennten Ecke steht ein gynäkologischer Stuhl. Von hier aus führt ein Flur zu den
Krankenzimmern. Ihre Einrichtung besteht aus einem Krankenbett, einem Nachttisch, einem Wäscheschrank, einem Fernseher und - einem Kreuz an der Wand.
In dieser Beobachtungssequenz werden die verschiedenen Räume eines professionellen Domina-Studios beschrieben.56 Für einen Stundensatz zwischen 200 und 600 DM können sich
hier die Besucher von der Domina ‚behandeln’ lassen.
56
Die großen und bekannten Domina-Studios sind ähnlich ausgestattet. Manche Studios haben zusätzlich für
Windelsex eine Babyecke mit Bausteinen, Schnullern und Rasseln oder für die Schulerziehung ein Klassenzimmer mit Schulbänken, Tafel und Rohrstock eingerichtet. Entsprechend der jeweiligen Preisklasse variiert
die Ausstattung der Studios beträchtlich.
94
Abb.: „Behandlungsraum“ mit Werkzeugen und Foltergeräten
(Quelle: www.avalon-berlin.de)
Wie ein Kunde den Weg zu einem Domina-Studio findet, welches Selbstverständnis für die
Frauen typisch ist und wie deren Bild aussieht, das sie von ihren Kunden haben, ist im Folgenden dargestellt; ebenso die Verflechtung von Domina- und Prostitutions-Szene.
Der Weg in das Studio
Dominas stellen ihr Studio in Form von Annoncen in den einschlägigen Magazinen vor. Immer mehr sind solche Angebote in der Tagespresse und vereinzelt auch in Wochenzeitungen
wie der ‘Zeit’ zu finden. Dann sind die Texte allerdings codiert. Der Anzeigentext, der häufig
mit Photos versehen ist, beschreibt das Repertoire der einzelnen Praktiken und die Ansprechmöglichkeiten für den Kunden. Hier einige Beispiele:
Einfühlsame Dominanz durch die ungewöhnliche Madame X. Leder, Gummi,
Lack in separaten, stimulierenden Räumen mit technischen Überraschungen. Heiße u. stimmungsvolle Behandlungen, auch mit attraktiver Zofe. Das Studio der
Exclusivität. Diskret, Perfekt, Gekonnt.
Immer eine Peitschenlänge voraus! Salon X. Besonderheiten: Neuer Soft-Erziehungsraum mit raffinierter Ausstattung. Jetzt auch: Gummi-, Klinikstation und
TV-Umkleidekabinett. Blutjunge Sex-Sklavin X (s. Bild). Aufstellung verschiedener Programmangebote für den S/M-Neuling.
Gräfin X. Höre - Du unterwürfige Seele! Endlich bin ich für Dich da! Agil, weiblich und sehr vollbusig. Eine Herrscherin mit Format. Ich werde Dich, auf meine
95
subtile Art, in die Welt Deiner gewagten Träume führen. Kein Wunsch bleibt ungehört, keine Neigung ungeachtet. Auch mit körperlichem Kontakt mit mir. Softstreng, auch medizinisch (Safer-Sex). Ich weiß, Du wirst mir hörig sein! Ruf an!
Rassige Domina, sehr sauber und erfahren, erfüllt alle Wünsche. In meinem voll
eingerichteten Kabinett können wir die tollsten Unterwerfungsspiele treiben (Anal, NS, Doktorspiele, Klistier, TV-Erziehung usw.). Anfänger führe ich gerne
ein.
Nach der Lektüre der Anzeigentexte und der Entscheidung für ein bestimmtes Angebot stellt
der Kunde den ersten Kontakt üblicherweise über das Telefon her.57 Dadurch kann er in einem ersten Gespräch unverbindlich prüfen, ob ihm das Angebot zusagt. Gegebenenfalls wird
ein Termin vereinbart und - soweit im Kontaktführer nicht aufgeführt - die Adresse bekannt
gegeben. Kommt es dann zu einem Studiobesuch, ist zu klären, welche konkreten Wünsche
an die Domina herangetragen werden, welches die bevorzugten Praktiken sind, aber auch
welche Grenzen von der Domina akzeptiert werden sollen. Für diese Aushandlungsphase gibt
es unterschiedliche Möglichkeiten:
Hanna: Es gibt Gäste, die kommen hierher und wissen genau, was sie wollen. Das
ist eigentlich recht gut. Ich will zwar nicht alles konkret wissen, aber ich brauche
drei, vier Anhaltspunkte, und daraus mache ich dann irgendein Programm. Dann
gibt es wiederum die anderen, die alles bis in das kleinste Detail ausgeklügelt aufgeschrieben mitbringen. Das ist mir schon wieder viel zu sehr festgelegt, denn als
Domina will man noch einen gewissen Freiraum haben. Und dann gibt es die, die
sich so schämen, dass sie überhaupt nicht damit herüberkommen, was los ist. Da
fängt dann eigentlich die richtige Arbeit an. Die meisten genieren sich so, dass sie
sich mir im Gespräch nicht offenbaren und herumdrucksen. Für diese Fälle habe
ich dann einen Fragebogen, wo sie diverse Dinge ankreuzen können, damit ich
weiß, in welche Richtung die Tendenz geht. Dann kann ich wenigstens einen Ansatzpunkt für ein Gespräch finden, denn es ist ja schwer, an so jemanden ranzukommen, und irgendwo ist die Zeit begrenzt. (...) Oftmals weiß ich aber auch einfach so aus der Erfahrung heraus, was einer will, wenn er mein Studio betritt. Man
erkennt auch am Verhalten mancher Leute bereits, wie sie veranlagt sind (38 Jahre, Domina, Studioinhaberin).
Schambarrieren und Hemmschwellen machen es vielen Kunden schwer, über ihre Neigung zu
sprechen. Deshalb hängt es wesentlich vom Geschick der Domina ab, ob der Kunde zufriedengestellt werden kann. Manche Dominas sind dazu übergegangen, einfach aufschreiben zu
lassen, was der Einzelne bevorzugt. Andere Kunden formulieren ihre Phantasien und Wün-
57
Manche der Studios wollen keine Laufkundschaft, weshalb sie nur unter Angabe der Telefonnummer inserieren. Um zu vermeiden, dass ein Kunde aus Zeitmangel abgewiesen werden muss, arbeiten aber auch diejenigen, die unter Angabe ihrer Anschrift inserieren, in der Regel nach festen Terminen.
96
sche in Form pornographischer Erzählungen bereits zuhause oder im Büro. Einige der Dominas haben im Hinblick auf die knapp bemessene Zeit von ihren Stammkunden Karteikarten
oder Register angelegt, so dass sie wissen, um welchen Kundentyp es sich handelt und nicht
jedes mal erneut ausdiskutiert werden muss, was möglich ist und was nicht.
Die Tätigkeit einer Domina
Im Mittelpunkt der Dominatätigkeit steht die Behandlung des einzelnen Kunden, wobei häufig eine Sklavin oder Zofe assistiert. Bei den von uns befragten Dominas handelt es sich um
Frauen im Alter zwischen 26 und 55 Jahren, die oftmals von ihrer Statur her eher korpulent
sind. Anders verhält es sich bei den Sklavinnen und Zofen, die in den Studios beschäftigt
sind. Sie sind in der Regel zwischen 20 und 30 Jahren alt und entsprechen eher einem allgemeinen Schönheitsideal. Nach Aussagen der Studioinhaberinnen kommen die Sklavinnen und
Zofen aus dem Prostitutionsmilieu und kehren oftmals in diesen Bereich zurück.
Abb.: Dominas mit Sklave im Studio (Quelle: www.avalon-berlin.de)
Der Erfolg eines Studios hängt davon ab, wie die Domina die sehr disparaten Ansinnen der
einzelnen Kunden befriedigen kann. Ohne ein entsprechendes Equipment ist dies kaum möglich, was wieder zum Anfang dieses Kapitels zurückführt, nämlich zur Gestaltung eines Studios. Die verschiedenen Abteilungen und Räume sind Ausdruck einer sehr spezifischen Nach-
97
frage durch die Kunden. Neben den verschiedenen Praktiken in der Einzelbehandlung58 bieten
die Studios auch Sonderveranstaltungen an. Partys, Motto-Abende oder die Vorführung von
Transvestiten und Transsexuellen zu bestimmten Terminen gelten als besondere Attraktion.
Zu diesen Veranstaltungen werden verschiedene Privatpersonen eingeladen, die einen Unkostenbeitrag von 200 bis 500 DM pro Person und Abend entrichten und damit am GruppenEvent teilnehmen können. Manche Dominas haben einen speziellen Raum eingerichtet, den
sie an verschiedene Clubs oder Zirkel vermieten:
Kassandra: In meinem Studio gibt es einmal die normalen Öffnungstage. Da stehe
ich mit meiner Sklavin und vielleicht noch die eine oder andere Gastdomina oder
-sklavin zur Verfügung. Ich habe oft irgendwelche Frauen, die dann eben zusätzlich da sind. Und dann gibt es die großen Partys, die vorher unter verschiedenen
Gesichtspunkten festgelegt sind, zum Beispiel ‚Paarabend’ oder ‚Anfängerparty’
oder ‚Insidertreff’, das ist eigentlich die Fortführung von diesem Damenzirkel, wo
es darum geht, dass ich alle möglichen Frauen, die ich kenne, dominante Frauen
in erster Linie, einlade. Die kommen dann mit Partner und dann gibt es hier sozusagen ‚Action’. Dann gibt es noch den ‚Sklavinnenabend’, das ist also die umgekehrte Situation, da kommen M-Frauen mit ihren Partnern und werden von ihnen
vorgeführt. Es sind auch aktive Männer dabei, die schauen sich das Ganze an.
Dann gibt es das ‚Café TV/TS’ für Transvestiten, Transsexuelle und so weiter.
Und ‚Rubber Event’, also Gummiabend - ich glaube, das ist so in etwa alles. Und
diese großen Partys werden dann in regelmäßigen Abständen wiederholt und absichtlich immer unter dieses große Motto gestellt, weil man da viel besser aussortieren kann. (...) Und dann gibt es mitunter kleine Geschichten, die ich auch immer wieder mache. Zum Beispiel ruft mich der R. an und sagt zu mir, er würde
gern mal wieder mit der H. vorbeikommen, ob ich nicht irgendwas hätte in nächster Zeit. Und dann rufen auch die R. und der G. aus dem Ausland an - sie ist auch
maso -, sie würden auch gern mal wieder vorbeikommen. Und dann fängt es bei
mir wieder zu rattern an und ich denke: ‚Aha, ja, genau, das könnte ich doch wieder verbinden’ (35 Jahre, Domina, Studioinhaberin).
An solchen Veranstaltungen nehmen nicht nur Männer, sondern auch Frauen teil, von denen
einige ein privates Interesse mit dem SM-Erlebnis im Studio verbinden. Die sogenannten
Damenzirkel sind ein Beispiel für das Engagement der privaten Dominas. Ähnlich wie andere
am Wochenende die Tanzparty bei Freunden besuchen, kommen (Ehe)Paare zu einer vorher
angekündigten Veranstaltung in das Domina-Studio. Es kommt auch vor, dass Gastgeber
(Clubs und Privatpersonen) von Veranstaltungen für ihre Zwecke professionelle Dominas
engagieren, die dann als Höhepunkt des Abends beispielsweise ein Programm (Sklavenvorführung oder -behandlung) anbieten. Ein Grund für das Zurückgreifen auf kommerzielle An-
58
Zu den einzelnen Praktiken vgl.: Kap. III.1.5.1
98
gebote ist sicherlich der Mangel an Frauen in der SM-Szene. Gleichzeitig bilden diese verschiedenen Angebote eine Schnittmenge zwischen kommerzieller und privater SM-Szene.
Auch wenn eine Domina flexibel auf die unterschiedlichen Wünsche und Phantasien der
Kunden eingehen kann, so bedeutet das noch lange nicht, dass der Kunde in einem professionellen Domina-Studio für Geld alles kaufen kann. Für die Domina ist der Geschlechtsverkehr,
oft auch schon die Berührung der nackten Haut durch den Kunden, ausgeschlossen. (Es gibt
nur wenige Ausnahmen.) Wünscht der Kunde dies dennoch, so kommt hierfür die Sklavin
oder Zofe in Frage. Aber auch nicht jede Domina ist hiermit einverstanden, und nicht jede
Sklavin ist hierzu bereit. Auch sadistische Wünsche können im Domina-Studio nicht immer
erfüllt werden. Je nachdem werden die Kunden entweder gleich von der Domina abgewiesen,
oder von der Sklavin befriedigt:
Kassandra: Was wir überhaupt nicht machen, ist Geschlechtsverkehr. Also wenn
jemand Geschlechtsverkehr will, schicke ich ihn weg. Auch mit der Sklavin nicht.
(...) Nein. Das ist für mich einfach nicht okay, das von ihr zu verlangen. Da würde
ich mir vorkommen wie eine Zuhälterin oder sonst irgendwas. Kann ich nicht.
Wenn sie das wollte, dann könnte sie es natürlich tun. Angenommen, sie hat da
richtig Lust drauf, und der gefällt ihr. Aber bei ihr ist da wenig Gefahr, weil sie
einfach nicht auf Männer abfährt. Deswegen würde ich das noch weniger von ihr
verlangen, das würde ihr ja psychisch schaden. (...) Was ich auch nicht mache,
sind Dinge, die mich körperlich betreffen. Viele wollen die Domina mit der Zunge
befriedigen. Das mache ich auch nicht, aber die Sklavin muss das schon machen.
Das kann man den Leuten nicht verdenken. Aber wenn einer das bei mir will, den
würde ich wegschicken, dann würde ich sagen: ‚Es tut mir leid, das mache ich
nicht’ (35 Jahre, Domina, Studioinhaberin).
Erklärt sich eine Sklavin bereit, sadistische Handlungen über sich ergehen zu lassen,59 ist es
üblich, dass die Domina die Situation durch häufiges Betreten des Raumes kontrolliert und
prüft, ob der Kunde nicht zu weit geht. Oftmals können durch die extremen Wünsche man-
59
Girtler (1990, S. 243f) bemerkt dazu, dass nur wenig Prostituierte, mit denen er sprach, damit einverstanden
waren, "selbst geschlagen oder gemartert zu werden. Ich hörte allerdings auch von Frauen, die gegen entsprechende Bezahlung Auspeitschungen über sich ergehen lassen. So hätte eine Dirne in einer Nacht 40.000
Schilling von einem Herrn verdient, der für jeden Peitschenhieb auf ihr Gesäß 1000 Schilling gezahlt habe.
Sadistische Neigungen anderer Art werden allerdings häufig an Dirnen herangetragen. Auf solche Neigungen
deutet ein interessantes makabres Inventar in mancher 'strengen Kammer' hin, nämlich ein dunkler Sarg mit
Guckloch. Über einen Gast, für den der Sarg wichtig ist, wurde mir erzählt: 'In den Sarg legt sich das Weib
und der Beste steht neben dem Sarg und spritzt neben dem Sarg ab. Im Sarg kann er sie auch pudern.' Von
einer Dirne, die nach eigenen Aussagen die besteingerichtete 'strenge Kammer' Wiens hat, weiß ich, daß ein
regelmäßig sie aufsuchender Kunde es wünschte, eine mit einem Brautkleid angetane Dirne in den Sarg zu
zwingen. Diese Frau spielt dabei dem Mann vor, sie würde dies nicht wollen, und wehrt sich. Den Gast erfüllt es mit Befriedigung, wenn er die 'Braut' schließlich überwältigt und im Sarg liegen hat, auf den er dann
den Sargdeckel nagelt. (...) Der Kunde erhält so seine sexuelle Erlösung."
99
cher Kunden auch Probleme entstehen, denn Domina-Studios werden auch zu einer Art Auffangbecken für Personen mit extremen und bizarren Vorstellungen:
Hanna: Ich hatte einen Fall, der ist jedes mal gekommen, hat sich auf extremste
Art und Weise quälen lassen, d.h. brennende Zigaretten ausdrücken, Rheumasalbe
auf die Fußsohlen, Stockschläge auf die Fußsohlen, also richtig so wie man gehört
hat, dass Kriegsgefangene in den letzten Kriegen gefoltert wurden. Bis er mir
dann erzählt hat, dass er in der Nähe einer Schule wohnt und immer Mädchen belästigt. Ich habe es anfangs nicht geglaubt, habe das Ganze nachgeprüft. Es war
wirklich eine Schule in der Nähe. Und dann kam mir der Gedanke, ob ich mich
nicht an die Polizei wende, weil das für mich schon ein Psychopath war. Der hat
gemeint, wenn er sich dann auf gemeinste Art und Weise quälen lässt, dass das für
ihn eine Art Absolution ist. So wie ein Katholik bei der Beichte. Der kam mir
dann aber leider nicht mehr unter die Finger. Ich finde, bei so einem Menschen
sollte man sich doch überlegen, ob das nicht doch eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt. So jemand müsste man in Behandlung geben. Zumindestens in eine
Therapie (38 Jahre, Domina, Studioinhaberin).
Danuta: Da habe ich jetzt am Dienstag eine Behandlung, das verkrafte ich psychisch nicht. Und zwar bin ich gegen Tiersex und gegen Kindersex. Da habe ich
also einen Gast, der immer auf kleine Mädchen angesprochen hat. Er sagt, er
treibt es mit kleinen Mädchen. Er lockt die in sein Landhaus, streichelt ihre Brüste, ihre Muschi und so. Das ist ein schwieriger Fall für mich, weil ich nicht einschätzen kann, ob er nur phantasiert oder es wirklich macht. Diese Kleine, die hier
als Sklavin arbeitet, auf die ist er jetzt ganz heiß, weil die so kindlich ist. Und da
habe ich Schwierigkeiten. Mit allen Dingen, die ich selber hasse, habe ich
Schwierigkeiten. Ich könnte mir vorstellen, dass er sowas tatsächlich macht. Man
kann sich doch nicht einfach in so eine Rolle hineinversetzen. Und der strengt
mich an. Wenn ich mit dem Mann drei Stunden arbeite, dann bin ich geschafft.
Dann sind wir alle geschafft hier.
F: Mir ist nicht ganz klar, was jemand, der eine Neigung für Kindersex hat, in einem Domina-Studio sucht?
Danuta: Das ist seine Wunschvorstellung und das möchte er sich bei uns austreiben lassen. Er kommt in die Klinik, dass man ihm das austreibt, dass er sowas
wieder gemacht hat. Dann sage ich zu ihm: ‚Na, hast Du es wieder mit Mädchen
getrieben? Wie alt war die Kleine denn, die du wieder in das Landhaus gelockt
hast? Sage mir mal, was du mit ihr gemacht hast!’ Dann holt er seinen Penis raus,
streichelt den. Ich sage: ‚Findest du das nicht schweinisch, sowas? Hast du sie
auch geküsst? Dann musst du heute wieder bestraft werden!’ (48 Jahre, Domina,
Studioinhaberin).
Neben dem Umstand, dass bei solchen Kunden die Toleranzgrenzen der Domina und ihrer
Sklavin auf die Probe gestellt werden, ist mitunter auch nicht klar, ob die Kunden nicht wirklich in verschiedene Sexualdelikte verwickelt sind. Aufgrund der anonymen Studiosituation
100
können manche Besucher ihren persönlichen Hintergrund leicht verbergen, auch wenn dies
nicht die Regel ist.
Verflechtung mit der Prostitutions-Szene
Die Prostitution in der ‚strengen Kammer’ (vgl. Girtler 1990) ist eine besondere Form der
Wohnungsprostitution, wo im Gegensatz zu den sonst üblichen Praktiken auch Spezialbehandlungen von normalen Prostituierten angeboten werden.60 Daneben spielen perverse Praktiken auch bei der Straßenprostitution eine Rolle: „Nicht untypisch für die Prostitution auf der
Straße scheint auch folgende Erzählung eines Zuhälters zu sein: ‚Von einem Gogl allein hat
meine Alte nur für das Hineinscheißen in sein Auto dreieinhalbtausend Schilling kassiert. Der
Mann ist alle zwei, drei Monate gekommen und meist dann, wenn er einen neuen Wagen hatte“ (ebd. S. 233). Daneben berichtet Girtler von Prostituierten, die auf dem Straßenstrich arbeiten und sich ein „perverses Kisterl“ (ebd. S. 243) angeschafft haben, um dem Kunden eine
strenge Behandlung zu ermöglichen. Hierbei handelt es sich um einen kleinen Kasten oder
Koffer, der mit den unterschiedlichsten SM-Werkzeugen ausgestattet ist. Viele Prostituierte
lehnen sadomasochistische Praktiken aber mit dem Hinweis ab, so etwas Perverses nicht mitzumachen.61 Wenn aber beispielsweise Straßen-Prostituierte bereit sind, auf diese Sonderwünsche einzugehen, so zu einem weit höheren Preis, als sie für normalen Geschlechtsverkehr
erhalten.
Im Bereich der Straßen- und Wohnungsprostitution arbeiten die meisten Frauen für einen Zuhälter: „Der Zuhälter ist es, der in gewisser Weise den Strich bzw. die Prostitution überhaupt
möglich macht. Er ist es, der nicht nur darauf achtet, daß der Strich funktioniert, sondern er ist
für die Prostituierte so etwas wie eine Bezugsperson, die sie vor diversen Problemen schützt
und mit der menschlich-intime Kontakte möglich sind. Das heißt jedoch nicht, daß die Bezie-
60
Auf eine ähnliche Situation verweisen Janus u.a. (1979, S. 11), wenn sie die Bedeutung sadomasochistischer
Sexualpraktiken für eine "höhere Ebene" der Prostitution unterstreichen, nämlich für den Kreis der "EliteCallgirls". Es handelt sich dabei um Prostituierte, die "nicht der landläufigen Vorstellung von einer 'Hure'"
entsprechen und deren Klientel sich ausschließlich aus "Vertretern der Macht" (ebd. S. 14) - beispielsweise
Rechtsanwälte, Gesetzgeber und Richter - zusammensetzt. Auch Stein (1974) fand in ihrer Call-Girl-Studie
heraus, dass Sadomasochismus im Bereich der Prostitution praktiziert wird.
61
Auch Girtler (1990, S. 232) bemerkt, dass "nicht jede Prostituierte daran interessiert (ist), daran mitzutun."
Unter Zuhältern werden Freier mit sadomasochistischen oder bizarren Neigungen oftmals als Perverse belächelt: Die Domina ist nur für das Perverse. Zum Anketten, Auspeitschen und so. Ich habe mich schon oft gefragt, wie so eine Domina überhaupt auf den Kunden eingehen kann. Z.B. einen Einlauf machen oder so was,
das ist doch ekelhaft. Ich kann die Typen auch nicht verstehen. Ich lasse mich doch auch nicht anpissen oder
anscheißen auf gut Deutsch gesagt und lege dafür auch noch Geld hin. Die müssen doch alle irgendwie eine
Macke haben.
101
hungen zwischen Prostituierter und Zuhälter immer partnerschaftliche sind, (...) sondern daß
auch Gewalt die Kommunikation bestimmt“ (Girtler 1990, S. 83). Zu Beginn unserer Studie
sprachen wir mit einem Zuhälter, der angab, dass auch Dominas nicht ohne Zuhälter arbeiten
können. Er erklärte dies wie folgt:
Wenn z.B. eine Domina ein Studio aufmacht, dann frisst die unser Geld weg mit
ihrer ganzen Stammkundschaft. Das geht nicht. Das können wir [die führenden
Zuhälter der Stadt] nicht zulassen. Dann wird der Rat einberufen, und wir sitzen
dann am Stammtisch, und dann wird beredet, was zu tun ist. Da wird abgestimmt.
Wenn wir beschlossen haben, dass ein Club geschlossen wird, dann wird z.B. in
einer Nacht- und Nebelaktion das Studio demoliert. Es gibt auch noch andere Methoden: Man schickt z.B. einen getarnten Freier hoch, der klingelt ganz normal
und geht rein und haut alles kurz und klein.
Die Dominas bewerten das anders. Sie berichten, dass Zuhälterei nicht zwangsläufig mit dem
Dominagewerbe verbunden sein muss. Sicherlich gibt es einige Studios, die durch Zuhälter
kontrolliert werden und dies insbesondere dann, wenn die Domina vorher als Prostituierte
gearbeitet und sich im gleichen Ort ‘auf pervers’ spezialisiert hat. Häufig sind die Studios
aber ganz aus den ‚Sperrbezirken’ ausgelagert. Die Domina arbeitet als eigenständige Geschäftsfrau oder zumindest als Leiterin des Etablissements:
Hanna: Der Bereich der Zuhälterei, der war schon immer in diesem Milieu gegeben. Dass irgendwelche Frauen mit irgendwelchen Leuten aus dieser Szene Kontakt kriegen, notgedrungen oder gewollt, das ist auch gegeben. Aber ich sage mir
immer: Wer sich in die Gefahr begibt, kommt darin um. Es kommt immer darauf
an, wo man sich hinbegibt. Wenn man als Domina meint, man muss in die
Stammdiskotheken oder in die Milieukneipen gehen und sich da publik machen,
ist natürlich die Gefahr da, dass man solche Leute auf sich aufmerksam macht, die
da vielleicht Geld riechen. Wenn man sich aber nur auf seinen Job konzentriert
und ein normal geregeltes Privatleben hat, ist die Gefahr so gut wie nicht gegeben.
Die Repressalien von früher sind immer mehr am nachlassen, die Frauen sind
emanzipierter geworden. Mittlerweile gibt es sehr viele Vereinigungen, wie die
‚HWG’ in Frankfurt, dann gibt es ‚Straps und Grips’ oben in Münster u.s.w. Ich
habe da mit einigen Leuten Kontakt. Es ist so, dass schon ein gewisser Schutz da
ist. Zwar nicht von den Behörden selbst, aber dadurch, dass die ganze Grauzone
etwas lockerer geworden ist. Es gibt zwar die Sperrgebiete und gewisse Auflagen
für die Frauen, die der normalen Prostitution oder dem Studiobereich nachgehen.
Aber dadurch, dass da eine andere Zusammenarbeit stattfindet, und dass das Ganze ein bisschen mehr an die Öffentlichkeit kommt, und nicht mehr so der verruchte Touch da ist, kann man sich halt zu gewissen Dingen offizieller äußern. Dadurch ist auch die Zuhälterei sehr ins Hintertreffen geraten (38 Jahre, Domina,
Studioinhaberin).
Aber nicht nur durch eigenständige Organisation und ‚Unternehmensführung’ unterscheidet
sich das Dominagewerbe von der Prostitution. Sie distanzieren sich von den ‘Nutten’ und
102
verstehen sich nicht als Prostituierte, sondern eher als ‚Therapeutinnen’, die Erziehungsfehler
kompensieren, gesellschaftlich stigmatisierte Wünsche erfüllen und Bedürfnisse von Menschen befriedigen, die sonst nirgends ausgelebt werden können.
1.4
Codes und Symbole
Auch in den sadomasochistischen Spezialkulturen bilden sich - genau wie in anderen Bereichen62 - typische Wissensvorräte aus. Die sozialen Regeln bei Gruppeninszenierungen oder
bestimmte Fertigkeiten (z.B. bei Bondage-Praktiken) sind Beispiele für dieses Szenewissen.
Daneben gibt es zahlreiche Symbole und Codes als Elemente dieser spezialkultur-typischen
Relevanzsysteme, die der Außenseiter nicht ohne Weiteres decodieren kann. Ihre Funktionen
sind im Folgenden dargestellt. Dabei sind zwei größere Bereiche zu unterscheiden: 1) Die
spezifischen verbalen Sprachcodes aus den Kontaktanzeigen und 2) die symbolvermittelten non-verbalen Bedeutungsträger (Kleidung, Schmuck etc.). Letztere haben auch fetischistische
Funktionen, die im Anschluss dargestellt werden.
1.4.1
Kontaktanzeigen
Medien spielen in den sadomasochistischen Spezialkulturen eine wichtige Rolle (vgl. Wetzstein u.a. 1993). Ein großer Teil der Print- und der elektronischen Medien dient dabei Animationszwecken. Es gibt aber auch zahlreiche Kontaktzeitschriften, in denen Interessierte nach
persönlichen Beziehungen suchen oder sie anbieten. In jedem Szenegeschäft sind solche Kontaktführer zu finden. Dies war nicht immer so. Bis in die siebziger Jahre hinein gab es keine
ausgeprägte subkulturelle Organisation und kaum Medien für solche spezialisierten Interessen. Was aber nicht heißen soll, dass keine Kontakte über Medien geknüpft wurden:
Dorothea: Anzeigen gibt es eigentlich schon sehr lange. Die waren früher allerdings ziemlich verschlüsselt. Also nicht so offen, wie man das heute formuliert.
Heute gibt es ja Hefte, in denen stehen Anzeigen drin, die sind ja nun wirklich
deftig, so dass ich mich manchmal wundere, was für Worte da gebraucht werden.
Aber früher hat man ja diese Anzeigen verschlüsselt abgefasst. Die Zeitungen hätten das ja auch gar nicht aufgenommen, wenn man das anders formuliert hätte.
Sogar heute gibt es Zeitungen, in denen man sehr vorsichtig formulieren muss (50
Jahre, S., heterosexuell).
62
Als Beispiele können hier etwa die Welten der Videofans (vgl. Eckert u.a. 1990; Vogelgesang 1991), der
Computerfreaks (vgl. Eckert u.a. 1991), die Bodybuilding-Kultur (vgl. Honer 1985) oder auch die Do-ityourself-Bastler (vgl. Hitzler/Honer 1988) genannt werden.
103
Die normalen, und überall erhältlichen Tages- und Wochenzeitungen sowie Stadtmagazine
wurden (und werden auch noch heute) dazu genutzt, Such-Annoncen aufzugeben oder SMDienste anzubieten. Um aber in einer Tageszeitung überhaupt gedruckt zu werden, muss der
sadomasochistische Kontext der Annonce verschleiert werden. Für die Praktiken und Neigungen werden deshalb entsprechende sprachliche Codes verwendet.
Wo werden Sprösslinge, Ehefrauen, Freundinnen, Freunde noch mit dem Rohrstock erzogen? Gepflegter Pädagoge möchte mit Rat und Tat zur Seite stehen. Erzieher, mit komplett eingerichtetem Erziehungsraum, erteilt solventen Damen,
Herrn und Paaren einfühlsame Erziehungshilfe. Wochenend- und Langzeitbehandlung möglich.
Engländerin. Erfahrene Internatslady und zudem examinierte Krankenschwester
mit speziellen Erziehungsmethoden erteilt englischen Unterricht - eigenes Privathaus, zweckmäßige Räume, herrisch, einfühlsam, konsequent mit Sinn für Individualität.
Straflos ungezogen sein kannst Du - kleiner großer Bub - bei mir nicht. Du siehst
ein, dass nur die strenge Hand Deiner erfahrenen Erzieherin Dich zu einem wirklich nützlichen Glied der Gesellschaft formt. Erziehungsbedürftige Knaben bewerben sich unter (...).
Die Schönheit und die gleichzeitige Strenge Deiner jungen Erzieherin werden
Dich zunächst verwirren. Ihr Niveau und ihr ausgezeichnetes Benehmen lassen
Dir Deine fehlende Kinderstube bewusst werden. Du siehst ein, dass bei Dir nur
die gute alte englische Erziehung fruchtet (...).
In den Anzeigentexten wird die nichtsexuelle Kontextierung des sexuell motivierten Anliegens deutlich. Das Wechselspiel von Beherrschung und Erniedrigung wird beispielsweise
hinter der Metapher der ‘Erziehung’ verborgen, wobei der Erziehungsbegriff für verschiedene
flagellantische Praktiken steht, etwa die ‘englische Erziehung’ mit dem Rohrstock. In vielen
Anzeigen ist das Spektrum an Erziehungsmitteln aber weiter gefasst. Gerade wenn in den
SM-Annoncen der Begriff des ‘toleranten Paares’ oder der ‘tabulosen Beziehung’ verwendet
wird, ist damit eine ganze Palette verschiedener sadomasochistischer und ‘bizarrer’ Praktiken
angesprochen: Fesselungen, anale Praktiken, Klistiere, Nadeln etc. werden in diesem Zusammenhang eingesetzt. Diese begrifflich neutrale Thematisierung sexueller Wünsche wird insbesondere in vielen Szene-Magazinen und Hardcore-Heften durch eine direktere Begriffswahl
ersetzt. Hier besteht kein umfassender Codierzwang und dementsprechend werden die sexuellen Verhaltensformen mit einem umgangssprachlichen oder szenegebräuchlichen Vokabular
beschrieben.
Schwanger? Williges Ficktier sucht Leute, die Lust auf einen dicken Bauch und
pralle Titten haben. Wer hat Erfahrung im Umgang mit einer solchen Deckstute?
104
Keine finanziellen Interessen. Aber genaue Angaben, was man bei der Dressur berücksichtigen muss. Echter Erfahrungsaustausch gesucht. Wie kann man z.B. die
Milchproduktion der Stute steigern etc.? Kontakt zu SM-Arzt/Hebamme für
Hausgeburt gesucht.
Eine scharfe, tabulose Wichserin bin ich, 26 Jahre jung, schlank und ständig
feucht in meiner Möse. Für frivole Spielchen suche ich geile Herrn mit außergewöhnlicher Sexneigung (z.B. NS, Kaviar, Wichser, Fußanbeter, Achselschweißund Mösensaftlecker etc.). Gerade ganz ausgefallene Erotik macht mich an, also
nur keine Hemmungen!
Er (26, 170cm, schlank) sucht Paar oder Sie (auch mehrere Freundinnen, ...) für
zärtliches Ficken, Französisch, Sperma spenden und lecken, Bi-Sex, Anal, NS,
Klistier, Schoko, extremster Toilettensex, bepissen und bekacken in der Natur,
spende und schlucke restlos alles.
Paar, Mitte Dreißig, sie dominant, attraktiv, durchsetzungswillig, er devot, abgerichtet, sucht Kontakt zu Kastrationswilligen, Semi-Kastrierten, Kastraten, Sklaven mit übermäßigem Geschlechtstrieb und allen Interessenten, die dieses Thema
interessiert, erregt und fasziniert. Äußerste Diskretion.
Es fällt auf, dass für besonders tabuisierte Bereiche nach wie vor Codes verwendet werden.
Ein gutes Beispiel sind die Begriffe ‘Kaviar’ und ‘Natursekt’, die für die Bezeichnung von
Exkrementen verwendet werden. Weil diese Praktiken von vielen Sadomasochisten als besonders ekelhaft abgelehnt werden, soll die positive Attribuierung im Begriff die negative
Bedeutung abmildern. Die Verwendung dieses spezifischen Vokabulars beschränkt sich aber
nicht auf die Schriftsprache. Auch in der gesprochenen Sprache werden diese Metaphern verwendet, wie wir bei unseren Exkursionen in das Untersuchungsfeld feststellen konnten.
‘Schoko’ und ‘Dirty’ sind dabei weitere Begriffe für Fäkalpraktiken, ‘Nektar’ ist eine Umschreibung für die verschiedensten Körperflüssigkeiten (z.B. Urin, Scheidenflüssigkeit,
Sperma), ‘Nursing’ steht für bizarren Kliniksex, ‘Reitunterricht’ ist eine spezielle Form der
‘Sklavenerziehung’. Die Liste solcher Codes ließe sich beinahe beliebig erweitern. Häufig
stammen diese Begriffe aus anderen Sinnsystemen (z.B. die zahlreichen Erziehungsmetaphern) und werden im SM-Bereich verfremdet eingesetzt. Damit soll zum einen die Harmlosigkeit des Tuns suggeriert, zum anderen sollen Fremde aus der Kommunikation ausgeschlossen werden. Die Neubesetzung sprachlichen Sinns wird auf diese Weise zu einem Mittel der
sozialen Ausgrenzung und zur Geheimhaltungsstrategie.
105
1.4.2
Kleidung und Schmuck
Typischerweise differenzieren sich in Subkulturen spezifische Stilmuster aus. Die allgemeine
Funktion von Stilen beschreibt Soeffner (1986, S. 319) folgendermaßen: „Es ist eine sichtbare, einheitsstiftende Präsentation, in die jede Einzelhandlung und jedes Detail mit dem Ziel
eingearbeitet ist, eine homogene Figuration oder Gestalt - den Stil - zu bilden und darzustellen. Stil zu haben - in diesem Sinne - bedeutet fähig zu sein, bewusst für andere und auch für
das eigene Selbstbild eine einheitliche Interpretation anzubieten und zu inszenieren.“ Illustrative Beispiele hierfür sind beispielsweise die Punks (vgl. ebd.) oder die Motorrad-Rocker
(vgl. Willis 1981). Letztere zielen bei ihren Inszenierungsformen darauf ab, einen betont
männlichen Habitus nach außen zu demonstrieren: Lederkleidung, Abzeichen, Bart und nicht zu vergessen - das Motorrad sind Kernstücke dieser Macho-Emblematik. Daneben hat
Stil eine wichtige ästhetische Funktion, ist gleichsam „eine ästhetisierende Überhöhung des
Alltäglichen“ (Soeffner 1986, S. 319), im Falle der Rocker etwa das chromblitzende Motorrad, dessen Tank mit der Darstellung einer nackten Frau oder einem Fantasy-Motiv bemalt ist.
Auch im Bereich der sadomasochistischen Szenen gibt es ähnliche Ästhetizismen. Die spezifische Bekleidung - von Leder über Latex und Seide bis Gummi - ist für ihre Träger immer
auch ästhetischer Ausdruck. Wie wichtig gerade im SM-Bereich das ‚Dressing for pleasure’
geworden ist, zeigten uns die Besuche in Lederstudios und SM-Läden. Die Auswahl eines
Gummikleides und der entsprechenden Accessoires oder einer Lederkombination unterscheidet sich in nichts von dem Kauf eines Abendkleides oder eines Fracks. Modezeitschriften,
Beratung durch die Verkäufer und unzählige Modellvarianten sind auch in den SM-Boutiquen
mittlerweile Alltag.63 Die führenden Hersteller kreieren jährlich neue Kollektionen, die zum
Teil Ideen und Anregungen aus der Haute Couture aufgreifen. Umgekehrt erhält auch die
Mainstream-Mode entscheidende Impulse aus der SM-Szene. Ästhetik, Mode und Design
sind also Bereiche, die für die Kleidungsstile in der sadomasochistischen Spezialkultur immer
wichtiger werden. Die Kleidung und - nicht zu vergessen - der Schmuck sind aber nicht nur
ästhetischer Ausdruck. Schmuck und Kleidung haben verschiedene Bedeutungsebenen. Sie
63
Dies war nicht immer so. Früher stand sehr oft nur das Material an sich im Vordergrund. Einer der Befragten,
der schon seit über 25 Jahren zur Szene gehört, zeigte uns seine Katalogsammlung aus diesem Zeitraum mit
der Bemerkung: Gummikleider beispielsweise waren gegen Ende der sechziger Jahre in der Regel formlose
Säcke und erinnerten mitunter stark an Mülltüten. Heute ist - bis auf den Unterschied im Material - kaum
noch ein Unterschied zur Alltagsmode zu bemerken. Viele dieser Kleidungsstücke werden im Übrigen aus
Großbritannien importiert.
106
sind z.B. heimliche Erkennungs- oder Aufforderungszeichen für eine eventuelle Beziehungsaufnahme:64
Andreas: Letztendlich signalisierst und dokumentierst du mit der Kleidung was zu
irgendwelchen Leuten, die gegebenenfalls zukünftig Partner sein könnten. Wenn
ich in so einem Hawaiihemd dasitze, denkst du nicht, dass ich vielleicht ein Sadomann bin. Wenn ich in Leder dasitze, assoziierst du ganz einfach: ‚Halt, stopp
mal, der könnte was mit der Geschichte zu tun haben’ (30 Jahre, S, heterosexuell).
Kleidung und Schmuck können aber zur Verstärkung des rollenspezifischen Habitus genutzt
werden. Ein Ring oder ein Halsreif sind z.B. Ikonen der Unterwerfung. Der dominante Teil
trägt vorzugsweise Lederkleidung, Stiefel und als Herrschaftsrequisit die Peitsche. Auffallend
ist auch, dass der Körper fast ganz bedeckt ist. Dadurch soll die Unnahbarkeit und Überlegenheit, z.B. der Domina, symbolisiert werden. Masochisten und Sklaven tragen hingegen wenig
Kleidung. Oft handelt es sich um ein einfaches Riemengeschirr (Harness) und ein ledernes,
mit Nieten und Ringen versehenes Halsband.
Abb.: Sklaven-Halsreif aus Stahl und Sklaven-Lederhalsband
(Quellen: www.puls-drugstore.de und www.suleika.de)
Ein weiteres Requisit ist die Maske. Sie hilft sowohl dem Masochisten als auch dem Sadisten
dabei, bestimmte Veranstaltungen anonym besuchen zu können; sichert also Diskretion.
Gleichzeitig kann sie dazu genutzt werden, den Träger am Sprechen, Sehen und Hören zu
hindern und dadurch noch manipulierbarer zu machen. Auch die Maske ist eine Möglichkeit,
die passive Rolle zu akzentuieren.
64
Die schwulen Sadomasochisten haben - trotz einiger Übereinstimmungen (z.B. dass eine Uniform als Zeichen für Dominanz interpretiert wird) - ein eigenes Code-System entwickelt, das die sexuellen Nuancen und
Interessen wesentlich differenzierter wiedergibt (vgl. Wetzstein u.a. 1993).
107
Abb.: Sklaven-Masken aus Leder (Quelle: www.puls-drugstore.de)
F: Was ist das denn für ein Ring, den sie um den Hals tragen?
Maja: Das ist Edelstahl. Da gibt es zwei Schlüsselchen dazu, mit so einem kleinen
Draht. Die zwei Schlüsselchen hat jetzt halt mein Freund. Also ich muss, wenn
ich das Ding mal abnehmen will, ihn fragen, ob ich es abnehmen kann. (...) Es
zeigt, dass ich seine Sklavin bin.
F: Und dieser Ring am Finger?
Maja: Kennen Sie die Geschichte der O? Ich meine den Film. Da trägt sie halt am
Zeigefinger einen ziemlichen breiten großen Ring. Die Bedeutung ist, wenn man
den rechts trägt, dann ist man Masochistin und links ist man Sadistin (20 Jahre,
M, heterosexuell).
Kurt: Ich trage z.B. gerne Gummikleidung. Ich trage auch Damenwäsche, Korsetts und dergleichen, aber keine Uniformen. Die Kleidung erhöht meine Erregung und verstärkt meine SM-Rolle. Stiefel sind das Symbol für Herrschaft, eine
Halskette oder eine Maske sind dagegen Symbole für Unterwerfung (28 Jahre,
S/M, heterosexuell).
Arnold: Lederstiefel und selbstverständlich die Peitsche sind für mich ein Symbol
der Herrschaft. Nackte Füße als Gegensatz dazu ein Zeichen der Unterwerfung.
Ach, wollte man alle aufzählen, man käme an kein Ende (64 Jahre, M, bisexuell).
Durch diese Codifizierung werden Kleidung und Schmuck auch zu Mitteln der Kommunikation. Dies soll anhand des Luhmannschen Kommunikationsbegriffs erläutert werden.
108
Luhmann versteht Kommunikation als dreiteiligen Selektionsprozess,65 wobei der Absender
in einer ersten Selektion eine Information aus der Gesamtheit der Möglichkeiten auswählt. In
der zweiten entscheidet er, wie die Information mitgeteilt werden soll. Die dritte Selektion
erfolgt durch den Empfänger, indem er Information und Mitteilung trennt, was wiederum die
Grundlage des Verstehens ist. Das Verstehen wird durch Feedbacks an den Sender zurückgemeldet. Kommunikation ist also als gemeinsame Aktualisierung von Sinn zu begreifen, als die
Synthese von Information, Mitteilung und Verstehen. Dabei ist Kommunikation nicht notwendigerweise an verbale oder schriftliche Formen gebunden.66
Im Falle der nonverbalen SM-Kommunikation hat der Absender eine zweifache Selektion
getroffen, nämlich die Selektion der Information (z.B. Ich bin Masochist) und die der Mitteilung (z.B. der Ring am rechten Finger), also die Entscheidung darüber ob und wie die Information mitgeteilt werden soll. Aber erst wenn auch auf der Seite des Empfangs eine Selektion
getroffen werden kann, z.B. ‚Da ist ein Masochist, der vielleicht einen Partner sucht’ oder
‚Sie ist die Herrin und ich der Diener’ und das Verstehen dem Sender bestätigt wird, entsteht
Kommunikation. Die Gelegenheiten für diese Kommunikationen sind zum Beispiel in der
Gruppe (etwa eine Kontaktofferte) oder in der sexuellen Interaktion (etwa die Betonung der
Rollenpräferenz als nonverbales Dialogelement) gegeben. Weil die mitgeteilten Informationen im Falle des Sadomasochismus zu einem sehr spezifischen ‚Sinnprozessieren’ gehören,
ist die Zahl der potentiell Verstehenden recht gering.
Außerhalb der Sinn- und Sozialwelt ‚Sadomasochismus’ gibt es ohnehin - von Einzelfällen
abgesehen - niemanden, der den mitgeteilten Sinn entschlüsseln kann. Allerdings ist bei diesen Codes ein generalisiertes Verstehen überhaupt nicht intendiert. Das Gegenteil ist der Fall.
Die Transformation allgemeiner Bedeutungen in spezifische Kontexte verändert ihren Sinn
und verhindert so das Verstehen durch Außenstehende. Das gilt nicht nur für die symbolver-
65
"Geht man vom Sinnbegriff aus, ist als erstes klar, daß Kommunikation immer eine selektives Schema ist.
Sinn läßt keine andere Wahl als zu wählen. Kommunikation greift aus dem je aktuellen Verweisungshorizont, den sie selbst erst konstituiert, etwas heraus und läßt anderes beiseite. Kommunikation ist Prozessieren von Selektion. Sie selektiert freilich nicht so, wie man aus einem Vorrat das ein oder andere herausgreift. (...) Die Selektion, die in der Kommunikation aktualisiert wird, konstituiert ihren eigenen Horizont; sie
konstituiert das, was sie wählt, schon als Selektion, nämlich als Information. Das, was sie mitteilt, wird nicht
nur ausgewählt, es ist selbst schon Auswahl und wird deshalb mitgeteilt. Kommunikation muß deshalb nicht
als zweistelliger, sondern als dreistelliger Selektionsprozeß gesehen werden. Es geht nicht nur um Absendung und Empfang mit jeweils selektiver Aufmerksamkeit, vielmehr ist die Selektivität der Information
selbst ein Moment des Kommunikationsprozesses, weil nur im Hinblick auf sie selektive Aufmerksamkeit
aktiviert werden kann" (Luhmann 1984, S. 194f).
66
"Kommunikation ist unter der gleichen Bedingung auch ohne Sprache möglich, etwa durch ein Lächeln,
durch fragende Blicke, durch Kleidung, durch Abwesenheit und ganz allgemein und typisch durch Abweichen von Erwartungen, deren Bekanntheit man unterstellen kann" (Luhmann 1984, S. 208).
109
mittelte Kommunikation, sondern auch - wie gezeigt - für die sprachlichen Codes in den Kontaktanzeigen von Sadomasochisten. In Bezug auf die Kleidung spielen neben der Mitteilungsfunktion auch fetischistische Bedeutungen eine Rolle. Fetische sind mitunter ein wichtiger
Teil von SM-Inszenierungen.
1.4.3
Fetischismus und Sadomasochismus
Der Begriff des Fetischismus wurde 1887 von Binet eingeführt und bedeutet im weitesten
Sinne die Fixierung sexueller Interessen auf bestimmte Gegenstände oder Körperteile. Dabei
gibt es kaum etwas, was nicht schon einmal irgendwo zum Fetisch gemacht wurde. Auch im
SM-Bereich spielen Fetische eine wichtige Rolle. So hat schon Spengler (1979, S. 98f) in
seiner Studie festgestellt: „Fetischismus und Sadomasochismus sind in dieser Gruppe untrennbar miteinander verbunden. Ausgesprochene Fetischisten, bei denen sadomasochistische
Elemente stark in den Hintergrund getreten sind, werden offenbar in die Subkultur integriert.“
Insgesamt ist die SM-Szene zugleich auch Auffangbecken für die fetischistisch orientierten
Personen.
Der wichtigste Fetisch im SM-Bereich ist das schwarze Leder. Es spielt bei hetero- und homosexuellen Personen eine zentrale Rolle. Insbesondere bei den Schwulen ist das Leder ein
Kultobjekt wie kaum ein anderes (vgl. Wetzstein u.a. 1993). Schon der spezifische Geruch ist
ein Grund für die Anziehungskraft dieses Materials. Beim enganliegenden Leder kommt eine
weitere Funktion hinzu, es „ist eine blanke, spiegelnde Oberfläche mit einer Neigung dazu,
die natürlichen Körperformen zu betonen. Es verstärkt die Wirkung jeder einzelnen Bewegung und daher auch die Ausstrahlung all dessen, was schon von Natur aus für den Träger
spricht. Es arbeitet das Offensichtliche klarer heraus und gibt ihm eine zusätzliche Dimension“ (Farren 1987, S. 110). Entscheidend für die Verwendung von schwarzem Leder ist aber
seine Machtsymbolik. Wie Uniformen steht es für eine polarisierte Machtstruktur, in welcher
der Träger die dominante Rolle ausübt.
Gummi und Latex sind weitere Materialien, die in der SM-Szene eine wichtige Rolle spielen.
Sie sind im Vergleich zum Leder noch körperbetonter (der Szenebegriff ‘skin two’ bringt dies
zum Ausdruck). Bei beiden kommt hinzu, dass sie die Transpiration verstärken. Das Schwitzen in diesen Materialien wird als besonders angenehm empfunden. Auch im Zusammenhang
mit bestimmten Fäkalpraktiken spielen diese Materialien eine Rolle: Zum einen, weil sich die
Träger bei der symbolischen Erniedrigung durch Exkremente nicht tatsächlich verunreinigen,
zum anderen sind sie abwaschbar, was ein wichtiger Hygiene-Aspekt ist. Neben diesen Formen des ‚Materialfetischismus’ sind auch Uniformen und Arbeitskleidungen, bei Schwulen
110
noch die Jeans, von Bedeutung. Einer der Befragten war Wäschefetischist und sammelte die
getragene Wäsche von Prostituierten. Andere wiederum sind fasziniert von High-Heels oder
Militärstiefeln. Auch Körperteile können fetischistische Funktionen übernehmen, wobei insbesondere bei der masochistischen Orientierung der Fußfetischismus des Öfteren genannt
wird. Bei den Schwulen kann der Bart als Ausdruck von Maskulinität Fetischcharakter gewinnen. Das gleiche gilt für Tätowierungen.
Aber auch aus dem engeren sadomasochistischen Bereich kommen zahlreiche Fetische, etwa
die Werkzeuge, Peitschen und Fesseln.67 Sie übernehmen eine dominanz- bzw. submissionsverstärkende Funktion, ähnlich der Kommunikationsfunktion des Outfits. Dies trifft insbesondere bei denjenigen Personen zu, die primär sadomasochistisch orientiert sind. Bei ihnen
hat der Fetisch mehr den Charakter einer Beigabe. Von ihnen müssen diejenigen unterschieden werden, die ausschließlich auf einen bestimmten Körperteil oder Gegenstand fixiert sind.
Weil manche Fetischismen aber zur SM-Situation passen, etwa das devote Verhalten eines
Fußfetischisten, können sie auch ohne größere Probleme in die SM-Situation integriert werden:
Ernst: Ich kann mir alle sadomasochistischen Praktiken vorstellen, von ihr als
Teppich, als Fußabstreifer benutzt, getreten zu werden, ihr die Füße küssen oder
lecken zu müssen. Aber das kann natürlich auch mehr sein: Mein Brustkorb wird
von ihr aufgeschlitzt und sie wühlt ihre Füße in das Innnere hinein. Die Phantasie
ist von mir nicht persönlich, sie ist in einem ganz normalen Film vorgekommen,
wo eine Frau dem Mann nachgebrüllt hat, dass sie ihn ihn so sehr hasst, dass sie
am liebsten seinen Brustkorb aufschneiden würde und mit ihren Füßen in seine offene Brust reintreten würde. Und da habe ich mir das erregend vorgestellt. Ich
stelle mir sehr gerne vor, dass meine Haut z.B. abgezogen wird und ewig z.B. als
Schuh, als Sohle, als Matratze oder als Fußmatte dient (18 Jahre, M, heterosexuell).
Marlene: Mein Freund steht ja unheimlich auf diese Gummisachen. Irgendwann
hatte er sich dann so einen Gummisack gekauft, in den ich ihn einpacken musste.
Das ging so weit, dass ich irgendwann das Gefühl hatte, völlig überflüssig zu sein.
Ich war nur noch eine Puppe, die ihn in diesen Gummisack hinein manövriert, und
dann war meine Aufgabe erfüllt. Er hat sich im Endeffekt nur noch um seinen Fetisch gekümmert. Mittlerweile hat sich das Ganze aber wieder gebessert (27 Jahre,
S, heterosexuell).
67
Larose (1989, S. 121ff) teilt sexuelle Fetische in zwei größere Bereiche ein: a) die Körperfetische, die nochmal in Körperteile sowie Gerüche und Ausscheidungen unterschieden werden; b) die Objekte, die in Kleidung und Gegenstände aufgeteilt werden. Als Fetische beschreibt Steele (1998) in ihrer Publikation ‚Fetisch,
Mode Sex und Macht’ das Korsett, Schuhe, Fetischstiefel, Catsuits, Unterwäsche, Satin, Gummi, Leder sowie Tatoos und Piercing.
111
Barbara: Leder mag ich einfach, weil es ein absolut anschmiegsames Material ist.
Ich trage es gerne auf der Haut, weil, es hat so etwas von - ich kann es schwer beschreiben -, anschmiegsam trifft es nicht, es ist irgendwie noch was anderes (...).
Ich mag auch zum Beispiel den Lederduft. Also wenn ich im Laden ein Paket mit
Ledersachen frisch aufmache, dann könnte ich mich jedes mal reinlegen, das ist
wundervoll, wie das nach Leder duftet, das ist toll. Und was mich an Gummi fasziniert, ist dieses Total-an-die-Haut-anlehnen und dieses Schwitzen unter Gummi,
so dass es sich noch mehr anlehnt und man im Prinzip so ein Gefühl hat, wie: ‚Eigentlich habe ich nichts an und trotzdem habe ich was an’. Das muss ein bisschen
glitschig sein. (...) Ich für mich habe verschiedene Fetische und einer davon ist
Leder, der andere ist Gummi (31 Jahre, S/M lesbisch).
Frank: Also was mich schon immer fasziniert hat, sind Männer mit Bärten, die
auch sonst ziemlich stark behaart waren. Manchmal, wenn ich im Schwimmbad
bin, und ich sehe so einen breiten, total behaarten Oberkörper, dann muss ich mir
einen wichsen gehen (37 Jahre, S/M, schwul).
Fetische haben im SM-Bereich also eher den Charakter eines Accessoires und sind weniger
ein Gegenstand, auf den die jeweilige Person fixiert ist. Dies zeigt sich auch daran, dass Fetische häufig in die Partnersexualität integriert sind und nur sehr selten den Partner im sexuellen Szenario in den Hintergrund drängen. Diese unterschiedlichen Grade der Partnerbezogenheit betonen auch Bräutigam/Clement (1989, S. 151): „Unterschiedlich ist der Grad, in dem
der Fetisch in die partnerschaftliche Sexualität integriert ist. Dies kann bei einer fetischistischen Besetzung von Körperteilen (Busen, Gesäß, Fuß, Haare) so weitgehend sein, dass der
Fetischcharakter kaum auffällt. Er kann zur sexuellen Stimulation des Partners bewusst eingesetzt oder toleriert werden, wenn der Geschlechtsverkehr in bestimmter Kleidung (z.B. Strapse, Unterwäsche, Strümpfe, Stiefel), aus bestimmtem Material (Samt, Leder, Seide) präferiert
wird oder ausschließlich möglich ist. Schließlich kann der Fetisch ganz losgelöst von der
partnerschaftlichen Sexualität und seinerseits ein Partneräquivalent sein, z.B. wenn in einen
Schuh oder ein Stück Unterwäsche masturbiert wird.“
1.5
Das sadomasochistische Szenario
„Über meinen Sklavengurt erhalte ich nun ein starkes, breites Gummikorsett um
die Hüften verpaßt, das Herrin Elisabeth mit aller Macht anzieht, so daß ich jeweils nur noch flach atmen kann. Nun werde ich, bäuchlings über die Rücklehne
unseres Fauteuils gebeugt, mit allen Vieren an Beinen und Armlehnen festgezurrt.
Zum Schluß knebelt mich meine Herrin mit einem aufblasbaren Gummiknebel,
will sie doch von meinem mit Sicherheit zu erwartenden schmerzvollem Gestöhn
auf keinen Fall belästigt werden. Genußvoll sucht sich Herrin Elisabeth nun unter
den verschiedenen Dildos in ihrem Schrank das Passende aus, um mich anal zu ficken. Denn sie weiß, daß dies für mich der letzte, extremste Akt der Unterwerfung
ist, der mir tief innerlich widersteht und den ich doch immer wieder herbeisehne.
112
Dabei ist der Kunstschwanz, den meine Herrin nun vor meinen Augen genüßlich
umschnallt desto größer, je schwerwiegender die Verfehlungen und Unterlassungen sind, die sie mir vorhalten kann“ (aus: Sadanas Nr. 61, S. 42).
Die Vorstellungen über das, was sadomasochistische Praktiken sind, variieren individuell.
Das gilt für die Auffassungen in Wissenschaft und Öffentlichkeit, aber auch für die Protagonisten selbst. Wie weit das Spektrum sadomasochistischer Praktiken reicht, ist im Folgenden
dargestellt. Anschließend ist untersucht, welche sozialen Mechanismen dem SM-Arrangement
zugrunde liegen.
1.5.1
Die Praktiken
Die Praktiken konstitutieren den äußeren Handlungsrahmen des SM-Szenarios. Aufgrund der
Variationsvielfalt und dem damit verbundenen Problem der Darstellbarkeit ist es sinnvoll,
eine Kategorisierung vorzunehmen. Entsprechend des ethnographischen Forschungsansatzes
orientiert sich die folgende Klassifikation an den Einteilungen, wie sie häufig in der Szene
vorzufinden sind. Im einzelnen: a) Verbale Mittel, b) Flagellantismus, c) Bondage und d) bizarre Praktiken. Diese Darstellung68 beschränkt sich auf die wichtigsten Praktiken und vernachlässigt eine ganze Reihe weiterer exotischer und extremer Arrangements. Szeneneulinge
oder Interessierte erhalten in den aktuellen (Szene)Publikationen ‘Das SM-Handbuch’
(Grimme 2000), das ‘Lexikon des Sadomasochismus’ (Hoffmann 2001) sowie ‘Die Wahl der
Qual’ (Passig/Strübel 2000) einen Überblick über die Ausdifferenzierung der Spielarten des
Sadomasochismus.
a) Verbale Mittel
Die nonverbale Kommunikation durch Kleidung, Erkennungszeichen und Körperhaltung
spielt - wie bereits gezeigt - in der sadomasochistischen Interaktion eine wichtige Rolle. Die
Sprache ist typischerweise - gerade dann, wenn es Berührungen mit einer größeren Öffentlichkeit gibt - codiert. Sie entzieht sich dadurch dem allgemeinen Verständnis. Im Schutz der
SM-Enklave wird die sprachliche Metaphorik und Umschreibung aber hinfällig. Sie wird des
68
Die Einteilungsversuche in der wissenschaftlichen Literatur sind unterschiedlich. Weinberg u.a. (1984) beispielsweise unterscheiden zwischen physiologischer und psychologischer Stimulation sowie BondagePraktiken. Greene/Greene (1974) trennen Bondage-, Schmerz- und Unterdrückungspraktiken sowie Fäkalvariationen. Janus u.a. (1979) unterscheiden zwischen Flagellation, sprachlicher und psychischer Demütigung
sowie Fesselungen. Weitere Kategorisierungen finden sich in: Moser (1988); Schiller (1987).
113
Öfteren durch die Drastik pornographischer Direktheit ersetzt. Die Sprache hat dabei eine
doppelte Funktion. Zunächst einmal werden die sprachlichen Ausgestaltungen rollenspezifisch als Elemente von Herrschaft und Demut eingesetzt. Die dominante Person kommandiert,
befiehlt, duldet keinen Widerspruch. Der passive Teil bittet und fleht. Neben diesen generellen Merkmalen lassen sich weitere rollengebundene Nuancen feststellen, die sich in verschiedenen Sprachkonventionen dokumentieren. Es handelt sich dabei nicht um verbindliche Szeneregeln, sondern um individuell ausgehandelte Absprachen. So darf der devote Partner oft
nur dann reden, wenn er gefragt wird. Auch seine Demut muss durch das sprachliche Verhalten unter Beweis gestellt werden.
Ferdinand: Ich muss meine Frau dann auch devot ansprechen. Ich bin eben ihr
Sklave und muss mich vorsehen. In der Regel darf ich erst dann sprechen, wenn
die Herrin es wünscht. Das gilt erst recht bei Veranstaltungen, wenn ich da vorgezeigt werde. Da kann ein Wort zuviel schon eine schwere Strafe bedeuten (36 Jahre, S/M, heterosexuell).
Roswitha: Den Herrn, den ich mir ausgesucht habe oder umgekehrt, der mich
dann erwählt hat, spreche ich als Herr und als Meister an. Totalen Respekt vor
diesem Menschen heißt, ihm in jeder Beziehung meine Unterwerfung darzulegen.
Sei es, dass ich zurückhaltend bin, etwas sage, wenn ich gefragt werde, aber nicht
zu viel spreche und in gewissen Situationen garnichts sage, höflich bleibe, ihm zu
Diensten stehe (35 Jahre, M, bisexuell).
Neben der Aufgabe als Verstärker der Rollenasymmetrie ist eine weitere Bedeutung festzuhalten. Durch ein bewusst ‚ordinäres’ Vokabular wird die Tabulosigkeit der Handlung und
ihre Ausklammerung aus dem Alltag symbolisiert. Die Sprache ist somit zugleich ein Distinktionselement, um die Exklusivität der SM-Situation zu betonen. Genau wie die Lederkleidung
ist sie zugleich Signum und Konstituens der Normalitätsabweichung. Die Übertretung der
konventionellen Geschmacksgrenzen durch die spezifische Sprache verfeinert als stilistisches
Surplus die SM-Situation. Sie ist ein Utensil wie das raffinierte Accessoire, die Peitsche oder
die Handschellen.
Joseph: Verbal-Erotik ist für mich sehr stimulierend. Je ordinärer die Domina
spricht, mit Ausdrücken wie Schwein, Sau, dreckiger Arschlecker, Sohn einer
pisswütigen Zuchthaushure, geiler Bock, Ficksau, Leck mir die Fotze sauber, du
impotenter Jammerlappen, jetzt wichse dich, du Hurensohn usw., sind Ausdrücke,
welche in unterschiedlichen Nuancen den Reiz einer Erziehung erhöhen können
(55 Jahre, M, heterosexuell).
Karin: Das Verbale spielt zur Stimulation eine unglaubliche Rolle. Wenn er vor
mir winselt und bettelt, kann ich ihn durch meine Wortwahl noch zusätzlich erniedrigen und demütigen, wenn ich zum Beispiel sage, ‚Na, was ist denn mit meinem kleinen Schlappschwanz heute, kriegt er wieder keinen hoch’ oder ‚Wage es
114
nicht, dich zu befriedigen, du kleiner Toilettenwichser’ (28 Jahre, S, heterosexuell).
Stefan: Ich kann Männer nur ertragen, wenn sie mit Flegelsworten mit mir reden.
Das ist die einzige Form von Liebe, die für mich annehmbar ist. (...) Ich war mal
bei so einem Erotik-Workshop. Da haben mich vier Leute gleichzeitig massiert,
ganz liebevoll und haben gefragt: Wie geht es dir jetzt? Da bekomm ich einen
Alptraum oder Migräneanfälle. Mir war so schlecht, dass ich kurz vor dem Erbrechen stand (40 Jahre, M, schwul).
Anastasia: Als Aktive ist es manchmal auch schön, wenn ich mich einen Dreck
um eine feine Sprache bemühen muss und einfach sagen kann, was ich denke. Ich
sage manchmal bei Tisch: ‚Unter den Tisch mit dir, du geile Wildkatze, und lecke
mir die Muschi’ (35 Jahre, S, lesbisch).
Diese Stilmittel finden sich in entsprechender Form auch in den Medien-Welten der Pornographie.69 Häufig werden pornographische Darstellungen (nicht nur aus dem SM-Bereich) in
Wissenschaft und Öffentlichkeit oder in feministischen Kreisen vorzugsweise als die Darstellung einer reduktionistisch-mechanistischen Sexualität oder als die symbolischen Codes für
eine spezifische Grammatik der Geschlechter (etwa im Sinne einer Entweihung bzw. Entwürdigung der Frau) interpretiert. Das ist zumindest eine stark verkürzte Sichtweise. Alltags- und
Mediensexualität sind auch durch ästhetische resp. semantische Strukturen (wie die Machtsemantik im Falle der sadomasochistischen Sprache oder die distinktive Funktion dieses abwei-
69
Der Blick auf typische Dialoge aus verschiedenen SM-Pornofilmen verdeutlicht die Parallelen auf der
sprachlichen Ebene:
Sklave: Oh, Herrin, Sie sind so gut zu mir.
Domina: Jetzt aber nicht mehr, Du hast mir die Stiefel vollgewichst. Komm, leck mir die Stiefel ab. Leck
deine Sauerei auf. Ja, leck. Schmeckt das gut?
S.: Ja, Herrin.
D.: Ja, deine eigene Schweinerei, die Du veranstaltet hast. Magst Du das?
S.: Ja, Herrin.
D.: Wenn ich sage, dass Du wichsen sollst, dann heißt das noch nicht, dass Du auf meine Stiefel wichsen
sollst. Ja, leck weiter. Immer weiter. Die Stiefel sind noch nicht sauber, das reicht mir noch nicht.
S.: Jawohl Herrin.
D.: Die müssen richtig blinken und blitzen wie eine Luxuslimusine. Ja, mach weiter. So ist brav. Sklave, das
hast Du gut gemacht. Zur Belohnung darfst Du in den Käfig und dann werde ich dich anpissen. Sag mir, dass
ich Dir in den Mund pissen soll!
S.: Bitte piss mir in den Mund. Du bist so gut zu mir Herrin.
D.: Das hast Du auch verdient (aus dem Film: Die pissende Domina).
Los, worauf wartest du, auf die Knie, du Sklavensau. Leck ihn und schieb ihn dir in den Mund und saug dabei. Ja, so, (...) dass mir die Arschbacken zusammenfallen. Ja weißt du was, du bist eine dreckige läufige
Hündin, wenn du nicht alles machst, was ich dir sage, dann kriegst du die Peitsche (aus dem Film: Schwarzes Leder).
Herrin: Küß' meine Füße. Richtig, so ist es gut. Komm du Hurensohn. (...) Gleich werde ich dich auspeitschen du Sklave.
Sklave: Ich freu' mich drauf.
Herrin: Halt's Maul Sklave, du hast gar nichts zu melden.(aus dem Film: Peitschen-Exzesse).
115
chenden Sprachgebrauchs generell) miteinander verwoben. So ist z.B. das Sprachverhalten in
der Pornographie ein spezifisches ästhetisches Ritual, das - genau wie die tatsächliche Inszenierung mancher Sexualitätsformen auch - die Geschmackskonventionen des Alltags zu zerschlagen versucht. Wer die pornographische Sprache als bloßen Vulgarismus oder als Folge
der Männerlastigkeit der Gesellschaft abtut, der verkennt, dass in der Sexualität eigene Ästhetiken und Bedeutungen etabliert worden sind. Sie werden auch über die Szenegrenzen hinweg
kultiviert. Die Negativ-Ästhetik dient als Distinktionsmittel gegenüber der mehrheitlichen
Kultur der ‚Anständigkeit’.70
Diese abweichenden Formsprachen sind aber kein Spezifikum der Pornographie. Sie sind
vielmehr in eine lange Tradition ‚abweichender Ästhetik’ eingebettet. Gerade der Marquis de
Sade verwendet für die Beschreibung seiner fiktiven Orgien eine Sprache, die jenseits aller
Normen steht. Die stilistischen Mittel - etwa die pornographische Direktheit der Szenen oder
die Akribie der Beschreibung von ‚Perversionen’, Sexualität und Gewalt - sind eine provokante Abweichung von den Geschmacksnormen der Mehrheit.71
b) Flagellation
Die religiöse, kultische und juristische Bedeutung des Flagellantismus ist vielfach dokumentiert72 und zu erklären versucht worden.73 Auf diese Aspekte soll an dieser Stelle nicht weiter
eingegangen werden. Vielmehr möchte ich mich auf die sexuelle Seite der Flagellation be-
70
Zur Ikonographie und Semantik des pornographischen Genres vgl. Eckert (u.a. 1990).
71
Die etymologische Rückführung des Begriffs Sadismus auf den umstrittenen Marquis de Sade verweist auf
seine Bedeutung für die Auseinandersetzung mit diesem Bereich der Sexualität. Sein Werk umfasst neben
Romanen auch Geschichten, Reden, Traktate, Theaterstücke, Fragmente und Briefe. Er beschreibt dort sämtliche Formen abweichender Sexualität, von inzestuösen Praktiken bis hin zu ritualisierten Menschenopfern.
Seine Hauptpersonen (männliche und weibliche Libertins) lehnen alle moralischen und kulturellen Gebote
ab. Und diese Negierung von Normen und Normbefolgung hebt de Sade aus dem pornographischen Einerlei
hervor. Böhme (1984, S. 185) schreibt dazu: „Sades Romane sind eher philosophische als pornographische.
Unendlich, wie das Sperma der Libertins, strömt auch deren philosophischer Diskurs.“
72
Vgl. Dalarun (1986); Hyde (1964); Leibbrand/Leibbrand (1972)
73
Sehr oft wird dabei ein Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Restriktion und individueller Obsession
hergestellt: "Als man aber das Triebleben durch ein ausgeklügeltes System von Schlägen, durch die obere
und untere Disziplin, scheinbar wirksam unterdrückt und die sexuellen Anfechtungen augenscheinlich niedergekämpft hatte, möchte man die Schläge nicht mehr missen. Der Trieb, nun pervertiert, brach sich wieder
Bahn: die Flagellation ersetzte die nicht erlaubte Sexualität, wenigstens teilweise, wurde Selbstzweck, zum
Akt an sich" (Farin 1991, S. 12). Systematisch ist der englische Kulturhistoriker Steven Marcus (1979) diesen Fragen nachgegangen. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf Brown (1991) und Ussel
(1977).
116
schränken, wie sie seit dem 17. Jahrhundert in zahlreichen literarischen Beispielen - insbesondere aus England - beschrieben ist. Welche Rolle das Auspeitschen und Schlagen heute in
den entsprechenden Szenen spielt, verdeutlichen die folgenden Interviewausschnitte:
Alice: Ich übe die aktive Rolle einer Eheherrin aus. Am meisten spricht mich das
Auspeitschen meines Ehesklaven an, was ich auch praktiziere. Das SM-Spiel liefert den Rahmen für Erotik und sexuelle Erfüllung. Speziell freue ich mich, den
zum Auspeitschen bereit gemachten Sklaven zu betrachten, ihn unter den Peitschenschlägen zucken zu sehen und ihn stöhnen zu hören. Ich genieße die roten
Striemen auf den gepeitschten Körperflächen. Lust bereitet es mir auch, den Arsch
des Ehesklaven mit Gummischwänzen zu ficken (51 Jahre, S, heterosexuell).
Hans-Jörg: Eine Striemenhose ist sehr ansprechend (...). Da hat man einen nackten Hintern und Schenkel. Dann werden auf den linken Po drei vier Striemen
senkrecht und auf den rechten Po drei vier Striemen senkrecht und dann wagerecht verpasst. Am Schluss ist es so, als hätte er eine Karohose an, in Form von
roten Striemen. Das kann man mit der Reitpeitsche sehr gut. Wenn man sie nur
halb durchzieht, gibt es schon Striemen, die aufgehen und bluten. Das ist sehr
schmerzhaft (57 Jahre, M, heterosexuell).
Christine: Ich peitsche ganz gerne. (...) Also weil ich mir die kommerziell hergestellten Peitschen nicht leisten kann und will, bin ich zum Selberbasteln übergegangen, vorwiegend mit Lederriemen. Je dünner und härter das Leder, desto härter ist dann auch die Peitsche. Aus weichem Leder und etwas breiteren Streifen,
das macht eigentlich nur noch Krach und kribbelt ein bisschen, aber es tut nicht
weh (26 Jahre, S/M, lesbisch).
Entsprechend der jeweiligen Rollenverteilung hat der Flagellantismus eine aktive und eine
passive Ausprägung.74 Mit Hilfe der verschiedensten Schlagwerkzeuge (Peitschen, Rohrstöcke, Gerten etc.) wird der masochistische Teil vom aktiven Partner behandelt. Die Wirkung
der verschiedenen Schlaginstrumente ist unterschiedlich. Manche erzeugen nur eine gerötete
Haut, andere blutige Striemen, Platzwunden oder blaue Flecken.
In dem bereits erwähnten SM-Handbuch unterscheidet Grimme (2000, S. 56ff) in seinem Kapitel ‘Über das Schlagen’ folgende Utensilien:
„Riemenpeitsche: Unterschiede in Größe, Länge, Dicke, Anzahl und Elastizität
der Peitschenriemen. (...) Die Riemen sind üblicherweise aus Leder, können aber
74
Janus u.a. (1979, S. 122) bemerken, dass vor allem Männer die passive Flagellation nachfragen: "Die Anzahl
der Männer, die sexuelle Befriedigung nur empfinden, wenn sie Flagellation erleiden, steigt ständig an und
ein unverhältnismäßig hoher Prozentsatz davon sind Politiker. Es trifft sich gut für die Mädchen, daß das
Verhältnis zwischen Empfängern und Verabreichen von Flagellation unter ihren Kunden etwa acht zu eins
beträgt."
117
auch aus anderen Materialien sein. (...) Mit Samtschnüren versehen, sind diese
Peitschen so weich, daß man sie als Effektpeitschen bezeichnet. (...) Die Enden
der Riemen können ein enormes Tempo und damit eine sehr große Kraft entwickeln. (...)
Geißel: Ähnlich der Riemenpeitsche, doch sind es hier meistens weniger Stränge,
die außerdem geflochten oder geknotet sind. Hierdurch hat ein Schlag mit der
Geißel mehr Masse und kann je nach Schlagstärke schnell zu blauen Striemen
führen. (...)
Tawse: Auch Riemen genannt. Unterschiede in Länge, Dicke, einfach oder doppelt gespalten. Kurze leichte Tawsen fühlen sich ähnlich wie eine Hand oder ein
Gürtel an. Schwere Tawsen erzeugen rasch blaue Flecken (...)
Reitgerte: Lang und dünn, am Ende mit einem elastischen Bändchen. (...) Macht
mehr oder weniger deutliche Doppelstriemen, die bei günstiger Disposition von
mehreren Stunden bis zu Wochen sichtbar sein können. (...)
Springstock: Kürzer als die Gerte, oft mit Leder überzogen (...). Gut für zielgenaue Schlagübungen, weil die Lasche auch sehr wirkungsvoll alleine auftrifft. (...)
Rohrstock: (Geeignet sind spanisches Rohr, Rattan oder Thairohr, ungeeignet ist
Bambus wegen seiner scharfen Splitter...). Beim Kauf sollte man darauf achten,
daß das Rohr gerade schwingt und nicht unkontrolliert zur Seite wegrutscht. (...)
Bullenpeitsche: Sehr eindrucksvoll, teilweise mehrere Meter lang, je nach Qualität aus mindestens 8 bis zu 32 Lederriemen geflochten. (...) Da sie wegen ihrer
Länge sehr schwer zu kontrollieren ist, besteht Verletzungsgefahr; trifft das Ende
mit erheblich mehr Wucht auf, ist gleich die Haut durch. (...)
Hundepeitsche: Teilweise aus mehreren Lagen Leder genäht oder geflochten.
Kann sowohl als Leine (hat am dickeren Ende einen Karabiner) als auch als
Schlaginstrument eingesetzt werden (...).
Paddel: Unterschiedliche Modelle, vom Lederpaddel über abgewandelte Tischtennis- und Jokarischläger bis zu extra aus gutem Holz hergestellten Geräten mit
Löchern (geringerer Luftwiderstand, dafür größerer Schmerz). (...) Zu erwähnen
sind noch Haushaltsgegenstände wie Kochlöffel, Pantoffel, die aus viktorianischen Erzählungen bekannte Haarbürste, Teppichklopfer und Gürtel. Diese Geräte
eignen sich natürlich genauso wie die eigene Hand. Sie sind preiswert und können
unauffällig in der Wohnung herumliegen, ohne daß andere Leute oder die eigenen
Kinder auf dumme Gedanken kommen, aber den meisten fehlt das Flair des ‘echten’ SM-Spielzeugs.“
118
Abb: Flaggelationswerkzeuge (Quellen: www.puls-drugstore.de und www.kastleys.de)
Diese Übersicht zeigt noch einmal die Bedeutung der Flagellationspraktiken. Die Hilfsmittel
sind stark ausdifferenziert mit jeweils unterschiedlichen Wirkungsgraden. Was die geschlagene Person ertragen kann, ist starken individuellen Schwankungen unterworfen. Einige berichteten, dass fünfzig Schläge mit dem Rohrstock die absolute Grenze sei, andere ertragen das
Zehn- bis Zwanzigfache. Bevorzugtes - aber nicht ausschließliches - Ziel der ‘Geißel-Lust’ ist
das Gesäß. Damit solcherlei Malträtierungen nicht zu ernsthaften Verletzungen führen, muss
der Flagellierende eine gewisse Geschicklichkeit erlangen. Er darf keinesfalls blindwütig losschlagen. Die Flagellation ist des Öfteren in besondere thematische Rahmen eingebettet: ‘Die
strenge Lehrerin züchtigt das ungehorsame Kind’ oder ‘Der Sklave soll für seine Verfehlungen bestraft werden’. Nicht umsonst werden diese Praktiken von vielen Szenemitgliedern
auch als ‘Erziehung’ bezeichnet.
c) Bondage
Fesselungspraktiken (Bondage) haben nicht selten fetischistische Ursprünge. Seile, Schnüre,
Korsetts, Gürtel etc. spielen in der Vorstellungswelt mancher Bondage-Anhänger eine wichtige Rolle. Die ‚Fesselungs-Manie’ existiert in fetischisierter Form als eigenständige Neigung
unabhängig vom Sadomasochismus. Sie kann aber auch Bestandteil sadomasochistischer
Handlungen sein, weil Fesseln wehrlos macht. Fesselungen erfolgen in unterschiedlichen
Formen und mit unterschiedlichen Materialien. Grundsätzlich unterscheiden sich Teilfesselungen von Ganzkörperfesselungen. Für beides sind Stricke, Ketten, Hand- und Fußschellen
oder Lederbänder und Ledermanschetten, Elastikbinden, Pferdebandagen, Schals und Halstücher oder auch Bettlaken gebräuchlich.
119
Abb.: Faustfessel und Hand-/Fußfessel mit Ketten (Quelle: www.suleika.de)
Soll der passive Teil nur bewegungsunfähig gemacht werden, wird er nicht selten an ein Andreaskreuz oder an andere Vorrichtungen (etwa Wand- und Deckenhaken, Streckbank, Fesselrahmen, Fesselbank) gebunden und dann unter Umständen auch ausgepeitscht oder mit anderen Werkzeugen ‚behandelt’. Schließlich stellt auch das Einsperren in einen Käfig eine Form
des Bondage dar.
Abb.: Sklavenkäfig (Quelle: www.puls-drugstore.de)
Fesselungen können aber auch dazu dienen, bestimmte Körperhaltungen und ästhetische Effekte zu erzeugen. Sonderformen sind noch die Verwendung von Haushaltsplastikfolie (Einwickeln des ganzen Körpers), das Fesselgeschirr aus Leder, Stahl oder Ketten (Harness), Corsagen, Zwangsjacken, der Bondage-Sack für Kopf, Arme, Beine oder den ganzen Körper. Die
diversen Fesselungsutensilien haben allerdings nicht selten Fetischcharakter.
120
Abb.: Ganzkörper-Bondage im Gummianzug (Quelle: www.avalon-berlin.de)
Helmut: Mit Fesselungen kannst du auch bestimmte Dinge betonen. Z.B., wenn
du die Arme auf den Rücken bindest und die Ellenbogen zusammenbindest, dann
wird der ganze Brustkorb herausgehoben und betont. Dann kannst du zum Fesseln
auch eine alte Gardinenschnurr nehmen, ein schönes weiches Band, und du
machst das sorgfältig, so dass die Knoten nicht sichtbar sind. Du kannst das von
der Art der Ausführung schön machen oder lausig. Der Effekt ist für das Opfer
unter Umständen der gleiche, weil es das sowieso nicht sieht und sich nicht befreien kann. (...) Um das Ideal hinzubekommen, gehört Ästhetik dazu. Da gehören
im weiteren Sinne noch bestimmte Ledergeschichten dazu, die ich einfach schön
finde. Ledermanschetten kann man auch auf verschiedene Art herstellen. Hier so
was, das würde ich noch nicht einmal einem Hund anlegen. Es gibt aber auch Sachen, da merkt man, da war jemand wirklich mit Hingabe dabei und der weiß genau, worauf es ankommt (28 Jahre, S/M, heterosexuell).
Carola: Das Festbinden gehört dazu, es unterstreicht es noch. Ein einfacher Hanfstrick oder eben Ketten, dann kann der stärkste Typ nichts mehr machen. Du
kannst mit ihm machen, was du willst, er ist ausgeliefert (26 Jahre, S, heterosexuell).
Vanna: Was ich schön finde, ist Bondage. Sich festbinden und fesseln zu lassen,
finde ich unheimlich geil. Das Gefühl, sich dabei nicht bewegen zu können und
warten zu müssen, auf das was passiert, das ist sehr spannend. Da ist auch Geborgenheit mit dabei. Du kannst auch Bondage machen und Kuschelsex praktizieren,
da musst du nicht immer nur harten SM mit verbinden, das ist in so einer Grauzone, so dazwischen (22 Jahre, S/M, lesbisch).
Angesichts manch waghalsiger, akrobatischer Figuration ist es beinahe schon unerlässlich,
dass der Gefesselte sehr gelenkig sein muss. Vorbildcharakter haben hier die japanische Bondage Art und die vielen Zeichnungen aus den Comics. Gerade Comics sind gleichsam die
121
idealtypische Vorgabe, denen manche nachzueifern versuchen und doch immer wieder an den
physiologischen Wirklichkeiten scheitern: ‘Ich bin nunmal keine Gwendoline aus diesen Heften und deswegen kann er mich da nicht so drehen und zusammenbinden, wie es ihm vielleicht
vorschwebt.’
Eine Bondage-Sonderform ist das Abbinden von Geschlechtsteilen. Dazu werden sehr dünne
Schnüre verwendet. Gerade bei solchen extremen Fesselungen ist die Gefahr von Durchblutungsstörungen gegeben und deswegen ist es unter Sadomasochisten guter Rat, sich nicht von
Anfängern derartig fesseln zu lassen.75
d) Bizarre Praktiken
Bizarre Praktiken dienen der gezielten Betonung von bestimmten Effekten, etwa dem
Schmerzerlebnis. Die verwendeten Hilfsmittel sind vielfältig: Klistier, Nadeln, Klammern,
Gummi, Fäkalien, Strom, Rasierklingen, Rasur, Keuschheitsgürtel, Intimschmuck, Gewichte,
Handschellen, Ketten, Dornenkränze, Katheter, usw. Auch seltene Praktiken wie das Wickeln
mit Windeln (bei denen sich gemäß psychoanalytischer Vorstellungen Konflikte mit der Reinlichkeitserziehung manifestieren) werden in der Szene nachgefragt. Gelegentlich werden sie
auch mit bestimmten Strafritualen kombiniert.
Abb.: Brustwarzenklemmen, Gewichte und Reizstromgerät
(Quellen: www.puls-drugstore.de und www.cosmic-ware.de)
75
Einen Überblick zu den verschiedenen Formen des Bondage gibt das Bondage-Handbuch von Grimme
(1999). Es enthält Anleitungen, Gesundheits- und Sicherheitstipps. Zum Thema Bondage in der Literatur vgl.
Wetzstein u.a. (1993).
122
Abb.: Keuschheitsgürtel für Mann und Frau (Quelle: www.kastleys.de)
Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang der ‚Kliniksex’, wo krankenhausähnliche
Arrangements zur Stimulation eingesetzt werden. Sie finden zumeist in nachgestellten OPoder Praxisräumen statt und die Akteure sind entsprechend gekleidet (etwa die Domina als
Krankenschwester).
Abb.: Klinikraum im Domina-Studio (Quelle: www.avalon-berlin.de)
123
Abb. Domina als Krankenschwester bei der „Katheterbehandlung“ eines Sklaven in Gummimaske und Haushaltsfolie (Quelle: www.avalon-berlin.de)
Auch die Durchbohrung von Brustwarzen und Schamlippen, Hoden, Eichel und Vorhaut ist
keineswegs selten. Ähnlich wie bei den Intimschmuckträgern werden an diesen Körperteilen
Ringe und Haken angebracht. Während der Intimschmuck dort hauptsächlich ein ästhetisches
Surplus oder ein fetischistischer Gegenstand ist, dienen diese Vorrichtungen bei den Sadomasochisten häufig dem Anhängen von Ketten und Gewichten.76
Die Analpenetration mit übergroßen Dildos oder mit der Hand (nicht nur bei Homosexuellen),
Beträufeln mit heißem Wachs, das nach dem Erkalten mit einer Gerte wieder weggeschlagen
wird, das ‚Streicheln’ mit Brennnesseln oder das Trinken von Urin und das Verspeisen von
Fäkalien sind weitere Beispiele für diese Bizarr-Praktiken.
Sven: Was für mich bis jetzt am schwersten erträglich war, das waren Brennnesseln. Da hat sie mich mal dazwischen gehabt, mit Brennnesseln. Das war also
mehr als ein Streuselkuchen. Wobei das Peitschen damit noch erträglich ist, aber
das Streicheln damit ist unerträglich. Vor allen Dingen im Genitalbereich. Das
war am härtesten an der Grenze von dem, was ich bisher erlebt habe. Und da habe
ich noch 24 Stunden später noch daran zu denken gehabt (50 Jahre, M, heterosexuell).
76
Die Gewichte für die Brustwarzen und die Geschlechtsteile können oftmals mehrere Kilo wiegen und werden
mitunter während der ganzen Inszenierung getragen. Damit kontinuierliche Steigerungsmöglichkeiten gegeben sind, besitzen manche Sadomasochisten ein ganzes Set an Gewichten, die dann nach und nach angehängt
werden.
124
Fritz: Meine Vorlieben in den Praktiken liegen im Gefesselt Sein, wehrlos und fixiert zu sein sowie im Flagellantismus. Wenn aber ein guter Meister (unter erzieherischem Druck bin ich auch bisexuell) oder eine gute Meisterin da ist, dann ist
es in dessen Entscheidungsbereich, was die Strafmaße sind. Da habe ich schon einiges erlebt und praktiziert und tue es noch: z.B. Nadeln, Nähen, Wachs, Elektro,
Gewichte, Klammern, Klistiere, NS, Vorführungen, Analbehandlungen etc. etc.
(...) Es steigert das Lustgefühl, gezwungen zu sein, sein Intimstes demütigend
preiszugeben (34 Jahre, M, heterosexuell).
Ralf: Ich habe keine speziellen Wünsche an Praktiken. Alles, was von mir verlangt wird, mache ich mit oder lasse ich mit mir machen. Aufgeilen tun mich nur
wenige Praktiken, z.B. Dehnung meines Poloches bis zum Faustfick, Klistiere und
Bondage. Erdulden muss ich allerdings alle erdenklichen Praktiken, die es gibt.
Als echter Sklave ist es für mich selbstverständlich, alle Wünsche und Befehle
meiner Herrschaft zu erfüllen und zu erdulden, auch wenn ich sexuell nichts davon habe. Meine Erfüllung ist es, wenn meine Herrschaft befriedigt und glücklich
ist (39 Jahre, M, bisexuell).
Sandra: SM funktioniert nur, wenn ich Vertrauen habe. Ein gutes Beispiel: Fisten.
Ich muss eigentlich rein körperlich schon ein total offenes Vertrauen haben, wenn
ich das mache, sonst klappt das einfach nicht. Was du in dem Moment machst, ist
dein Leben in das von einer anderen Frau zu legen. Wenn die durchdreht, oder eine falsche Bewegung macht, dann war es das (27 Jahre, S/M, lesbisch).
Martin: Und die Gummistiefel kannst du dir bis obenhin vollpissen lassen und
kannst da drin rumwatscheln und du hast natürlich ein unheimlich angenehmes
Gefühl auf der Haut. Ja also, wenn du jetzt da mal so 4-5 Stunden in Gummi rumgelaufen bist, das ist unheimlich geil. Du schwitzt da drunter und das ist schon ein
gutes Gefühl (54 Jahre, S, schwul).
Der Sadomasochismus ist also ein Erlebnisfeld, das die Ausgestaltungsformen relativ offen
lässt. Die angewendeten Praktiken werden individuell ausgehandelt und dementsprechend
125
groß ist die Variationsbreite. Eine typische SM-Praktik gibt es nicht.77 Allenfalls von der Bedeutung, die ihnen die Sadomasochisten zumessen, genießen Flagellantismus und Bondage
eine gewisse Sonderstellung, denn ihnen haftet das Flair der klassischen SM-Praktik an. Sie
werden in der Szene als unzweifelhaft dazugehörig akzeptiert. Individuell ist die Anwendung
der einzelnen Praktiken unterschiedlich. Manche Personen finden nur an einer bestimmten
Form (z.B. Flagellation) sadomasochistischer Äußerung Gefallen und lehnen alles, was darüber hinausgeht, entschieden ab. Gegenüber manchen Praktiken bestehen unter Umständen
sogar richtige Ekelbarrieren. Bei anderen wiederum ist die Anwendung von unterschiedlichen
Praktiken zu beobachten, frei nach dem Motto eines Betroffenen: ‚Alles, was erniedrigt, wird
ausgeführt’. Mit diesen unterschiedlichen Präferenzen ist auch die Konstitution von bestimmten Szene-internen Gruppierungen verbunden. Flagellanten bilden eine ‚Sub-Szene’, Bondage-Anhänger oder Fetischisten ebenso. Je stärker die Unverträglichkeiten zwischen den einzelnen Gruppen sind, desto ausgeprägter werden auch die Distinktionen zwischen ihnen.
Gruppen, in denen sich Personen zusammenfinden, die eine Abneigung gegen Fäkalpraktiken
haben, distanzieren sich z.B. auf das Entschiedenste von den ‚Perversen’, die solche Praktiken präferieren.
77
Auch Breslow u.a. (1985, S. 315) stellen fest, dass es keine spezifischen SM-Praktiken gibt, wie die folgende
Tabelle verdeutlicht:
Preferences of Sadomasochistic Sexual Interests
______________________________________
Interest
Male (%) Female (%)
______________________________________
Spanking
79
80
Master-slave-realtionsship
79
76
Oral sex
77
90
Masturbation
70
73
Bondage
67
88
Humiliation
65
61
Erotic lingerie
63
88
Restraint
60
83
Anal sex
58
51
Pain
51
34
Whipping
47
39
Rubber/leather
42
42
Boots/Shoes
40
49
Verbal Abuse
40
51
Stringent Bondage
39
54
Enemas
33
22
Torture
32
32
Golden Showers
30
37
Transvestism
28
20
Petticoat punishment
25
20
Toilet activities
19
12
_____________________________________
126
Mit der zunehmenden Szene-Einbindung verändert sich häufig das sexuelle Verhalten und die
Bereitschaft, mehr zu riskieren. Das Gefühl für die harten und weichen Praktiken kann sich
verschieben. Was am Anfang vielleicht als zu schmerzhaft oder zu abstoßend abgelehnt wurde, kann bei einem Teil der Befragten zu einer selbstverständlichen SM-Praktik werden. Sexuelle Verhaltensweisen werden so individuell erweitert. Von einem pathologischen Reizsteigerungszwang kann allerdings nicht gesprochen werden.
1.5.2
Die sozialen Mechanismen im SM-Arrangement
Wie bereits gezeigt, ist die sadomasochistische Inszenierung gelegentlich mit bestimmten
thematischen Fokussierungen verbunden, etwa die antike Sklavenversteigerung oder die
Schulstunde. Aber auch wenn dieses dramaturgische Mittel nicht eingesetzt wird, zeichnen
sich die Interaktionen durch einen bestimmten Aufbau aus. Was von außen wie eine sinnlose
Aneinanderreihung von Praktiken erscheint, gehorcht tatsächlich der Logik von Dominanz
und Submission. Der Szenebegriff ‘Abrichtung’ bezeichnet diese interne Dramaturgie treffend. Im Zentrum der Abrichtung stehen nicht selten flagellantische Praktiken oder Fesselungen. Sie werden je nach Präferenz durch die verschiedensten Maßnahmen ergänzt. Nicht selten werden für diese Handlungssequenzen genaue ‘Abstraf- und Sklavenerziehungspläne’
aufgestellt.78 Dadurch werden die devianten Praktiken inhaltlich, wie formal strukturiert und
78
Einige der von uns befragten Personen haben uns ihre privaten Abstrafpläne zugeschickt. Ein Auszug aus den
Behandlungsmaßnahmen für eine Sklavin: Befestigung von Armen in Manschetten am obersten Punkt der
Balken vom Spreizbalken, anschließend Beine ebenfalls gespreizt festmachen: Abrasur (nass) der Schamhaare und eincremen der Scham (kurzfristig Gewichte entfernen, dann wieder anhängen). Heißes Kerzenwachs
auf Schamlippen, Kitzler und Umgebung auftropfen lassen, anschließend mit breitem Holzlineal (Gewichte
entfernen) mit steigender Kraft einschlagen. Diese Maßnahmen sind aus der Stufe zwei eines insgesamt vierstufigen Strafplans entnommen.
Ähnlich das ‘Handbuch für Sklaven’. Es enthält Tips, wie man einen Sklaven findet und wie man ihn ‘richtig’ behandelt. Daneben schildert es verschiedene Möglichkeiten, zu was der Sklave ‘ausgebildet’ werden
kann: Der persönliche Körpersklave soll die Herrin mit der Zunge reinigen, der Toilettensklave dient für die
Fäkalvariationen, andere sollen die Hausarbeit (natürlich in entsprechender Kleidung) übernehmen können
und nicht zuletzt können Sklaven gegen Geld an andere ausgeliehen werden. Dieses Buch ist ohne Angabe
eines Autors in einem niederländischen Verlag erschienen. Es wird nicht über den Buchhandel, sondern über
die diversen Sex-Shops- und Läden vertrieben. Es wendet sich mit den folgenden einleitenden Worten an den
interessierten Leser: "S/M-Anhänger sind gewöhnlich normal in jeder anderen Beziehung, sie sind einfach
aufgeklärte Menschen, die den Genuß einer Herrin-Sklave-Beziehung erfahren haben, sei es als Zusatz oder
Ersatz zu normalem Sex. Wenn zwei Partner sich bereit erklären, ein derartiges Übereinkommen zu treffen
und innerhalb vorbestimmter Grenzen zu bleiben, dann besteht überhaupt keine Gefahr darin. Es gibt viele
Stufen von S/M, die sich von der Unterrock-Dressur und einfachen Hausarbeiten bis zu grausamen Züchtigungen gefesselter Opfer erstrecken. Jeder Sklave ist anders, und die Herrin muss sich entsprechend verhalten. Viele Menschen haben Angst davor, sich auf eine derartige Beziehung einzulassen, denn sie sind dazu
gebracht worden zu glauben, was sie in den Buchläden für Erwachsene gelesen haben, in Büchern wo der
Sklave tagelang mit Peitschen geschlagen wird. Das ist Unsinn. Viele für beide Teile befriedigende Sitzungen werden ohne einen einzigen Peitschenhieb oder einem Schlagholz abgehalten. (...) Die Absicht dieses
127
gewinnen einen verbindlichen Charakter. Eine ähnliche Funktion kommt den in der Szene
verbreiteten ‘Sklavenverträgen’ zu. Herrin und Sklave beispielsweise unterzeichnen beide
einen Vertrag, der einen bestimmten Rahmen für die SM-Beziehung definiert. Dabei sind
diese ‚Pläne’ z.T. sehr detailliert ausgestaltet, was sich auch in der folgenden Schilderung
dokumentiert:
Hartwig/Heidrun: Nachdem wir anfangs sehr wahllos praktiziert haben, haben wir
seit einigen Jahren eine feste Regelung eingeführt. Jeweils wochenweise wechselt
die Reihenfolge: Herrin/Sklave, Herr/Sklavin. Dafür muss jeder ein sogenanntes
Strafbuch führen. Darin sind sämtliche Verfehlungen, die zur Zucht führen, aufzulisten. Das Strafmaß legt jeweils der oder die Dominierende fest. Widerspruch ist
nicht erlaubt. Die Zuchtwoche beginnt jeweils um Mitternacht von Sonntag auf
Montag und endet dann acht Tage später zur gleichen Zeit. Die Zucht kann sowohl nachts als auch tags erfolgen. Wir bevorzugen folgende Zuchtmittel: Ganzkörper-Auspeitschen, Genitalschmuck, Natursekt-Duschen, Klistier, Rasieren,
Strafkleidung, Fesselung. (...) Unser Schlafzimmer haben wir als Zuchtraum ausgerüstet. Dort findet auch die Abstrafung statt, es sei denn, es ist Besuch da, und
einer von uns beiden wird vorgeführt. In der Regel läuft die sexuelle Zucht so ab:
• splitternackt ausziehen
• Geschlechtsteile ausgiebig und intensiv präsentieren,
• Beine breit spreizen und hinknien,
• Hintern hoch recken, bis Pobacken stramm sind oder auf eines der Geräte fesseln
• Geschlechtsteile feucht fummeln, knabbern und beißen,
• auspeitschen: Striemen, blutige Knötchen, blaue Flecken,
• Schmücken: Gewichte, Klammern, Ketten am ganzen Körper,
• Natursekt zum Duschen ablassen,
• Klistier vorbereiten: z.B. Pfeffer, Sekt, Urin-Gemisch,
• Schamhaare rasieren, mit einer Flüssigkeit einreiben, die auf der Haut brennt,
• und, wie schon geschrieben, Vorführung bei Besuch.
So - dann noch zwei aktuelle Erlebnisse. Zuerst von mir. Ich kam nach Hause,
meine Frau pfiff mich in das Zuchtzimmer. Sie lag nackt auf dem Bett und las mir
meinen Strafkatalog vor. Ich musste mich ebenfalls völlig ausziehen. Das erste,
was sie von mir verlangte, war, ihr einen Orgasmus zu lecken. Dann spannte sie
mich über den Bock und verabreichte mir tausend Hiebe, bis mein Hintern wie
Feuer brannte und blutige Knötchen sichtbar wurden. Dann musste ich mich in die
Badewanne legen und sie verpasste mir von oben bis unten eine Natursektdusche.
Abtrocknen durfte ich mich nicht. Sie hängte mir Gewichte an die Hoden und
setzte Klammern auf meinen gestriemten Hintern. Und dann kam Besuch. Ich
musste mich vor sie hinknien, den Kopf zwischen ihren Beinen, so dass ich mit
dem Mund ihre nackte Scheide erreichen konnte. Sie unterhielt sich angeregt mit
Buches ist es, ihnen zu sagen, wie es im wirklichen Leben vor sich geht (...). Eine neue Perspektive eröffnet
sich vor ihren Augen; mißachten sie sich nicht und sie werden das äußerste an sexueller Lust finden."
128
ihrem Besuch und wenn ich es ihr genug tat, bekam ich einen Rohrstock in meiner
Poritze zu spüren. Sie hatte mir die Penis-Manschette übergezogen und die Nägel
stachen ins Fleisch. Alles tat mir weh. Anschließend wurde es dann noch ein sehr
gemütlicher und intensiver Abend. Dann zu ihr: Nachdem ich ihr Strafbuch gelesen hatte, beschloss ich, sie sonntags früh zu züchtigen. Sie lag nackt bäuchlings
schlafend im Bett. Ich zog ihr 100 mit der Hundepeitsche über die rosigen Pobacken. Ihr Hintern schwoll leicht an. Ich schnallte sie aufs Andreaskreuz, wobei ihre Fußspitzen den Boden nicht berühren konnten. Sie bekam fünfzig Schläge mit
dem dünnen Rohrstock auf ihre Brüste und fünfzig mit der Fünfschwänzigen auf
ihre Scheide. Ich hängte ihr Ketten und Gewichte an Brüste und Schamlippen.
Nach zwei Stunden am Kreuz erlöste ich sie. Sie musste sich hin knien und wurde
gefesselt. Mit dem Paddel, der Rute und dem Klopfer bearbeitete ich ihre Schenkel und die Pobacken, bis blaue Flecken sichtbar wurden. Dann musste sie meinen
Penis auslutschen und bekam ein Drei-Liter-Klistier. Ihr Bauch wurde prall und
rund. Ich stopfte einen Pfropfen in den Anus, damit sie sich nicht gleich entleeren
konnte. Ich zog ihr noch zwanzig Schläge über die Fußsohlen (...) (aus einem
Brief, ohne Altersangabe, beide S/M und heterosexuell).
Solche Handlungen können nur in hierarchisierten Beziehungen verwirklicht werden. Dementsprechend polarisiert ist die Rollenverteilung. Ausgestattet mit einer virtuellen und situationsgebundenen Machtbefugnis, übt die aktive Person eine umfassende Kontrolle aus. Sie bestimmt den Ablauf und die Inhalte des Arrangements. Gleichzeitig baut sie um ihre Person
eine Aura der Unnahbarkeit auf. Eine Domina beispielsweise lässt sich nur in Ausnahmefällen
von ihren Kunden berühren oder hat gar Geschlechtsverkehr mit ihnen. Will der Kunde sexuelle Befriedigung, muss er masturbieren oder sich mit einer Sklavin begnügen. Aus der Perspektive des Kunden könnte man mit Simmel (1908/1968, S. 265) formulieren: „Dem ‚bedeutenden’ Menschen gegenüber besteht ein innerer Zwang zum Distanzhalten, der selbst im intimen Verhältnis mit ihm nicht verschwindet (...).“ Die soziale Distanz ist auch im SMBereich ein Mittel zur Kontrolle und Machtausübung. Ein masochistischer Mann beschreibt
dieses Verhältnis folgendermaßen:
Marius: Beim SM ist das anders. Ein Koitus mit der Herrin wird gar nicht erst angestrebt. Es würde im Widerspruch stehen zu der Rollenverteilung (Wobei ich unter ‚Rolle’ nicht eine Schauspielerrolle verstehe). Die Königin schläft normalerweise nicht mit ihrem Schuhputzer. Zumindestens kann es der Schuhputzer nicht
anstreben. Die Königin könnte es befehlen. So hat es mir einmal eine Domina befohlen und während des Koitus, als es besonders schön zu werden anfing, brach
sie ihn abrupt ab und peitschte mich wegen dieses Vergehens. Man kann also sagen, dass dies auch kein Koitus war (49 Jahre, M., heterosexuell).
Die Wünsche und Befehle des dominanten Teils haben einen verpflichtenden Charakter und
müssen - sofern sie nicht den Rahmen der vereinbarten Grenzen überschreiten (vgl. Kap.
III.1.7 und 1.8) - vom masochistischen Part bedingungslos befolgt werden. Dieser liefert sich
also Situation und Person regelrecht aus. Die Grade dieser Selbstauslieferung sind allerdings
129
variabel und richten sich nach den jeweils individuellen Grenzen. Während die passive Person
sich in der Regel nur auf ‚einfache’ Variationen einlässt, fügt sich der ‚absolut hörige Sklave’
beinahe ohne Einschränkungen in sein submissives Los. Weil die passive Person aber fast
immer bestimmte Grenzen vorgibt, sind manche Sadomasochisten der Meinung, dass die
Handlung eigentlich durch die untergeordnete Person bestimmt wird. Dies trifft sicherlich im
Hinblick auf die Aushandlung der Rahmenbedingungen zu (Wer als Passiver z.B. Handlungen mit Fäkalien ablehnt, kann dies auch in der Regel durchsetzen). Innerhalb dieser definierten Grenzen bestimmt und agiert aber der Sadist, und der ‚Masochist’ liefert sich - allerdings
von ihm selbst initiiert - seinen Handlungen aus.
Dabei werden nicht nur physiologische, sondern auch psychologische (Unterdrückungs-) Mechanismen aktiviert, wobei zwei grundlegende Aspekte herauszustellen sind. Erstens ist hier
die Verletzung der Schamgefühle des ‚Opfers’ zu nennen. Um dies zu erreichen, ist die öffentliche Vorführung ein beliebtes Mittel, etwa den nackten Sklaven einfach nur unter bekleideten Menschen vorzuführen, seine körperlichen Makel oder bestimmte Verrichtungen eingehend zu präsentieren:
Werner: Sehr unangenehm ist es für mich, wenn mich meine Herrin dann in den
Raum hinausführt und ich bin vollkommen nackt, während alle anderen bekleidet
sind. Da sind dann auch fremde Leute, und das ist schon sehr unangenehm.
Schlimm ist es auch, wenn ich mich falsch benommen habe, und sie mich richtig
zurechtweisen muss. Dann werde ich den Leuten vorgeführt, und ich muss auf den
Tisch. Sie beschreibt und präsentiert den Gästen dann meinen Körper. Nach dem
Motto ‚Hat er nicht eine besonders muskulöse Brust?’ oder ‚Ist das nicht ein richtiger Hengst?’. Dazu muss ich sagen, dass ich eine sehr schmächtige Figur habe
und nur 1,60 m groß bin. Das Allerschlimmste war allerdings, als mich die Herrin
einmal wegen einer anderen Frau bestrafte. Vor etwa zwanzig Leuten habe ich ein
grauenhaftes Klistier bekommen und sie hat mich mit einem Tampon verschlossen. Unter der Androhung noch ein zweites Klistier zu bekommen, musste ich
mich absolut zusammenreißen. Die Schmerzen und das Unbehagen waren schon
nach wenigen Minuten beinahe unerträglich und alle haben mich beobachtet.
Dann hat meine Herrin einen Eimer gebracht und ich durfte mich vor den ganzen
Anwesenden entleeren. Das ist klar, dass das dann sehr laut und unangenehm ist.
Noch nie habe ich mich mehr gedemütigt gefühlt. Andererseits war ich glücklich,
dass ich auch diese Prüfung bestanden habe (43 Jahre, M., heterosexuell).
Die Verletzung der Schamgefühle kann - das macht dieses Beispiel deutlich - zu einem sehr
subtilen Entwürdigungsmechanismus ausgebaut werden. In der Terminologie von Goffman
(1986) könnte man auch von rituellen Entweihungen sprechen.
Der zweite Mechanismus zielt auf die Entpersonalisierung der passiven Person. Sie wird eingebettet in entsprechende Handlungszusammenhänge - als Gegenstand behandelt:
130
Helga: Mein Herr hatte einmal Besuch von einer anderen Frau, und ich musste
dabei sein. Das war folgendermaßen: Die beiden haben sich auf dem Sofa vergnügt, und ich musste Getränke servieren. Ich musste sie aber nicht nur bringen,
ich musste mich auch hinknien und als Tisch dienen. Wenn sie dann getrunken
hatten, haben sie die Gläser auf meinem Rücken abgestellt und sie durften nicht
umfallen. Dann hat mein Herr mit dieser Frau geschlafen. Als sie fertig waren,
musste ich Aschenbecher und Zigaretten besorgen und dann wieder Tisch sein.
Sie haben geraucht und die Füße auf meinen Rücken gelegt (34 Jahre, M., heterosexuell).
Die Benutzung und Verdinglichung des Sklaven als Tisch oder als Fußabtreter ist eine der
tiefgreifendsten Demütigungsformen.79 Mit ihr geht eine temporäre ‚Ent-Identifizierung’ (vgl.
Strauss 1968) einher, die durch das Tragen von Masken noch zusätzlich akzentuiert werden
kann.
Goffman (1986) zeigt, dass alltägliche Umgangsformen durch ein beträchtliches Maß an ritualisierten Handlungen geprägt werden. So sind bestimmte ‚Zuvorkommensheitsrituale’
(z.B. Respektbezeugungen bei Begrüßungen) und ‚Vermeidungsrituale’ (z.B. das Ansprechen
von Personen mit dem Nachnamen als Zeichen der Respektierung von sozialer Distanz) typisch für die Interaktion mit anderen Menschen. Die meisten dieser Rituale sind Handlungsorientierungen, die während des sozialen Kontakts mit anderen nicht reflektiert werden. Sie
bleiben zumeist in einer Art halb-bewusstem Zustand und werden insbesondere bei Situationen verwendet, in denen Verhaltensunsicherheiten auftauchen können. Diese Rituale dienen
also letztlich dazu, die Erwartbarkeit von Handlungen sicherzustellen und gleichzeitig die
„ideelle Sphäre“ (Simmel 1908/1968, S. 265) vor dem ‚unbefugten’ Eindringen fremder oder
unerwünschter Personen zu schützen. Zur Respektierung dieser Persönlichkeitssphäre zählt
z.B. die Berücksichtigung und Achtung der individuellen Schamgrenzen oder auch bestimmte
Formen der Ehrerbietung.
79
Die Vorstellung, Menschen als Gegenstände zu nutzen, taucht auch in einigen Werken de Sades auf. So etwa
die Folgende aus dem Roman Juliette: "Sie sehen, daß dieser Tisch, diese Lüster, diese Sessel, nur aus Mädchengruppen bestehen, die kunstvoll arrangiert sind. Meine Gerichte werden ganz heiß auf die Hüften dieser
Geschöpfe gestellt, meine Kerzen stecken in ihren Votzen, und mein Hintern wird, wenn er sich in den Sessel
niederläßt, genauso wie der Ihre, von den weichen Gesichtern oder den weißen Brüsten dieser Mädchen gestützt werden. Deshalb bitte ich Sie, meine Damen, ihre Röcke hochzuheben und Sie, meine Herren, ihre Hosen herunterzuziehen, damit nach den Worten der Heiligen Schrift, das Fleisch auf dem Fleisch ruhen kann.
(...) Zwölf Mädchen im Alter von zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren servierten und die Schüsseln auf den
lebenden Tischen und da sie aus Silber und sehr heiß waren und die Hintern und Brüste der Geschöpfe, die
diese Tische bildeten, verbrannten, entstand eine sehr lustige zuckende Bewegung, die dem Rollen der Meereswogen glich. Mehr als zwanzig Vorgerichte oder Fleischplatten garnierten den Tisch und auf Beistelltischchen, die jeweils aus vier Mädchen gebildet wurden und die sich auf das kleinste Zeichen hin näherten,
wurden Weine jeder Art bereitgestellt" (de Sade, Die Geschichte der Juliette, zit. nach der Ausgabe hrsg. von
M. Luckow: Marquis de Sade, Ausgewählte Werke (Bd. 5). Frankfurt/M. 1972, S. 122/123).
131
Auch in der SM-Interaktion werden Rituale80 eingesetzt. Sie sind hier keine impliziten, sondern explizite Handlungsregulative. Neben der Bewusstheit ihrer Verwendung gibt es weitere
Unterschiede zu den Alltagsritualen. Zuvorkommenheits- und Vermeidungsrituale beispielsweise werden in den SM-Enklaven übersteigert verwendet. Es reicht nicht, wenn der Sklave
zur Domina ‚Guten Tag, Frau Schmitt’ sagen würde, sondern er muss beispielsweise bei der
Begrüßung auf die Knie fallen und seine Herrin durch Fußküsse und übergebührliche Huldigungen begrüßen. Auf Außenstehende wirkt das zumeist theatralisch übertrieben, in der SMSituation ist es gleichwohl ein wichtiges Element. Andere Rituale haben die Funktion der
Entweihung. Sie reichen weit in die Persönlichkeitssphäre hinein und machen auch nicht vor
den ‚wunden’ Punkten einer Person halt. Sie zielen im Gegenteil darauf ab, die betreffende
Person erniedrigen und demütigen zu können. Die SM-Fähigkeit des Sklaven hängt wesentlich davon ab, dass er Image-Verletzungen - das ‚Gesicht verlieren’ - als Erwartung an sich
akzeptiert. Je besser die jeweiligen Akteure sich dabei kennen, desto eher wissen sie um die
besonders verletzbaren physischen und psychischen Punkte bei ihrem Gegenüber. Diese
Kenntnisse werden für die Gestaltung des Szenarios ausgenutzt. Die ritualisierte Verletzung
des Schamgefühls durch die öffentliche Vorführung oder bestimmte Formen der Entweihung
sind Mittel dazu. Neben den bekräftigenden (die zumeist der Sklave erbringt), gibt es auch
eine ganze Reihe von negativen Ritualen, die nicht nur als Reaktion auf unterbliebene Respektbezeugungen begriffen werden können. Diese Handlungen erfolgen auch dann, wenn der
Sklave sich mustergültig verhält. So entsteht eine paradoxe Situation: Zum einen stellt die
Ritualisierung Verhaltensschablonen zur Verfügung, um Handlung und Erwartung voraussehbar zu machen, zum anderen ist gerade die permanente Verletzung der Erwartung (durch
die aktive Person) maßgeblicher Teil der SM-Rituale. Der Sklave kann, vereinfacht ausgedrückt, gemessen an der Reaktion (Bestätigung) des dominanten Teils, nie etwas richtig machen, weil fast immer negative Sanktionen erfolgen. Diese Willkürlichkeit des Verhaltens ist
intendiert, denn so kann das Ritual unentwegt fortgeführt werden:
Martin: 1985 habe ich den wahrscheinlich wahnsinnigsten Schmerz erlebt. Nachdem die Erziehungsstunde zu Ende war und ich vor der ganz jungen Herrin zu
Ende onaniert hatte, erklärte sie mir, dass sie mich jetzt entschädigen werde, denn
meine stark strapazierte Eichel müsse jetzt gepflegt werden, sie habe dafür einen
Balsam. Sie rieb mir, dem voll Ernüchterten, die Eichel mit Rheumabalsam ein
und versprach mir eine sehr lindernde Wirkung, ohne zu verraten, dass es Rheumabalsam ist. Ich kniete vor ihr, bedankte mich für alles, zog mich an und bat um
Entlassung. Draußen auf der Straße begann der Balsam seine Wirkung zu zeigen.
Es brannte immer schlimmer, ich war ganz ratlos. Was sollte ich hier auf der Stra-
80
Zum ‚Ritual’ als Mittel der Kommunikation und Orientierungshilfe in der sozialen Interaktion vgl. die Arbeiten von Douglas (1986) oder Soeffner (1992).
132
ße tun? Nach längerem Herumirren fand ich eine Gastwirtschaft, setzte mich in
eine Ecke, legte den Mantel über meinen Schoß und nahm unter der Tischdecke
und dem Mantel, ungesehen von allen mein Glied heraus, wischte es erst einmal
ab, kühlte es dann mit meinem Bier. Ich litt einfach unsagbare Schmerzen, die
Tränen liefen mir ungewollt aus den Augen, ich litt und litt und litt. Diese
Schmerzen kann man nicht beschreiben. Nach einer halben Stunde etwa ließen die
Schmerzen dann langsam nach. Ich zahlte und ging. Zu Hause angekommen nahm
ich den Telefonhörer, rief die junge Herrin an und bedankte mich vielmals für die
freundliche und rücksichtsvolle Behandlung. Ihre Reaktion lautete einfach ‚Idiot’
und der Hörer knallte in die Gabel. Wenige Tage später war ich wieder da. Ich
wollte Buße tun, weil ich den köstlichen Balsam abgewischt hatte, den sie mir gegen meine Schmerzen gegeben hatte (58 Jahre, M. heterosexuell).
Ein anderer Aspekt kommt noch hinzu. Im Bereich von totalen Institutionen beschreibt Goffman (1973) einen Prozess, den er als Diskulturation bezeichnet: „Der Neuling kommt mit
einem bestimmten Bild von sich selbst in die Anstalt, welches durch bestimmte stabile soziale
Bedingungen seiner heimischen Umgebung ermöglicht wurde. Beim Eintritt wird er sofort der
Hilfe beraubt, die diese Bedingungen ihm boten“ (ebd., S. 25). Dazu werden verschiedene
Maßnahmen eingeleitet. An erster Stelle steht der Entzug der Identitätsausrüstung: Der persönliche Besitz (wie Kleidung, Uhren, Schreibutensilien, Radios, Bücher etc.) wird eingezogen und gegen eine Anstaltsuniform eingetauscht. Der Name wird durch eine Nummer ersetzt, die selbstbestimmte Verfügbarkeit über den eigenen Körper wird z.B. durch bestimmte
Nacktheitsrituale nicht mehr gewährleistet. Ein ähnlicher Prozess findet im SM-Arrangement
statt. Durch den Verlust der alltäglichen Identitätsrequisiten und die Reduktion auf den Körper sind dem Sklaven die Möglichkeiten seiner alltäglichen Rollen nicht mehr gegeben. So ist
auch der ‘Firmenboss im Studio keine Autoritätsperson mehr, sondern nur ein einfacher Sklave’.
Im Unterschied zur totalen Institution sind diese Mechanismen im SM-Bereich aber freiwillig,
gespielt und temporär. Die Akteure geben ihre Alltags-Identität an der Tür zum ehelichen
Folterraum oder zum Dominastudio ab. Sie erhalten sie erst dann wieder zurück, wenn die
Situation verlassen wird (vgl. Kap. III.1.8). Diese beiden Punkte markieren die Grenzen des
SM-Rahmens, der durch verschiedene Modulationen vom Alltag abgetrennt ist. ‚Module’ sind
dabei folgendermaßen definiert: „Darunter verstehe ich das System von Konventionen, wodurch eine bestimmte Tätigkeit, die bereits im Rahmen eines primären Rahmens sinnvoll ist,
in etwas transformiert wird, das dieser Tätigkeit nachgebildet ist, von den Beteiligten aber als
etwas ganz anderes gesehen wird“ (Goffman 1980, S. 55). Die Modulationen verschiedener
Alltagsrituale durch Hyperritualisierungen, Verzerrungen des Wechselspiels von Erwartung
und Bestätigung oder - nicht zu vergessen - der Verlust der alltäglichen Requisiten, machen
die Eigenart des SM-Arrangements maßgeblich aus.
133
1.6
Faszination, Gefühle und Erlebnismuster
Die Inszenierungsformen des Sadomasochismus und die zugrunde liegenden Mechanismen
sagen noch nichts über die Gefühle und Erfahrungen aus, die die einzelnen Personen in diesem Bereich machen. Bei ihrer Darstellung ist zu berücksichtigen, dass manche Personen sich
auf eine bestimmte Form sadomasochistischen Erlebens spezialisiert haben und z.B. nur
Submissions- oder nur Dominanz-Erfahrungen suchen. Andere wiederum trachten sowohl
nach bestimmten Unterwerfungs- als auch nach Ekel- oder Schmerzerlebnissen. Bei ihnen
gründet die Faszination des Sadomasochismus in einem ganzen Ensemble von Gefühlszuständen, die die Kategorien ‘Dominanz’, ‘Submission’, ‘Schmerz und Ekel’ unterteilt werden
können. Es ist davon auszugehen, dass sich in den spezifischen Gefühlslagen die jeweiligen
individuellen Bedeutungsrahmen konstituieren. Die im Folgenden dargestellten Gefühlsmuster sind idealtypische Vereinfachungen, die im Alltag der Akteure noch wesentlich variantenreicher vorzufinden sind. Der analytische Zugang und die Darstellbarkeit haben diese Reduktionen notwendig gemacht.
1.6.1
Das erotisierte Herrschaftsverhältnis
Abb. Dominas und Sklaven im Gummianzug bzw. mit Ledermaske und „Harness“
(Quellen: www.avalon.de und www.sin-limits.ch)
134
Typisch für das sadomasochistische Arrangement ist die bereits erwähnte Polarisierung der
Akteure in zwei entgegengesetzte Rollenmuster: „Sadomasochism, then, is an activity in
which participants place themselves in dominant or submissive roles. To some degree, the
participants we observe were acting out sexual fantasies, which left room for a great deal of
elaboration in these basic roles” (Weinberg u.a. 1984, S. 383). Ergänzend ist mit Schorsch
(1980b, S. 128) zu bemerken: „Sadomasochistische Wünsche können sich nur in aktiver oder
nur in passiver Form äußern oder alternierend aktiv und passiv.“ Aus der Differenz von Submission und Dominanz resultieren unterschiedliche Erfahrungen und Gefühle, die im Folgenden dargestellt sind.
Dominanz
Die Trennung von Macht und Sexualität ist als kulturelle Norm etabliert. Macht darf ihr zufolge nicht dazu verwendet werden, sexuelle Handlungen zu verlangen oder zu erzwingen.
Demgegenüber erscheint das SM-Ritual normwidrig. Die Basis dieser Rituale ist aber die
Freiwilligkeit. Das SM-Arrangements ist eine „private little Comedia dell’Arte“ (Greene/Greene 1974, S. 177), die auf gegenseitigem Einverständnis beruht und bei der „Macht (...)
der Machtlosigkeit gleich (ist)“ (Ehrenreich u.a. 1988, S. 35). Dennoch finden sich hier die
Rollenmuster des ‘Herrn’ oder der ‘Meisterin’, mithin deutliche Verweise auf explizite
Machtansprüche. Im SM-Rahmen werden also in einem freiwilligen Arrangement intensive
Machtzeremonielle inszeniert. Ihre Bedeutung und die Erfahrungen, die in diesem besonderen
Raum möglich sind, erklären die Befragten folgendermaßen:
Ferdinand: Meine Dominanz übe ich aus, um meinen Partner sich hilflos winden
zu sehen, seine Unsicherheit zu riechen und seine Angst zu fühlen. Ich genieße es,
wenn seine Scham ihn überwältigt, und wenn die Geilheit trotz aller Widerstände
Besitz von ihm ergreift. Sicher auch, weil ich mich mit meinem Opfer identifiziere (43 Jahre, S/M, bisexuell).
Carola: Also die Befriedigung einfach im Sinne dessen, dass ich die Macht habe,
mit dem Mann oder auch mit der Frau machen zu können, was ich will. Und Befriedigung - das kann ich nicht erklären. Das ist ein Ding, was ich nicht erklären
kann. Das ist jetzt nicht so dieser Orgasmus, den man wie beim Sex kriegt, sondern es hat mit Kopf und Seele zu tun. Die befreien sich dann einfach, und zwar
auch wenn man das in dem Moment nicht auslebt (26 Jahre, S, heterosexuell).
Bianca: Faszinierend an unseren Erziehungsstunden ist, dass mein Mann für mich
was macht und zwar freiwillig, das ist wichtig. Ich binde ihn auch nie fest. Das
können sehr viele Schläge sein, sehr hart. Und er sieht auch danach nicht immer
sehr schön aus. Mir bringt es einfach Spaß und eine Befriedigung. (...) Mir macht
es einfach Spaß, dass er was für mich tut (40 Jahre, S, heterosexuell).
135
Joachim: Die Illusion von Machtgefühl, der totalen Unterwerfung eines Menschen, die (theoretische) Möglichkeit, uneingeschränkt alles mit dem anderen machen zu können, was gerade in den Sinn kommt, turnt mich unheimlich an (40
Jahre, S/M, schwul).
Katrin: Es hat einfach viel damit zu tun, die andere zu beherrschen, ja, richtige
Macht über sie zu haben. Das Gefühl, sie macht alles für mich. Das gibt mir Ruhe
und Lust, es befriedigt (32 Jahre, S/M, lesbisch).
Mit dem subjektiven Gefühl des Herrschens können Lustgefühle entstehen resp. damit verbunden sein. Für diese Zustände scheint es vermutlich eine biophysiologische Basis zu geben:
Dominante Individuen produzieren unter Anspannung (was im SM-Ritual zumeist der Fall
ist) körpereigene Stoffe (Testosteron), die sexuell stimulierend sein können. Diese Reaktionen
wurden allerdings erst bei Primaten untersucht. Die Übertragbarkeit in den Humanbereich
wurde bislang nicht ausreichend geprüft. Ob es sich bei Dominanz und Submission um
Grunddimensionen von Emotionen - genau wie beispielsweise Lust und Unlust - handelt, ist
ebenfalls wenig erforscht (vgl. Birbaumer 1983). Über diesen Aspekt dominanten Verhaltens
lassen sich deshalb zur Zeit nur Vermutungen anstellen. Über die Verbindung von Gewalt und
Lust könnten auch die Experimente von Malamuth u.a.81 Aufschluss geben. Sie haben gezeigt, dass Versuchspersonen, die zuvor sexuell erregt wurden, sich anschließend in einer
Versuchssituation eher aggressiv verhielten. Auch der umgekehrte Weg erbrachte ein ähnliches Ergebnis: Nachdem Versuchspersonen aggressiv stimuliert wurden, zeigten sie einer
anschließenden Versuchssituation ein höheres sexuelles Erregungsniveau. Die enge Verbindung von Sexualität und Aggression wird dabei auf die spezifische Organisation des limbischen Systems und auf bestimmte hormonelle Einflüsse zurückgeführt. Dieser Ansatz könnte
auch für die Erklärung des SM-Verhaltens herangezogen werden. Jemand, der in einer sexuellen Situation Macht (Aggression) ausübt, wird dadurch auch sexuell stärker stimuliert. Diese
These ist allerdings bislang empirisch kaum belegt.
Dominante Verhaltensmuster können auch ein Versuch sein, Nähe gegenüber dem Partner
herzustellen. Die Befragten gebrauchen dafür Begriffe wie ‘aufbrechen’, ‘durchdringen’,
‘auflösen’ oder ‘verschmelzen’. Andere Personen erschließen sich durch die masochistischen
‘Opfer’ das Gefühl der Sicherheit vor dem Partnerverlust. Die Torturen, die der Masochist auf
sich nimmt, werden zu einem symbolischem Treue-Eid für die aktive Person: ‘Sie zeigt mir
dadurch, dass sie alles auf sich nimmt, dass sie mir gehört’. Hinter diesen unterschiedlichen
81
Im Einzelnen kann auf die folgenden Arbeiten hingewiesen werden: Malamuth u.a. (1977); (1980a); (1980b);
(1980c) sowie Jaffe u.a. (1974).
136
Bedeutungen verbirgt sich vermutlich das gleiche Motiv, das von Reinelt (1989, S. 135/136)
als generelles Merkmal von Perversionen beschrieben wird:
„Im perversen Akt wird über die Sexualisierung die Distanz zwischen dem Devianten und dem Objekt seines Verlangens reduziert. (...) Außerdem können über
eine derartige ‚Distanzreduktion durch Sexualisierung’ Handlungen vorgenommen werden, die ohne sexuelle Erregung als unangenehm oder ekelerregend empfunden werden. Das heißt, daß durch die Sexualisierung ängstigende, unangenehme, schmerzhafte Situationen vorübergehend verändert erlebt werden. Sie ermöglicht eine Form der Nähe und Intimität, die sonst nicht geleistet werden kann (...).“
Aber auch die umgekehrte Situation ist vorfindbar. SM wird als ein Schutz vor zu intimen
persönlichen Beziehungen gesehen: ‘Es ist kein Mensch, zu dem ich eine gefühlsmäßige Beziehung habe, sondern ein Objekt. Dieser Mensch kann mich nicht verletzen. Das heißt, ich
habe eigentlich eine Angst in mir, eine Unsicherheit, verletzt zu werden. Die ist in dem Moment, wo ich die Sadisten-Stellung einnehme, überwunden. Das ist für mich sicherlich der
Kern der Sache, diese absolute Objektivierung des Gegenüber, wenn ich dominiere’. Empirisch fundierte Erklärungen für diese spezifische Funktion von Nähe und Distanz liegen allerdings nicht vor.82
Über diese psycho-physiologischen Aspekte hinaus könnten auch Zusammenhänge zwischen
gesellschaftlichem (beruflichem) Status und SM-Präferenzen, wie sie in einigen amerikanischen Studien thematisiert werden, eine Rolle spielen. Einige Autoren vertreten dabei die
Auffassung, dass Personen, die im Beruf überdurchschnittlich hohe Entscheidungsbefugnisse
haben, eher dazu neigen, sich in der SM-Rolle devot zu verhalten. Sadomasochismus wird im
weitesten Sinne als die Kompensation beruflicher Erfahrung und Wirklichkeit verstanden.
Janus u.a. (1979, S. 190) schreiben dazu: „Sie werden durch ein starkes Bedürfnis zu herrschen charakterisiert, das in einem prekären Gleichgewicht zu einem ebenso intensiven Bedürfnis nach Unterwerfung steht.“
Die statistische Auswertung der von uns befragten Personen hinsichtlich der Merkmale ‚Führungskräfte/Nicht-Führungskräfte’ und der Rollenpräferenz ergab folgende Verteilung:
82
Die Psychoanalyse beispielsweise begreift das sadistische und masochistische Handeln als Folge der Ablösungsproblematik von der Mutter in der ödipalen Phase. Einerseits manifestiert sich hier die Angst, sich von
der Mutter lösen zu müssen, andererseits die Befürchtung, sich nicht lösen zu können: "In der sadomasochistischen Perversion wiederholt sich die ungelöste, präödipale Mutterbeziehung mit der Problematik von
Ablösung und Verschmelzung" (Becker/Schorscch 1980, S. 179).
137
Tab.: Beruflicher Status und SM-Rolle
Präferierte SM-Rolle
Führungskräfte
NichtFührungskräfte
37,8%
28,9%
8,9%
30,9%
53,3%
40,2%
100,0%
100,0%
Aktiv
Wechselnd
Passiv
Gesamt:
Unter dem Vorbehalt der nur bedingten Generalisierbarkeit dieser Daten ist festzustellen, dass
insgesamt mehr Personen, die im beruflichen Bereich als Führungskräfte einzustufen sind, der
passiven Orientierung zugeordnet werden können. Umgekehrt finden sich unter den NichtFührungskräften sowohl passiv orientierte Personen wie auch solche, die den statusniederen
und autoritätsarmen Berufsalltag mit der scheinbaren Allmacht des sadomasochistischen Arrangements verbinden. Auch wenn es also Verknüpfungen zwischen diesen beiden Variablen
gibt, lässt sich auf der Grundlage bisheriger Forschungsergebnisse noch nichts über die Richtung dieser Zusammenhänge sagen. Unsere Ergebnisse weisen aber darauf hin, dass Verbindungen nicht nur, wie bisher vermutet, im Sinne einer Verknüpfung von beruflicher Macht
und devoter Sexualität, sondern auch im umgekehrten Fall, nämlich der Allianz von sexueller
All- und beruflicher Ohnmacht bestehen könnten. Das Bild des mächtigen Firmenchefs, der
vor seiner Domina kriecht, müsste jedenfalls um das Bild der kleinen Angestellten, die ihren
Partner knechtet, ergänzt werden: ‘Ein anderer Punkt ist, dass ich auf die Art meine Dominanz ausleben kann, als Gegensatz zu meinem normalen Leben. Da bin ich ja nur die Sekretärin. So wie der Direktor mal was machen möchte, was ihm gesagt wird, mache ich etwas, wo
ich bestimmten kann. Das ist ja nicht nur gespielt. Wenn sich da ein Professor auf einmal
nackt auszieht und sich bückt und sich den Po versohlen lässt, der spürt doch ganz gemischte
Gefühle. Erotik, Scham und was das alles so ist. Und das spüre ich wiederum, dass der das
spürt. Dann spüre ich schon eine gewisse Macht in mir und finde das schon toll, dass der das
in meinem Beisein macht.’ Diese Antwort einer ‘Sadistin’ könnte ein Hinweis dafür sein, dass
diese Effekte auch über die Geschlechtergrenzen verlaufen (vgl. Kap. III.1.9).
Submission
Eskapa (1988, S. 85f) beschreibt die masochistische Orientierung folgendermaßen: „Masochismus bedeutet Befriedigung durch Selbstverleugnung, Erniedrigung und Schmerzen (...),
bedeutet sexuelle Befriedigung durch Unterwerfung unter geistigen und körperlichen
Schmerz. Masochisten sind Menschen, die den Schmerz jeglicher anderer sexueller Aktivität
138
vorziehen.“ Ob das Phänomen des Masochismus auf diese einfache Aussage reduzierbar ist,
scheint mehr als fraglich, denn die Interviews verweisen hier auf weitaus komplexere Erlebnisformen. Die Schlüsselfaszination für die passive Person resultiert maßgeblich aus dem Gefühl des ‘Sich-fallen-lassen-könnens’, indem die alltägliche Selbstkontrolle außer Kraft gesetzt wird. Der Masochist liefert sich einer Situation aus, die ihm sämtliche Gestaltungsoptionen entzieht. Er ist Teil des Regie-Spiels des aktiven Partners. Nicht die Alltagskonventionen,
sondern das Gehorsamkeitsverlangen sind handlungsleitend. Wenn die dominante Frau den
Sklaven vor einem Publikum zur Masturbation auffordert, gelten weder die Regeln des Alltags noch individuelle Schamgefühle, die solche Handlungen normalerweise in verborgene
Bereiche abdrängen. Der Masochist wird dadurch - unabhängig davon, wie ‚pervers’ und
‚abweichend’ sein Verhalten auch sein mag - von Rechtfertigungszwängen entlastet. Er hat
keine Schuld an dem, was er tut, und er muss auch keine Schamgefühle deswegen haben,
schließlich ist alles vorgeschrieben und befohlen worden.
Gudrun: Es ist diese Sehnsucht, mich fallen zu lassen oder kontrolliert zu werden.
Oder aufzuhören, Selbstkontrolle über mich auszuüben. (...) Ich habe hinterher oft
Gefühle von Erlösung und das ist, wie wenn alles von mir abgenommen wäre. (...)
Das ist das Schöne daran. Es ist wie so eine Erlösung von dem, was man sonst
immer macht. Oder von dem Leben, was ich unter meiner Kontrolle habe. Und
Kontrolle zu haben, das ist ja immer auch sehr anstrengend. In dem Moment, wo
ich gefesselt bin, da muss ich alles auf mich zukommen lassen und ich kann überhaupt keine Abwehr aufbauen (30 Jahre, M, heterosexuell).
Alfred: Eine wesentliche Komponente ist die Verlagerung der Verantwortung für
die eigene Person auf jemand anderes und dadurch die Auslösung eines Gefühls
des Wohlbefindens, der Unbeschwertheit, die für mich fast Voraussetzung für das
Erleben von Sexualität ist. Ich bin ansonsten immer einer, der sich nicht fallenlassen kann, ich kann nicht genug abschalten (37 Jahre, M, heterosexuell).
Hans-Jörg: Wenn ich splitternackt oder gefesselt da vorgeführt werde oder unter
vier Augen, das ist egal, dann ist das schrecklich aufregend. Wenn ich dann festgebunden bin, liegt die Befreiung eigentlich darin, dass ich nicht mehr verantwortlich bin für das, was ich da mache, ich werde ja gezwungen dazu. Und ich bin
gänzlich frei, denn ich tue ja nichts böses, ich werde ja gezwungen das zu tun. Ich
habe kein schlechtes Gewissen, im Gegenteil, ich bin befreit, losgelöst und ruhig
(57 Jahre, M, heterosexuell).
Anne: Wenn ich gefesselt bin und meine Augen verbunden sind, habe ich nur
noch die Möglichkeit zu fühlen, zu hören, zu riechen, zu schmecken. Dadurch,
dass ich nicht mit den Augen erleben oder vorhersehen kann was passiert, wirkt
alles viel erregender. Ich bin dann der Partnerin vollkommen ausgeliefert und das
gefällt mir. (...) SM erleichtert das Loslassen, spielt dem Kopf Streiche, indem es
mir das Gefühl gibt, keine andere Chance zu haben, als mich hinzugeben (23 Jahre, S/M, lesbisch).
139
Thomas: Diese Praktiken machen mir Lust oder erzeugen bei mir ein Lustgefühl.
In der passiven Rolle dieses Ausgeliefertsein, nichts tun können. Gleichzeitig fühle ich mich dadurch erleichtert, ich brauche nichts zu tun und ich brauche nichts
zu denken (29 Jahre, S/M, schwul).
Diese Entlastungsfunktion83 ist bei manchen - wie gezeigt - schon in der Phantasie als
Wunsch angelegt, z.B. als Überwältigungsphantasie und findet ihre Fortsetzung im realen
Verhalten. Masochismus ist also auch eine Form des Ausstiegs aus den normativen Zwängen
wie auch der Selbstkontrolle der sozialen Wirklichkeit. Je weiter der Ausstieg vom Alltag
wegführt, desto höher wird aber auch der Preis, den der Masochist zahlen muss. Sich schlagen
und fesseln lassen, Exkremente verspeisen und Schmerzen erleiden (vgl. Kap. III.1.5.1) sind
nur einige der Opfer, die ein solcher ‚Ausbruchsversuch’ (vgl. Cohen/Taylor 1977) fordert.
Vielleicht ist gerade die größtmögliche Diskrepanz zwischen Alltag und Enklave das Faszinierende an dieser Rolle. Sie wäre dann bei Firmenchefs, Politikern oder Managern, wenn sie
beispielsweise über den Boden eines Dominastudios rutschen oder Sklavendienste leisten, am
größten. Dabei geht es vermutlich nicht um die Kompensation von Macht oder Ohnmacht
oder bei Frauen auch nicht um eine spezifische Reaktionsform auf die Jahrtausende währende
Knechtung im Patriarchat. Hier konstituieren sich vielmehr spezifische Formen von Grenzerfahrungen, die der Alltag nicht mehr erlaubt.
An die masochistische Rolle sind neben den Gratifikationen, die der Masochist aus der Entlastungs- und Identitätsfunktion seiner Rolle zieht, noch weitere Entschädigungen geknüpft.
Indem sich der Masochist ausliefert und damit dem Dominanzanspruch des aktiven Partners
entgegenkommt, kann er sich der umfassenden Befriedigung der eigenen Bedürfnisse hingeben, während sich der aktive Partner um das - im weitesten Sinne - Wohlergehen des Dieners
kümmern und das Szenario auch noch spannend inszenieren muss. Die aktiven Personen müssen hingegen viel stärker auf ihre Selbstkontrolle achten, um im Spiel mit den Grenzen keine
Verletzungen zu riskieren.
83
Stein (1974, S. 263) hat im übrigen in ihrer Studie einen ähnlichen Zusammenhang herausgestellt: "The
Slave scenes then appeared to function therapeutically by allowing clients to enjoy various sexual practices
without guilt, to relieve anxieties by a symbolic retreat into childhood, to compensate for sadistic or domineering behavior in other areas of their life, to act impulses toward a pleasurable end. The sessions certainly
enabled the men to relieve sexual tensions by acting our fairly strong desires they would otherwise have to
suppress."
140
1.6.2
Schmerz und Ekel
Die Darstellung der verschiedenen Praktiken hat deutlich gemacht, dass im sadomasochistischen Ritual auch das Schmerz-Zufügen resp. -Erleiden oder die Verletzung bestimmter Ekelgrenzen eine Rolle spielen. Ihre Bedeutung ist im Folgenden dargestellt.
Der Schmerz
Die Schmerzforschung ist ein verhältnismäßig junger Zweig der Neurophysiologie und der
Biopsychologie. Dementsprechend gibt es nur wenig gesichertes Wissen über den Schmerz.
Fest steht, dass Menschen ebenso wie tierische Organismen über spezielle Sensoren verfügen,
die nur durch gewebsschädigende oder bedrohende Reize (Noxen) erregt werden. Die Rezeptoren bezeichnet man als Nociceptoren, die auf mechanische, thermische und chemische Einflüsse reagieren können. Manche Nociceptoren sind unimodal, d.h. sie antworten nur auf eine
bestimmte Reizart; die meisten sind jedoch polymodal und können durch verschiedene Reizarten aktiviert werden. Die Aufnahme, Weiterleitung und zentralnervöse Verarbeitung noxischer Signale bezeichnet man als Nociception. Die Erregung der entsprechenden Sensoren
löst die subjektive Empfindung ‚Schmerz’ aus. Dieser wiederum signalisiert, dass entweder
von außen oder von innen kommende Reize dem Körper Schaden zuzufügen drohen.84 Das
Schmerzerlebnis ist beim einzelnen Menschen zumeist mit Unlustgefühlen verbunden: „Der
unseeligen Koppelung von körperlichem Schmerz und Angst können wir überall begegnen: in
den Warte- und Behandlungszimmern von Zahnärzten, in den Kreißsälen der Krankenhäuser,
am extremsten jedoch auf den onkologischen Stationen. Immer wieder treffen wir Menschen,
die nicht die Krankheit ängstigt, sondern der Schmerz; Menschen, die nicht der Tod ängstigt,
sondern das mit Schmerzen verbundene Sterben“ (Keeser 1990, S. 48). Damit wird deutlich,
dass Schmerz sehr häufig Abwehr- und Fluchtreaktionen auslöst. Schmerzsituationen werden
nach Möglichkeit gemieden und aus dem alltäglichen Erfahrungsrepertoire ferngehalten.
Anders im sadomasochistischen Rahmen. Bereits die frühen Sexualwissenschaftler weisen auf
die wichtige Rolle des Schmerzes für das sadomasochistische Erlebnis hin. Auch Weinberg
u.a. (1984, S. 382) betonen diesen Sachverhalt: “Most lay and professional discussions of
sadomasochitic emphasize the physical pain involved.” Im sadomasochistischen Arrangement
kann der Schmerz Teil des Herrschafts- und Unterwerfungsrituals sein. Er wird zumeist nur
von der passiven Person ertragen. Der aktive Teil versichert sich auf diese Weise der Unter-
84
Zur Schmerzforschung vgl.: Birbaumer/Schmidt(1990); Euler/Mandl(1983); Keeser u.a. (1982); Pöppel/Bullinger(1990); Schmidt/Thews(1987).
141
würfigkeit, Demut und Aufopferung seines masochistischen Partners. Die Erfahrungen des
aktiven Teils lassen sich am ehesten mit Vergewisserung und Bestätigung der Macht beschreiben. Es ist aber auch denkbar, dass das Foltern und Quälen an sich Lustgefühle erzeugt.
In der Phantasie - so berichten einige der Befragten - haben diese Vorstellungen durchaus eine
stimulierende Funktion. Allerdings lehnen sie die Umsetzung aus moralischen Gründen oder
wegen möglicher negativer Sanktionen ab. Dieser Umstand darf aber nicht dahingehend verstanden werden, als gäbe es diese ‚Folterpraktiken’ nicht. Sie werden in der Szene totgeschwiegen, weil sie nicht selten mit Verletzungen des Freiwilligkeitsgebotes einhergehen und
die Sadomasochisten als Gesamtheit diskreditieren.85 Für einen Teil der passiv orientierten
Personen ist der Schmerz während des SM-Rituals ein notwendiges Übel und keineswegs nur
eine angenehme Erfahrung. Masochisten erleiden die Qual als den signifikantesten Ausdruck
von Selbstaufgabe und Ohnmacht:
Nikolaus: Schmerz fügt sie mir zu. Sie fragt nicht, ob sie darf oder ob ich es will,
sie tut es, mit verschiedenen Schmerzgraden. Die geringen Grade empfinde ich
unter Umständen direkt angenehm. Da spüre ich meine Herrin, die ich im Normalsex ja sonst ohnehin nie zu spüren bekomme. An den Geschlechtsteilen, am
Anus und vor allem an den Brustwarzen habe ich diesen leichten Schmerz besonders gern. Aber dann kommen höhere Schmerzgrade, die schwer zu verkraften
sind. Nur: wer fragt danach? Ich habe mich unterworfen, ich muss es erdulden.
Ich beschimpfe mich dann selbst laut als Feigling und Schwächling, dass mir das
weh tut. Ich bitte die Herrin aufzuhören, aber sie verhöhnt mich nur und lacht
(wahnsinnig demütigend) und der Schmerz kann auch in das Unerträgliche gesteigert werden. (...) Ich schreie, bitte um Gnade, die nicht gewährt wird - aber hinterher bedanke ich mich, und dieser Dank ist trotzdem echt und nicht nur befohlen
oder gespielt. Da ich meine Herrin oft wechsle, ist es nicht nötig, die Schmerzintensität zu steigern, um den ‚Spaß’, wie sie es nennen, zu erhöhen. Schmerzen
machen natürlich keinen Spaß, aber eine Luststeigerung ist es schon. Würde ich
einen Salon verlassen, ohne Schmerz empfunden zu haben, so hätte ich nichts erlebt. Der Schmerz, der mir zugefügt wird, also Strafe ohne Grund, da ich doch gar
kein Verschulden auf mich gezogen habe, demütigt mich sehr stark und je größer
der Schmerz war, um so tiefer die Demütigung (64 Jahre, M, heterosexuell).
Neben dieser Personengruppe gibt es aber auch Masochisten, die aus dem unmittelbaren
Schmerzerlebnis Lust gewinnen.86 Dabei geht es nicht nur um Unterwerfung, sondern um eine
spezifische Steigerung des Lusterlebnisses durch Schmerz:
85
Auf diese Frage werde ich ausführlich in Kap. III.1.7 eingehen, wenn es um die Verletzung von Grenzen und
Regeln im sadomasochistischen Arrangement geht.
86
Schrenck-Notzing(1902) hat für diesen Sachverhalt den Begriff der Algolagnie eingeführt.
142
Maria: Es kommt drauf an, ob man sich gegen den Schmerz wehrt oder ob man
sich reinfallen lässt. Es gibt also die Momente, wo man Wut verspürt, über diese
Schmerzen. Die Wut, im Endeffekt hilflos zu sein, zu sagen, was mache ich eigentlich hier? Ich bin hier gefesselt, lasse mich schlagen. Dann tut es auch weh.
Wenn man sich dann aber wieder fallen lässt in den Schmerz und in seinen Körper
reinhorcht, merkt man, dass dieser Schmerz einfach gut tut. Man wird eben feucht
oder erregt, wenn man sich da reinfallen lässt. Dieser Schmerz ist dann einfach
aufgeilend (25 Jahre, M, heterosexuell).
Vanessa: Bei mir ist es eher so, dass es das Schmerzerlebnis an sich ist, um das es
mir geht. Großen Schmerz zu empfinden, während du die Möglichkeit hast, dich
reinfallen zu lassen, erzeugt erst mal Adrenalin im Blut und hinterlässt - wenn du
durch bist - ein sehr sehr angenehmes gutes Gefühl. (...) Da ist es tatsächlich so
eine ganz eigene Schmerzgeilheit, wo mich die Schläge geil machen. Nach jedem
Schlag ist die Geilheit da. Und dann will ich noch mal und noch mal genau diesen
Kick haben (30 Jahre, S/M, heterosexuell).
Jonathan: Schmerz ist ein unerlässlicher Bestandteil der SM-Begegnung, ja der
eigentliche Antrieb dafür. Bondage allein fände ich fad. Der Schmerz ist etwas,
wovor ich mich fürchte, doch zugleich sehne ich ihn herbei. Natürlich ist er luststeigernd, denn ich will ihn ja dann immer noch (etwas) stärker spüren: noch mehr
kräftigere Peitschenhiebe, gesteigerte Stromstärke und/oder Impulsfolge, schärfer
zubeißende Brustklammern, wiewohl das zum Allerunangenehmsten gehört, dann
lieber drei Kilo Gewicht an den Hoden. Im Laufe der Zeit tritt sicherlich eine gewisse Verminderung der Schmerzempfindlichkeit, eine Anhebung der Reizschwelle ein, die mich nach der Steigerung des Schmerzes rufen lässt. Das gilt aber, glaube ich, nicht für alle Körperteile gleichermaßen. An meinen Genitalien
halte ich viel mehr aus als vor einigen Jahren, an den Brustwarzen hingegen beinahe weniger - und trotzdem will ich auch hier den stärkeren Reiz. Man lässt sich
immer weiter hineingleiten in das Schattenreich der Tortur, wünscht sich immer
noch ein bisschen mehr, riskiert auch immer noch ein Weniges mehr (62 Jahre, M,
heterosexuell).
Manfred: Die ersten 30 bis 50 Rohrstockhiebe tun mir immer noch genauso weh
wie jedem anderen normalen Menschen auch. Bloß dann setzt so eine Art, wie
soll man sagen, Schmerzwollust ein oder so, und dann nehmen auch die Schmerzen ab. Ich empfinde das nicht mehr als richtig körperlichen Schmerz. (...) In jedem Fall macht es geil (25 Jahre, M, schwul).
Inge: Die Schmerzen empfindest du nach einer gewissen Zeit nicht mehr so sehr,
du bist dann einfach nur angeturnt und genießt die Situation. Wenn ich nicht geschlagen werde und den Schmerz nicht spüre, sind meine Empfindungen viel geringer beim Sex (26 Jahre, S/M, lesbisch).
Hier stellt sich die Frage, wie die Schmerzen überhaupt ertragen werden können, und wie
diese Schmerzen mit dem Lusterlebnis zusammenhängen. Zunächst einmal ist festzuhalten,
dass die Schmerztoleranzschwelle (Bezeichnung für den Punkt in einem Experiment, an dem
143
die noxische Reizung so weit geht, dass der Schmerz nicht mehr ertragen werden kann) individuell unterschiedlich ist. Was dem einen weh tut, kann der andere noch gut verkraften.
Möglicherweise liegt also bei einigen Sadomasochisten die Toleranzgrenze ohnehin schon
höher als bei anderen Menschen.87 Zudem sind normale Reaktionen auf schmerzhafte Reize
nicht angeboren, sondern müssen in einer frühen Entwicklungsphase erlernt werden.88 Entsprechend könnten vielleicht auch bestimmte Entwicklungsstörungen für eine drastische Desensibilisierung von Nociceptoren verantwortlich gemacht werden, so dass bei manchen Sadomasochisten die Noxen erst auf einem recht hohen Niveau Schmerzempfindungen auslösen. Jedoch liegen entsprechende experimentelle Untersuchungen nicht vor.
Wichtig sind auch die endogenen Schmerzkontrollsysteme, die das Schmerzerlebnis blockieren können. Eines von ihnen wirkt in der Verbindung von Opiatrezeptoren und ihnen zugehörige körpereigenen Liganden (Endorphine, Enkephaline und Dynorphine). Aufgrund spezifischer Rezeptoren an den Neuronen des nociceptiven Systems können diese körpereigenen
Opiate sehr gezielt wirken. Schmerzempfindungen können dadurch - analog zu der Wirkungsweise von körperfremden Schmerzmitteln - reduziert oder ganz unterdrückt werden.
Eine andere Form endogener Schmerzkontrolle ist möglicherweise im Zusammenhang mit
bestimmten elektrophysiologischen Prozessen im Gehirn zu sehen. Larbig u.a. (1982) weisen
darauf hin, dass z.B. bei Fakiren oder Feuerläufern ein Zustand kortiko-subkortikaler Dissoziationen (Hirnschlaf-körperliche Aktivität) zu beobachten ist, der mit erhöhten Thetaaktivitäten verbunden ist: „Das ekstatische, hypermotorische Tanzen des Pyrovaten auf der Glut bei
eingeschränkter Aufmerksamkeit auf Musik, Ikonen, religiöse Vorstellungen, kombiniert mit
‚schlafenden’ Hirnteilen (erhöhte Thetaaktivität, entsprechend Schlafstadium 3-4), ist vergleichbar mit somnambulen Reaktionen oder hysterischen ‚fugues’. Diese psychopathologischen Zustände sind ebenfalls charakterisiert durch motorische ‚automatisierte’ Aktivität bei
gleichzeitigem Hirnschlaf“ (ebd. S. 108/109). Vergleichbare Zustände sind bei der sexuellen
Erregung, insbesondere beim Orgasmus nachzuweisen: „Während des sexuellen Höhepunktes
87
Experimente haben gezeigt, dass die Schmerztoleranz im interkulturellen Vergleich unterschiedlich ist: "In
einer Studie in den USA wurden beispielsweise jüdische, italienische und indianische Hausfrauen miteinander verglichen. Obwohl es bei den drei Bevölkerungsgruppen keine Unterschiede bei den Schmerzschwellen
gab, zeigten die Italienerinnen eine erheblich geringere Schmerztoleranz als die Jüdinnen oder die Indianerinnen. Das entspricht dem durch die Karl-May-Tradition genährten Klischee, daß Indianer mehr Schmerz
aushalten können" (Pöppel 1982, S. 240).
88
So bemerken Birbaumer/Schmidt(1990, S. 352): "Bleiben diese frühkindlichen Erfahrungen aus, so lassen sie
sich später nur schwer erlernen: Junge Hunde, die in den ersten 8 Lebensmonaten vor allen schädigenden
Reizen bewahrt wurden, waren unfähig, auf Schmerzen angemessen zu reagieren, und lernten dies nur langsam und unvollkommen. Sie schnupperten immer wieder an offenen Flammen und ließen sich Nadeln tief in
die Haut stechen, ohne mehr als lokale reflektorische Zuckungen zu zeigen. Vergleichbare Beobachtungen
wurden auch an jungen Rhesusaffen erhoben."
144
ist die Umgebungs- und Schmerzwahrnehmung reduziert bzw. ausgeschaltet. Simultane EEGBefunde zu diesem Zeitpunkt zeigen erhöhte Thetaaktivität (4Hz) über der rechten Hemisphäre“ (ebd. S. 109). Bestimmte chemische und elektrophysiologische Prozesse können - wenngleich hier noch weitere Forschungsergebnisse abzuwarten sind - also in einen Zusammenhang mit dem Schmerzempfinden gebracht werden. Auch bei Sadomasochisten spielen möglicherweise - so die Konsequenz aus diesen Hypothesen - solche Potentiale bei der Reduktion
des Schmerzempfindens eine Rolle.89 Aber auch situationale Variablen könnten eine Rolle
spielen. Wenn viele der Befragten berichten, dass der Schmerz in anderen Situationen nach
wie vor als unangenehm erlebt wird, und dass sie dort auf Schmerz mit Angst reagieren,
könnte dies ein Hinweis hierfür sein:
Lisa: Also wenn ich mir den Fuß breche, dann ist das etwas anderes, oder wenn
der Zahnarzt mit der Spritze kommt. Ich war vor kurzem noch da, da kriege ich
Angst, da kriege ich feuchte Hände. Oder ich habe mir jetzt eine Rippe angeknackst, ich war drei Tage kein Mensch mehr, weil ich Schmerzen hatte. Ich hatte
aber keine sexuelle Lust gehabt, das sind körperliche Schmerzen, die mir weh tun.
Die Schmerzen, die ich lustvoll empfinde, gehen nur in Verbindung mit dem Sexuellen. Also normale Schmerzen empfinde ich genauso als Schmerz wie andere
(38 Jahre, M, heterosexuell).
Konrad: Der Schmerz, den man empfindet, bereitet gleichzeitig Lust, aber nur
weil diese Situation so ist. Ich kann mir vorstellen, wenn ich genau die gleiche
Handlung ohne eine Erektion zu haben an mir vollziehe, dann empfinde ich nur
den Schmerz, dann habe ich eigentlich gar nicht den Gedanken dabei, dass mir
genau dieses gut tut (38 Jahre, S, heterosexuell).
Der Zusammenhang von Situationsbedingungen und den komplexen neurophysiologischen
Vorgängen wird von Birbaumer/Schmidt (1990, S. 352) herausgestellt: „Außerdem ist für
eine Schmerzbewertung oft entscheidend, unter welchen Umständen ein Schmerzereignis
auftritt. So ist gut bekannt, dass bei Kriegsverwundungen der Bedarf an schmerzstillenden
Mitteln weitaus geringer ist, als bei vergleichbaren Verletzungen im Zivilleben. Anscheinend
vermindert die Aussicht auf die baldige Heimreise und das Glücksgefühl, die Schlacht überlebt zu haben, Schmerzwahrnehmung und -bewertung in einem erheblichen Ausmaß.“ In diesem Zusammenhang weist Bullinger (1990, S. 277) darauf hin, dass bestimmte imaginative
Techniken die Schmerzhaftigkeit von noxischen Reizen reduzieren können: Neben Tagträumen und Phantasien erweisen sich auch „die Umdefinition des Schmerzreizes als willkomme-
89
Auf die Bedeutung dieser Schmerzkontrollsysteme im Zusammenhang mit dem Phänomen des Sadomasochismus hat z.B. Mass (1983, S. 53) hingewiesen: "Like heroin and morphin, the endorphins have recently
been discovered to be addictive. Perhaps the incorporation of pain into sexual activity ist actually a mechanism for releasing or augmenting the release of this substances in the brain."
145
ne Erfahrung (z.B. als angenehm erlebter Kältereiz bei der Vorstellung sich in der Wüste zu
befinden) oder die imaginative Transformation des Kontextes (z.B. sich in einer vorgestellten
Szene befinden, in der der Schmerz eine andere Bedeutung gewinnt)“ als effektive Schmerzreduktionsstrategien. Die Aufladung des SM-Rituals durch sexuelle Reize könnte ein vergleichbarer Mechanismus sein. Schmerz wird dadurch nicht nur erträglich, sondern bekommt
möglicherweise eine andere subjektive Bedeutung, nämlich die des Lustgefühls oder wird zu
einer gänzlich anderen Gefühlsqualität, wie Pöppel (1982, S. 244) es formuliert: „Vielleicht
ist die Ekstase, wie sie durch extreme Situationen ausgelöst wird, jener Zustand, in dem größte Lust und tiefster Schmerz sich vereinen und durch ihre Integration eine neue Erlebnisqualität entstehen lassen.“
Der Ekel
Ganz allgemein formuliert ist der Ekel ein unlustbetontes Gefühl des Widerwillens, das gegenüber bestimmten Reizen aufgebaut wird. Ekel kann sich auf Objekte wie z.B. Speisen,
Getränke oder Ausscheidungen oder aber auf Menschen, beziehungsweise auf bestimmte
menschliche Verhaltensformen beziehen. In den Interviews, die wir mit Sadomasochisten
geführt haben, wurde die Frage nach Ekelerlebnissen immer auf Praktiken bezogen, die sich
um Exkremente drehen. Ihre Thematisierung löste zumeist Verlegenheit und Ausweichreaktionen aus. Während die einzelnen Personen sehr offen über ihre übrigen SM-Erfahrungen
sprechen konnten, ließ die Gesprächsbereitschaft bei dieser Frage merklich nach. Die wenigen
Antworten hierzu erreichten uns in der Mehrzahl auf schriftlichem Weg.
Ohne darauf einzugehen, woher die einzelnen Aversionen stammen, und welche Ursachen für
sie verantwortlich gemacht werden müssen, haben die Gesprächs- und Interviewpartner von
ganz unterschiedlichen Ekelformen berichtet. Heterosexuelle Männer berichteten von Ekelgefühlen, wenn sie sich sexuelle Kontakte mit einem anderen Mann vorstellten. Sie gaben an,
solche Handlungen nur unter dem entschiedensten Druck einer dominanten Frau ausüben zu
können. Aber selbst dann wird z.B. der ‚Befehl’, einen anderen Mann zu stimulieren, nur mit
Widerwillen oder überhaupt nicht ausgeübt.
Franz-Joseph: Ich könnte mich schütteln vor Ekel, wenn ich mir vorstelle, es mit
einem Mann machen zu müssen. Also ein Mann ist für mich absolut tabu. Das ist
nur Ekel. Ich kann das nicht erklären. Ich kenne einige Homosexuelle und komme
mit ihnen sehr gut aus. Wenn ich mir aber vorstelle, ich müsste einen Schwanz in
den Mund nehmen oder jemandem die Eier ablecken oder einen Mann in den
Arsch ficken, dann bin ich schon dicht am Kotzen. (...) Eine Domina hat das einmal von mir verlangt und da habe ich alle Kontakte zu ihr abgebrochen. Das ist
146
noch nicht einmal für eine ansonsten verehrungswürdige Frau möglich (56 Jahre,
M, heterosexuell).
Andere Personen vermeiden hingegen jegliche orale oder anale Praktiken. Manche Frauen
haben einen unüberwindbaren Ekel vor Sperma. Gemeinsam ist diesen Aversionen, dass sie sofern sie dem dominanten Partner bekannt sind - als Anknüpfungspunkt für Unterwerfungsrituale genutzt werden. Die Reaktionen der Betroffenen auf diese Reize werden übereinstimmend als körperlicher Widerwille - unter Umständen mit Brechreiz verbunden - beschrieben,
also ein Verhalten, wie es universell bei Ekelsituationen vorkommt.90 Ekelreaktionen zeigten
sich bei den Befragten insgesamt am deutlichsten in Bezug auf Exkremente. Diese Form des
Ekelerlebens ist vornehmlich auf die passive Rolle beschränkt. Zwar haben von uns befragte
S-Personen auch vom Ekel gegenüber bestimmten Praktiken gesprochen, sie sind aber den
entsprechenden Situationen nicht so direkt ausgesetzt, weil sie aufgrund ihres Status größere
Entscheidungsfreiheiten haben. Sicherlich können auch die Masochisten Praktiken mit Exkrementen aus ihrem SM-Spektrum ausklammern, manche von ihnen suchen aber gerade entsprechend einem radikalen Rollenverständnis - die Überschreitung dieser Grenzen, die
nachgerade als signifikantester Beleg für eine devote Haltung erbracht wird:
Egmont: In der Phantasie werde ich gerne zu bestimmten Praktiken gezwungen.
In der Wirklichkeit ist es aber die Hölle für mich. Natursekt, Kaviar und homosexuelle Handlungen sind mir zutiefst zuwider. Was an diesen Praktiken so abstoßend ist, kann ich nicht sagen, aber es ist eben abstoßend. (...) Genauso finde ich
orale Praktiken ekelhaft. Ich würde einer Frau niemals freiwillig orale Dienste tun
(52 Jahre, M, heterosexuell).
Nikolaus: Dann verlangte sie von mir, in eine unausgewaschene Urinflasche zu
urinieren, um dann mein eigenes Zeug zu trinken. Aber ich war kurz zuvor auf der
Toilette gewesen, und außerdem verwehrte die Aussicht auf das Kommende
schon rein psychisch den Harnstrahl. ‚Dann werde ich es dir halt mit dem Katheter holen!’ brüllte sie mich an. Da ich aber soeben eine Prostataoperation hinter
mir hatte, bat ich sie, flehte sie an, zu hören, dass der Arzt gesagt hatte: ‚Katheter
nur im Krankenhaus setzen lassen’. Sie akzeptierte diese wahrheitsgemäße Ausrede und brüllte mich an: ‚Ich habe auch noch andere Mittel du Schwein’. Und ich
musste hinter ihr herkriechen durch den Flur, zu einem Raum, dessen Tür sie öff-
90
Ekelreize lösen in allen Kulturen die gleichen Reaktionsmuster aus. Die evolutionstheoretische Erklärung
könnte hierfür eine Begründung liefern: "Wenn uns etwas anekelt, möchten wir es beseitigen oder in einer
Weise verändern, daß es nicht länger ekelerregend ist. In der Evolution hat Ekel wahrscheinlich dabei geholfen, Organismen zu motivieren, die Umwelt ausreichend hygienisch zu erhalten und sie davon abzuhalten,
verdorbene Nahrung zu essen und verschmutztes Wasser zu trinken. Ekel ist kein perfekter Detektor von gefährlicher Verunreinigung, aber er hilft. Ferner spielt Ekel wahrscheinlich eine Rolle bei der Erhaltung der
körperlichen Hygiene" (Izard 1981, S. 376f). Die Auslöser für Ekelreaktionen sind aber kulturell codiert und
variieren im interkulturellen Vergleich beträchtlich.
147
nete. Es war die Toilette. ‚Sauf sie aus, du Sau!’. Was sollte ich tun? Ich war verängstigt, ich fürchtete mich vor weiterer Strafe, nachdem ich schon zwei Befehle
nicht ausgeführt hatte. (...) Ich soff. Es war wohl das Schlimmste meines Lebens.
(...) Praktiken wie Kaviar, erzwungene homosexuelle Kontakte (anal und oral)
sind fürchterlich, aber es macht devot, demütigt unter die Macht der Herrin. Erregend daran ist, dass ich ihnen unterworfen bin, nicht weiß, was sie heute für mich
ausgedacht hat, welcher Laune ich unterworfen bin. Erregend ist, darum zu bitten,
sie möge doch diese oder jene Praktik nicht an mir ausüben, was dann brüsk abgelehnt wird, und ich muss es dulden. Ja, ich würde sagen, das geilt auf. (...) Es fällt
mir keine einzige Situation ein, die ich positiv empfinden würde. Alles ist negativ:
von Schmerz, Ekel, Demut und Angst geprägt. Zumindest körperlich spielen sich
nur negative Gefühle und Erlebnisse ab (64 Jahre, M, heterosexuell).
Fäkale Praktiken kommen vergleichsweise häufig bei homosexuellen Sadomasochisten vor.91
In seinem Interview mit Hubert Fichte unterstreicht Hans Eppendorfer (1977, S. 107) die Bedeutung von Fäkalpraktiken in der schwulen Lederszene: „Natürlich spielt Kot eine Rolle.
Natürlich sind Leute dabei, die Kot fressen, die sich mit dem Kot beschmieren lassen, die
einen kotigen Hintern auslecken, wie Leute dreckige Stiefel ablecken. (...) Auch Kotorgien
hat es gegeben, es hat im Park also mehrmals sehr heftig nach Scheiße gestunken. Daß man
sich dann mit dieser kotigen Faust, diesem kotigen Arm, dieser kotigen Hand wieder den
Körper, die Brustwarzen beschmieren ließ. Daß sie sich den Lederoverall aufmachten und
sich den Körper einseifen ließen.“ Wichtiger noch als diese Kot- sind die Urin-Rituale. Sie
sind unter den SM-Schwulen ein weit verbreitetes Phänomen.
Kot wie auch Urin lösen nicht in allen Fällen Ekelreaktionen aus:
Bernd: Für mich ist einfach die Faszination an Dirty-Sex, sich gehen zu lassen.
Eben die gesellschaftlichen Konventionen völlig außer acht zu lassen. Es ist vielleicht so dieses derbere, männlichere, was damit als Wunsch ein Stückchen näher
kommt. (...) Wenn man mit dem Motorrad rausfährt, kann man sich draußen auch
anpissen und dann halt weiterfahren. Es ist die Faszination die Sau rauszulassen.
Sich so geben zu dürfen, wie man es im Alltag nicht darf, wie man es zu Hause in
der Wohnung nicht kann, wie man es in der Kindheit nicht gedurft hat. Ich finde
es auch geil, sich anzuscheißen. Daran ist faszinierend, total Schwein sein zu können. Das ist, glaube ich, so die extremste Form, die möglich ist. Weil gerade der
ganze Bereich Scheiße ist sehr mit Tabus belegt. Und so ein Tabu zu durchbrechen ist faszinierend. Es ist die extremste Form von Sex. Da ist man einfach nur
Tier (37 Jahre, M, schwul).
91
"Il s'agit donc d'une variante de comportements sexuels où les déjetions jouent un rôle important, un peu
mieux connu dans la sous-culture gay mai également pratiquée dans le monde hétérosexuel" (Holland 1989,
S. 139).
148
SM-Lesben haben sich zu diesen Formen sexuellen Verhaltens nicht geäußert. Das Fehlen
solcher Praktiken in den Schilderungen ihres SM-Verhaltens ist aber vermutlich mehr das
Resultat der bei ihnen zu beobachtenden Unsicherheit im Umgang mit ihren Neigungen als
ein Beleg für die Nichtexistenz fäkaler Handlungen in ihren Arrangements.92
Das Beschmieren mit und das Essen bzw. Trinken von Fäkalien stellt ein Demutsritual dar.
Die zivilisatorisch entstandene „Ächtung der menschlichen Exkremente“ (Gleichmann 1982,
S. 277) wird auf die eigene Rolle übertragen. Die ‚Selbstentweihung’ durch Fäkalien ist eine
Grenzerfahrung, die sich jenseits der geltenden sozialen und kulturellen Regeln abspielt. Ob
neben diesen soziogenetischen Ausformungen auch biogenetische Faktoren eine Rolle spielen, kann gegenwärtig nicht beurteilt werden. Über die physiologische Basis des Ekels ist so
gut wie nichts bekannt, was aber auch für andere Gefühlsqualitäten (Trauer, Furcht, Freude
etc.) gilt: „Alle Versuche, die verschiedenen Gefühlsqualitäten anhand der Aktivität bestimmter Hirnareale oder anhand von Reaktionen des autonomen oder hormonellen Systems zu unterscheiden, sind aber bisher gescheitert“ (Asendorf 1990, S. 108). Für den ganzen Bereich
der Ekelforschung hat auch nach mehreren Jahrzehnten die Feststellung von Kolanai (1929, S.
122) noch ihre Gültigkeit: „Das Problem des Ekels ist, soweit unsere Kenntnis reicht, bisher
arg vernachlässigt worden. Verglichen mit dem wissenschaftlich-psychologischen und metaphysischen Interesse, das sich dem Haß und der Angst, von der ‚Unlust’ gar zu schweigen,
zugewandt hat, stellt der Ekel, obwohl ein gewöhnlicher und recht prägnanter Bestandteil des
Gefühlslebens, ein unbearbeitetes, unerforschtes Gebiet dar.“
Auf eine wichtige Differenzierung muss noch hingewiesen werden. Manche Personen sind
von diesen Fäkalpraktiken fasziniert und finden es erregend, sich beschmutzen zu lassen oder
jemanden zu beschmutzen resp. Exkremente zu essen oder zu trinken. In diesen Fällen sind
Koprophilie (Koprophagie) und Urolagnie nicht zwangsläufig mit Ekelreaktionen verbunden,
wie Boss (1947/1984, S. 81) beschreibt: „Davon kann indessen bei unserem Rico Daterra
schon deshalb nicht die Rede sein, weil derartige Ekelschranken gegenüber dem Kot überhaupt und zum vornherein bei ihm gar nie bestanden haben; er daher auch gar nicht gegen sie
angehen konnte (...). Im Gegensatz zum Fetischisten Konrad Schwing haben nun, wenn wir
die ganzen perversen Beziehungsmöglichkeiten unseres koprophilen Rico Daterra zusammenfassen wollen, die Schranken seines nur noch ‚wurmhaften’ Sich-Verhaltenkönnens das Er-
92
Auf die Möglichkeit, (Natur)Sekt und Kaviar in eine lesbische SM-Beziehung zu integrieren, weist Califia
(1981b, S. 276f) hin: "Da Pisse und Scheiße mit Dreck gleichgesetzt werden, können sie auch symbolisch zur
Erniedrigung eingesetzt werden. Die Intimität, die in der Kontrolle über jemands Ausscheidung liegt, kann
bewirken, dass sich deine Partnerin hilflos, akzeptiert und geborgen fühlt. (...) Eine gute Investition für Sektund-Kaviar-Fans ist eine Gummiunterlage um den Boden oder dein Bett zu schonen."
149
scheinenlassen auch von bloß noch vergegenwärtigten Liebespartnerinnen innerhalb seiner
ätherischen Phantasiewelt verunmöglicht. Die selben Schranken verschlossen ihm den erotischen Zugang zur weiblichen Leiblichkeit bis auf den einen Leihbezirk des Mastdarmes und
des Kotes. Nur diese Leibregionen waren für ihn noch offen geblieben als die Eintrittspforten
zum ‚zeitvergessenen Glück’ und zu einem ‚Zuhause’ des liebenden Miteinanderseins.“ Bei
solchen Fällen handelt es sich um eine ausschließliche Neigung, die nur sehr bedingt mit sadomasochistischen Orientierungen in Verbindung gebracht werden kann und möglicherweise
mit fetischistischen Verhaltensformen zusammenhängt.
1.6.3
Sadomasochismus als Außeralltäglichkeit und Grenzerfahrung
Im Sadomasochismus werden sexuelle Erlebensformen durch Elemente aus anderen Emotionen (z.B. Angst, Ekel, Aggression, Furcht) angereichert. Dabei werden Intensitätsstufen angestrebt, die beim normalen Sex nicht erreicht werden können. Gleichwohl ist auch der normale
Sex ein Spiel mit diesen Grenzen: „Die mit Schmerzen befundene Reizung des Sexualpartners
durch Beißen, Kratzen oder Kneifen bei der Aufnahme und/oder Durchführung sexueller Beziehungen ist unter den verschiedensten ethnischen Gruppen außerordentlich verbreitet. Auch
bei fast allen Tierarten, insbesondere den Säugerwildformen, wurden bisher ähnliche Erscheinungen beobachtet. Diese auffällige Parallelität zwischen ähnlichen Verhaltensweisen des
Menschen und der unter ihm stehenden Säuger und die Häufigkeit des Auftretens auch in dem
außerhalb des sadomasochistischen Formkreises sich abspielenden Sexualverhalten von
menschlichen Individuen aller Gruppen, legt den begründeten Schluß nahe, daß im Zufügen
und Erdulden von Schmerzen geringerer Intensitätsgrade für viele Lebewesen ein zusätzlicher
sexueller Reiz liegen muß. Auch in der menschlichen Geschlechtsliebe außerhalb jeglicher
perverser Fixierungen bewegt sich vieles, was zum Liebesspiel und koitalen Vollzug gehört,
auf jenem schmalen Grat zwischen Lust und Qual. (...) Die Perversionsform des Sadomasochismus besteht wenigstens zum Teil lediglich in einer quantitativen Verzerrung von wahrscheinlich in den meisten Menschen angelegten Möglichkeiten, auf leichten Schmerz sexuell
zu reagieren. Ein Großteil der häufigsten sadomasochistischen Reaktionsweisen stellt also
lediglich eine Verstärkung und Vergröberung (dieser) Tendenzen dar (...)“ (Keupp 1971, S.
189). Was Keupp hier speziell für den Schmerz vermutet, ist bei den anderen Elementen des
sadomasochistischen Verhaltens ähnlich gegeben:
Gilda: SM ist ein viel intensiveres Beschäftigen mit dem Körper. Ich habe bei
normaler Sexualität das Problem, zu sanft gestreichelt zu werden, es ist mir unangenehm. Ich habe ein sehr schönes Gefühl, wenn ich eben feste angepackt werde,
wenn ich Kraft spüre. Dann ist es dieses Wandern, diese Gratwanderung auf der
Schwelle zwischen Lust und Schmerz. (...) Es ist bei mir der Wunsch, einmal
150
ohnmächtig zu werden. Ich bin es noch nie gewesen. Ich treibe eigentlich meine
Partner daraufhin. Ich möchte es einmal erleben, einfach ganz willenlos und hilflos zu sein. Ich glaube, es ist eine Art Todessehnsucht, diesen kleinen Tod einmal
zu erleben (35 Jahre, M, heterosexuell).
Horst: Alles was mit Gewalt, Schmerzen zufügen und Verletzungen zufügen zu
tun hat, hat auch mit sich-außer-sich-fühlen oder mit grenzüberschreitendem Verhalten zu tun. (...) Also das Maß an Anvertrauen, das finde ich extrem groß in so
einer SM-Beziehung. Oder auch von Geborgenheit und Sich-fallen-lassen-können
und sich voll und ganz hinzugeben oder aufzugeben, ich denke, das ist größer als
sonst in einer sexuellen Beziehung. (...) Es hat für mich schon die Funktion zu sehen, dass ich so sein kann, wie ich sonst nirgendwo sein kann. Und auch zu sehen,
dass sie alles akzeptiert, was ich mache. Also, dass sie alles praktisch grenzenlos
oder unbegrenzt hinnehmen kann. Das findet man normal eigentlich nicht. Das
finde ich ist schon etwas besonderes und keineswegs selbstverständlich, sondern
außergewöhnlich (38 Jahre, S, heterosexuell).
Ferdinand: Beide Partner durchbrechen Barrieren, die Konvention und Angst errichtet haben. Sie durchbrechen Grenzen und werden damit zu Grenzgängern, die
auch Risiken eingehen. Meine Gefühle zu beschreiben, gelingt mir nur ansatzweise und über ‚Bilder’: Abstreifen von Sicherheit, Panzerung und Schwere - dafür
Durchblutung, Atem, Unruhe. Es erhebt sich ein Widerstreit zwischen Gedanken
und Gefühlen. So kann ich absolut darüber entscheiden, was ‚wir’ als nächstes
tun. Gefühle oszillieren zwischen uns, meine Freiheit und Verantwortung berühren Angst und Auflösung meines Partners. Der normale Koitus bietet in seiner
einförmigen Wiederholung zwar Selbstvergewisserung, Heimat, Stabilität, kann
sich aber auch in Routine ermüden. Es steht fast alles fest, die einfach definierten
Rollen sind verteilt und Überraschung bleibt aus (43 Jahre, S/M, bisexuell).
Theodor: Das Haupterlebnis ist eine schwer beschreibbare Steigerung des Lebensgefühls, die Befriedigung des Existenzhungers. Die gleiche Antwort würde ich auf
die Frage geben: Warum fahren Sie überschnell Auto, warum gehen Sie klettern?
Über den Körper breitet sich erst Spannung und dann tiefe Wärme aus. Es sind
Orgasmen anderer Art möglich, das ist schwer zu beschreiben, es ist, wie wenn
man in weiches, warmes Gold getaucht würde (58 Jahre, S/M, heterosexuell).
Miriam: SM ist für mich (...) eine orgiastische Feier, in der Schmerz zugefügt oder empfangen wird, in der hygienische Überlegungen vorübergehend aussetzen,
in der ‚gekleckert’ wird. Hier wird verschwendet, nicht nur Materielles, sondern
auch Energie als sexuelle, und - Gefühl. Anders als beispielsweise de Sade ergötze ich mich nicht an tatsächlichem Unwohlsein meiner Partnerin (...), sondern an
der Ekstase, die mein oft schmerzvolles Vorgehen auslöst. (...) Mithilfe von SMPraktiken habe ich, sofern sie gewollt waren, jedenfalls eine Intensität des Erlebens erreicht, die mir in ‚normalen’ Beziehungen selten möglich waren (27 Jahre,
S, lesbisch).
Sebastian: Ich liebe den Vorgang, allmählich in Fesseln gelegt zu werden, meine
Freiheit aufzugeben und zugleich eine neue zu gewinnen: die Ekstase, das Außer151
mir-sein (...), ein wenig die Kontrolle über mich zu verlieren, sie abzugeben an
den anderen, verantwortungslos im wörtlichen Sinne. Ich erlebe mich als Körper,
Gefühl und Kopf, und dabei nicht allein zu sein. Auch die Erschütterungen des
anderen mitzuspüren, sich durch Berührungen mitzuteilen. Die körperlichen Reize
bringen meinen Körper zum Zucken, zum Schwitzen, aufbäumen. Ich erlebe mich
sehr elementar (47 Jahre, M, schwul)
Diese Interviewpassagen verdeutlichen, dass außeralltägliche Erfahrungen und das Tangieren
bzw. Überschreiten individueller physischer wie auch psychischer Grenzen eine zentrale Rolle spielen (vgl. Kap IV.). Ohnmacht, Todessehnsucht, Sich-Fallen-Lassen, Überwindung von
Konventionen und zivilisatorischen Standards, Abstreifen von Routinen und Sicherheit sind
Emotionen und Erfahrungen, die im Verhältnis von Dominanz und Submission, im Ausleben
von Macht und im Erleben der Demütigung, im Ekelerlebnis oder im Schmerz ermöglicht
werden.
1.7
Das Problem der Gewalt
Das sadomasochistische Verhalten macht Erfahrungen möglich, die auch in anderen Extrembereichen gemacht werden können. Seine ‚Einzigartigkeit’ gewinnt der Sadomasochismus
durch die Synthetisierung von Sexualität und Gewalt, wobei die Grenzen des normalen Empfindungsspektrums häufig überschritten werden. Verletzungen oder dauerhafte Schäden, in
Einzelfällen mit Todesfolge,93 können die Konsequenzen einer entgleisten Aktion sein. Die
93
Nach Becker/Schorsch (1977, S. 51 ) realisiert sich Sadomasochismus "vor allem in sadomasochistischen
Gruppenarrangements in der Subkultur Gleichgesinnter, in Salons, Privatzirkeln, Bordellen; Nichtinteressierte erfahren davon meistens nichts; sehr selten schließlich sind kriminelle Realisierungen in Form von sadistischen Gewaltakten." SM-Delikte mit Tötungsfolge kommen - soweit unsere Methode eine solche Feststellung zuläßt - äußerst selten vor. Tauchen sie aber dennoch auf, so sind die Ermittlungsbehörden und Gutachter bei der Beurteilung häufig ratlos: "Die Automatik, mit der sexuelle Tötungen juristisch in der Regel als
'Mord' qualifiziert werden, beruht vor allem auf dem rationalen Konstrukt eines 'Motivs zur Befriedigung des
Geschlechtstriebs'. Dieses ist angesichts eines jeweils komplexen psychischen (psychopathologischen) Geschehens ein Fremdkörper und wird als eine Schablone gehandhabt, die von außen an ein Geschehen angelegt wird und zur Ausblendung der psychischen Hintergründe verführt. Die folgenschwere Bewertung eines
Tötungsdelikts als Mord oder Totschlag basiert auf Kriterien, die in der psychischen Realität keine Entsprechungen haben" (Schorsch 1987a, S. 126). Eine andere Reaktion ist die Psychiatrisierung solcher Fälle, d.h.
statt Gefängnisstrafen droht die Kasernierung in der Psychiatrie. So etwa auch in einem uns bekannt gewordenen Fall: Ja, das ganze war so: An meinem Arbeitsplatz habe ich eine Frau kennen gelernt, von der ich
sehr schnell wusste, dass sie auf Sadomasochismus steht. (...) Irgendwann war ich mit ihr und ihrer Freundin
unterwegs in Kneipen und wir haben ziemlich viel getrunken. Die beiden haben mich zu sich nach Hause
mitgenommen, und es wurde ein richtiges Saufgelage. Die beiden hatten sehr schnell raus, dass ich so eine
masochistische Neigung habe und darauf stehe, anal genommen zu werden. Sie haben sich dann richtiggehend an mir vergangen, was ich ja auch wollte. (...) Es war viel Alkohol im Spiel bei dieser Sache und irgendwann entglitt die Situation dahingehend, dass die anfingen, mir Filme von schwarzen Messen und so ein
Horrorzeugs mit Zerstückelungen vorzuführen und mir damit drohten, dass sie mir den Schwanz abschneiden
würden und fielen wie die Hyänen über mich her. Ich hatte Angst, dass sie es tun würden. Davon bin ich also
heute noch überzeugt, dass sie es getan hätten. Ich habe dann wie wild um mich geschlagen und bin ab-
152
Gewaltaffinität, die sadomasochistischen Praktiken inhärent ist, markiert also Problembereiche, die sich in juristischen, therapeutischen, medizinischen und moralischen Diskursen niederschlagen. Die therapeutischen, medizinischen und moralischen Diskurse habe ich bereits in
Kap. III.1.1 dargestellt. Deshalb möchte ich mich hier auf die Skizzierung des rechtlichen
Rahmen beschränken. Vorher möchte ich jedoch darstellen, wie die Betroffenen selbst mit
diesem Problem umgehen.
Der Umgang mit der Gewalt
Die Verletzungsgefahr einerseits, moralische Bedenken und strafrechtliche Verfolgung andererseits bedrohen die Akteure und den Fortbestand ihrer Beziehungen. Es ist deshalb zu vermuten, dass sie für diese besondere Arena eigene Strategien des Risikomanagements entwickelt haben. Die Vermeidung der Gefahr von Verletzungen oder anderen negativen Folgen ist
ein charakteristisches Merkmal von sadomasochistischen Arrangements. Um die jeweiligen
Sessions möglichst unbeschadet zu überstehen, ist es für die Akteure wichtig, das Risiko zu
minimieren.
Die Teilnahme an einer SM-Handlung ist, darauf habe ich bereits mehrfach in anderen Zusammenhängen hingewiesen, freiwillig. Niemand wird zur Teilnahme an einem solchen Arrangement gezwungen, aber auch niemand kann garantieren, dass es nicht zu Gefährdungen
kommen kann. Risiken müssen - genau wie bspw. beim Boxen oder Bungee-Jumping - einkalkuliert werden. Sie sind sogar notwendig, denn aus ihnen resultiert ein maßgeblicher Teil
der Faszinationskraft von extremen Verhaltensbereichen.94 Aber wie bei gefährlichen Sportarten auch, hat sich in der SM-Szene ein umfangreicher Regelcodex herausgebildet. Im Unterschied zu den Bestimmungen der meisten sportlichen Disziplinen und ihren institutionalisierten Kontrollorganen (z.B. auch bei den Paintball-Spielern), sind die sadomasochistischen
gehauen. Mehr weiß ich nicht mehr. Sie wurden dann ein paar Tage später tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Die wirkliche Todesursache konnte nie geklärt werden. Ich habe das zu Protokoll gegeben, dass die mir
den Schwanz abschneiden wollten und auch das mit der schwarzen Messe und diesen fürchterlichen Filmen,
aber ich glaube, man hat mir das nicht abgenommen. Sie haben gar nicht richtig zugehört. Sie denken, ich
habe das konstruiert, um mich zu entlasten. Der Täter befindet sich zur Zeit in einer psychiatrischen Klinik
und hat eigenen Aussagen zufolge keine Möglichkeit, die tatsächlichen Hintergründe des Tathergangs aufzuschlüsseln. Auch wenn wir diesen Einzelfall nicht beurteilen können, verweist die Handhabung dieser Delikte doch auf die grundsätzlichen Probleme bei ihrer Beurteilung.
94
Schmidt (1988, S. 115) betont den Aspekt des Risikos auch für die Sexualität: "Risiko und Gefahr, Kampf,
Konfliktlösung - dies ist die Dramaturgie besonders intensiven Begehrens und Erlebens; ohne Risiko, ohne
Angst, ohne Feindseligkeit, ohne Rache, ohne Triumph - zumindest in Spuren - resultiert sexuelle Gleichgültigkeit und Langeweile im Sexuellen. Dieses Bild von Erotik ist schockierend und zeigt zugleich, daß die
Vorstellung einer nur zärtlichen, friedfertig-lustvollen Sexualität irreal, ja, beinahe antisexuell ist."
153
Normen in keiner Satzung schriftlich fixiert.95 Auch gibt es keine formellen Kontroll- und
Sanktionsinstitutionen.
Die einzelnen Regeln können an dieser Stelle aufgrund ihrer Vielfalt nicht aufgezählt werden.
Einige sollen aber der Anschaulichkeit wegen erwähnt sein. So ist z.B. das Schlagen auf bestimmte, besonders verletzungsträchtige Körperteile (z.B. Nieren, Hoden) genauso untersagt
wie das unsachgemäße Anbringen von Nadeln oder den zu eng gebundenen Stricken bei Bondage-Praktiken, so dass die Durchblutung unterbrochen wird. In fast allen Arrangements wird
zudem ein sogenannter ‚Stop-Code’ vereinbart. Er ist gleichsam das Sicherungsnetz der ‚Akrobaten’. Hierbei kann es sich um ein bestimmtes Wort handeln, wobei meistens ein Begriff
aus nichtsadomasochistischen Kontexten gewählt wird, um eine versehentliche Verwendung
auszuschließen. Vor allem in Situationen, in denen sich die passive Person nicht artikulieren
kann, etwa wegen einer Maske, wird ein bestimmtes Zeichen z.B. mit den Händen als Stopcode benutzt. Generell dient diese Sicherheitsvorkehrung zum Schutz des passiven Akteurs.
Während die ‘Flehrufe, Bitten und Klagen’ des Masochisten, z.B. während einer Flagellation,
den dominierenden Partner dazu animieren sollen, mehr zu wagen, bedeutet die Verwendung
des Stop-Codes das Ende der Handlung. Die Respektierung der Stopzeichen ist neben der
Freiwilligkeitsdoktrin eine der wichtigsten Szene-Regeln. Nur wenige Sadomasochisten verzichten auf den Stopcode. Für sie wäre seine Verwendung eine Beschneidung der Erlebnismöglichkeiten von SM, denn eine gewisse Risikolust ‘bringt noch mehr Kicks’. Allerdings
werden solche Arrangements ohne Netz in der Regel nur unter Personen getroffen, die sich
sehr vertraut sind.
Fritz: Für alle Fälle muss mit dem Meister bzw. der Meisterin ein Codex vereinbart sein, der ein Beendigen einer Sitzung ermöglicht. Das kann ein bestimmtes
Wort sein, das auch eingehalten werden sollte, jedoch nur wenn offensichtlich eine Notlage entstanden ist, die gefährlich ist (34 Jahre, M, heterosexuell).
Hubertus: Regeln, die vorher aufgestellt wurden, sollten für alle Beteiligten absolut verbindlich sein. Natürlich ist das Theorie. Wenn ein Part das Gefühl hat, sein
Gegenüber gibt zu erkennen, dass die vorher aufgestellten Regeln hinfällig sein
sollen - why not? Jedenfalls halte ich es für angebracht und vernünftig, vorher
halbwegs zu klären, innerhalb welches Rahmens sich Aktionen bewegen können
und was definitiv nicht geht, ohne dass vorher noch einmal definitiv nachgefragt
wird (33 Jahre, S, heterosexuell).
95
In den letzten Jahren finden sich vereinzelt Versuche, Sicherheitsregeln zu verschriftlichen und allen Interessierten zugänglich zu machen. So ist z.B. das ‚Safety Manual’ von P. Califia (1984) mit dieser Intention für
lesbische Sadomasochistinnen geschrieben worden.
154
Diana: Wenn ich nicht das Gefühl habe, mit ihm machen zu können, was ich will
und er das mir überlässt, ist das für mich keine akzeptable SM-Beziehung. Wenn
mir gegenüber aber jemand zum Ausdruck bringt, dass er es nicht mehr akzeptiert,
kann ich deswegen aber nicht ausrasten, sondern muss aufhören. Die Regeln bestimmt halt der passive Part und sie sind verbindlich. Als aktiver Part habe ich dafür die Entscheidung, ob ich mit dem Typ überhaupt was anfangen will, wenn er
mir zu viele Regeln auftischt (24 Jahre, S, heterosexuell).
Dietmar: Ich kenne das nur so, dass man vorher ein Codewort vereinbart, damit
man als Aktiver weiß, wann Schluss ist. Also wenn der Sadist weitergehen würde,
als der Masochist will, im tiefsten Seelengrunde wäre die SM-Nummer zu Ende.
In dem Moment, wo du weiter gehen würdest, würde die Geilheit aufhören. Dann
würde die Lust zu Schmerz (37 Jahre, S, schwul).
Lina: Ich verabrede mit meinen Freundinnen immer vorher, wann Schluss ist. Das
ist ganz wichtig. Und das Stopwort musst du kennen und sofort drauf reagieren.
Oder du kennst dich so gut und weißt: ‚Aha, wenn sie jetzt das Stopwort sagt,
dann möchte sie gern noch eine Sekunde mehr’, aber dann musst du dich
wahnsinnig gut kennen (33 Jahre, S/M, lesbisch).
Wer solche Regeln nicht befolgt und das Stopzeichen oder gar das Freiwilligkeitsgebot verletzt, kann - sofern es bekannt wird - in der Szene geächtet werden: Wer einmal die Kontrolle
verloren hat, dem wird es vielleicht nachgesehen, wer immer die Kontrolle verliert, wird aus
Treffen, Partys und anderen Veranstaltungen ausgeschlossen. Deshalb ist eine der wichtigsten
Regeln für die aktive Person, dass sie immer ein recht hohes Selbstkontrollniveau haben muss
und sich auch in ekstatischen Zuständen nie völlig gehen lassen kann (vgl. Kap. III.1.6.1). Die
Einhaltung dieser Regeln kann aber nur ansatzweise kontrolliert werden: So gibt es auf den
zahlreichen Partys fast immer eine Person, ‘die die Augen aufhält, sich ein bisschen umschaut
und darauf achtet, dass nichts Ernstes passiert’. Wird eine Aktion zu drastisch, so schreiten
die anderen ein. Im Bereich der Zweierbeziehungen bestehen diese Kontrollmöglichkeiten
nicht. Hier muss das Vertrauen darüber entscheiden, wie weit sich der einzelne auf die SMAktion einlässt. Findet die Begegnung mit einer fremden Person statt, werden häufig bei
Freunden Adressen und Telefonnummer hinterlegt. Ist nach einem bestimmten Zeitraum keine Rückmeldung erfolgt, wird Alarm geschlagen: Die Bekannten rufen unter der entsprechenden Nummer an oder fahren auch zu der Adresse hin, um zu kontrollieren, ob alles in Ordnung ist. Wird die Situation als gefährlich eingeschätzt, alarmiert man die Polizei.
Dieses Regel- und Kontrollsystem ist in SM-Gruppen unerlässlich. Eine völlig anomische
Situation wäre gefährlich, weil nicht selten körperliche und psychische Grenzen berührt werden. Deshalb beziehen sich viele Regeln im weitesten Sinne auf die Unversehrtheit des Maso-
155
chisten. Wie in anderen - scheinbar regellosen - sozialen Subsystemen96 werden also eigene
Normen ausdifferenziert. Sie treten in das Vakuum, das durch die Ausblendung gesellschaftlicher Konventionen und Vorschriften entsteht. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage,
ob die involvierten Akteure Sadomasochismus überhaupt als Gewalt empfinden:
Manfred: Ich meine, früher ist Christoph Columbus losgezogen und die hatten
Angst, dass die Erde platt ist und sie irgendwann runterfallen. Heute die Segler,
die hören vorher den Wetterbericht, haben ihre Seekarte dabei und sagen: ‚Die
und die Runde machen wir. Und wenn eine Flaute kommt, dann haben wir noch
unseren Außenbordmotor dabei.’ Ja, in der Relation sehe ich das. (...) Ja, Christoph Columbus und seine Mannschaft, die haben halt noch was riskiert. Die hätten
von der platten Scheibe stürzen können, in - die Hölle vielleicht. Und die Segler
heute, die riskieren eigentlich nichts mehr.
F: Und was bedeutet das für SM?
Manfred: Na ja, bei einer Folterung, da ist es eben auch brutal hart und du weißt
nicht, ob du da noch lebend rauskommst. Und bei SM-Sachen schon. Da guckst
du vorher, wie die Stimmung so ist - das Analoge zum Wetterbericht - ob denn
heute überhaupt ein günstiger Tag ist. Und suchst dir die Route aus, eben anhand
deiner Kondition, so was du dir so zutraust, stimmst dich eben mit einem Partner
ab. Was er abkann oder was so in seinen Grenzen liegt und natürlich auch, was in
meinen sadistischen Grenzen liegt (32 Jahre, S, heterosexuell).
Rena: Ich denke, wenn zwei Menschen irgendwie miteinander Sexualität praktizieren, die übers Softe hinausgeht und mit Schmerzen zu tun hat, ist das deren Sache und so lange in Ordnung, wie beide das wollen. Aber in dem Augenblick, wo
einer anfängt, jemand anderem was antun zu wollen, was der nicht will, dann
fängt für mich Gewalt an. Dann ist das nicht mehr zu akzeptieren (40 Jahre, M,
heterosexuell).
Diana: Was ist SM, wenn nicht Gewalt? Aber es ist eine andere Gewalt. Wenn ich
jemandem etwas antue und dieser das akzeptiert, ist das dann Gewalt? Ich verstehe Gewalt anders. Das ist für mich jedenfalls von grundlegender Bedeutung, ob es
freiwillig ist oder nicht (24 Jahre, S, heterosexuell).
Nikolaus: Gewalt gibt es in meinen Verhältnissen nicht. Abgesehen davon, dass
die Herrin mich mit Gewalt gar nicht bezwingen könnte, braucht sie nur mit dem
Finger zu schnippen und ich tue alles, was verlangt wird. Sie braucht mich nicht
96
So hat sich z.B. unter Computerfreaks - insbesondere in Hackerkreisen - die Regel durchgesetzt, dass es zwar
völlig legitim ist, in fremden Rechnern zu wildern, das Verändern oder Zerstören von Datenbeständen ist aber geächtet (vgl. Eckert u.a. 1991). Auch in Rockergruppen (vgl. Simon 1989) oder jugendlichen Cliquen
und Gruppen (vgl. Liebel 1990) lassen sich ähnliche Entwicklungen nachzeichnen.
156
mit Gewalt in den Käfig zu sperren, ihr Befehl genügt, und ich krieche in den
engsten Käfig (64 Jahre, M, heterosexuell).
Natalie: Ich sehe SM als Spiel und nicht als so ernst, wie das manche vermuten.
Also ich sehe das auch nicht als Ausdruck von Gewalt an der anderen Person, wie
das z.B. häufig von Leuten so beurteilt wird und wo gleich gesagt wird: ‚Ich will
ja keinem anderen weh tun.’ Wenn Schmerz mit Lust verbunden ist, dann ist das
ein Spiel und nicht Gewalt. Gewalt wäre für mich, jemandem etwas anzutun, was
er nicht will (34 Jahre, S, lesbisch).
Wenngleich sadomasochistische Praktiken vordergründig das Zufügen resp. Erleiden von
Gewalt bedeuten, so bleiben sie letztlich doch Elemente eines fiktionales Spiels. In ihm ist der
Einzelne Extremreizen ausgesetzt, die er freiwillig erleben will und von denen er weiß, dass
er sie jederzeit beenden kann. So ähnlich wie moderne elektronische Medien im Cyberspace
unmittelbare und ‚echte’ Erlebnisse bieten können, ist auch der SM-Rahmen eine Simulation,
in der - verbunden mit gewissen Risiken - außeralltägliche Erlebnisse und Grenzerfahrungen
möglich sind. Durch ein umfassendes Regelsystem und dem letztendlichen Bewusstsein des
‚So-tun-als-ob’ bietet das SM-Arrangement virtuelle Erlebnisse. Erst wenn Grenzen verletzt
und Gebote missachtet werden, wird aus dem Spiel eine gefährliche und dann auch bedrohliche Wirklichkeit.
Die Überschreitung der Grenzen
Im Idealfall einer SM-Beziehung kommt es nicht zu negativen Erlebnissen. Durch bestimmte
Reglementierungen und die Antizipation einer funktionierenden Affektkontrolle versucht jeder für sich, Kontrollverluste, die zu psychischen oder körperlichen Schäden führen können,
auszuschließen. Der Alltag des Sadomasochismus weicht aber gelegentlich von diesem Ideal
ab. Durch enthemmtes Verhalten, auf der passiven wie auf der aktiven Seite, kann das Gefühl
für die Grenzen verloren gehen. Geht eine solche Übertretung gut aus, können die beteiligten
Personen eine neue positive Grenzerfahrung für sich verbuchen. Ist der Einzelne aber durch
das Arrangement überfordert, kann er Schaden davon tragen.
Neben körperlichen sind auch psychische Schädigungen festzustellen. Sie äußern sich z.B. in
Angstgefühlen oder dem Verlust des Vertrauens gegenüber anderen Personen. Während Sadomasochismus von vielen Personen ohne Probleme in die Sexualität integriert ist und damit
auch ein Stück Normalität darstellt, sind solche negativen Einbrüche häufig die Ursache für
Probleme. So kommen manche der Betroffenen nach einem solchen Ereignis nicht mehr mit
ihrer sadomasochistischen Orientierung zurecht. Misstrauen und Angst bei den masochistischen Personen, und die Furcht bei der aktiven Person vor einem erneuten Kontrollverlust
157
können z.B. die Beziehungsaufnahme zu anderen Personen erheblich erschweren resp. unmöglich machen:
Brigitte: Ich habe immer gesagt, dass mir so eine totale Versklavung nicht passieren würde, und gerade mir ist es doch passiert. Das war eine ganz subtile Angelegenheit, wie versucht wurde, meine Psyche zu brechen, zu zerstören, und zu dem
Zeitpunkt, als es passierte, hätte ich mich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, wenn einer gesagt hätte, dass ich mich selbst aufgebe. Es war absolut totaler Psychoterror und doch freiwillig und mit meinem vollkommenen persönlichen
Einverständnis, weil es geschickt eingefädelt wurde - eigentlich die reinste Gehirnwäsche. Das hat mit Lust nichts mehr zu tun. Aber zum damaligen Zeitpunkt
hat man es geschafft mir einzureden, dass es für mich das Beste und die vollkommene Selbstverwirklichung ist, und ich habe diese Argumentation bis in die
letzte Faser meiner Person aufgenommen und selbst daran geglaubt. Das hat destruktive Formen angenommen (38 Jahre M, heterosexuell).
Sven: Mein Freund hat mal eine sehr negative Erfahrung gemacht und zwar bei
Leuten, mit denen er schon sehr lange in Kontakt gestanden hat, also wo er ganz
regelmäßig hingegangen ist. Also immer wenn die angerufen haben, hatte er da
anzutanzen und da nahmen die ihn dazwischen und beim letzten Mal, wo er dagewesen ist, hatten die etwas zu viel getrunken und haben die Grenzen nicht mehr
gekannt und da ist er, so wie er war, geflohen - mitten in der Nacht. Und seitdem
hat er unwahrscheinliche Angst (50 Jahre, M, heterosexuell).
Nicht selten ist für die ‘Opfer’ therapeutische Hilfe notwendig, um derartige negative Erfahrungen zu verarbeiten. Gerade weil Vertrauen für sadomasochistische Inszenierungen unerlässlich ist, müssen manche der Betroffenen nach solchen Erlebnissen das Grundvertrauen im
Umgang mit anderen Sadomasochisten wieder lernen. Um die Verarbeitung dieser Vorfälle zu
erleichtern, haben sich mittlerweile Selbsthilfegruppen gebildet, in denen Sadomasochisten
ihre Erfahrungen austauschen und ihre Erlebnisse zu bewältigen versuchen.
Therapiebedürftig ist aber unter Umständen nicht nur das Opfer, sondern vor allem der ‘Täter’, wie das folgende Beispiel einer Misshandlung zeigt:97
Bianca: Da würde ich keine Hand für ins Feuer legen, dass dann nichts Schlimmes
passiert. Ich weiß es von einem Freund. Dessen Frau, die hat ihn immer wohin geschickt, meistens zu Paaren. Irgendwann ist er nach Hause gekommen, da hat er
97
Straffällig gewordene Sadisten bedürfen zumeist therapeutischer Hilfe und Schorsch (1987b, S. 131) zufolge
sind Erfolgschancen einer Behandlung recht hoch: "Zusammenfassend lassen unsere Ergebnisse die Schlußfolgerung zu, daß es, auch wenn man die Therapieerfolge kritisch bewertet, möglich ist, bei über der Hälfte
der Sexualstraftäter eine erfolgreiche ambulante Psychotherapie durchzuführen. Dieses Ergebnis ist ermutigend, bedenkt man die große Skepsis, die nicht nur seitens der Justiz gegenüber Psychotherapie überhaupt,
sondern auch und vor allem seitens der Psychotherapeuten hinsichtlich der Therapierbarkeit von Straftätern,
speziell wenn sie eine Perversionssymptomatik haben, geäußert wird."
158
keine Fingernägel mehr gehabt. Da ist er einem richtigen Sadisten in die Hände
gefallen, der nicht danach gefragt hat, ob er mit diesem oder jenem einverstanden
ist. Der hat ihn ans Andreaskreuz gebunden und ihm die Fingernägel ausgezogen.
Was sollte er denn da machen? (...) Der hat sich die Fingernägel nicht absichtlich
rausziehen lassen. Das war was, wo er an einen richtigen Sadisten kam. Wie der
das gemacht hat, da konnte er nicht mehr loskommen. Da nutzte ihm sogar sein
Karate nichts. Hinterher, wie er dann los war, was wollte er da ohne Fingernägel
machen? Das war wahrscheinlich nur ein irrer Schmerz. Mit Anzeigen kommen
sie auch nicht weiter. Weil sie sind ja selber schuld, sie gehen ja freiwillig dahin.
(...) Ich würde mich nie als richtige Sadistin in diesem Sinne bezeichnen. Ein Sadist ist für mich ein kranker Mensch, der zerstören und wirklich verletzen will, so
wie der Typ mit den Fingernägeln. SM soll aber Spaß machen, auch wenn es
manchmal ein bisschen weh tut. Einem [wirklichen] Sadisten macht es auch Spaß,
aber erst dann, wenn es normalerweise so weit ist, dass man aufhören sollte, wenn
man die Grenze der Freiwilligkeit überschreitet (40 Jahre, S, heterosexuell).
Rex: Also wie manche Leute SM verherrlichen, das kann ich nicht verstehen. Natürlich läuft im Großen und Ganzen alles nach Regeln und Vereinbarungen und
mit Freiwilligkeit und so weiter. Aber man muss doch auch mal ganz eindeutig
sagen, dass Regeln verletzt und Grenzen überschritten werden. Das ist sicher nicht
wünschenswert und auch nicht unproblematisch. Aber das gibt es in der SMSzene und das möchte ich doch mal feststellen. Ich möchte damit nicht behaupten,
dass das schlechthin typisch ist für SM, man muss da ja sehr vorsichtig sein, um
funktionierende SM-Beziehungen und -Aktionen nicht zu kriminalisieren oder pathologisieren, aber es kommt halt hin und wieder vor (35 Jahre, S, heterosexuell).
Aus strafrechtlicher Perspektive liegen in diesen Fällen also Körperverletzungen gemäß §223
(Körperverletzung) oder §224 StGb (schwere Körperverletzung) vor. Solche erzwungenen
Handlungen sind von daher generell strafbar. Gleichzeitig machen die Befragten deutlich,
dass es sich bei solchen Gewalthandlungen um Ausnahmen handelt. Im Normalfall finden
SM-Handlungen unter der Voraussetzung der Einwilligung statt, ähnlich wie der ärztliche
Eingriff und Verletzungen im Rahmen von Sportveranstaltungen. Vom Selbstverständnis der
Betroffenen ausgehend sind sadomasochistische Handlungen deshalb Sonderformen, die nicht
als Körperverletzung geahndet werden können. Der Gesetzgeber ist hier aber anderer Auffassung: „Wer eine Körperverletzung mit Einwilligung des Verletzten vornimmt, handelt nur
dann rechtswidrig, wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt“
(§226a StGb). Die Sittenwidrigkeit nach §226a wird beim Sadomasochismus angenommen
und demzufolge wäre jede sadomasochistische Körperverletzung strafbar, denn die Einwilligung der passiven Person ist unter rechtlichen Gesichtspunkten hinfällig.98 Problematisch ist
98
Einen guten Überblick zur Vorgeschichte dieses Gesetzes gibt Sitzmann (1991, S. 72f): "Einer der ersten, der
sich - wenn auch nur am Rande - mit der Strafbarkeit einer Körperverletzung auf Verlangen auseinandersetzte, war Erich Wulffen. Er vertrat die prinzipielle Straflosigkeit der Beteiligten. Die Handlungen seien zwar
tatbeständig Körperverletzungen, jedoch greife der Grundsatz <<volente non fit iniuria>> rechtfertigend ein.
159
die genauere Bestimmung des Begriffs ‚Sittenwidrigkeit’. Er erweist sich bei der Findung
einer klaren Rechtslage als das entscheidende Hindernis und dementsprechend wird der §226
unterschiedlich gehandhabt: „Hinsichtlich der Strafbarkeit sado-masochistischer Körperverletzungen ist zu differenzieren: nicht jede, namentlich nicht die lediglich von §223 und §223a
erfaßte Tat ist bei vorliegender Einwilligung des Masochisten strafbar. Dem Verdikt der Sittenwidrigkeit unterfallen daher nur die Körperverletzungen nach §224ff. Zur Begründung
dient ein gewandeltes Verständnis vom Inhalt des Begriffs <<sittenwidrig>>. Auf bloße Moralwidrigkeit kommt es nicht (mehr) an, entscheidend kann nur sein, inwieweit das Verhalten
in seinen Ursachen und Konsequenzen sozialwidrig ist. Der seinen Partner zu einer schweren
Körperverletzung bestimmende Masochist ist nicht wegen Anstiftung zu schwerer Körperverletzung strafbar, da seine körperliche Integrität ihm selbst gegenüber - außer bei Verstümmelung zu deliktischen Zwecken - strafrechtlich ungeschützt ist“ (Sitzmann 1991, S. 81).
Die Verwendung des Begriffes der Sittenwidrigkeit ist umstritten. Er kann immer nur vor dem
Hintergrund der Annahme eines einheitlichen Sittlichkeits- und Moralempfindens in der Bevölkerung formuliert werden. Solcherlei Vorstellungen können angesichts fortschreitender
Differenzierungs- und Pluralisierungseffekte in der Gesellschaft aber nicht mehr ohne Weiteres angenommen werden, ohne die Ansprüche von Minoritäten zu beschneiden. Indessen ist
aus strafrechtlicher Sicht noch eine andere Frage interessant. Bevor geklärt werden kann, ob
gemäß §226a der Einwilligung die rechtfertigende Wirkung zu versagen ist, muss die Reichweite der Einwilligung geklärt sein. Sie bezieht sich nur auf den Bereich, mit dem die passive
Person vorab in einer Absprache einverstanden war. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass bleibende Schädigungen (z.B. Kastration, Amputation), wie sie gelegentlich vorkommen sollen,
generell von der Einwilligung ausgenommen sind.
Das Kriminalitätsfeld im Bereich SM ist aber nicht nur auf den Tatbestand der Körperverletzung zu beschränken, sondern muss weitergefasst werden. So kommen z.B. auch Erpressungen vor. Sie sind im Domina- und Prostitutions- wie auch im semiprofessionellen Bereich - wenn auch nicht an der Tagesordnung, so doch hin und wieder - zu finden. Auch Frei-
Dies gelte aber dann nicht, wenn der Masochist minderjährig sei oder infolge übermäßiger Flagellation sterbe. (...) Ende der zwanziger Jahre beschäftigte sich erstmals die höchstrichterliche Rechtsprechung mit diesem Problemkreis. Da bei sadomasochistischen Praktiken die Körperverletzungen zu <<Unzuchtszwecken>>
erfolgten, verstoße die Tat trotz einer Einwilligung gegen die guten Sitten. Die Einwilligung sei daher rechtlich bedeutungslos. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang, dass bereits vor Einführung des §226a am
26.5.1933 für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit auf den Tatzweck abgestellt wurde. Nach Einführung des
§226a wird ausdrücklich hervorgehoben, dass es für das Verdikt der Sittenwidrigkeit ausschließlich auf die
Sittenwidrigkeit der Tat und nicht auf die der Einwilligung ankomme. Eine sadomasochistische Körperverletzung sei sittenwidrig, da zum einen nicht der Masochist, sondern die Gesellschaftsordnung durch die Anwendung des §226a geschützt werde, Masochisten ansonsten auch in ein <<abartiges Triebleben verstrickt>>
würden und <<der Volksgemeinschaft verloren>> gingen."
160
heitsberaubungen, z.B. bei erzwungener ‘Sklaverei’, können als spezifisches SM-Delikt angeführt werden. Da wir zu diesen Aspekten kein Datenmaterial erhoben haben, müssen sich die
Ausführungen an dieser Stelle auf die bloße Feststellung beschränken.
1.8
Die Trennung von Alltag und Sadomasochismus
Die Verwirklichungschancen der sadomasochistischen Neigung in einer persönlichen Beziehung - sei es in der Gruppe oder einer Partnerschaft - entscheiden maßgeblich darüber, ob
Sadomasochisten mit ihrer Neigung zurechtkommen. Aber auch die Trennung von Alltag und
SM ist entscheidend für die Integrierbarkeit dieser Neigung.
Wird der Sadomasochismus Teil des Alltags, so handelt es sich zumeist um ein spielerisches
Agreement. Die Erweiterung des Außeralltäglichen in die Alltäglichkeit schafft eine zusätzliche Reizquelle durch die Einbeziehung von Unbeteiligten: Sie können als nichtsahnende Zeugen (‘Besonders lustig ist es, wenn ich mit meiner Freundin im Café sitze, und ihr den Dildo,
den wir ihr vorher eingeführt haben, aufpumpe, ohne dass es jemand merkt’) oder als unfreiwillige Teilnehmer (‘Die Leute schauen schon ganz merkwürdig, wenn ich meinen Macker und er ist immerhin 1,90 Meter groß, also eine imposante Erscheinung - an einer Kette durch
die Fußgängerzone zerre’) eine Rolle spielen. Auch dieses Ergebnis ist ein Beleg für die Virtualität der Rollenmuster. Bei anderen beschränken sich dominante oder passive Verhaltensformen explizit nur auf bestimmte Sondersituationen und werden ansonsten aus dem Alltag
ferngehalten. Dazu entwickeln die Akteure regelrechte Ein- und Austrittssymboliken. Eine
Vereinbarung, ein bestimmtes Zeichen oder einfach nur die Kleidung deuten an, dass die alltäglichen Regeln nicht mehr gelten und das ‘Spiel’ beginnt. In anderen Fällen ist die räumliche Auslagerung, etwa im Falle des häuslichen ‘Folterkellers’ oder des Dominastudios, Zeichen für den Austritt aus dem Alltag. In ihn wird erst dann wiederzurückgekehrt, wenn die
SM-Handlung beendet ist:
Veronika: Man kann es nur so abgrenzen, indem man sagt, das eine ist ein Spiel
und das andere ist die Realität. In dem Moment, wo man das Spiel beginnt, hebt
sich das ab, vielleicht durch Kleidung oder durch Situationswechsel, durch Signale, durch Raumwechsel, durch Utensilien, wie auch immer. Es gibt ja verschiedene Möglichkeiten. Das ist ja wie eine Rolle, in die man hineinschlüpft. (...) Wenn
ich also jetzt sage: ‚So, game over’, wie man das so schön beim Computer sagt,
würde ich mich umziehen oder mich optisch verändern (35 Jahre, S, heterosexuell).
Alice: Wegen Zeitmangel des Ehesklaven muss ich meine Interessen an SM im
Wesentlichen auf die erotisch-sexuelle Situation beschränken. Wenn der Sklave
mehr verfügbar wäre, wäre eine Ausdehnung meiner Herrinnen-Rolle ein Stück
161
weit in den Alltag denkbar. Ansatzweise geschieht das schon jetzt für gewisse
Haus- und Gartenarbeiten des Sklaven. Ansonsten sind meine SM-Rolle und meine Alltagsrolle nicht identisch. Meine Alltagsrolle ist eher partnerschaftlich, aber
innerhalb des traditionellen Ehemusters, da ich Hausfrau bin. Ich möchte meinen
Mann aber auch nicht ganz als Sklaven haben (51 Jahre, S, heterosexuell).
Marion: Ich habe da für mich einen Kunstgriff. Mein normaler Name ist [Name]
und ich habe mir einen zweiten Namen gegeben und dieser Name heißt Liesel und
das ist sozusagen mein Theatername und der Gebrauch von dem einen und von
dem anderen Namen kann gleichzeitig die Zäsur bedeuten. Also ich nehme jetzt
mal als Beispiel die Geschichte, die ich dir erzählt habe, mit dem Mann, mit dem
ich beim Essen war und so weiter. Da hätte es nach dem Essen z.B. passieren
können, dass wir noch reden und er hat vorher gesagt ‚Marion, willst Du noch einen Wein?’ und dann aber ‚Liesel, ich denke, es ist Zeit, dass Du Dich umziehen
gehst!’. Und in dem Moment wäre die andere Welt da (36 Jahre, M, heterosexuell).
Jürgen: Manchmal denke ich, wenn du mit anderen herrschend umgehen kannst,
dann kannst du es im Büro auch mal tun. Einen herrschenden Ton vielleicht, aber
in Handlungen nicht. (...) Mein Freund und ich, wir haben im Allgemeinen nicht
so ein Verhältnis. Wir haben kein Master-Sklave-Verhältnis. (...) Unser SMVerhältnis beschränkt sich auf sexuelle Taten. Das geht nicht in den Alltag rein
(35 Jahre, S, schwul).
Brigitte: SM ist reiner Showeffekt und In-Szene-setzen von irgendwelchen Dingen, ein gegenseitiges Verhandeln über die Dinge und sich klar sein, was da nun
abläuft. Das hat jetzt nichts mit irgendwelchen Torturen oder Rollenverhalten ansonsten im Alltag zu tun (27 Jahre, SM, lesbisch).
Auf die geschilderten Trennregeln kann der Begriff der ‚Modulation’ (vgl. Goffman 1980)
angewendet werden, den ich schon für die Beschreibung des SM-Rahmens gebraucht habe.
Die Modulationen erlauben nicht nur spezifische Transformationen von Sinn, sondern trennen
auch durch spezifische Regeln verschiedene Rahmen. So wissen z.B. die Beteiligten, „daß
eine systematische Umwandlung erfolgt, die das, was in ihren Augen vor sich geht, grundlegend neubestimmt“ (ebd., S. 57). Gleichzeitig sind bei diesen Transformationen Hinweise
gegeben, wann sie beginnen und wann sie enden, „nämlich zeitliche ‚Klammern’, auf deren
Wirkungsbereich die Transformation beschränkt sein soll“ (ebd.). Diese spezifischen Klammern sind für den SM-Rahmen typisch.
Aber nicht immer gelingt der Ausstieg aus der Sondersituation. Die Verhaltensmuster verlängern sich unbewusst in den Alltag, wie etwa in dem folgenden Fall eines homosexuellen Masochisten:
Ich hatte z.B. eine Autopanne und habe den ADAC rufen müssen, auf der Autobahn. Dann kam dieser ADAC-Mann. Das war ein unglaublich viriler Mensch,
162
mit Tätowierungen. Da bin ich vor ihm auf die Knie gegangen und habe angefangen, seine Stiefel zu lecken. Dafür konnte er ja gar nichts. Da war der so
furchtbar erschrocken, dass er in sein Auto gegangen ist und sich verbarrikadiert
hat. Dann hat er das Knöpfchen heruntergedrückt und ist nicht mehr rausgekommen. Ich musste dem dann sagen, dass ich nicht richtig ticke. Nicht nur mein Motor ist out of order, sondern ich ticke auch nicht ganz richtig. Der Mann hat dann
zwar mit Distanz meinen Motor repariert, aber (...). Das ist mir ein paar Mal passiert. Bauarbeiter, die haben ja auch gar keine Antenne für sowas: Ich habe jemanden gesehen, der hat sich gerade umgezogen, der stand in der Unterhose in
dieser Baubaracke. Plötzlich habe ich weder Weg noch Steg gesehen und bin dann
mitten in die Baustelle gefahren. Die Bauarbeiter haben furchtbar geflucht. Aber
sowas, das kann man ja gar nicht erklären. Diese Betriebsstörungen möchte ich
natürlich tunlichst vermeiden.
Der Phantasie kommt hier die Auslöserfunktion für eine Handlung zu, die, was Ausführung
und Konsequenzen anbelangt, nicht reflektiert und mehr oder weniger in einem halbbewussten Zustand verbleibt.
Neben solchen kurzen Kontrollverlusten und Aussetzern, findet sich aber auch die bewusste
und zielgerichtete Verlängerung sadomasochistischer Verhaltensformen in den Alltag. Eine
umfassend hierarchisierte Lebensführung wird in den Phantasien als besonders faszinierend
herbeigesehnt. So ist z.B. die Vorstellung, irgendwo ‘in Stellung gehen zu können und schwere körperliche Arbeit für wenig Geld und viele Schläge unter der Aufsicht einer strengen Herrin’ leisten zu dürfen, ein Wunschtraum mancher Masochisten. Diese Sehnsüchte verbleiben
aber zumeist in der Phantasie. Allerdings finden sich - wenn auch als sehr seltene Ausnahme solche Arrangements in der Wirklichkeit. Gehen diese Extremausprägungen sadomasochistischen Verhaltens mit erzwungener Versklavung und Beschlagnahmung des Eigentums einher,
müssen sie Gegenstand strafrechtlicher Verfolgungen sein.
Insgesamt sind solche Fälle aber eine Seltenheit. Autoritäres und submissives Verhalten,
Machtansprüche und Devotheit sind im Regelfall Elemente eines Spiels, die im Alltag keinen
Platz haben. Das zeigt sich beispielsweise auch an den politischen Einstellungen der befragten
Personen, die gerade nicht durch autoritäre oder gar faschistische Orientierungen geprägt
sind:
Jochen: Wenn ich mich umgucke in unserer politischen Landschaft, dann sehe ich
nur Trümmer. Das ist mit ein Grund, warum ich keine öffentliche Parteiarbeit leiste. Könnte ich niemals machen, weil keine Partei das alles umfasst, was mich interessiert. Aber ökologisch und wirtschaftlich und die Sachen, die mich jetzt hier direkt betreffen ja, würde ich schon sagen, dass ich da gemäßigte linke Positionen
einnehme. Sagen wir mal Realos. Ich könnte, wenn ich Politik machen würde,
mich bei den Realos ganz gut vorstellen (27 Jahre, S, heterosexuell).
163
Melitta: Parteien reiten viel auf Führerfiguren, aber da bin ich dagegen. Das geht
einfach nicht, dass alles von einem Mann ausgeht und dass einer alles vertritt. (...)
Ich hab so das Gefühl, wenn irgendeine Ideologie dahintersteckt - egal was - dann
klappt es nach kurzer Zeit nicht mehr. Ob das eine zu grüne oder zu sozialistische
Ideologie ist, auch eine zu kapitalistische Ideologie ist, dann läuft es nicht (30 Jahre, S, heterosexuell).
Roswitha: Ich möchte es mal so sagen. Ich bin ein frei denkender Mensch, der
seine Meinung vertreten kann und (...) andere Menschen auch frei denken und reden lässt und für den die Menschlichkeit an höchster Stelle steht (38 Jahre, M, heterosexuell).
Diana: Also politisch würde ich sagen, dass ich links bin. Ich finde auch immer
diese Fragen, wenn man bei SM Macht ausübt, ob man die dann auch in der politischen Einstellung hat, doof. Das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun.
Ich engagiere mich in der Friedensbewegung und würde nie Parteien wählen, die
für Gewalt sind. Das sind doch zwei ganz verschiedene Sachen, SM und Politik
(24 Jahre, S/M, lesbisch).
Manfred: Ich bin Zivildienstleistender und habe meine sehr eigene und sehr fundierte Meinung über staatliche Gewaltstrukturen, die nicht zu vergleichen sind mit
irgendwelchen spielerischen Sexformen. Letzteres baut auf Gegenseitigkeit, auf
Wohlwollen und auch auf Einverständnis auf. Überhaupt nicht zu vergleichen mit
Aggressionen, wo der eine der Leidende ist und das nicht will und der andere das
durchsetzen will. Das ist überhaupt nicht zu vergleichen, deshalb habe ich auch
keine Probleme damit. (...) Bevor es mit manchen Leuten zur Sache geht, politisiere ich manchmal erst mal eine Viertelstunde, meistens über Anarchismus und
Gewaltfreiheit und über Basisdemokratie (25 Jahre, M, schwul).
Die Vorstellung, dass für Sadisten generell ein autoritärer und für Masochisten ein obrigkeitshöriger Habitus typisch ist, der sich auch in den politischen Auffassungen und Meinungen niederschlägt, ist also sicherlich nicht zutreffend. Es mag durchaus sein, dass die eine
oder andere Person nicht nur in ihrer Sexualität, sondern auch in anderen Bereichen dominant
agiert. Aber dies ist keine symptomatische SM-Erscheinung. Genau so, wie sich autoritäre
politische Einstellungen in anderen Bevölkerungssegmenten finden, gibt es linksalternativ,
liberal oder konservativ eingestellte Sadomasochisten. Auch gelegentlich zu beobachtende
Symbole wie Hakenkreuze, Uniformen, Lederstiefel oder die entsprechenden Mützen können
nicht als Ausdruck einer faschistischen Weltanschauung gewertet werden. Sie sind Teil einer
sub-, besser spezialkulturellen Emblematik und Bricolage-Improvisation, die durch spezifische Aneignungen und Umdeutungen mit einer szenetypischen Semantik belegt sind.
164
1.9
Frauen und Sadomasochismus
Das Themenfeld Frauen und Sadomasochismus ist in der theoretischen Literatur schon seit
Beginn des 20. Jahrhunderts berücksichtigt worden. Wie die anderen Perversionen, war der
‚Masochismus der Frau’, und um ihn geht es fast ausschließlich in diesen Schriften, Gegenstand sexualwissenschaftlicher und medizinisch-psychiatrischer Arbeiten. Bevor ich die Ergebnisse aus den Interviews mit SM-praktizierenden Frauen darstelle, sollen die wichtigsten
Ansichten der frühen Sexualwissenschaft und Psychoanalyse zum weiblichen Masochismus
und die Fortführung der Debatte in der Frauenbewegung dargestellt werden.
1.9.1
Weiblicher Sadomasochismus in der wissenschaftlichen Diskussion
Krafft-Ebing (1886/1984, S. 155) zufolge stellt der Masochismus eine „krankhafte Ausartung
spezifisch weiblicher psychischer Eigentümlichkeit“ dar. Das Dienen sei gleichsam der Natur
von Frauen inhärent. Demnach resultiere der weibliche Masochismus aus den ohnehin schon
bestehenden natürlichen Verhaltensdispositionen sowie den kulturellen und sozialen Prägungen, die dieses Verhalten noch verstärken. Krafft-Ebing räumt zwar ein, dass sich masochistisches Sexualverhalten auch bei Männern zeige (und hat in diesem Zusammenhang fast nur
männliche Fallbeispiele zusammengetragen), kann dafür aber keine schlüssige Erklärung angeben. Auch Sigmund Freud geht von bestimmten geschlechtsspezifischen Eigenschaften aus.
Er sieht aber auch das prägende soziale Bedingungsgefüge: „Die dem Weib konstitutionell
vorgeschriebene und sozial auferlegte Unterdrückung seiner Aggression begünstigt die Ausbildung starker masochistischer Regungen, denen es ja gelingt, die nach innen gewendeten
destruktiven Tendenzen erotisch zu binden. Der Masochismus ist also, wie man sagt, echt
weiblich“ (Freud 1933, S. 123). Auch wenn Freud hier soziale Codierungen des Verhaltens
einräumt, so sind Masochismus und Passivität für ihn typisch weibliche, invariante Verhaltensmerkmale.99
99
Ähnlich wie sein Zeitgenosse Krafft-Ebing führt er seine Vorstellungen über den femininen Masochismus
ausschließlich auf Erfahrungen mit männlichen Fallbeispielen zurück: "Wir kennen diese Art des Masochismus beim Manne (auf den ich mich aus Gründen des Materials beschränke) in zureichender Weise aus
den Phantasien masochistischer (häufig darum impotenter) Personen, die entweder in den onanistischen Akt
auslaufen oder für sich allein die Sexualbefriedigung darstellen." Er fährt fort: "Hat man aber die Gelegenheit
Fälle zu studieren, in denen die masochistischen Phantasien eine besonders reiche Verarbeitung erfahren, so
macht man leicht die Entdeckung, daß sie die Person in eine für die Weiblichkeit charakteristische Situation
versetzen, also Kastriertwerden, Koitiertwerden oder Gebären bedeuten. Ich habe darum diese Erscheinungsform des Masochismus den femininen (...) genannt" (Freud 1940, S. 374).
165
Insbesondere in den Arbeiten der Psychoanalytikerinnen Helene Deutsch und Marie Bonaparte werden diese Thesen fortgeführt. In der Einleitung zu ihrem ersten Band über die Psychologie der Frau beschreibt Deutsch (1948, S. 5) „Narzismus, Passivität und Masochismus“ als
die „drei wesentlichen Züge der Weiblichkeit.“ Aktivität sieht sie dagegen als Domäne des
Mannes. So fährt sie in ihren Ausführungen über die weibliche Sexualität (ebd. S. 199ff) wie
folgt fort: „Die Anschauung (...), dass für den psychologischen Begriff ‚Weiblichkeit’ zwei
Eigenschaften charakteristisch sind, nämlich: Passivität und Masochismus, hat sich durch
jahrelange klinische Erfahrungen sowie durch direkte Beobachtungen an Tieren weiter befestigt. (...) Wenn ich also auch ohne Weiteres die Bedeutung äusserer Einflüsse auf die Stellung
des Weibes anerkenne, so halte ich doch daran fest, dass in quantitativ wechselnder Verteilung und in verschiedenen Äußerungsformen die Grundeinheit: Weiblich-passiv, Männlichaktiv in allen unserer Beobachtung zugänglichen Kulturen, Nationen und Rassen als individuelle Eigenschaft der Geschlechter erhalten ist.“ Wenn Deutsch auch ausdrücklich darauf hinweist, dass der weibliche Masochismus nicht mit der bewussten sexuellen Perversion des Masochisten verwechselt werden darf (ebd. S. 219), so sind ihrer Meinung nach die Erfahrungen
der Frau im Geschlechtsverkehr, bei der Geburt und sogar in der Mutter-Kind-Beziehung mit
masochistischer Lust verbunden. Ähnlich argumentiert Bonaparte (1935, S. 24) wenn sie behauptet, der Masochismus sei eigentlich feminin. Für sie ist „die Frau bezüglich der eigentlichen Fortpflanzungsfunktionen - Menstruation, Defloration, Schwangerschaft und Entbindung - schon biologisch dem Schmerz geweiht. Die Natur scheint ohne Bedenken dem Weibe
Schmerz - und zwar in hohen Dosen - aufzuerlegen, da es nur passiv den vorgeschriebenen
Ablauf zu erdulden hat.“
Die Annahme einer primär passiven Verhaltensdisposition bei Frauen als gleichsam anthropologisches Merkmal ist für Krafft-Ebing und die anderen Vertreter der frühen Sexualwissenschaft wie auch Freud und die Psychoanalyse charakteristisch. Bezogen auf das Phänomen
des Sadomasochismus wird dies an der begrifflichen Einengung auf den Masochismus augenscheinlich. Die Möglichkeit eines weiblichen Sadismus wird von vornherein ausgeklammert.
Einige Vertreter der Psychoanalyse betonen kulturelle Aspekte und kritisieren diese Auffassungen. So revidiert Horney (1934, S. 390) als eine der ersten die Annahmen über die natürliche Passivität und den Masochismus der Frau: „Weibliche Züge sind, obwohl an und für sich
nicht masochistischer Natur, geeignet zum Ausdruck masochistischer Züge; diese hingegen
kommen von Quellen, die mit Feminität nichts zu tun haben. Die Bereitwilligkeit, mit der der
Masochismus sich mit weiblichen Zügen verknüpft, ist zwei Faktoren zuzuschreiben, deren
jeder ein eigenes Studium erfordern würde: es sind dies der kulturelle und der biologische
Faktor.“ Die kulturellen Aspekte formulierte sie in ihrer späteren Arbeit über die weibliche
Psychologie (Horney 1967, S. 232f): “The problem of feminine masochism cannot be related
166
to factors inherent in the anatomical-physiological-psychic chracteristics of woman alone, but
must be considered as importantly conditioned by the culture-complex or social organization
in which the particular masochistic woman has developed. (...) It is clear, however, that the
importance of anatomical-psychological-psychic factors has been greatly overestimated by
some writers on this subject.” Ähnlich argumentieren Thompson (1942) und Robertiello
(1970) wenn sie darauf hinweisen, dass häufig kulturspezifische Besonderheiten verallgemeinert wurden, um den Masochismus als normales Verhalten der Frau zu beschreiben.
Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass weder Krafft-Ebing noch die verschiedenen
Vertreter der Psychoanalyse den Masochismus als bio-psychologisches Schicksal von Frauen
haben nachweisen können. Deshalb ist Blum (1981, S. 142) zuzustimmen, wenn er schreibt:
„Es gibt keinen Beweis dafür, daß der weibliche Mensch mehr dazu begabt ist, aus Schmerz
Lust zu gewinnen (...), es gibt mannigfaltige, wenn nicht zwangsläufig gleiche sadomasochistische Tendenzen bei beiden Geschlechtern. (...) Sadomasochismus ist universal in der
Menschheit, doch ich würde den Masochismus nicht als ein wesentliches oder organisierendes
Attribut der reifen Weiblichkeit ansehen. Hypothesen, die die Weiblichkeit in Ableitung und
Funktion als sekundär zur Männlichkeit ansahen, waren mit einem masochistischen Entwicklungsmodell verbunden. Diese antiquierten Formulierungen beruhten auf beschränkten analytischen Daten, Konstruktionen und Entwicklungskenntnissen.“ So ist es nicht verwunderlich,
dass auch die Hauptströmung psychoanalytischen Denkens heute die Vorstellung eines weiblichen Masochismus ablehnt (vgl. Benjamin 1990). Kritik an der Auffassung, wonach Weiblichkeit, Passivität und Masochismus notwendigerweise zusammengehören, kommt vor allem
aus feministischen Denkrichtungen. So schreibt Chodorow (1990, S. 185): „Freud beschrieb
nur selten die Entwicklung von Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft. Oft stellte er nur
unbegründete Behauptungen auf (...). Die meisten davon sind klinisch absolut unberechtigt.
(...) Vielmehr entstanden sie aus unhinterfragten Annahmen einer patriarchalen Kultur, aus
Freuds persönlicher Blindheit, seiner Frauenverachtung und seinem Weiberhaß, aus biologischen Ableitungen, die durch seine Arbeit nicht gerechtfertigt waren, aus einem patriarchalen
Wertsystem und einer Evolutionstheorie, die diese Werte rationalisierte.“100
100
Zur ausführlichen Kritik an biologistisch-deterministisch orientierten Erklärungsversuchen weiblicher Passivität/Masochismus seien hier einige Arbeiten genannt: Baker-Miller (1976); Bernard (1981); Burgard/Rommelspacher (1989); Caplan (1986); Hagemann-White (1979); Kaplan (1991); Millet (1974; 1979).
167
1.9.2
1.9.2.1
Die SM-Debatte in der Frauenbewegung
Frauen und SM - Ein Boom-Thema zu Beginn der 90er Jahre
Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre wird der Sadomasochismus von Frauen über
Publikumszeitschriften wie z.B. ‚Der Spiegel’ oder ‚Stern’ und Frauenmagazine wie ‚Petra’,
‚Cosmopolitan’, ‚Elle’, ‚Viva’, oder ‚Marie Claire’ verstärkt in die Öffentlichkeit getragen.
Häufig handelt es sich um Reportagen über professionelle Dominas, die ihr Gewerbe vorstellen.101 Neben Berichten über den Bereich des käuflichen Sadomasochismus erscheinen auch
zahlreiche Selbstbekenntnisse über die private Passion. Frauen berichten, wie sie Lust durch
sadomasochistische Sexualpraktiken erfahren und „mit der Lust am Leiden leben wollen“
(Posche 1990, S. 69). Die Flut von Zeitschriftenartikeln zu diesem Thema wird durch eine
Reihe von Buchpublikationen vergrößert. Zudem werden Frauen auf dem SM-Markt zu einer
immer wichtigeren Konsumentengruppe. Ehrenreich u.a. (1988, S. 113) beschreiben dies am
Beispiel der USA: „Heimpartys, wie sie in diesem kleinen Industriegewerbe harmlos genannt
werden, sind eine beliebte Methode bei Frauen, erotische Ausrüstungsgegenstände zu erwerben und zugleich eine Sexexpertin ins Wohnzimmer zu laden. ‚Tupperware’-Partys, bei denen
Sexhilfen statt Plastikbehälter verkauft werden, sind heute keine Seltenheit mehr.“ Dass auf
solchen Veranstaltungen für Frauen nicht nur etablierte Erotikartikel (wie z.B. der Vibrator),
sondern auch SM-Accessoires angeboten und verkauft werden, ist mittlerweile schon beinahe
selbstverständlich: „So waren es auch die entsprechenden Gegenstände, die S/M für die bei
Jane Cooper versammelten Frauen in den Bereich des Möglichen treten ließen. Eingeführt in
Form von Waren, mit Preis und sogar in verschiedenen Größen, war S/M nicht mehr bizarr
oder abstoßend, sondern einfach etwas, das die neugierige Kundin ausprobieren konnte“ (ebd.
S. 132f). Sadomasochistische Frauen sind also - dass lässt sich an dieser Stelle zusammenfassend feststellen - zumindest hinsichtlich der Aufmerksamkeit, die ihnen in Öffentlichkeit und
Medien geschenkt wird - kein Randphänomen.
Auch wenn Feministinnen die Verbindung Weiblichkeit-Passivität-Masochismus beinahe
einhellig ablehnen, wird Sadomasochismus aber keineswegs einheitlich diskutiert. So wird
und wurde die Verbindung von Sexualität und Gewalt als Quelle sexueller Lust in großen
Teilen der Frauenbewegung geradezu als Erbsünde verteufelt. ‚Schmetterlingszarte Berührungen’ (vgl. Heider 1986) gehörten zum Weiblichkeitsideal der siebziger Jahre. Zu Beginn
der achtziger Jahre entdeckte man auch innerhalb der Frauenbewegung eine neue Sinnlich-
101
Vgl. Pott (1991); Der Spiegel (1/86a); Thönnissen (1988)
168
keit, die die Verbindung von Sexualität und Gewalt mit einbezog. Dieser Trend stößt keineswegs bei allen Frauen auf Verständnis und Akzeptanz. Die Befürworterinnen des Sadomasochismus verstehen sich als Protagonistinnen einer Gegenkultur zum Schmusesex (radikal)feministischer Positionen. Die Gegnerinnen sehen darin hingegen die Untergrabung ihres
langjährigen Kampfes gegen Gewalt und Unterdrückung durch das Patriarchat. Sie befürchten, das Bekenntnis von Frauen, sadistische, aber vor allem masochistische Sexualpraktiken
zu genießen, führe zur Legitimierung von Männergewalt und zu Problemen für die Öffentlichkeitsarbeit im Zusammenhang mit Gewalt gegen oder Misshandlung von Frauen.102 Diskutiert werden dabei sowohl weibliche Masochismusphantasien als auch der praktizierte Sadomasochismus von Frauen.
1.9.2.2
Weibliche Sexualphantasien
Die Diskussion um das Thema Frauen und Sadomasochismus wurde 1977 durch zwei Artikel
zu masochistischen Sexualphantasien in der Zeitschrift Emma (9/77; 11/77) entfacht. Es kam
zu unerwarteten Reaktionen verbunden mit einer Flut von Leserbriefen, in denen Frauen ihre
masochistischen Phantasien beschreiben. Kurz darauf veröffentlichte Nancy Friday (1978)
eine Sammlung sexueller Phantasien von Frauen. Sie hatte in den USA über Zeitschriften und
Annoncen um Schilderungen weiblicher Sexualphantasien gebeten, und obwohl keine thematischen Einschränkungen von ihr vorgegeben wurden, stellte sich heraus, dass die meisten
weiblichen Sexualphantasien masochistische Inhalte aufweisen.103 Ihre Veröffentlichung hat
zu heftigen Kontroversen innerhalb der Frauenbewegung geführt.
Ein Teil der Feministinnen bezweifelt, dass in weiblichen Sexualphantasien Gewalt vorkommt und verweist solche Vorstellungen in das Reich patriarchaler Fabeln und Erfindungs-
102
Die Vertreterinnen dieser Positionen stützen sich dabei auf laborexperimentelle Untersuchungen, in denen
beispielsweise der Einfluss des Sadomasochismus in Erotica auf die Reaktionen und Einstellungen zur Vergewaltigung und ihrer Darstellung gezeigt werden sollte. Feshbach/Mallamuth (1983, S. 145) kommen in
diesem Zusammenhang zu folgendem Ergebnis: "Es scheint als würden die Männer, die vorher etwas über
den Genuß einer Frau an Mißhandlungen gelesen hatten, nun die Schmerzäußerungen des Vergewaltigungsopfers als Zeichen sexueller Erregung deuten. Mit anderen Worten: Die Hemmungen, mit denen man normalerweise auf Schmerzsignale reagiert, wurden aufgrund der Konfrontation mit sadomasochistischem Material
irgendwie verändert. Zu dieser Deutung paßt auch unsere Entdeckung, daß für diese Männer die sexuelle Erregung um so stärker war, je stärker sie die Schmerzen des Opfers einschätzten. (...) Es gab auch Hinweise
dafür, daß sich die Männer mit dem Täter identifizierten, - und daß sie eine Vergewaltigung sogar innerhalb
ihres eigenen Verhaltensrahmens als vorstellbar ansahen."
103
Aber nicht nur populärwissenschaftliche Textsammlungen zeigen, dass masochistische Vorstellungsinhalte
wichtiger Bestandteil weiblicher Sexualphantasien sind. In diesem Zusammenhang sei auf die Arbeiten von
Crepault u.a.(1977); Knafo/Jaffe (1984); Lohs (1983); Talbot u.a. (1980); Trukenmüller (1982) verwiesen.
169
kunst. Andere interpretieren weibliche Unterdrückungsphantasien als die Folge spezifischer
Sozialisationserfahrung und Ohnmacht, nicht aber als einen Ausdruck weiblichen Masochismus. Sie gestehen zwar ein, dass Sex und Gewalt heute in den Phantasien vieler Frauen miteinander verbunden sind; dies sei jedoch anerzogen und angeprügelt. Lawrenz/Orzegowski
(1988, S. 9) beispielsweise machen vor allem sozio-kulturelle Bedingungen für die Existenz
masochistischer Sexualphantasien von Frauen verantwortlich. Sie versuchen, „die Verknüpfungen zwischen sexuellen Phantasien, individueller Lebensgeschichte und gesellschaftlichen
Weiblichkeitsbildern aufzudecken (...)“, und sprechen in diesem Zusammenhang von ‚Gewordenheit’ und ‚Mehrdeutigkeit’ solcher Phantasien. Frauen seien aufgrund spezifischer
Sozialisationserfahrungen nicht in der Lage, selbstbezogen zu entscheiden und zu handeln.
Der weibliche Charakter werde in unserer Kultur seit jeher immer mit Aufopferungsbereitschaft und Verzicht auf den eigenen Willen gleichgesetzt. Sie gehen sogar noch einen Schritt
weiter und behaupten, Frauen fehle vor diesem Hintergrund die Kenntnis des eigenen Willens. Das, was sie als eigenen Willen empfinden, sei die Verinnerlichung der äußeren Unterdrückung, sie sind „schließlich tatsächlich, was die Gesellschaft [ihnen] vorschreibt zu sein“
(ebd. S. 146f). Dies gelte auch für die Sexualität. Daher dürfe ihrem Verständnis nach der
Vorgang der Erniedrigung nicht ignoriert und masochistische Sexualphantasien nicht glorifiziert werden. Das bei Frauen häufige Auftreten masochistischer Phantasieinhalte erscheine
vor dem Hintergrund der spezifisch weiblichen Sozialisationserfahrungen nur als Folge ihrer
realen Machtlosigkeit. Macht sei aber notwendiger Bestandteil der Lust. Andernfalls müsse
die Lust an der Macht eines anderen teilnehmen, und sei es als Opfer. So ließen sich die Phantasiebilder als Versuch des Umgangs mit Unterdrückungsverhältnissen verstehen. Aus Unlust
würde Lust, wenn passiv erlittene Unterdrückung auf initivative Weise in kontrollierbare Situtationen verkehrt werden könne (vgl. ebd. S. 153).104
Der Widerstand von Feministinnen gegen die Unterstellung weiblicher Masochismusphantasien machte auch vor den „literarisch gestalteten Phantasien von Frauen“ (Deja
1991, S. 31) nicht halt. Sie protestierten gegen die Schilderung der freiwilligen Unterwerfung
einer Frau in Pauline Réages Geschichte der O105 und auch die weibliche Autorenschaft die-
104
Lawrenz/Orzegowski (1988) führen aufgrund ihrer Erfahrungen mit Frauen im Rahmen der Sommeruniversität der Frauen unterschiedliche theoretische Erklärungen masochistischer Phantasien an. Die hier beschriebene mögliche Verflechtung masochistischer Phantasien mit gesellschaftlichen Strukturen wird jedoch von
den Autorinnen selbst in den Mittelpunkt gestellt und kann als stellvertretend für die Argumentation der
Gegnerinnen masochistischer Sexualphantasien von Frauen verstanden werden.
105
So z.B. Dworkin (1974) und Griffin (1981) im Rahmen der feministischen Antipornographiebewegung.
170
ses Romans wurde häufig angezweifelt, obwohl sie seit langem bekannt ist.106 Für gemäßigtere Positionen wie beispielsweise Benjamin (1990, S. 81) hingegen ist es „aus psychoanalytischer Sicht (...) unbefriedigend, die Allgegenwart von Unterwerfungsphantasien im Liebesleben auf eine kulturelle Etikettierung oder auf die allgemeine Geringschätzung der Frau zurückzuführen. Wenn wir schon andere als biologische Erklärungen für den weiblichen Masochismus suchen, so finden wir diese nicht nur in der Kultur, sondern vor allem im Zusammenwirken von kulturellen und psychischen Prozessen.“ Benjamin wendet sich damit gegen
einen feministischen Moralismus, wonach Frauen, die masochistische Sexualphantasien zeigen oder gar sexuellen Masochismus praktizieren, einem auf ‚Gehirnwäsche zurückgeführten
Bewusstsein’ verhaftet sind. Ihr Argument ist, dass sich hinter der Faszination von Macht und
Unterwerfung die Sehnsucht nach Anerkennung versteckt und an zentraler Stelle erotische
Wünsche für masochistische Sexualphantasien oder gar Beziehungen verantwortlich sind.107
Während einige Feministinnen noch über die Ursachen und die Frage der Zulässigkeit masochistischer Phantasieinhalte streiten, haben sich andere Frauen organisiert, um ihre sadomasochistischen Phantasien auszuleben.
1.9.2.3
Praktizierter Sadomasochismus
1978 gründete die Feministin Pat Califia zusammen mit Gayle Rubin ‚Samois’, eine Organisation sadomasochistischer Lesbierinnen in den USA108 und löste mit ihrem 1980 zum ersten
Mal erschienenen Buch ‚Sapphistrie’ in feministischen und lesbischen Kreisen eine heftige
Diskussion über praktizierten Sadomasochismus aus. Sie vertritt darin einen ganz und gar
positiven Standpunkt gegenüber solchen Sexualpraktiken. Sadomasochismus ist ihrer Mei-
106
"Die Geschichte der O wurde zum ersten Mal 1954 unter dem Pseudonym Pauline Réage in Paris veröffentlicht. Lange Zeit wurde darüber spekuliert, wer diesen Roman geschrieben hat. Heute gilt als gesichert,
daß die am 23. September 1907 geborene französische Kritikerin und Übersetzerin Dominique Aury, die
wiederum eigentlich Anne Declos heißt, die Autorin ist" (Deja 1991, S. 35).
107
"In der Phantasie von der erotischen Unterwerfung drückt sich der Wunsch nach Unabhängigkeit und gleichzeitiger Anerkennung durch den anderen aus. Die Impulse, die hinter erotischer Gewalt und Unterwerfung
stehen, erwachsen, in wie entfremdeter, beängstigender oder pervertierter Form sie sich auch äußern mögen,
aus tief verwurzelten Wünschen nach Eigenständigkeit und gleichzeitiger Überwindung der eigenen Grenzen.
(...) Das ursprüngliche erotische Moment, der Wunsch nach Anerkennung (...) tritt heute offenbar im Sadomasochismus zutage" (Benjamin 1985, S. 90f).
108
Mittlerweile gibt es auch in Europa ähnliche Zusammenschlüsse von lesbischen und/oder heterosexuellen
Frauen (und Männern). Beispiele sind die Gruppen Slechte Meiden und Wild Side aus den Niederlanden, die
von Maria Marcus mitgegründete dänische Gruppe Smil oder die deutsche Gruppe Schlagseite. Einen ausführlichen Überblick über verschiedene SM-Organisationen in Europa und den USA gibt Balland (1989).
171
nung nach nichts anderes als eine sexuelle Variante, die völlig zu Unrecht tabuisiert und verfolgt wird.109 Sexueller Sadomasochismus sei nicht als Gewaltakt zwischen Täter und Opfer
zu verstehen. Vielmehr handele es sich um eine freiwillige Handlung, ein erotisches Ritual
zum Ausleben von Phantasien, in denen eine Partnerin sexuell dominiert und die andere Partnerin sich sexuell unterwirft. Aus diesem Grund ist es für Califia nicht erstrebenswert, diese
spielerischen Aktivitäten gesetzlich zu reglementieren. Das Gleiche gelte auch für heterosexuellen Sadomasochismus.
Aus dieser Argumentation heraus werfen SM-Anhängerinnen manchen Vertreterinnen feministischer Fraktionen vor, Verhaltensnormen aufzustellen, sexuelle Minderheiten zu unterdrücken und zu diskriminieren: „Ich unterstütze weder Vergewaltigung noch sexuellen Missbrauch von Kindern, sondern den Machtzuwachs der Jugend. Meine Politik ist keine Sexualpolitik von Herrschaft und Unterwerfung, sondern eine Sexualität von Herrschaft und Unterwerfung, die ich kontrollieren kann. Sexualpolitik definiert Sexualität als höher- und geringerwertig. Sie versuchen, mich zu dominieren und meine Sexualität ihrem Wertesystem zu
unterwerfen. Das ist Sexualfaschismus“ (Rubin, zit. nach Plogstedt 1982, S. 20). Auch Sichtermann (1985, S. 39f) wirft der Frauenbewegung vor, an der Domestizierung von Sexualität
mitzuarbeiten, „indem sie etwa glauben macht, es bräche ein sexueller Frieden aus, sobald nur
die Männer das Feld räumen oder wenigstens dessen von Frauen zu formulierende friedlicheindeutige Gesetzmäßigkeit respektieren“ und wendet sich damit gegen die „Fiktion von Eierkuchensexualität, in der zwei lächelnde Gesichter und vier offene Arme zufrieden ineinandersinken“ (ebd. S. 35). Dem Bild weiblich-friedlicher Sexualität stellt Sichtermann das der
‚Schmerz-Lust’ oder ‚Militanz des sexuellen Friedens’ gegenüber.
Seit der Veröffentlichung masochistischer Phantasien von Frauen und Califias Streitschrift
zum praktizierten Sadomasochismus kreisen die Überlegungen immer wieder um die Frage,
wie sich die Tatsache, dass weibliche Unterwerfung auch für Frauen zum erotischen Reiz
werden kann, mit den emanzipatorischen Vorstellungen und Forderungen der Frauenbewegung in Einklang bringen lässt. Die Gegenerinnen sagen ‚überhaupt nicht’. Sie verurteilen
Sadomasochismus als die Verkörperung sexistischen Denkens und die Verinnerlichung patriarchalischer Strukturen, die nicht nur in heterosexuellen, sondern auch in homosexuellen SMBeziehungen zum Ausdruck kommen. Frauen, die die Position von Samois vertreten, wird
vorgeworfen, sich nicht am Feminismus zu orientieren, sondern unkritisch die Philosophie
109
Ebenso wie Califia betont Benjamin (1990) den Unterschied zwischen rituellen Akten von Macht und Unterwerfung, die subjektiv als lustvoll erlebt werden und Akten physischer Gewalt oder Vergewaltigung, die
unfreiwillig geschehen und keineswegs provoziert worden sind, Gewalt und Herrschaft in der Politik oder in
sozialen Lebenszusammenhängen.
172
des ‚sexual liberation movement’ übernommen zu haben, wonach alles, was sich gut anfühlt,
auch gut ist (vgl. Leidholdt 1982/83). Gleichsam als Antwort auf die Gründung von Samois
und der Veröffentlichung von Sapphistrie erschien 1982 ‚Against Sadomasochism’ (vgl. Linden u.a. 1982). Hier setzen sich unterschiedliche Autorinnen mit der Frage der Vereinbarkeit
emanzipatorischer Ziele mit sadomasochistischen Sexualphantasien resp. -praktiken auseinander und stellen die Freiwilligkeit des Verhaltens infrage. Auch andere Frauen üben immer
wieder harte Kritik an der Befürwortung des Sadomasochismus, den sie als Derivat chauvinistisch-pornographischer Inszenierungen der Sexualität begreifen und wenden sich gegen das
„avantgardistische Kokettieren links-alternativer Libertins mit sexistischen Botschaften der
kommerziellen Pornoindustrie“ (Heider 1987, S. 42). Wenn Heider auch nicht dafür plädiert,
den Sadomasochisten ‚das Handwerk zu legen’, so kritisiert sie die Verherrlichung von
Macht, Gewalt und Unterwerfung in der Sexualität, beispielsweise den Fall, dass die Verlegerin des Konkursbuch-Verlages „das Photo eines nackt gefesselten Kindes im Dienst an der
‚spielerischen Freiheit der Lust’“ (ebd.) veröffentlicht. Sie wendet sich damit gegen eine
„Verbrämung sadomasochistisch strukturierter Verhältnisse“ (Heider 1986, S. 36) und gegen
die Behauptung, Sexualität oder Liebe seien grundsätzlich gewalttätig und leidvoll. Hinzu
kommt als wesentlicher Kritikpunkt, dass die Aufmachung des SM-Rituals und der -Akteure
oftmals an faschistische Folterszenarien erinnere und nicht selten Ausdruck einer ebensolchen
Gesinnung sei. Gerade die ‚militant’ gestylten Ledermänner und Stiefellesben sind hier angesprochen.
Die Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Positionen wird mit den verschiedensten
Mitteln geführt. Zur Propagierung ihrer Art von Sexualität veranstalten beispielsweise SMLesben in den USA Demonstrationen und sonstige Veranstaltungen (vgl. Wetzstein u.a.
1993). Feministinnen verteilen Flugblätter, in denen sie den Sadomasochistinnen die Glorifizierung von Herrschaft und Unterwerfung vorwerfen. In den amerikanischen Buchläden finden Diskussionen statt, ob man die Bücher boykottieren soll, in den Frauenzentren Diskussionen, ob die SM-Gruppe sich dort treffen darf (vgl. Plogstedt 1987). In der Bundesrepublik
finden trotz heftiger Proteste immer mehr Frauen- oder Lesbenveranstaltungen statt, auf denen SM-Filme gezeigt werden (vgl. Klausmann 1987). Es gibt spezielle Internetforen und
Gesprächskreise für SM-Lesben. Die Fronten haben sich dennoch so weit verhärtet, dass eine
Diskussion innerhalb der Frauenbewegung um das Für und Wider sadomasochistischer Sexualpraktiken kaum mehr möglich zu sein scheint,110 was sich auch in den gelegentlichen Schlä-
110
"Für viele Frauen ist schon die Kombination von Feminismus und Sadomasochismus (S/M) eine ungeheure
Provokation (...) und ruft wütende Empörung hervor" (Emma 4/82, S. 50). Diese Erfahrung konnten wir im
Rahmen unserer Datenerhebung machen, als uns von einer Frauen- und Lesbengruppe die Unterstützung mit
173
gereien bei Treffen von Lesben und SM-Lesben zeigt, wie eine von uns befragte Sadomasochistin bemerkte.
Typisch für die Diskussion und die Argumente ist, dass die SM-Debatte in der Frauenbewegung immer nur eine Masochismusdiskussion ist. Während die sexuelle Unterwerfung von
Frauen problematisiert wird, ist die (mögliche) Existenz von Sadistinnen kein Thema. Innerhalb der Masochismusdiskussion zeigt sich, dass ein großes Spektrum von weiblichen Verhaltensweisen als masochistisch bezeichnet wird.111 Die einen sprechen vom sexuellen Masochismus, der Erregung, Stimulans und Orgasmus bedeutet. Daneben wird eine Art autoritärer
(moralischer oder kultureller) Masochismus diskutiert, die widerstandslose Unterordnung
unter Autoritäten aller Art, und nicht zuletzt der weibliche Masochismus, die Frauenrolle an
sich, „die von einem Sklavenleben mit Befehlen, Verboten und raffinierten Strafen handelt,
die verinnerlichte Polizei, das schlechte Gewissen, das sofort in Aktion tritt, sobald wir keine
guten Mütter, Geliebten, Hausfrauen usw. mehr sind“ (Marcus 1982/83, S. 95).112 Die Protagonistinnen sadomasochistischer Praktiken möchten sexuellen Sadomasochismus aber los
geslöst sehen von den unterschiedlichen Formen subtiler Gewalt und Unterdrückung, von
hierarchischen Strukturen in unserer Gesellschaft und im sozialen und politischen Leben. Die
Gegnerinnen bestehen auf einer engen Verflechtung zwischen diesen unterschiedlichen Ausdrucksformen von Macht und Unterwerfung. Frauen, die sich jenseits feministischsubkultureller Organisationsformen bewegen, Arbeiterinnen, Angestellte, Hausfrauen usw.,
kommen in den meisten Analysen überhaupt nicht zu Wort. Ich habe auch die Perspektive
derjenigen Frauen rekonstruiert, die ansonsten in Wissenschaft und Medien kaum Berücksichtigung finden, vielleicht weil man sich von ihnen nichts sonderlich ‚Aufregendes’ verspricht.
dem Hinweis verweigert wurde: Wer behauptet, Frauen hätten auch noch Spaß daran, SM zu praktizieren,
hat bei uns nichts zu suchen.
111
Hierauf verweist auch Caplan (1986, S. 51): "Wie wir bereits festgestellt haben, hatte der Begriff 'masochistisch' ursprünglich eine sehr spezifische Bedeutung, nämlich Schmerz zu genießen. Inzwischen wird dieser
äußerst spezielle Begriff jedoch auf eine Reihe von anderen - meistens weiblichen - Verhaltensformen angewandt, und dennoch hat er seinen Beigeschmack von Krankhaftigkeit und Abnormität beibehalten. (...) Selbst
zu Freuds Lebzeiten (war es) 'überraschend', daß sich der Begriff 'Masochismus' in kurzer Zeit derart verbreitet hatte und daß er auf die verschiedensten Phänomene angewandt wurde, von denen man früher nicht gedacht hätte, sie hätten mit Masochismus, so, wie man ihn ursprünglich verstand, etwas zu tun."
112
Bereits Freud (1940) hat unterschiedliche Formen des Masochismus beschrieben: a) Masochismus als Lebenseinstellung (moralischer Masochismus), b) Masochismus in seiner femininen Gestalt, als Ausdruck des
weiblichen Wesens (femininer Masochismus) und c) Masochismus in 'Reinkultur' als eine Besonderheit sexueller Erregung (der erogene Masochismus). Auch Reik (1941/1977) unterschied zwischen Masochismus
als einer sexuellen Perversion und einer Lebenseinstellung, die dem Ich ein unterwürfiges und leidendes
Verhalten vorschreibt. Im Gegensatz zu den Annahmen der Feministinnen beruht nach Meinung Freuds und
Reiks aber nicht der sexuelle Masochismus auf dem sozialen, sondern umgekehrt der soziale Masochismus
auf dem sexuellen: "Jene Form des All-round-Masochismus, die wir hier als soziale beschreiben, hat sich aus
der sexuellen Triebneigung entwickelt" (ebd. S. 331).
174
Zusammenfassung und Thesen
In der feministischen Debatte über den Sadomasochismus - das hat die synoptische Durchsicht und Analyse der entsprechenden Literatur deutlich gemacht - werden sehr unterschiedliche und z.T. gegensätzliche Standpunkte vertreten. Diese Auffassungen möchte ich zu zwei
Thesen verdichten:
These 1: Weiblicher Masochismus ist der Ausdruck geschlechtsspezifischer Sozialisationsverläufe und patriarchaler Machtfigurationen
Masochistische Verhaltensweisen sind der Versuch, die Erfahrung von Hilflosigkeit, Ohnmacht und Unterordnung durch entsprechende Transformationsleistungen in Lusterlebnisse
umzufunktionieren und aus diesen Gefühlen Befriedigung zu gewinnen. Die Prädisposition
für diese Verhaltensform ist die Folge spezifischer Sozialisationsbedingungen von Frauen und
der damit einhergehenden gesellschaftlichen Machtlosigkeit. Dementsprechend gewinnen
Frauen aus ihrer ‚Lust am Leid’ keine sexuelle Erfüllung oder Befriedigung. Ihr Masochismus
ist vielmehr eine Art opiatisches Surrogat, das die Last des Frauseins unter den Bedingungen
patriarchaler Machtfigurationen erträglicher machen soll. Wenn über den Masochismus der
Frau gesprochen wird, ist also ein sozialer Masochismus gemeint, der sich allerdings auch im
sexuellen Verhalten manifestieren kann.
These 2:
Der Sadomasochismus von Frauen ist eine freiwillige sexuelle Erfahrung
Auch wenn der Sadomasochismus bei (Männern und) Frauen gelegentlich einen zwanghaften
Charakter annehmen kann, ist die Umsetzung in ein entsprechendes Verhalten zumeist ein
willentlicher Wahlakt. Das tatsächliche Verhalten wird in verschiedenen Soziotopen kultiviert
und ausgelebt. Frauen leben dabei keineswegs nur passive Sehnsüchte in Folge bestimmter
Kompensationszwänge aus, sondern haben - genau wie Männer auch - Lust an der Dominanz
und am Herrschen. Die ‚grausame Frau’ ist demnach nicht nur eine literarische Fiktion, sondern sie personalisiert sich auch in der sozialen Wirklichkeit. Die Erfahrungen, die durch
submissive und dominante Verhaltensformen gemacht werden, äußern sich als sexuelle Lust
und/oder psychische und physische Außeralltäglichkeits- und Ekstaseerfahrung.
175
1.9.2.4
Frauen in der SM-Szene
Um zu prüfen, welche der beiden Thesen am ehesten empirisch zutrifft, habe ich Fallanalysen
durchgeführt. Sie erlauben dem Forscher tiefergehende Einsichten in schwer zugängliche Untersuchungsfelder, indem sie die Komplexität eines Falles erhalten und Zusammenhänge von
Funktions- und Lebensbereichen in der Ganzheit der Person sowie ihrem lebensgeschichtlichen Hintergrund erfassen. Die biographischen Porträts von Frauen mit sadomasochistischen
Interessen habe ich nach verschiedenen Aspekten strukturiert, die den Schlüssel zum Phänomen des weiblichen Sadomasochismus liefern sollen:
Abb.: Struktur der Fallanalysen
Biographischer Hintergrund
Erziehung
Kindheit
Jugend
Zugang und Erfahrungen
Realisierung
Partizipation
Partner
SM-Identität und Alltagsrolle
Selbstbild
Bewertung
Emanzipation
Durch die Einbeziehung des ‚biographischen Hintergrunds’ lassen sich die spezifischen Sozialisationsverläufe nachzeichnen. Wenn ich durch dieses Vorgehen auch keine ätiologischen
Aussagen treffen kann, so lässt sich mit diesen Daten doch die Frage beantworten, ob tatsächlich - wie von vielen Autorinnen und Autoren vermutet - traditionelle weibliche Erziehungsinhalte eine prägende Funktion übernehmen. In der Kategorie ‚Zugang und Erfahrungen’
werden die spezifischen Realisierungs- und Partizipationsformen von SM und die Beziehungen zu den entsprechenden Partnern dargestellt. Durch die Untersuchung dieser Frage möchte
ich feststellen, ob überhaupt genuin weibliche Teilnahmeformen am Sadomasochismus existieren. Die Ausprägung ‚SM-Identität und Alltagsrolle’ behandelt die Art und Weise, wie die
Neigungen in Bezug auf das Rollenverständnis als Frau einzuordnen sind und welche Formen
der Integration in alltägliche Lebenszusammenhänge beobachtbar sind. Gleichzeitig ist zu
176
fragen, wie die Erfahrungen mit sadomasochistischen Sexualpraktiken bewertet werden. Aber
auch die Reflexion feministischer Auffassungen durch die Sadomasochistinnen geben Hinweise auf ihr Selbstbild. Bei den dargestellten Fallbeispielen handelt es sich ausschließlich
um heterosexuelle Frauen, die entweder passiv oder aktiv sind. In einem Fall wechselt die
Rollenpräferenz. Finanzielle Interessen spielen bei ihnen keine Rolle.
1.9.2.5
Fallbeispiele masochistischer und sadistischer Frauen
Fall 1: Vanessa - ...ich suche einen Typen, der mich prügelt
Den Kontakt zu Vanessa konnten wir über eine SM-Gruppe knüpfen. Wir besuchten sie in
ihrer Wohnung, wo wir auch noch andere SM-Interessierte interviewen konnten. Von ihrem
äußeren Erscheinungsbild lassen sich keine Rückschlüsse auf ihre sadomasochistischen Neigungen schließen. Vanessa hat ein ruhiges, freundliches und selbstsicheres Auftreten. Im
Rahmen ihrer sadomasochistischen Neigungen nimmt sie partnerspezifisch sowohl die aktive
als auch die passive Rolle ein.
Allgemeine Lebensumstände
Zum Zeitpunkt des Interviews ist Vannessa 30 Jahre alt und lebt in einer Großstadt. Sie hat
eine feste Beziehung zu einem Mann, mit dem sie aber nicht zusammen wohnt, weil sie sich
dadurch in ihrem Freiraum beschnitten fühlen würde. Ihre Schul- und Berufsausbildung erlaubt es ihr, eine berufliche Position zu bekleiden, die ihr nicht nur finanzielle Unabhängigkeit, sondern auch gesellschaftliche Macht gewährt: Sie ist Akademikerin und arbeitet für
eine Computerfirma. Ihr Aufgabenprofil ist auf Selbständigkeit und Entscheidungsbefugnis
angelegt.
Biographischer Hintergrund
Vanessa wuchs mit ihren Geschwistern auf dem Land auf. Sie hatte einen sehr strengen Adoptivvater, den ihre Mutter heiratete, als sie fünf Jahre alt war. Er legte sehr viel Wert auf
gute schulische Leistungen, was für Vanessa jedoch kein Problem war, da sie diesem Anspruch gerecht werden konnte. Dennoch hatte sie als Kind Angst vor ihrem Adoptivvater,
weshalb sie ihrer Meinung nach als erwachsene Frau eine Zeit lang Depressionen hatte: Also
177
wenn mein Vater nach Hause kam, ist von da ab jeder von uns auf Zehenspitzen getreten, hat
die Türen vorsichtig zugemacht, sonst gab es wieder Geschrei. Vanessas Mutter war auch
berufstätig und hatte wenig Zeit, sich um ihre Kinder zu kümmern: Sie konnte keinen ausgleichenden Pol zur strengen Erziehung meines Vaters darstellen. (...) Entweder gab es Stress mit
meiner Alten oder mit meinem Vater. Mit irgendeinem hattest du immer Theater. Um dieser
Situation auszuweichen, zog Vanessa mit 18 Jahren von Zuhause aus. In unserem Gespräch
erwähnte sie noch, dass sie als Kind mit sechs oder sieben Jahren sexuell missbraucht worden
sei, konnte für sich hier jedoch keine fundierten Zusammenhänge zu ihrer SM-Neigung formulieren. Dieses extreme Unter-Druck-Gesetztsein von Seiten ihres Adoptivvaters in der
Kindheit sieht sie aber eindeutig im Zusammenhang mit ihren masochistischen Neigungen.
Zugang und Erfahrungen
Vanessa datiert ihre ersten sadomasochistischen Phantasien auf die Zeit vor der Pubertät.
Obwohl sie diese Phantasien auch gezielt zur Masturbation einsetzte, empfand sie ihre Vorstellungen als sehr befremdlich und wollte sie deshalb zunächst nicht zulassen: Ich dachte,
das ist irgendwie pervers, krank. Es ist eine Geschichte, die ganz klar in der Phantasie bleiben muss, weil es keine Leute gibt, die so etwas machen. Die Annahme, nicht normal zu sein
und die eigenen sexuellen Phantasien deshalb niemals realisieren zu können, wurde durch die
Rezeption verschiedener pornographischer Medien verstärkt. Als Jugendliche stieß Vanessa
auf ein SM-Magazin, in dem Erziehungsspiele dargestellt wurden: Es ging um physische Erniedrigung, die mich natürlich tierisch angemacht hat. Aber das ganze Drumherum kam mir
einfach so lächerlich vor, dass ich mir nie im Leben vorstellen konnte, das mal zu praktizieren. Und ich dachte mir auch, ‚Du bist ganz schön neben der Kappe. Es ist ganz faul, was ich
mir an Phantasien vorstelle.’ Aus diesem Grunde erzählte Vanessa zunächst niemandem davon und in ihren ersten Partnerbeziehungen spielten sadomasochistische Sexualpraktiken keine Rolle.
Ihren ersten sadomasochistischen Kontakt knüpfte Vanessa als junge Frau über eine Annonce.
Die praktischen Erfahrungen, die sie dabei mit dem Sadomasochismus machte, waren negativ.
Sie geriet an einen Mann, von dem sie gegen ihren Willen geprügelt und gedemütigt wurde:
Der Typ ist weitgehend ausgerastet und ich habe halt die dollste Prügel meines Lebens kassiert. Auf den Typen bin ich über eine Anzeige reingefallen. Ich war ganz frisch in der ganzen
Szene und bin halt blöde und dumm zu ihm in die Wohnung gegangen, ohne mich telefonisch
zu covern oder sonst irgendwas. Alles Sachen, die ich jetzt nicht mehr tun würde. Dennoch
ließ sich Vanessa nicht davon abhalten, auf eine weitere Kontaktanzeige zu antworten und
sich mit einem fremden Mann zu treffen, denn die Misshandlungssituation war trotz aller Ge178
fahr aufregend für sie: Ich habe festgestellt, dass die Sachen, die in der Scheißsituation am
extremsten waren, mich von Kopf her am meisten gekickt haben. Nämlich die Situationen, wo
ich ausgeliefert war, wo ich keinen Einfluss mehr hatte. Und dann habe ich gedacht, ‚Wenn es
dich so anmacht, obwohl es so eine Scheißsituation war, dann schau dir doch noch ein paar
Leute an. Vielleicht ist ja doch jemand dabei, der halbwegs so drauf ist wie du.’ Bei ihrem
nächsten Kontakt stellte sich heraus, dass Masochismus - entsprechend ihrer Vorstellungen praktikabel ist.
Nachdem Vanessa sich ungefähr ein Jahr lang über Kontaktanzeigen mit verschiedenen Männern getroffen hatte, um ihre passiven Neigungen zu realisieren, fand sie über Feten-Kontakte
entsprechende Partner für ihre dominanten Interessen. Heute realisiert Vanessa ihre masochistischen Neigungen ausschließlich in der Beziehung zu ihrem festen Lebenspartner, wohingegen sie ihre dominanten Neigungen mit verschiedenen anderen Männern auslebt. Aufgrund
der offenen Beziehung zwischen ihr und ihrem Lebenspartner ist das für beide problemlos
möglich.
In der Stadt, in der Vanessa lebt, gibt es eine gut organisierte Szene, die regelmäßig verschiedene Veranstaltungen durchführt. Vanessa ist in diese Szene integriert und engagiert sich für
die Interessen der Sadomasochisten/Innen: Ich bin in zwei Gesprächsgruppen, in einem Arbeitskreis, ich gehe zum Stammtisch, ich bin dabei, die Feten zu organisieren usw. Das heißt,
ich bin in meinen Gruppenaktivitäten sowieso sehr weit in die Szene eingebunden. (...) Wir
wollen auch eine Frauengruppe ins Leben rufen. Wir haben uns bis jetzt ein paarmal getroffen, um über frauenspezifische Themen und Probleme zu diskutieren. Es ist aber noch nichts
festes.
SM-Identität und Alltagsrolle
Vanessa hat heute keine Probleme mehr damit, sich offen zu ihren sadomasochistischen Neigungen zu bekennen. Hierauf verweisen auch die in ihrer Wohnung für jeden sichtbaren SMUtensilien (Rohrstock, Krokodilklammern, Reitgerte etc.) sowie ihre Mitwirkung an einem
Fernsehbeitrag zum Thema Sadomasochismus. Diese Situation war - wie bereits angedeutet aber nicht immer so. Vanessa bewegte sich lange Zeit in feministischen Kreisen und ihr Sexualverhalten stand im krassen Gegensatz zu den Anliegen feministischer Positionen: Ich hatte Probleme, gerade als Frau, die grundsätzlich gegen jegliche Gewalt und Unterdrückung
von Frauen ist, hinzugehen und zu sagen, ‚Ich suche einen Typen, der mich prügelt’ - anstatt
allen Typen abzugewöhnen, dass sie Frauen prügeln. An der Geschichte wäre ich fast zerrissen. Darunter habe ich gelitten. (...) Durch die Symbolik, die in dem Ganzen drinliegt, schlägt
179
das sehr, sehr in die ganzen Patriarchatskisten rein. Das ist extrem, sich gerade als Frau von
einem Typen vermachen zu lassen. Der feministische Frauenanspruch und das Selbstverständnis, das Vanessa als Frau hatte, ließ sich für sie zunächst also nur sehr schwer mit der Tatsache vereinbaren, sich einem Mann - wenn auch nur sexuell - zu unterwerfen. Erst der Einstieg
und die Integration in eine organisierte Szene befreite sie von ihrem selbst auferlegten Stigma
der Außenseiterin: Als ich Leute aus der Szene traf, habe ich festgestellt, dass andere auch
auf SM stehen und trotzdem herzerfrischend normal sind. Das war wirklich so eine richtige
Befreiungsgeschichte. Leute zu treffen und festzustellen, die stehen darauf, die praktizieren es
auch. Leute, die am ehesten so meiner sonstigen Szene von Leuten entsprechen, mit denen ich
mich umgebe, also etwa in meinem Alter sind und politisch halbwegs ähnlich denken wie ich.
Das hat mir total gut getan. Da hatte ich nicht mehr das Gefühl, dass das irgendwie so ein
Ding ist, das an mir anders ist, als an anderen Leuten, sondern ich habe mich halt wiedergefunden in den Leuten, die das auch wollen.
Die Frage, ‚Dürfen Frauen, die sich im Alltag feministischen Idealen verpflichtet fühlen, in
ihrer Sexualität masochistisch sein?’, war für Vanessa ein großes Problem. Es brachte sie aber
nicht nur in ständigen Konflikt mit sich selbst, sondern vor allem mit ihrem sozialen Umfeld.
Keine ihrer Freundinnen konnte verstehen, wie sie sich als selbstbewusste und emanzipierte
Frau mit sadomasochistischen Sexualpraktiken identifizieren konnte. Dennoch wurde dieser
Umstand, so Vanessas Einschätzung, von Frauen, die nicht in die Frauenszene integriert waren, - wenn auch mit Unbehagen - akzeptiert. Anders verhielt es sich mit Feministinnen. Insbesondere durch ihr Eingeständnis, sich einem Mann sexuell zu unterwerfen, stieß sie in diesen Reihen als Verräterin feministischer Ideale auf Ablehnung und Verachtung, wohingegen
ihre sadistischen Interessen akzeptiert wurden: Ich habe darüber meine zeitlebens beste
Freundin verloren. Der besondere Clou an dem Ganzen ist, dass die eine SM-Lesbe ist, die
auch sehr wohl selber SM macht. Aber ich mache es mit Typen und bin deshalb nicht mehr
diskutabel. (...) SM-Lesben hatten nie ein Problem, wenn ich Typen vermacht habe, das hat
denen überhaupt nichts ausgemacht. Das fanden sie total okay. Aber dann zu hören, dass ich
jetzt einen Typen habe, der mich vermacht, da war es vorbei.
Vanessa hat versucht, diesen Konflikt zum einen dadurch zu lösen, dass sie sich von der feministischen Szene, mit der sie ursprünglich assoziiert war, zurückgezogen hat: Ich bin es
einfach leid, permanent diese Auseinandersetzungen auszufechten. Die Toleranz, die ich ihnen gewähre, ist von ihrer Seite nicht da. Die können mich nicht tolerieren. Sie sagen, dass
ich mich in die patriarchalische Struktur stelle, die wir eigentlich alle überwinden wollen. Ich
sehe es aber nicht so. (...) Deswegen habe ich mich von der einen Welt auch völlig verabschiedet und mache da auch selber nichts mehr, um den Kontakt zu halten. Ich habe dieses
Hin- und Hergerissensein nicht mehr ausgehalten. Zum anderen lassen sich für Vanessa Fe180
minismus und Sadomasochismus im Allgemeinen und Masochismus im Besonderen insofern
miteinander vereinbaren, dass sie ihre SM-Rollen eindeutig von ihrer alltäglichen Rolle abgrenzt. In ihre beruflichen und sonstigen sozialen Zusammenhängen möchte Vanessa Macht
und Unterwerfung unter keinen Umständen miteinbeziehen: In meinem Alltag will ich das
ganz klar nicht. Ich will in meinen alltäglichen Situationen mit allen Leuten, die ich treffe,
gleichberechtigt umgehen. Also ich stehe nicht auf Konkurrenzkisten. Ich habe eine Weile im
Computervertrieb gearbeitet, was ein relativ hartes Ellenbogen-Business ist und habe genau
deswegen aufgehört, weil ich keine Lust hatte, mich permanent in Konkurrenzsituationen zu
stellen und permanent schmutzige Wäsche zu waschen, um meine Position zu behaupten. Ich
suche Umgebungen, wo ich mit jemandem zusammenarbeiten kann. Im Alltag interessieren
mich solche Machtsituationen nicht. Innerhalb meiner SM- und Privat-Kisten um so mehr.
Diese Einstellung sollte aber nicht als Bestätigung für die Weiterführung ihres sexuellen Masochismus im Alltag verstanden werden, denn auch ihre passive Rolle im Bereich der Sexualität steht in keinem Zusammenhang zu ihren sonstigen Verhaltensmustern. Vanessa beschreibt
sich als eine Frau, für die Gleichberechtigung und Zusammenarbeit zwar einen sehr hohen
Stellenwert einnehmen, die aber dennoch eher dominant als devot auftritt. Sie gibt an, ihre
Interessen durchzusetzen und sich beispielsweise ihrem Partner im Alltag niemals unterzuordnen: Ich weiß sehr genau, was mein Freund und ich leben, ist eine völlig gleichberechtigte
Partnerschaft, auch wenn er im sexuellen Bereich wirklich dominant ist. Es ist für uns beide
völlig klar, dass ich mich bewusst unterwerfen will. Trotzdem würde mich mein Freund nie in
seinem Leben schicken, seinen Kram abzuspülen oder irgendwelche Sachen für ihn zu erledigen. Vanessa hat ein positives Männerbild und legt in Bezug auf ihre dominante Rolle im
SM-Spiel besonderen Wert darauf, dass sie nicht als Männerhass interpretiert wird: Ich würde
meine dominante Rolle nicht als Männerhass bezeichnen. Das ist bei mir halt ganz klar nicht
so. Wie ich mich auch nicht von Typen vermachen lassen würde, die das letztlich aus Angst
vor Frauen oder Frauenhass machen würden. Und das ist der Unterschied zwischen destruktiven Leuten und anderen SMlern, da mache ich einfach eine Trennung.
Sie differenziert also eindeutig zwischen sexuellem Sadomasochismus und sozialen, kulturellen oder gesellschaftlichen Formen des Machtgebrauchs. Dominanz und Unterwerfung
kommen für sie als mögliche Verhaltensdispositionen nur dann infrage, wenn sie spielerisch
inszeniert und ausschließlich auf einen solchen Rahmen beschränkt sind. Unter dieser Prämisse praktiziert sie ihre sadomasochistischen Neigungen. Sie glaubt, dass sie heute zwar in der
Lage ist, diese unterschiedlichen Bereiche einwandfrei voneinander abzugrenzen, räumt aber
ein, dass es zu früheren Zeitpunkten Schnittmengen gegeben hat: Ich denke, dass ich mir die
Sachen vorher im Alltag abgeholt habe, die ich jetzt in meinen Privatbereich auslebe. Deswegen lasse ich mich jetzt im Alltag nicht mehr in solche Spiele reinziehen. (...) Es gab so Ver-
181
wischungen. Früher war es so, dass ich mich beruflich für andere aufgeopfert habe. Nachdem
Vanessa diese Situation durchschaut hatte, begann sie, ihren Masochismus im sexuellen Bereich auszuleben. Hierdurch, so ihre Meinung, ist sie im Alltag gelassener und selbstsicherer
geworden: Seit ich dieses Coming-Out hatte, habe ich auch an persönlicher Sicherheit gewonnen. Ich bin auch beruflich erfolgreicher, seit ich mich selber nicht mehr so leicht in Frage stelle.
Vanessa möchte ihre bisherigen Erfahrungen im sadomasochistischen Bereich nicht missen
und auch in Zukunft unter gar keinen Umständen darauf verzichten. Sie beansprucht für sich
das Recht, entgegen der Meinung anderer zu handeln, wenn es für sie persönlich mit größtmöglichem Wohlbefinden verbunden ist und niemand unter ihrem Verhalten zu leiden hat.
Geschlagen zu werden, empfindet sie nicht als Gewalt gegen Frauen generell, und dass ihr
Masochismus mit gesellschaftlichen Strukturen verflochten sein könnte, ist für sie von geringer Bedeutung. Entscheidend ist ihrer Meinung nach nur eines: Die Gewaltsituationen, die ich
inszeniere, tun meiner Psyche gut. Das Gefühl habe ich, ganz eindeutig. Ich will mich nicht
vom Sadomasochismus heilen lassen, dafür erlebe ich ihn als zu genussvoll und als zu selbstverständlich. (...) Ich lasse es mir nicht mehr ausreden. Dass ich persönlich auf Gewaltsituationen stehe, hat nichts mit misshandelten Frauen zu tun. Es ist mein Ding und dass ich mir
Leute dazu suche, die auch darauf stehen, ist auch mein Ding. (...) Solange ich das Gefühl
habe, dass es mir besser geht, wenn ich es auslebe, als wenn ich es nicht auslebe, finde ich es
legitim, es auszuleben. Ich würde mir etwas nehmen, wenn ich es jetzt bleiben ließe mit der
Begründung, dass ich genau weiß, dass es möglicherweise aus den patriarchalischen Strukturen gewachsen ist. Es mag ja sein, dass alles damit zusammenhängt. Ich kann nur sagen,
wenn ich es mache, fühle ich mich insgesamt besser, als wenn ich es nicht mache. Also kann
es für mich nicht verkehrt sein, es zu machen.
Trotz dieser positiven Einstellung hat sie sich gegenüber der SM-Szene eine kritische Distanz
bewahren können. Gleichberechtigungsansprüche von Masochistinnen, die sie für sich selbst
realisiert glaubt, sieht sie innerhalb der SM-Szene nicht immer gewahrt. Auch kommen verschiedene Praktiken und Grade der Unterwerfung für sie nicht infrage. Dennoch sieht Vanessa sich nicht dazu berufen, andere zu maßregeln und stellt die persönlichen Interessen, den
persönlichen Geschmack des Einzelnen, über gesellschaftliche Werte. Für sich definiert sie
einen klar abgegrenzten Rahmen, innerhalb dessen sie sich bewegt. Sich selbst vollkommen
aufzugeben im Sinne eines Sklavinnendaseins oder andere zu versklaven, lehnt sie ab.
182
Fall 2: Carmen - ...ich fühle mich als Amazone des 20. Jahrhunderts
Der Kontakt zu Carmen wurde über eine professionelle Domina vermittelt, die wir kurz zuvor
in ihrem Studio besuchten. Während des Interviews war Carmen gerade zu Besuch in diesem
Studio. Aus terminlichen Gründen zog sie ein Telefoninterview vor, weshalb an dieser Stelle
keine Aussagen über ihr Auftreten und äußeres Erscheinungsbild getroffen werden können.
Im sadomasochistischen Arrangement nimmt Carmen ausschließlich die dominante Rolle ein.
Allgemeine Lebensumstände
Carmen ist zur Zeit des Interviews 28 Jahre alt und lebt mit ihrem Partner in einer Großstadt.
Sie hat ein fünfjähriges Studium in der darstellenden Kunst absolviert. Aus gesundheitlichen
Gründen musste sie diese Ausbildung jedoch unterbrechen. Mit ihrer beruflichen Situation ist
sie zufrieden. Sie beschreibt sich als erfolgreiche Geschäftsfrau, die selbständig in leitender
Position Verantwortung zu tragen hat.
Biographischer Hintergrund
Carmen gibt an, dass ihr Verhalten im Allgemeinen und speziell im sexuellen Bereich schon
immer dominant war. Diese Dominanz interpretiert sie im Zusammenhang mit Missständen
und Fehlentwicklungen in der Kindheit. Sie berichtet von prägenden Erlebnissen, denen sie
als Kind ausgesetzt war: So musste ich als Kind miterleben, wie ein Elternteil das andere betrog, und zwar mehrfach, mit wechselnden Partnern. Zweimal war ich ungewollt direkte Zeugin dieser ‚Vergehen’ am Ehepartner. Eventuell liegt da ein Teil dieser Neigung begraben.
Ich verspürte eine Eifersucht und einen gewissen Hass gegenüber diesen ‚Fremden’, die das
Familienleben und die Zeit meiner Eltern für mich noch mehr kürzten, die durch die Selbständigkeit meiner Eltern knapp gehalten waren. Ich wusste es von beiden Elternteilen. Sie
aber wiederum nicht von dem anderen, der sie ebenso betrog. Diese Mitwisserschaft lastete
allein auf meinen, damals achtjährigen Schultern. In Bezug auf ihre Erziehung betont Carmen, dass sie sehr offen erzogen wurde. Neben den Problemen in ihrer Kindheit versteht sie
ihre sadomasochistischen Interessen auch als Konsequenz einer sexualfreundlichen Erziehung: Ich bin von zu Hause her so aufgewachsen, dass man im Bereich der Sexualität alles
machen kann, wenn beide es wollen. Auch Dinge, die im Allgemeinen abgelehnt werden. Sexualität war nie etwas Schmutziges oder etwas, worüber man überhaupt nicht spricht. Vielleicht bin ich in Sachen Sexualität deshalb so frei erzogen, da meine Eltern zu diesem Zeitpunkt selbst so lebten (...). Deshalb hatte Carmen nie Probleme mit der Sexualität im Allge-
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meinen und spezifischen Praktiken, die im gutbürgerlichen Sinn als nicht ‚normal’ definiert
sind.
Zugang und Erfahrungen
Carmen beschreibt sich als aufgeschlossenen, experimentierfreudigen Menschen. Bereits im
Alter von 16 Jahren hat sie Natursektspiele - eine ihrer bevorzugten Praktiken - ausprobiert:
Ich fand es unheimlich geil. Es hat mich unheimlich angemacht, und ich war immer froh,
wenn ich jemanden hatte, der das auch mochte. Ihr Interesse an sadomasochistischen Sexualpraktiken wurde durch die Lektüre spezieller Medien stimuliert: Das war so, dass ich mit
meinem jetzigen Partner Magazine und Fotografien in die Hände bekam. (...) Es ist aber nicht
so, dass ich nur durch den Partner dazu gekommen bin. Er hat eigentlich bei mir was gefördert und etwas ins Rollen gebracht, was schon vorhanden war. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte
Carmen keine praktischen Erfahrungen mit sadomasochistischen Sexualpraktiken. Da nun ihr
Interesse durch Magazine und Fotos geweckt war, wollte sie diese spezielle Art der Erotik
auch in der Praxis kennenlernen. Vor dem Hintergrund der Informationen aus den SMMagazinen war für Carmen klar, dass eine Szene existierte. In der Kontaktaufnahme zu Insidern sah sie die einzige Möglichkeit, ihre Neugier zu befriedigen. Als Frau lag es für sie
nahe, den Einstieg zunächst über eine andere Frau, die bereits Erfahrungen auf diesem Gebiet
hat, zu versuchen. Die Tür in diese fremde Welt öffnete ihr schließlich die Anzeige einer professionellen Domina, die in einem Szene-Magazin einen privaten Damenzirkel vorstellte, der
um eine Dame erweitert werden sollte: Ich habe den Entschluss gefaßt, die Phantasie in die
Realität umzusetzen und habe die Katrin [Inhaberin eines bekannten Studios] angerufen.
Carmen hatte eigentlich keine Vorstellung, welches Milieu sich hinter der Anzeige verbirgt
und war daher um so mehr überrascht, dass sich die Gesprächsebene auf einem für sie unvermutet hohen Niveau befand. Sie ging davon aus, dass die meisten Frauen, die in diesen Studios sind, etwas lasterhaftes umgibt. Ich war also am Anfang sehr überrascht, auf welchem Niveau ich mich mit ihr unterhalten habe, weil das für mich eine sehr wichtige Sache ist. (...) Sie
kennen ja die Katrin, dann wissen Sie, dass sie eine Frau ist, die Format hat, die Niveau hat.
Das ist eigentlich der Punkt gewesen, wo ich gesagt habe: ‚Okay, ich probiere das mal’. Also
die Ausstrahlung von ihr war für mich ausschlaggebend, meinen Fuß überhaupt mal in ein
Studio zu setzen. Diese lange ausführliche Unterhaltung und die Einsicht, dass ein Dominastudio durchaus eine für Carmens Geschmack niveauvolle Atmosphäre und den Kontakt zu
entsprechenden Personen bietet, bewog sie zu dem Entschluss, Katrin unverbindlich in deren
Studio aufzusuchen, um die Idee des Damenzirkels erläutert zu bekommen und für sich persönlich weiterzuentwickeln: Ich wurde von Katrin zu einem Damenzirkel eingeladen, um in
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professioneller erotischer Atmosphäre erstmalig SM zu praktizieren. Selbstverständlich wurde ich an diesem Abend mit Riten und Praktiken konfrontiert, die ich selbst noch nicht kannte,
geschweige denn ausprobiert habe. Ich war in einen Zirkel dominanter Frauen integriert und
habe eigentlich das erste Mal SM richtiggehend praktiziert, weil ich alle Gerätschaften hier
vorfinden konnte, die ich zu Hause natürlich nicht habe. Und es waren auch Dinge dabei, die
ich wirklich zum ersten Mal in meinem Leben gesehen habe. Das war eine sehr interessante
Erfahrung.
Obwohl Carmens Wohnort und das Studio von Katrin sehr weit auseinander liegen, fährt
Carmen seit diesem Zeitpunkt regelmäßig dort hin. Dabei sind aber nicht nur die von Katrin
organisierten Damenzirkel für sie von Interesse, sondern auch Party-Abende, die unter verschiedenen Themen (Gummi, Fetisch etc.) im Studio veranstaltet werden. Zum Zeitpunkt des
Interviews besuchte sie - wie bereits erwähnt - gerade einmal wieder das Studio, in dem noch
am gleichen Abend eine SM-Party im engsten Kreis stattfinden sollte, und berichtete uns, wie
sie ihre SM-Events organisiert: Ich bin halt gestern schon angereist. Ich komme ja aus einer
anderen Stadt und das ist ja dann doch immer mit einigen Problemen verbunden, Koffer packen und so weiter. Dann bin ich für ein oder zwei Tage hier. (...) Ich mache das halt einfach
so aus Spaß. Ich mache das aus meinem eigenen Antrieb heraus. Die Motive sind Spaß, Lust
und das echte Bedürfnis, Männer zu dominieren. In Katrins Studio besteht für Carmen stets
die Gelegenheit, ihre sadistischen Neigungen auszuleben. Durch eine Ankündigung auf dem
Telefonanrufbeantworter erfahren die Gäste des Studios, wann sie als sogenannte Gastherrin
anwesend ist: Also ich habe immer die Möglichkeit, hierher zu kommen und wenn ich Lust
habe, mache ich das auch. Ich muss es lediglich mit geschäftlichen Anliegen koordinieren.
Wenn Carmen das Studio besucht, um ihre dominanten Neigungen auszuleben, kommt ihr
Partner hin und wieder mit. Er nimmt aber nicht an den Veranstaltungen teil. Ihr Verhältnis
und damit verbundene Praktiken sind für beide eine ausschließlich intime Angelegenheit, die
keiner in die Studioatmosphäre und den damit verbundenen Veranstaltungen übertragen
möchte. Hin und wieder reist Carmen auch auf Wunsch von Katrin an, mit der sie mittlerweile befreundet ist. Verdienstausfall und Fahrtkosten werden dann von Katrin übernommen:
Denn ich komme aus einer anderen Stadt dann extra angereist und so weiter, dann nimmt
man sich auch Urlaub. Aber das ist nicht das Eigentliche, was mich hierhertreibt. Carmen
betont, dass sie das Studio nicht aus finanziellen Gründen aufsucht und möchte unter keinen
Umständen mit einer professionellen Domina verglichen werden: Das hieße, dass ich durch
das Praktizieren von SM meinen Lebensunterhalt bestreite und das entspricht nicht den Tatsachen. Professionell im Sinne von Gewandtheit und Erfahrung auf dem SM-Sektor, das
kommt meinem jetzigen Entwicklungsstand, in dem ich mich befinde, nahe. Wichtig für mich
ist, dass meine ausgelebte Neigung eine Lebensart im Sinne von Verwirklichung und Ehrlich185
keit mir selbst und meinem Partner und einem bestimmten Teil meiner Umwelt gegenüber ist.
Ihre Motive liegen in einem ganz anderen Bereich.
SM-Identität und Alltagsrolle
Carmen beschreibt sich als einen Menschen, der immer schon ein ausgeprägtes Geltungsbedürfnis hatte. Die Bestätigung ihres äußeren Erscheinungsbildes als Frau und ihre Anerkennung als sexuell begeherenswertes Wesen ist für sie die Schlüsselmotivation, Sadomasochismus zu praktizieren: Ich bin eine Gummifetischistin. Meine ganze Ausstattung ist alles in Latex, schwarz glänzendes, eng anliegendes Latex. Der Körper wird in diesen Sachen idealisiert, gibt äußerlich ein ganz perfektes Bild von der Frau ab, das meiner Meinung nach auch
dazu gehört, um jemanden bestechen zu wollen. (...) Ich habe eigentlich immer versucht und
es verstanden, mich irgendwo in den Mittelpunkt zu drängen. Ich habe das einfach genossen,
bewundert zu werden. Ich will bewundert werden, ich will, dass man mich beachtet, begehrt,
ja geradezu vergöttert. Und diese Bewunderung und Faszination, die verarbeite ich in mir zu
einer Bestätigung, auf die ich theoretisch verzichten kann, es praktisch aber nicht möchte.
Das Äußerliche gepaart mit meinem Wesen, meiner Wirkung und Ausstrahlung auf die Männer lässt mich jede Aktion als einen Auftritt empfinden. Hätte ich mein abgebrochenes Studium vollendet, würde ich den gleichen Effekt bei einem meiner Auftritte empfinden. Sicher ist
das auch als eine Ersatzbefriedigung zu sehen. (...) Ich tauche bewusst und mit meiner ganzen
Überzeugtheit in eine Welt der Phantasie ein. Und mit mir meine männlichen Untergebenen.
Carmens Vorliebe für Urinpraktiken wurde oben bereits angedeutet. Abgesehen davon, dass
sie diese besondere Art der Erotik sexuell als sehr stimulierend empfindet, bedeutet die Bereitschaft der Männer, diese Praktik zuzulassen, eine besondere Form der Ehrerbietung: Die
Verabreichung von NS auf die verschiedensten Arten und Weisen geht oft weit über die Phantasien meiner Opfer hinaus. NS ist ein menschliches Exkrement, das von der Kindheit an tabuisiert wird, da z.B. in die Hosen machen als unsauber gilt, und länger andauerndes Bettnässen als ein auf seelischen Ursachen begründetes Leiden abgetan wird. Das Kind wird
diesbezüglich zur Sauberkeit angehalten und außer auf der Toilette ist NS kein Thema. Und
plötzlich wird aus dem NS eine Angelegenheit, die unglaublich erregend werden kann. Dadurch führe ich die Männer mitunter auch in Situationen, in denen ich die erste Frau bin, die
überhaupt je NS mit ihnen praktiziert hat. Es gibt einige Männer, die das bei keiner anderen
Frau machen, das machen die nur mit mir. Das machen die nicht einmal mit der Ehepartnerin.
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Das sexuelle Erlebnis spielt für Carmen in der Studioatmosphäre überhaupt keine Rolle. Für
sie selbst ist die Befriedigung hier ausschließlich mentaler Natur: Und es ist auch nicht so,
dass ich hier einen sexuellen Höhepunkt erlebe, wenn ich irgendjemanden im Intimbereich
beispielsweise unter Strom setze. Das ist für mich eine rein mentale Befriedigung, keine körperliche. Das hat für mich eigentlich wenig mit Sexualität zu tun. Das ist lediglich ein Gefühl
der Bestätigung, das ich hier bekomme. Ich kriege hier im Studio wirklich keinen sexuellen
Höhepunkt. Es ist ein Spiel mit meinem Körper, ja, aber mehr nicht. Das erwarte ich auch
nicht. Ob ein Partner sexuelle Befriedigung erfährt oder gar bis zum Orgasmus gelangt, ist ihr
vollkommen gleichgültig: Von Anfang an stelle ich klar, dass ich bei einem Abend die gesamte Gestaltung übernehme. Werden von der Gegenseite irgendwelche Einschränkungen begehrt, auf die ich Rücksicht nehmen soll, verliert diese Person mein Interesse. Ich spare mir
meine Energie dann lieber für jemanden auf, der mir das Gefühl gibt, sich mir ganz auszuliefern. An diesem Abend werden Praktiken ausgelebt, die auch über einen normalen Studioalltag hinausgehen. Die müssen. Die können schreien, bis sie schwarz werden, dann kriegen sie
einen Knebel in den Mund, dann sind die mundtot. Dann müssen die das machen, was hier
abläuft. Dann gibt es kein Pardon und auch kein Entgehen. (...) Also wenn ich auf so einem
Damenzirkel bin, dann interessiert mich das nicht, ob da jemand zum Höhepunkt gekommen
ist oder nicht, sondern mir geht es für mich dann nur um die Sachen, die ich in dem Moment
mit ihm mache. Das ist mir dann egal, ob der kommt oder nicht. (...) Weiter ausgeführt sehe
ich das Ganze als eine Verschmelzung eines grausamen Märchens an, in dem die Anmut und
die Nähe einer vollkommenen Märchenfigur nur dann genossen werden kann, wenn man bereit ist, alles nur Erdenkliche dafür hinzugeben. Nur, dass aus diesem Märchen plötzlich Realität wird und echte Opfer abverlangt werden. (...) Im Übrigen hat meine Person diese Dominanz und die Art des Auslebens nicht erfunden. Von dieser weiblichen (Ab-)Art berichtet uns
schon die Geschichte mit Überlieferungen aus den Völkern der Amazonen. Ich fühle mich, um
die Sache auf einen Punkt zu bringen, als eine Amazone des 20. Jahrhunderts, deren Waffen
nicht kriegerisch und mordend sind, sondern deren Waffen Weiblichkeit und Überlegenheit
sind, erzielt durch meine Aura und Reflektion auf meine Aura bedeuten und somit einen Sieg
über ein bestimmtes Gebiet nach sich ziehen, zu meiner Bestätigung und Befriedigung. (...)
Anders verhält es sich in der (sexuellen) Beziehung zu ihrem Lebenspartner, die Carmen als
als offen und vielfältig beschreibt. Hier können sadomasochistische Elemente mit einbezogen
werden und sind dann eng mit Carmens Sexualität verflochten. Auf die Erfahrungen im Studio möchte Carmen dennoch nicht verzichten, da diese, neben der Sexualität in der partnerschaftlichen Beziehung auch eine wichtige Rolle spielen: Ich differenziere zwischen meinem
mentalen Höhepunkt und meinem körperlichen Höhepunkt, da ich der Ansicht bin, dass Sex in
Form von Geschlechtsverkehr in einem SM-Studio nicht praktikabel ist. Dieses Ausleben von
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Gefühlen geistiger und körperlicher Art, was meine Person betrifft, ist meinem Partner und
mir vorbehalten. Geschlechtsverkehr mache ich nur mit meinem Partner, das hat in diesen
Räumen nichts zu suchen.
Trotz ihrer dominanten Neigungen im Allgemeinen sowie im SM-Bereich versteht Carmen
sich nicht als durch und durch dominante Persönlichkeit. Sie beschreibt auch eine sehr sensible und feinfühlige Seite ihres Wesens, die sie lediglich nach außen hin nicht so gerne zeigen
möchte: Ich bin keine Frau, die ausschließlich dominant ist. Das möchte ich an dieser Stelle
nicht unerwähnt lassen. Ich bin auch der Überzeugung, dass es keine Frau gibt, die wirklich
nur dominant ist. Dominante Frauen haben nur den Mut, eine weitere Seite von sich auszuleben und sich voll damit zu identifizieren. Ich bin viel zu sehr Frau, um nicht die andere, sehr
weiche, weibliche Seite ausleben zu wollen. Sadomasochismus gehört ebenso zu ihrem Leben
wie normale Sexualität. Auch ist es für Carmen nur selbstverständlich, die sadomasochistischen Spiele von ihrem Alltag zu trennen. Eine ständige Dominanz wäre ihr zu anstrengend:
Ich habe auch einen ganz normalen Liebesalltag. Der ist zwar sehr intensiv und sehr farbenreich, weil mein Partner und ich sehr offen sind für alles. Es ist also nicht so, dass ich meinen
Partner ständig dominiere, ganz im Gegenteil. Unsere Beziehung basiert auf einer vollkommenen Rücksichtnahme, sowohl von ihm als auch von mir. Da würde ich also nie wagen, über
bestimmte Dinge hinauszugehen.
Carmen beschreibt sich als überaus selbstbewusste Frau, die um ihre Qualitäten weiß. Diesen
Eindruck bekam ich auch im Interview mit ihr. Aus ihrer dominanten Neigung macht sie keinen Hehl, auch wenn Geschäftspartner und Klienten beispielsweise nichts davon wissen:
Trotz meiner beruflichen Stellung und der Intoleranz der Gesellschaft wage ich es, in extravagentem Outfit auf die Straße zu gehen, sei es zum Einkaufen, sei es zu Festivitäten, sei es zu
privaten Treffen. Mit dem Ausleben ihrer sadomasochistischen Neigungen, ihrer dominanten
Ader, hat Carmen keine Schwierigkeiten. Ihr Selbstbild gerät hierdurch keineswegs ins Wanken, und bei den unterschiedlichsten Gelegenheiten vertritt sie ihre Meinung: Ich vertrete
meine Position leidenschaftlich. Im Rahmen von Modenschauen oder in Geschäften mache
ich Frauen Mut, eine vielleicht im verborgenen liegende Leidenschaft ausfindig zu machen
und bei einer etwaigen Existenz zu fördern. Es liegt mir auch viel daran, den Leuten, die mit
dieser Seite der Erotik oft Abartigkeit in einem Atemzug nennen, klarzumachen, dass es etwas
Normales, etwas Legales ist. Es kommt immer darauf an, wer etwas in welcher Weise praktiziert. Dann ist es nämlich eine ganz niveauvolle Art der Erotik, eine bizarre Erotik auf höchstem Niveau. (...)
Begriffe wie ‚Gewalt’ und ‚Feminismus’ spielen für Carmen im Zusammenhang mit Sadomasochismus keine Rolle, da es sich ihrer Meinung nach hier um völlig unterschiedliche Phäno-
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mene handelt: Als Sadistin, Domina und Frau zu meiner eigenen Person kann ich nur sagen,
dass hier zwischem dem Begriff Gewalt im Sinne von Vergewaltigung und Brutalität zu unterscheiden ist, da sich alle praktizierenden SMler dieser Gewalt ja freiwillig unterwerfen. Es
würde mir nie in den Sinn kommen, jemanden zu überwältigen, der kein Interesse an SM hat.
Somit bringe ich Sexualität und Gewalt in ihrem ursprünglichen Sinne nicht in Verbindung
und habe auch keine Probleme mit der Thematik ‚Frauen und SM’.
Carmen ist nicht bereit, ihre sadistischen Neigungen zu verdrängen oder zu verheimlichen.
Der Verzicht wäre für sie mit dem Verlust von Lebensqualität verbunden und ihre Zufriedenheit hätte darunter zu leiden. Sie beschreibt ihre Erfahrungen im SM-Bereich als Gewinn für
ihren Alltag: Ich konnte mich in verantwortlicher Position für die Belange der Firma, z.B. bei
Vertragsverhandlungen, besser druchsetzen. Ich fühlte mich durchaus auch Situationen gewachsen, die ich vor meiner Konfrontation mit meinen SM-Neigungen lieber jemand anderen
habe ausführen lassen. Das mag sich darin begründen, dass ein Großteil der Gäste, die mit
mir gemeinsam das Studio aufgesucht haben, um genau wie ich, ihre Interessen ausleben zu
können, meistens Männer in Positionen waren, die mir bei Verhandlungen als gleichberechtigte Partner gegenübersaßen. Ich übertrug in solchen Momenten meine Strategien in einer
anderen Form auf ein anderes Gebiet. Zusehends mit mehr Erfolg. Und das hat mich weiterhin geprägt. Meine Kompromissbereitschaft, die oftmals der Gegenpartei den Vorzug ließ,
wurde abgebaut und ich baute mich - und damit auch mehr Achtung vor mir selbst - auf.
Fall 3: Maria - ...ich möchte mir ständig bewusst sein, dass ich eine Sklavin bin
Das Interview mit Maria wurde im Rahmen eines regelmäßigen Treffens von SMInteressierten in der Privatwohnung eines Gruppenmitglieds durchgeführt. In ihrem Auftreten
wirkt sie selbstsicher und freundlich. Marias Kleidung und Schmuck an diesem Abend lassen
schon auf ihre Neigungen schließen: im Rahmen von SM nimmt sie ausschließlich die passive
Rolle ein.
Allgemeine Lebensumstände
Als wir Maria zum Interview treffen, ist sie 25 Jahre alt und lebt in einer Großstadt, wo sie
zusammen mit einer Freundin eine eigene Wohnung hat. Ihre Tätigkeit als Kauffrau in der
Fremdenverkehrsbranche gewährt ihr finanzielle Unabhängigkeit.
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Biographischer Hintergrund
Maria wendet sich entschieden gegen die These, ihr Masochismus entspringe geschlechtsspezifischen Sozialisationserfahrungen. Ihre Eltern legten sehr viel Wert darauf, sie
zur Selbständigkeit hin zu erziehen. Entsprechend diesem Anspruch gestaltete sich auch das
Familien- und Berufsleben von Vater und Mutter: Ich bin genau nicht passiv erzogen und in
meiner Kindheit von meinen Eltern oder in der Schule unterdrückt worden. Mir ist genau das
Gegenteil anerzogen worden. Ich habe 20 Jahre lang gehört, ‚Heirate nicht, kriege keine
Kinder, mach’ deine Karriere, binde dich nicht an einen Mann’. Genau das habe ich 20 Jahre
mitgekriegt. Meine Eltern führten eigentlich eine wahnsinnig tolle Ehe. Beide waren berufstätig. Der eine hat gearbeitet, der andere hat auf die Kinder aufgepasst, und zwar zu gleichen
Teilen. Auch die Arbeit im Haushalt wurde zu gleichen Teilen von meinem Vater und von
meiner Mutter erledigt. Ich bin also in der Hinsicht völlig anti-gesellschaftlich aufgewachsen.
Also bei mir trifft die These vom anerzogenen Masochismus wirklich absolut nicht zu (...). Die
Erfahrungen, die Maria im Laufe ihrer Biographie machte, erlauben also keine Rückschlüsse
auf eine typisch weibliche Erziehung. Die elterliche Ehe, in der beide Partner gleichberechtigt
handeln konnten, war für Maria Vorbild für eine auf Gleichberechtigung basierende Beziehung zwischen Mann und Frau und die Eltern legten sehr viel Wert darauf, sie als selbständige, finanziell unabhängige Frau, die Karriere machen soll, zu erziehen. Ihre masochistischen
Neigungen sieht Maria vielmehr als Veranlagung und sie datiert ihre ersten Phantasien und
Erlebnisse in das frühe Kindesalter: Phantasien hatte ich, seit ich denken kann. Also noch vor
der pubertären Phase. Mit elf habe ich die erste SM-Geschichte geschrieben. (...) Und das
habe ich auch noch in Erinnerung, dass ich das sehr genossen habe, damals. (...) Auch wenn
ich jetzt so nicht sagen würde, da war ich schon Masochistin, das waren aber die ersten Erlebnisse.
Zugang und Erfahrungen
Ihre ersten bewusst sadomasochistischen Erfahrungen machte Maria als junge Frau und geriet
dabei in eine Situation, die für sie zu einem tragischen Ereignis wurde. Im Alter von 19 Jahren machte sie schlechte Erfahrungen mit einem dominanten Partner. Sie beschrieb nur andeutungsweise, was geschah: Ich hatte damals ohne Code-Wort angefangen und hatte eben jemanden, der gesagt hat, es gibt kein Code-Wort. Und ich sagte, ‚Klar, kein Code-Wort’. Und
da gab es eben Punkte, die ich aber lieber nicht erzählen möchte, mehrere verschiedene, später dann einen, der mich total erschreckt hat, als es einfach zu weit ging. Ich hatte kein CodeWort, ich musste da durch. Und das Vertrauen war einfach weg. Das war futsch. Und damit
war auch die Trennung da. Diese Erfahrung hatte zur Konsequenz, dass sich Maria für meh190
rere Jahre von sadomasochistischen Sexualpraktiken distanzierte, der Wunsch nach Unterwerfung aber weiterhin ihre Phantasien und Vorstellungen von Sexualität dominierte. In dieser
Zeit litt sie unter ständigem Druck, anders zu sein, als die anderen, was schließlich zu dem
Versuch führte, diese ‚Krankheit’ zu therapieren: Also wenn man das so entdeckt, vor allem
am Anfang, dann weiß man schon, dass man nicht normal ist. Wenn man das erstemal direkt
sagt, ‚Ich bin Masochist’, dann würde man es schon am liebsten jedem erzählen, rausschreien, und möchte auch so akzeptiert werden. Aber die Angst ist zu groß, weil man sich fragt,
‚Was halten die Leute von einem?’, und man hat Angst, dass auf einem rumgetrampelt wird.
(...) Ich hatte Probleme damit, deshalb bin ich zum Psychiater gegangen. Ich habe gesagt,
‚Ich bin ja nicht normal und habe versucht, das zu verdrängen. (...) Aber im Endeffekt habe
ich die Phantasie eben doch immer noch gehabt. Deshalb lebte sie ihre Bedürfnisse über Pornohefte und -filme und über Zeitungsberichte von Vergewaltigungen aus. Irgendwann war der
Punkt erreicht, dass ihr die mediale Befriedigung nicht mehr genügte: Und da habe ich irgendwann gesagt, ‚Es muss wieder sein’. Nach fünf Jahren Pause bin ich wieder eingestiegen. Da war es mit den Dingern vorbei. Seit ich das wieder auslebe, liegen die Heftchen rum.
Ihr Negativerlebnis hat sie mittlerweile verarbeitet. Sie interpretiert es dahingehend, dass sie
damals einfach an den Falschen geraten ist. Im zweiten Anlauf hat sie es geschafft, sich in
einer bestehenden SM-Szene zu etablieren, wo sie auch regelmäßig an Veranstaltungen (wie
z.B. Gruppentreffen und Feten) teilnimmt. Hier kann sie ihre Neigungen entsprechend ihren
Vorstellungen realisieren.
Differenziert man Sadomasochismus nach unterschiedlichen Graden von Dominanz und
Submission, dann versteht Maria ihre passive Rolle eindeutig als die einer Sklavin. Sie verwendet diesen Begriff um zu unterstreichen, dass sie ihren Wunsch nach Unterwerfung nicht
nur zeitlich begrenzt, innerhalb eines bestimmten Rahmens realisieren möchte: Für mich ist
es ernst. (...) Früher war es so, dass ich dachte, das ist so eine Art Spiel. Man geht ins Schlafzimmer, macht die Tür zu und dann ist man die Sklavin. Aber ich habe inzwischen soviel erlebt, dass ich merke, dass ich nur im Ganzen Sklavin sein kann. Dass ich eben nicht einfach
die Tür zumachen will, um dann eine Sklavin zu sein, wieder rauszugehen, um eine Frau zu
sein. Das bringt mir nicht viel. (...) Ich meine, ein Schwuler ist auch nicht auf einmal hetero,
wenn er über die Straße geht. Er ist schwul. Ich möchte mir eben ständig bewusst sein, dass
ich eine Sklavin bin. Ich brauche eine feste Führung. Vor diesem Hintergrund gestaltet sich
die Beziehung zu einem Partner, dem sie sich unterwirft, was beispielsweise bedeutet, dass sie
auch in seiner Abwesenheit seinen Befehlen Folge leistet.
Zum Zeitpunkt des Interviews hat Maria einen Herrn, der sie dominiert. Da dieser wiederum
eine feste Freundin hat, kann Maria nur seine Zweitsklavin sein. Dieser Zustand ist für sie
zwar nicht sehr befriedigend, aber eine ausreichende Zwischenlösung, bis sie jemanden ge191
funden hat, den sie nicht mit einer anderen Frau teilen muss: Ich strebe zwar etwas Festes an,
aber im Endeffekt hilft mir das jetzt, über meine Phantasien hinwegzukommen und nicht unbedingt jeden verbissen anzuspringen, wo es geht. Also ich strebe schon eine dauerhafte Beziehung an. Das Verhältnis von Dominanz und Unterwerfung haben Maria und ihr Herr über
einen Vertrag geregelt, in dem sie ihm die Verfügungsgewalt über ihren Körper übertragen
hat: Wir haben einen richtigen schriftlichen Vertrag, mit Blut unterzeichnet, der besagt, dass
er volle Verfügungsgewalt über meinen Körper hat.(...) Wir haben diesen Vertrag jetzt
erstmal vorläufig für ein halbes Jahr, aber eben verlängerungsfähig gemacht.
SM-Identität und Alltagsrolle
Maria hat keine Probleme mit sich und ihrem sozialen Umfeld ob dieser Sklavinnenrolle. Abgesehen von ihrem Beruf, wo sie ihre Neigung verbergen muss, wissen Verwandte und
Freunde von ihrer Leidenschaft, sich einem Mann zu unterwerfen: Ich lebe zum Beispiel mit
einer Freundin zusammen, die normal ist. Sie weiß es. Meine andere Freundin, die ist auch
normal und die weiß das auch. Meine Mutter weiß es. Es ist also so, dass die Leute, die mir
wichtig sind, es wissen. Und die Leute, die mir nichts bedeuten oder Arbeitskollegen, warum
soll ich denen das erzählen? Wenn die mich so sehen würden, wie jetzt und ich würde auch
noch sagen ‚Ja, ich bin Masochistin’, die würden doch meinen, sie könnten mich dann jede
Pause flachlegen. Um Gottes willen. (...). Nicht nur an Gruppenabenden, sondern auch sonst
weist ihr alltägliches Outfit auf ihre Neigungen und die Zugehörigkeit zur SM-Szene hin; Maria ist in der Regel ganz schwarz und sehr feminin gekleidet. Als wir sie kennenlernten, trug
sie ein Kleid mit sehr vielen Schlitzen, ein Hundehalsband aus schwarzem Leder mit Nieten
beschlagen und hohe Schuhe. Wenn ihr Herr es verlangt, ist sie auch bereit, sich an der Leine
mit ihm in der Öffentlichkeit zu zeigen. Dies zeigte sich auch nach unserem Interview, als er
sie abholte und an der Leine aus der Wohnung auf die Straße führte. Davon ausgenommen
sind jedoch berufsbezogene Situationen. Wir trafen Maria zu einem späteren Zeitpunkt zufällig an ihrem Arbeitsplatz, wo sie sich derart bieder und brav präsentierte, dass sie fast nicht
wiederzuerkennen war.
Sklavin zu sein ist für Maria nicht gleichbedeutend mit dem Abtreten ihrer Rechte auf Selbstverwirklichung und Entfaltung der persönlichen Freiheit. Dies wird zum einen aus ihrem
Verhalten in anderen sozialen Lebenszusammenhängen deutlich: Natürlich kann ich als Sklavin trotzdem eigene Bereiche haben, eigene Interessen. Ich kann meine Arbeit haben und man
hat auch bestimmt seine Freunde. Das alles bedeutet nicht, meinen Willen zu brechen, aber
ihn zu biegen. In der Beziehung, die ich jetzt habe, habe ich durchaus mein eigenes Leben.
(...) Man ist trotzdem selbständig, man arbeitet, man tut und macht, und ich trage zum Bei192
spiel das Halsband auf der Arbeit nicht, ansonsten immer. Es ist mir eben ständig bewusst,
dass ich eine Sklavin bin, aber ich bin trotzdem selbständig, kann trotzdem mit Leuten verhandeln, ich kann trotzdem meinen Willen durchsetzen. Zum anderen relativiert sich ihr Sklavinnenverhalten, berücksichtigt man die Einschränkungen, die sie selbst aus organisatorischen
und moralischen Gründen ihrem Herrn gegenüber formuliert hat, denn der o.g. Vertrag definiert Pflichten und Rechte auf beiden Seiten. Auch Marias Herr als derjenige, der eigentlich
bestimmt, wann sie sich treffen und was sie dann unternehmen, muss sich an bestimmte Regeln halten und beispielsweise ihre beruflichen Verpflichtungen berücksichtigen. Hinzu
kommt, dass der Vertrag ein fiktives Konstrukt darstellt und jeder der Unterzeichnenden
weiß, dass es keine gültigen Rechtsgrundlagen dafür gibt: Wenn eben Verleih-Aktionen sind,
dann kommt mein Dienstplan eben dran und dann wird halt geguckt, wann ich Zeit habe und
dann wird das eben abgesprochen. Das ist zum Beispiel auch so, dass bei Verleih gewisse
Tabus bestehen, wo ich gesagt habe, dass ich das auf keinen Fall will. Das sind Pinkel- und
Scheißespiele oder Sachen mit viel Blut. (...) Wir akzeptieren uns eben dennoch. Ich kann mit
meinem Herrn diskutieren und ich kann ihm klarmachen, wer ich bin. Ich bin für ihn trotzdem
ein Mensch. Also für mich ist wichtig, dass ich auch von meinem Herrn akzeptiert werde. Außerdem ist der Vertrag Endeffekt null und nichtig. Wenn man das jetzt ganz krass als normaler Mensch sieht, kann ich jederzeit sagen, ‚Du kannst dir deinen Vertrag sonstwohin stecken,
du kannst ihn zerknüllen und wegschmeißen’. Aber für mich ist es eben ein Vertrag, der von
der Ehre her bindet und der eben im Endeffekt beidseitig oder einseitig auflösbar ist. (...) SM
macht man im Endeffekt, wenn man eben Lust hat.
Maria begreift sich deshalb auch nicht als bemitleidenswerte Frau, die unterworfen wurde,
sondern betont, dass sie sich bewusst und freiwillig einem Mann unterwirft, den sie sich zudem vorher genau ausgesucht hat: Der Unterschied besteht in einer gewissen Freiwilligkeit.
Ich meine, wenn jahrelang Frauen unterdrückt worden sind, gezwungen wurden, am Herd
und in der Küche zu stehen und in die Kirche zu gehen, dann ist das aus Zwang heraus geschehen. Das ist für mich dann ungeil. Was natürlich nicht heißen soll, dass eine Hausfrau
grundsätzlich unemanzipiert ist. Es gibt Hausfrauen, die sind genauso emanzipiert wie eine
Karrierefrau. So bezeichnet sich Maria trotz ihres Wunsches nach Unterwerfung als emanzipierte und selbständige Frau, die keineswegs in das Bild des passiven Hausmütterchens paßt,
das seine Erfüllung und Pflicht darin sieht, die Wünsche des Mannes zu befriedigen. Sie ist
durchaus in der Lage, die eigenen Bedürnisse zu artikulieren und durchzusetzen: Also ich
muss ehrlich sagen, ich bezeichne mich selber schon als emanzipiert. Nicht als Emanze, aber
als emanzipiert. Also ich arbeite, ich bin eigentlich auch so erzogen worden. Ich bin zum Beispiel haushaltstechnisch eine absolute Niete. Also ich kann nicht kochen und ich sehe eigentlich auch nicht meinen Sinn des Lebens darin, irgendjemandem hinterherzuräumen. Ich habe
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so eine Beziehung hinter mir, also eine ‚normale’ Beziehung, wo ich mit einem Pascha zusammen war. (...) Es gibt einen Unterschied zwischen Pascha und Herr und die meisten Sadisten, die ich kenne, die kochen selber, die waschen selber ab, die kochen ihren Kaffee selber, die staubsaugen selber. Wenn irgendwas ist, dann eher in der Art von einer Inszenierung.
Dass der Herr der nackten Sklavin ein Schürzchen umbindet und sagt: „Jetzt mach’ den Abwasch! Wenn du nicht in so und so lange fertig bist, dann...“ Aber das würde nicht jeden Tag
gehen, da wäre dann der Kick raus. Das ist eigentlich nicht so mein Ding. Ich sehe mich als
sehr emanzipierte Frau. Und ich bin auch nicht der Typ, dem man so leicht über den Mund
fährt. Ich kann mich schon durchsetzen. Im Gegenteil, ich glaube, ich bin eher in der normalen Welt eine starke Frau. Also wenn ich normal jemanden in einer Diskothek kennenlerne,
dann sind das fast nur Männer, die eine starke Frau suchen, die einen Halt suchen. Was anderes lerne ich gar nicht kennen. Durchweg keine Sadisten, eher Mamajungs. Das Ausleben
ihrer masochistischen Neigugnen als Sklavin stellt ihrer Meinung nach selbst schon einen
emanzipatorischen Akt dar. Gerade in der heutigen Zeit, in der Gleichberechtigung einen
wichtigen Stellenwert einnimmt, erfordere das Eingeständnis und die Realisation sadomasochistischen und darum abweichenden Verhaltens Ich-Stärke und Sicherheit: Ich sehe meinen
Masochismus als Emanzipation. Weil ich mich wirklich insofern emanzipiere, dass ich das
mache, wozu ich Lust habe, auch wenn es den Feministinnen überhaupt nicht gefällt. Dass ich
also Reizwäsche trage, wenn ich ‚will’, oder dass ich eben angekettet auf die Straße gehe,
wenn ich ‚will’. Und das ist auch eine Freiheit, meine Freiheit. Für die hat keine Feministin
gekämpft. Ich kämpfe nicht, um in Latzhosen rumzurennen und Männerhasser zu sein. Ich
mag Männer und ich akzeptiere sie. Ich lasse mir von ihnen nicht alles sagen, es sei denn,
mein Herr ist es, der etwas verlangt. (...) Ich glaube, eine Frau oder ein Mann, die oder der
nicht selbstbewusst ist, kann sich auch gar nicht in die Situation hineinbegeben.
Rassismus, Vergewaltigung, Kindesmisshandlung und Sklaverei sind für Maria tabu. Die
Möglichkeit, auf ihre Sklavinnenrolle zu verzichten, erscheint ihr jedoch im Hinblick auf ihre
bisherigen positiven wie auch negativen Erfahrungen ausgeschlossen und eine Sexualität, in
der beide Partner gleichberechtigt sind, nicht wünschenswert: Ich mache meine Sachen ‚freiwillig’. Ich habe es mir ja ausgesucht. Ich bin nicht unterdrückt worden, sondern ich habe
gesagt, ‚Ich will unterdrückt werden. (...) Ich habe ja fünf Jahre, nachdem ich schon SMErfahrungen gemacht hatte, ‚normale’ Partnerschaften gehabt. Und ich habe einfach gemerkt, mir fehlt irgendwas. (...) Also darauf möchte und kann ich auf keinen Fall verzichten.
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Fall 4: Eva - ...eine stinknormale Frau von nebenan
Von einem gleichgesinnten Freund erfuhr Eva von unserem Forschungsprojekt, woraufhin sie
uns in einem ausführlichen Brief ihre Unterstützung anbot. Zum Interview lud sie uns in ihre
Wohnung ein. Ihre Kleidung ist vollkommen unauffällig: weder Schmuck noch spezifische
Kleidungsstücke verraten etwas über ihre sadomasochistischen Neigungen. Eva macht einen
sehr selbstsicheren, aber freundlichen Eindruck. In Bezug auf SM nimmt sie ausschließlich
die aktive Rolle ein.
Lebensumstände
Zum Zeitpunkt der Kontaktaufnahme ist sie 52 Jahre alt und lebt mit ihrem Mann, mit dem
sie seit 30 Jahren verheiratet ist und Kinder hat, in einer Großstadt. Eva sollte Abitur machen,
hat aber gegen den Willen ihrer Eltern mit mittlerer Reife eine Ausbildung an einer Fachschule als Erzieherin absolviert und ist seit ihrer Heirat Hausfrau.
Biographischer Hintergrund
Während des Krieges und in den ersten Nachkriegsjahren wuchs Eva mit ihrer Schwester zusammen auf dem Land auf. Außer den besonderen Bedingungen dieser Zeit weiß sie nichts
Außergewöhnliches zu berichten. Sie sieht keine Verknüpfung zwischen sadomasochistischen
Neigungen und spezifischen Kindheitserfahrungen oder Erziehungsstilen. Sie versucht auch
nicht, ihre dominanten Aktivitäten über eine mögliche Veranlagung zu erklären. Früher war
da absolut nichts. Wenn irgendwelche Leute sagen, es läge an der Kindheit und so, dann sehe
ich das nicht so. (...) Ich habe eine sehr autoritäre Erziehung hinter mir, wie viele in meiner
Generation. Aber meine Güte, das ist für mich kein Kriterium. Wir hatten, was wir brauchten
und unsere Eltern taten verantwortlich für uns ihre Pflicht an uns Kindern. Ich habe keinen
prügelnden Vater gehabt und keine Mutter, die um sich geschlagen hat. Die waren streng,
aber das war damals ja jeder. Auch bezüglich ihrer schulischen Erfahrungen schildert Eva
keine nennenswerten Ereignisse: Ich kann mich an nichts Spektakuläres erinnern. Ich habe
die Schule nie geliebt, war immer eine mittlere bis gute Schülerin, nie herausragend, nie
schlecht. (...) Um es aber nochmals zu sagen: Es ist schon möglich, dass Frauen vielleicht
eher durch die Erziehung zum lieben, gehorsamen Mädchen und zu ebensolcher Frau zum
Masochismus kommen. Aber genauso ist es doch auch vorstellbar, dass sie gerade deswegen
nicht masochistisch werden, weil sie sich eben wehren wollen. Ich hätte aufgrund meiner Er-
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ziehung ebenso masochistisch werden können. Es war durchaus drin. Ich war ja nicht schon
immer dominierend. Ich glaube nicht, dass masochistische Frauen dazu gemacht werden.
Zugang und Erfahrungen
Eva gehört zu den Frauen, die über ihren (Lebens)Partner mit sadomasochistischen Praktiken
konfrontiert wurden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie keinerlei Phantasien und Interessen in
diesem Bereich: Das ist wie in vielen stinknormalen Ehen durch meinen Mann gewesen, der
Ambitionen hatte, von denen er zunächst selber nichts wusste. Ich bin also eigentlich kein
Typ, der schon immer dominant war, früher, im Gegenteil. Ich sagte ja bereits, ich wäre sicherlich eine total brave, vielleicht sogar masochistische Frau gewesen, wenn ich einen anderen Mann gehabt hätte. Da hätte ich wahrscheinlich auch mitgemacht. Ich weiß allerdings
nicht, ob ich Gefallen daran gefunden hätte. Ich bin also wirklich erst durch meine Ehe dazugekommen. Eva hat ihren Mann gegen den Willen ihrer Eltern geheiratet und betont dabei
ausdrücklich, dass es eine Liebesheirat war. Gleich zu Beginn ihrer Ehe stellte sich heraus,
dass ihr Mann sadomasochistische Interessen hatte. Obwohl es ihr anfangs schwer gefallen
ist, überhaupt Verständnis dafür zu haben, ging sie zunächst lediglich aus Zuneigung zu ihrem Mann und der guten Beziehung auf dessen Bedürfnisse ein, ohne jedoch besonderen Gefallen daran zu finden: Wir haben eben sehr gut zusammen harmoniert und ich war bereit,
mitzumachen. Und mehr war das am Anfang nicht. Ich habe selber dann angefangen, dass ich
erst einmal versucht habe, nur tolerant zu sein, zumal weil die Beziehung geklappt hat. Und
dann habe ich versucht mitzumachen. Anfangs natürlich mit sehr, sehr viel Zurückhaltung
und Vorbehalten; ich bin stockkonservativ erzogen und Sie können sich vorstellen, was das
heißt, wenn man dann mit SM konfrontiert wird, auch wenn es ganz, ganz soft war. (...) Es ist
erstaunlich, wie lernfähig man ist, wenn man nur will und sich ein bisschen Mühe gibt, wenn
auch zuerst nur aus Liebe zu einem anderen Menschen und nicht aus eigenem Wunsch und
Bedürfnis. Aus einer anfänglichen Toleranz und dem bloßen Mitmachen dem Partner zuliebe
entwickelte sich bei ihr ein eigenständiges Interesse an der aktiven Rolle: Und irgendwann
habe ich die Neigungen und Wünsche akzeptiert und festgestellt, dass ich selbst Spaß daran
habe. (...) Ich habe dann auch sehr schnell gemerkt, welche Möglichkeiten sich mir als aktive
Frau erschlossen haben und sie immer mehr ausgelebt: Macht zu haben über den Mann, über
seine Sexualität, über seinen Körper, ja über sein gesamtes Wohlbefinden. Seitdem habe ich
auf vielfältige Weise größten Genuss aus solchen Begegnungen gezogen und habe inzwischen
ein ziemlich großes Selbstbewusstsein erlangt.
Dominanz und Unterwerfung praktizierte Eva zunächst nur mit ihrem Ehemann, wobei sich
die Aktivitäten in Richtung Erziehung und Flagellantismus entwickelten, weshalb sie auch
196
nicht als Domina, sondern eher als Erzieherin bezeichnet werden möchte. Die Verselbständigung und Vertiefung des Interesses führte aber dazu, dass sie sich über Anzeigen
auch andere Kontakte suchte. So kann Eva mittlerweile auf eine Vielzahl unterschiedlicher
Erfahrungen zurückblicken: Durch viele Umstände und Ereignisse in meinem Leben bin ich
zu dem geworden, was ich heute bin: Eine Erzieherin, Herrin und Gebieterin aus Leidenschaft und mit Spaß und Freude daran, entsprechend veranlagte Männer in meine Dienste
treten zu lassen. Auch auf viele Briefe solcher Männer, die mir schrieben, habe ich geantwortet. Mit vielen habe ich lange Gespräche geführt und einigen allein damit vieles geben können. Entsprechende Anzeigen führen mich häufig in Versuchung, wieder einmal zu reagieren.
Eva betont, dass ihre erzieherischen Aktivitäten niemals mit einer professionellen, d.h. finanziellen Absicht verbunden waren, sondern immer nur aus Leidenschaft und eigenem Spaß an
der Sache. Aus diesem Interesse heraus trifft sie sich nach ausführlichem Briefwechsel hin
und wieder mit anderen Männern, um ihre dominanten Neigungen auszuleben. Seit fünf Jahren hat sie eine reine SM-Beziehung zu einem Mann, den sie regelmäßig für einen Tag besucht, um ihn zu dominieren: Ich fahre morgens hin und am späten Nachmittag zurück. Das
zieht sich aber dann den ganzen Tag durch.
Auch über ihre persönlichen Beziehungen hinaus ist Eva im SM-Bereich engagiert. Sie
schreibt sehr viel und hält auch verschiedene SM-Erlebnisse schriftlich fest, um daraus zu
lernen und möglicherweise auch mal sowas weiterzugeben. Desweiteren war Eva für verschiedene kommerzielle SM-Magazine und -Zeitschriften als Schriftstellerin tätig, wobei sie
in diesem Bereich schlechte Erfahrungen machen musste und ihre Texte deshalb nur noch für
ein sehr ausgewähltes Publikum verfaßt: Ich habe eine besonders große Phantasie und eine
enorme Vorstellungsgabe, die ich schon mehrfach dazu genutzt habe, überaus reizvolle und
sicherlich auch interessante Geschichten zu schreiben. Allerdings sind sie nur für SMMenschen interessant und reizvoll und es gibt keine Möglichkeit, sie einem größeren Kreis
zugängig zu machen; denn einschlägige Magazine reißen sie mir zwar aus der Hand und drucken sie auch, aber sie tun es für nicht einmal ein Danke, geschweige denn ein Belegexpemplar oder gar ein Honorar. Sie wollen nur daran verdienen. Nur, ausbeuten lasse ich
mich denn doch nicht. So schreibe ich zwar, aber es gibt nur wenige Menschen, die es lesen
und die ich sehr damit erfreuen kann. Ich habe zweifellos genügend Texte geschrieben. Die
meisten Texte und Geschichten etc. habe ich für meinen Mann geschrieben. Ich habe aber
auch schon beispielsweise für meinen Sklaven zum Geburtstag eine Geschichte verfaßt. Ich
schreibe sehr viel auf meinen Bahnfahrten und es ist durchaus repräsentativ, was ich schreibe: Gedanken, Leserbriefe und eben Geschichten. Für meinen Mann habe ich dann noch vor
zwei Jahren eine Zeitschrift begonnen, ‚Utopie 2000’, an der er viel Spaß hat, aber sie ist
sehr auf ihn zugeschnitten. Ich habe auch Gedichte, Geschichten und Briefe als Danke von
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Sklaven bekommen, auch von welchen, die auf meine Veröffentlichungen reagierten. Daneben
hat Eva auch schon Fotos von sich zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt. So zeigte sie
uns ein Magazin, in dem sie in schwarzen Lederstiefeln und Lederrock mit einer Peitsche in
der Hand zu sehen war. Auf weitere Szenekontakte wie beispielsweise den Besuch von Clubabenden, Vorführungen etc. möchte sie jedoch verzichten, da ihr solche Veranstaltungen nicht
authentisch genug erscheinen: Aber in keinem Fall könnte ich zu SM etwas sagen, wenn es um
Szenen geht. Ich habe da hineingerochen, wie man sagt. Das Zurschaustellen in Clubs beispielsweise habe ich ein einziges Mal erlebt und es war, außer sehr unterhaltsam, eigentlich
ziemlich aufgesetzt. (...) Ich habe eben ‚nur’ ganz private Erfahrungen, geboren aus der eigenen Lust und Leidenschaft, der eigenen Freude und dem eigenen Spaß an diesem Metier.
SM-Identität und Alltagsrolle
Eva ist eine Frau, die sehr vielseitig interessiert ist und ihr Freizeitverhalten aktiv gestaltet.
Sie schreibt nicht nur im SM-Bereich, sondern beispielsweise auch seit vierzig Jahren Tagebuch, seit über dreißig Jahren Familienchronik, Reiseberichte etc. Über Freunde, Probleme,
Schwierigkeiten tobe ich mich auch schriftlich aus und bewältige damit durchaus fast alle
Schwierigkeiten. Schreiben ist meine große Leidenschaft. Darüber hinaus ist sie engagierte
Umweltschützerin, Hobbyschneiderin und -photographin und nimmt in diesem Zusammenhang aktiv am Vereinsleben teil. Sie hat ein positives Selbstbild und beschreibt sich als eine
Frau, die mit sich und ihrem Leben rundum zufrieden ist. In ihrer Beziehung zu ihrem Mann
war und ist immer genügend Freiraum für eigenständige Interessen und Unternehmungen,
was von seiner Seite aus intensiv unterstützt wird. In ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter fühlt
sie sich wohl. Sie glaubt, ihre Kinder liebevoll, unter großem Einsatz und mit viel Zuwendung
erzogen zu haben. Auch in Bezug auf ihre sadomasochistischen Aktivitäten hat Eva keine
Probleme. Sie wendet sich entschieden gegen die These, SM-Interessierte seien krank oder
pervers und begreift sich selbst als eine Frau, wie jede andere: Wissen Sie, es ist mir wichtig,
wenn sie unser Interview veröffentlichen sollten, dass es rüberkommt, dass ich eine ganz
normale Frau bin, die mit beiden Beinen voll im Leben steht. Darauf lege ich großen Wert,
dass man sieht, das ist eine stinknormale Frau wie die von nebenan. Auch wenn sich SM
manchmal durch unseren ganzen Ehealltag zieht, so sind es immer nur Momente oder Phasen. Es ist für mich ein Prickel, ein Flirren, das auch nach dreißig Jahren noch interessant
ist. Weil sie aber mit Sicherheit zu wissen glaubt, dass ihre Freunde sich von ihr und ihrem
Mann distanzieren würden, wenn sie von ihrer Vorliebe für sadomasochistische Sexualpraktiken wüssten, schweigt sie sich ihnen gegenüber darüber lieber aus: Ich habe keine Negativerfahrungen mit Nicht-SM-Bekannten. Die wenigen, die wir haben, würden aber sofort weg
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sein, wenn sie es wüssten. Für Eva sind sadomasochistische Sexualpraktiken nicht mit Gewalt
zu verwechseln, ein Grund, weshalb sie die Argumentation der Feministinnen nicht verstehen
kann: Ich halte mich durchaus für emanzipiert, allerdings anders, als es Feministinnen meinen. (...) Ich kann auch nicht verstehen, warum sich Feministinnen über SM aufregen. Das ist
doch keine Gewalt, das ist doch etwas ganz anderes. Hier treffen sich Menschen, die miteinander auf ganz bestimmten Wellenlängen harmonieren. Der Masochist will doch die Gewalt.
Sie ist für ihn Lust. Sadismus scheint hier auch völlig falsch verstanden zu werden. Beide wollen doch, was sie tun. Ein wahrer Sadist würde hierauf keine Rücksicht nehmen. (...) Ich habe
selbst schon eine masochistische Frau erlebt und bin der Meinung, dass diese Frau den demütigenden, quälenden, sexuell ausbeutenden Mann genauso genossen hat, wie ich es eben
von masochistischen Männern her kenne. Das heißt aber doch noch lange nicht, dass ich der
Meinung bin, dass Männer recht haben, wenn sie denn pauschal meinen, Frauen müsste man
es besorgen, die wollten es nicht anders. Das ist etwas ganz anderes. Das ist doch nicht das
gleiche als wenn junge Frauen beispielsweise bei Männern bleiben, die gewalttätig sind.
Mein Mann hätte mich ein einziges Mal in unserer Ehe vergewaltigt, wenn ich es als solches
empfunden hätte. Ich wäre sofort weg gewesen. SM ist etwas ganz anderes.
Ihre dominante Rolle im sadomasochistischen Arrangement möchte Eva nicht als Rache oder
gar Männerhaß verstanden wissen, im Gegenteil; sie hat ein positives Männerbild: Als eine
besonders wichtige Aussage möchte ich eine Feststellung an den Anfang stellen: Ich mag
Männer im Allgemeinen und ‚dienende’ Männer im Besonderen. (...) Wenn ich mir da angucke, was ich da inzwischen kennengelernt habe, dann sage ich mir, also so gewalttätig sind
die Männer gar nicht. (...) Ich bin nicht bereit, alle Männer als in irgendeiner Art gewalttätig
anzusehen, wie ich - sieht man einmal davon ab, dass ich Pauschalisierungen nicht mag auch nicht bereit bin, Frauen als in jedem Fall friedliebender anzusehen.
Toleranz gegenüber denjenigen, die von den gesellschaftlichen Normen und Werten abweichen, fordert sie für sich und für all diejenigen, die davon betroffen sind. Dies war auch ihr
Motiv, uns bei unserer Studie zu unterstützen: Ich habe im Laufe von Gesprächen schon viel
Negatives erfahren. Vor allen Dingen auch viel Schlimmes in der Weise, dass die Leute auch
nichts ausleben können. Nicht mal die kleinste Kleinigkeit. Und dann sind sie permanent
frustriert. Wenn sie so eine Leidenschaft haben, und die können es nirgendwo auslassen, das
muss ein wahnsinniger Frust sein. Das sehe ich schon als sehr negativ. (...) Es müsste zumindest möglich sein, dazu stehen zu können, ohne gleich abzufallen oder als krank oder unnormal zu gelten. Auch Kontakte, wenigstens zu Gleichgesinnten, müssten leichter sein, offener.
Ich bin aber nicht bereit, mich von intoleranten Menschen diskriminieren zu lassen, die mich
ja gar nicht verstehen wollen. Mich bedrückt in dieser Gesellschaft, dass ich sehr wohl mehr
Toleranz unter Erwachsenen für möglich hielte. Ich behandele Menschen, die meine Neigung
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nicht teilen können, doch auch nicht als unnormal. Denn wer maßt sich denn an, zu bestimmen, was eigentlich normal ist?
Obwohl auch Eva als dominante Frau schon negative Erfahrungen machte, (beispielsweise in
dem einen Fall, als sich ein sadistischer Mann als passiv ausgegeben hat, um auf diese Weise
eine Frau zu finden, die wirklich nicht dominiert werden will), steht sie sadomasochistischen
Sexualpraktiken insgesamt gesehen sehr positiv gegenüber. Ihr Resümee: Wenn ich auf meine
Eltern gehört hätte und eine brave Tochter gewesen wäre, hätte ich meinen Mann niemals
geheiratet. Welch ein Verlust wäre das in meinem Leben gewesen. Ich habe alles so gemacht,
wie ich es mir wünschte - und nichts bereut. Seit ich SM mache, hat sich vieles geändert. Ich
bin selbstbewusster, sicherer im Umgang mit Menschen geworden, ganz allgemein und insbesondere mit Männern, mit allen Männern! (...) Ich habe Männern gegenüber eine selbstbewusste Einstellung, auch als ganz ‚normale’ Frau. Ich begegne den meisten Männern schließlich als ganz normale Frau. Mann spürt, ich lasse mich nicht in die Ecke drücken. (...) Mein
Denken ist wesentlich großzügiger geworden, wenn es um menschliche ‚Schwächen’ geht, die
ich bei anderen tolerieren will. Letzteres habe ich auch früher schon versucht, aber heute
gelingt es mir besser. Ich kann Sätze die so anfangen: die Lesben, die Schwulen, die Studenten, die Hausfrauen, die Männer, die Ausländer, die Frauen, die Perversen, die Beamten, die
Penner usw., einfach nicht ausstehen. Wir vergessen, dass wir alle Menschen sind, mit
Schwächen, mit Fehlern, aber auch mit Stärken und vielen positiven Eigenschaften, die wir
bei anderen nur allzu vorschnell verdammen wollen. Vielleicht sogar, weil wir neidisch sind,
dass andere auch glücklich leben, zufrieden sind, gut erzogene Kinder haben usw., auch wenn
sie ja alles so anders machen, als wir selbst. Wir meinen, jeder für sich, und ich nehme mich
da nicht aus, auch wenn ich mich ständig bemühe, mich zu bessern, nur was wir selbst machen ist immer richtig. Nur das ist eben der große Irrtum. Auch sollten ihrer Meinung nach
insbesondere Frauen für die Bedürfnisse ihrer Partner offener sein, was aber nicht bedeuten
soll, dass sie Sadomasochismus unter allen Umständen gegen ihren Willen praktizieren sollten rein aus der Angst, ihre Männer an die Konkurrenz oder an irgendwelche professionelle
Frauen zu verlieren. Aufgrund der Erfahrung, die Eva mit ihrem Mann gemacht hat, aber
auch vor dem Hintergrund ihrer sonstigen Aktivitäten als Domina hält sie es für durchaus
möglich, sadomasochistische Neigungen in einer guten Beziehung anzusprechen und zu prüfen, inwieweit es sich innerhalb der Partnerschaft realisieren lässt: Es gibt viele, zuviele Frauen, die doch gar nicht bereit sind, auf ihre Männer einzugehen. Es gibt Frauen, die meinen,
ihr Mann sei pervers - sie sagen wirklich pervers -, weil es ihn erregt, wenn sie ihm z.B. in
schwarzen Strümpfen kommen. Sie sind der Meinung, der Mann solle dann zu einer Nutte
gehen, mit solchen Gelüsten. Um was bringen sich diese Frauen? Sie könnten die Sexualität
ihres Mannes beherrschen, wenn sie es nur wollten, und meinen dennoch, der Mann beherr-
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sche sie. Wer ist denn derjenige, der auf Visionelles reagiert? Das sind doch die Männer.
Warum sollte man diese Schwäche nicht nutzen, für sich? (...) Ich konnte S/M-veranlagte
Männer überzeugen, Mut zu haben und mit ihren Frauen zu sprechen. In diesen Fällen, wo es
die Männer getan haben, war es positiv. Die Frauen haben voll mitgemacht und sogar ‚harten’ SM nicht nur toleriert. Auf solche Erfolge bin ich dann besonders stolz, zumal mir sowohl
die ehemaligen Sklaven als auch insbesondere ihre Frauen sehr dankbar waren.
Eva möchte nicht auf SM verzichten, auch wenn sie betont, dass sie - im Gegensatz zu vielen
masochistischen Männern - nicht abhängig ist von dieser Art der Sexualität. Auch ist es ihr
mittlerweile nicht mehr ganz so wichtig, ihre Neigungen um jeden Preis zu verstecken und zu
verschweigen. Ich lasse es heute durchaus schon mal raus. Auch um die Toleranz meiner
Mitmenschen zu prüfen. Bei Männern habe ich da wesentlich bessere Karten. (...) In jedem
Fall werde ich nicht davon ablassen, sondern eher noch mutiger dazu stehen!
Fall 5: Dorothea - ...Konflikte habe ich nie gehabt
Um den umständehalber verlorengegangenen Kontakt zu Gleichgesinnten wieder aufnehmen
zu können, annoncierte Dorothea in einem einschlägigen Szene-Magazin, so dass diese alten
Bekannten sich nach ihrem Umzug unter einer neuen Telefonnummer wieder bei ihr melden
konnten. Auf diese Art und Weise konnten auch wir in Kontakt zu ihr treten. Nach anfänglichem Zögern bestellte sie uns schließlich in ein Appartement, von dem sie sagte, dass es einem Freund gehöre und das bei uns den Eindruck hinterließ, als würde es ausschließlich zum
Zwecke der Realisierung sadomasochistischer Neigungen genutzt. Ganz im Gegenteil zur
Ausstattung des Appartements ist Dorothea bei unserem Treffen völlig unauffällig gekleidet.
Sie macht auf uns einen ruhigen, aber selbstsicheren Eindruck. Ihre sadomasochistische Rolle
definiert sie als ausschließlich dominant.
Lebensumstände
Zum Zeitpunkt des Interviews ist Dorothea 50 Jahre alt. Sie hat studiert und bisher unterschiedliche Berufe ausgeübt: Elektro-Ingenieurin, Dolmetscherin, Chefsekretärin, Lektorin
und Nachhilfelehrerin. Sie lebt alleine in ihrem Haus in einer mittleren Stadt. Dorothea ist
heterosexuell und seit mehr als 25 Jahren als dominante Frau in der SM-Szene aktiv.
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Biographischer Hintergrund
Dorothea hatte keine angenehme Kindheit und Jugend. Ihre Mutter war sehr religiös und hat
versucht, sie entsprechend dieser Vorstellungen zu erziehen. Alles Weltliche, angenehme und
unterhaltsame Tätigkeiten waren für Dorothea verboten: Zum Beispiel das Spielen mit gleichaltrigen oder älteren Kindern, das Lesen von Unterhaltungsliteratur, der Besuch von Veranstaltungen eingeschlossen Kino, Theater, Jugendtreffen usw. Dorotheas Vater teilte die Auffassung der Mutter nicht. Dementsprechend gestaltete sich das Zusammenleben der Eheleute
nicht sehr harmonisch und die Spannungen übetrugen sich auf Dorothea, bis die Eltern sich
scheiden ließen: Und ich war natürlich betroffen von all diesem als Kind. (...) Ich bin da sehr
viel hin- und hergeschoben worden und ausgenutzt und ausgespielt worden und mein Vater
hat mich oft geschlagen, bloß um meiner Mutter damit eins auszuwischen. Also nicht, weil ich
es vielleicht verdient gehabt hätte, sondern eigentlich nur, um ihr damit etwas zuzufügen. Um
sich der repressiven Erziehung der Mutter zu entziehen, hat Dorothea ihr Zuhause nach der
Pubertät verlassen. Sie war jedoch nicht in der Lage, sich selbst zu unterhalten und ging aus
wirtschaftlichen Gründen eine Ehe ein, ohne Überzeung, bloß um nicht mehr zu Hause leben
zu müssen. Zwischen den Mißständen in ihrer Kindheit und Jugend, die sich auch durch
Schwierigkeiten in der Schule (Leistungsverweigerung, Sozialverhalten) äußerten, und ihren
sadomasochistischen Aktivitäten sieht sie einen konkreten Zusammenhang: Kinder, die aus
solchen Familien kommen, die stehen ganz schlecht da, die sind unselbständig. Dorothea
wollte nicht in eine solche Situation der Unselbständigkeit geraten, sondern wollte eigentlich
schon im Leben stehen. Natürlich hat sich das irgendwie in mir niedergeschlagen, so dass ich
mir gesagt habe: ‚Jetzt will ich aber da stehen, also jetzt will ich was sein! Jetzt will ich die
Sachen in die Hand nehmen und jetzt will ich das dirigieren! Und ich will selber sehen, wie
ich zurechtkomme.’ Und das hat wahrscheinlich dann meine dominante Neigung unterstützt
und gefördert. Sehr wahrscheinlich.
Zugang und Erfahrungen
Ihre ersten praktischen Erfahrungen mit SM machte Dorothea als junge Frau. Sie las in einer
allgemeinen Tageszeitung die Anzeige eines passiven Mannes, auf die sie antwortete und sich
daraufhin mit ihm traf: Auf diese Anzeige habe ich geschrieben und wir haben dann unsere
netten Spiele gemacht und so hat das damals vor langer Zeit angefangen.
Seit diesem Zeitpunkt hat Dorothea ihr Interesse an SM intensiviert und kultiviert. Sie realisiert ihre dominanten Neigungen mit unterschiedlichen Partnern, die sie über Kontaktanzeigen oder auch Clubabende und ähnliches kennenlernt. Dorothea betont, dass sie kei-
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ne finanziellen Interessen mit Sadomasochismus verbindet und sich auch nicht als Handlangerin masochistischer Männer versteht, sondern ihr Interesse in der Sache begründet liegt: Vorausschicken möchte ich vor allen Dingen, dass ich eine Privatperson bin. Dass ich also nichts
mit dieser Profi-Szene zu tun habe, die ja allerorten auftaucht. In jeder größeren Stadt gibt es
ja sogenannte ‚Studios’, die von Profi-Frauen betrieben werden, die ja eigentlich nur einen
Zweck verfolgen - nämlich: Geld zu kassieren. Und zu diesen Personen zähle ich mich also
absolut überhaupt nicht. Ich habe kein professionelles Studio, das ich betreibe. Sondern ich
bin eine Privatperson, die sich schon sehr lange mit diesem Thema befasst. Ich befasse mich
hobbymäßig damit, das ist also nicht Grundlage eines finanziellen Geschäftes, sondern ich
befasse mich einfach hobbymäßig damit.(...) Ich habe eine Passion. Ich tue das gerne. (...)
Das ergreift mich.
Mittlerweile hat Dorothea vielzählige Kontakte. Um ihre Person hat sich ein Kreis von SMInteressierten aus dem In- und Ausland gebildet, mit denen sie teilweise eine intime, freundschaftliche Beziehung verbindet: Im Laufe der Zeit habe ich einen netten Kreis um mich geschart. Das hat lange gedauert, das ist langsam gegangen, denn ich habe eigentlich nie annonciert. Das ist ein kleiner Kreis, der sehr exklusiv ist, was die Neigungen der betreffenden
Personen angeht. (...) Ich habe da sehr viel erlebt, ich habe sehr viele Leute studiert. Psychologisch gesehen. (...) Und in meinem Kreis haben die Leute alle großes Vertrauen zu mir und
sie berichten mir auch alles. Nicht nur, was in ihrem SM-Leben vorgeht, auch vieles darüber
hinaus. Ich nehme an vielem Anteil, sie rufen mich oft an, sie fragen mich um Rat, sie sagen,
‚Dies und das und jenes ist passiert, was kannst du mir dazu sagen?’.
Dorothea legt sehr viel Wert auf Bildung im traditionell bürgerlichen Sinne und die Fähigkeit,
‚guten SM’ zu praktizieren ist ihrer Meinung nach eng an den jeweiligen Bildungsstand der
beteiligten Personen geknüpft: Also ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Frau, die keine
Ausbildung in ihrem Leben genossen hat, die keine Möglichkeit gehabt hat, sich auch lebensmäßig zu entwickeln, eine dominante Frau sein könnte. Kann ich mir absolut nicht vorstellen.
Also eine gewisse Grundlage muss da vorhanden sein. Sie können jetzt sagen: Ja, gut, ein
Fabrikmädchen kann auch eine Peitsche in die Hand nehmen und kann auch irgendjemand
schlagen. Sicher, das kann sie. Warum soll sie es nicht können? Und vielleicht kann sie das
sogar mit einiger Brutalität machen. Aber ob das dann das Gegebene ist, das ist die andere
Frage. (...) Sie wissen doch, je gebildeter ein Mensch ist, desto aufgeschlossener ist er, je
mehr Hintergrund er hat, je mehr er studiert hat, desto mehr kann er aufnehmen, erfassen,
übersehen. Der steht doch auf einem ganz anderen Podest. (...) Also jemand, der bloß in der
Hilfsschule war, der kann bestimmt nicht mit Integralrechnung umgehen. Und da fängt ja die
Mathematik erst an, interessant zu werden. Und so ist das in diesem Bereich auch. (...) Deswegen sagte ich ja, es kann auch ein Fabrikmädchen dominant sein und die kann auch einen
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Partner finden, der zu ihr paßt. Warum nicht. Das kann sie. Aber sie hat natürlich nicht diesen Facettenreichtum. Deshalb finden sich in Dorotheas Zirkel Personen (Männer und Frauen) im Alter zwischen 20 und 80 Jahren, die vorwiegend aus der Oberschicht kommen. Sie
achtet sehr darauf, dass diese Zusammensetzung auch so bleibt und trifft ihre Entscheidung,
jemanden aufzunemen oder nicht, vor dem Hintergrund dieses Anspruchs: Es sind auch keine
Leute aus irgendwelchen unteren Schichten. Das Niveau der Leute in meinem Kreis ist
durchweg ein gehobenes, und zwar in jeder Beziehung: geistig, kulturell und wirtschaftlich.
Viele der Leute sind Akademiker. Ärzte, Anwälte, Wissenschaftler, Manager, Geistliche, viele
sind beruflich gut gestellt, selbständig oder in guten Positionen in der Wirtschaft oder beim
Staat. Jüngere Leute studieren noch oder absolvieren langjährige Ausbildungen. Ich könnte
natürlich einen Fabrikarbeiter in meinem Kreis aufnehmen oder einen Bauhilfsarbeiter. Mit
dem würde ich aber nicht sehr glücklich werden.
Dorothea hat eine Vielzahl von SM-Beziehungen zu verheirateten, passiven Männern, von
denen einige eigens zu SM-Arrangements aus dem Ausland zu ihr nach Deutschland geflogen
kommen. In den meisten Fällen verbergen die ihr bekannten Sadomasochisten ihre Neigungen
vor ihren Frauen und ihrer Familie. Deshalb ist die Kontaktaufnahme ja eine Einbahnstraße.
Also ist die Kontaktaufnahme von mir zu einem SM-Partner meistens abgeschnitten. Da gibt
es vielleicht, wenn ich das über den Daumen peile, 20%, 30%, eher 20, wo ich in der Lage
bin, jemanden anzurufen. Aber sonst findet der Kontakt immer von außen zu mir statt. (...)
Aber zu Weihnachten oder sonstigen Gelegenheiten kriege ich dann Karten und Briefe, da
steht dann drauf: ‚Liebe Domina, ich bin Dir so dankbar, dass Du mich verstehst, dass ich
mit Dir allen Ernstes alles erleben kann, was ich erleben möchte, dass Du mich nicht auslachst, dass Du mich nicht von Dir weist’. Das freut mich dann auch. Einige ihrer älteren
Freunde, Männer der ersten Stunde, sind mittlerweile schon verstorben. Nicht immer erfährt
Dorothea davon. Einige haben aber beim Notar eine Nachricht hinterlassen, da die Familie der
meist verheirateten Männer von der SM-Beziehung schließlich nichts weiß.
Im Laufe der Jahre hat Dorothea die verschiedensten Werkzeuge und Hilfsmittel gesammelt,
die sie für ihr Hobby hat anfertigen lassen oder auch selbst angefertigt hat. Mit diesen Utensilien und Möbeln hat sie einen Hobbyraum für private SM-Spiele eingerichtet, den sie auch
anderen zur Verfügung stellt: Der Raum ist natürlich komplett eingerichtet. Was denken Sie,
da habe ich ja doch schon vor langer Zeit angefangen, mir alles Mögliche auszudenken, was
ich gerne hätte. Und das hat man damals ja alles nicht kaufen können. Da hat man ja Heimarbeit leisten müssen. Und da habe ich mir eben alles Mögliche ausgedacht, wie ich das
möchte. Es ist so im Lauf der Zeit entstanden. Immer wieder was, immer noch was, immer
noch was. (...) Ich habe auch selber Sachen gemacht, nicht nur alles anfertigen lassen. (...)
Den Raum kann man tatsächlich benutzen. (...) Wenn man eine Partnerin hat und möchte mit
204
dieser Partnerin allein sein, unter sich, kann man diesen Raum benutzen. Ohne mich. Viele
Leute haben ja keine Gelegenheit, wenn sie sich als Partner schon verstehen, ihre Handlungen dann durchzuführen, weil dann die Familie im Weg steht, weil die Kinder da sind, die
Schwiegermutter da ist, weil die Räumlichkeiten nicht passen, weil die Nachbarn aufpassen,
und, und, und. Dann können die eben einfach gar nichts tun. Aber sie möchten gerne was tun.
Und da habe ich gedacht: ‚Na ja, warum soll man den Leuten nicht entgegenkommen?’ Da
gibt es also sehr nette Paare, die mich besuchen und dann ihre Handlungen miteinander vornehmen. (...) Auch hier schau ich mir die Leute schon genau an, wer reinkommt und wer
nicht. Also irgendwelche Schluris kommen zu mir nicht rein. (...) Die Auswahlkriterien sind
vor allen Dingen Zuverlässigkeit, Diskretion und Korrektheit. Das sind drei Begriffe, das ist
überhaupt oberstes Gebot, abgesehen vom Niveau. Aber das ist oberstes Gebot. (...) Darüber
hinaus hat sie sich im SM-Bereich im Laufe der Zeit ein umfangreiches medizinisches Hobbywissen angeeignet: Ich habe immer Privatstudien getrieben auf diesem Gebiet und kenne
auch einige Ärzte, mit denen ich viel diskutiert habe, so dass ich auf diesem Gebiet also sehr
viel weiß. Ich wollte mal Medizin studieren, habe aber dann damals ein technisches Studium
gewählt.
SM-Identität und Alltagsrolle
Dorothea beschreibt sich als eine selbstbewusste Frau, die vielseitig interessiert ist, vor allem
sehr kunstbegeistert und -verständig. Also Musik, Literatur und Malerei sind für mich alles.
Wegen ihrer dominanten Neigungen hatte Dorothea mit sich selbst niemals Probleme. Es gab
für sie auch keine Konflikte mit anderen, da sie ihre Leidenschaft immer geheimgehalten hat.
Über die Jahre hinweg hat sie in unterschiedlichen sozialen Bereichen unterschiedliche Rollenmuster ausgebildet. In ihrem alltäglichen Umfeld, Nachbarn oder Freunden gegenüber ist
sie die bürgerliche Frau; im SM-Bereich hingegen die erfahrene Domina: Nein. Nein. Ich habe keine Konflikte gehabt. Das ist mein inneres Wesen und so bin ich. (...) Aber Sadomasochismus ist gesellschaftlich stark stigmatisiert. Wenn man das nach außen tragen würde, dass
man solche Neigungen hat, würde man nicht akzeptiert werden. (...) Ganz klar. Ich könnte
nicht bei meinen Nachbarn irgendwie den Eindruck erwecken, dass mir diese Dinge Freude
machen. Das könnte ich nicht. Ich führe also zwei Leben. Oder ich führe drei Leben, wenn Sie
so wollen, und manchmal vier. Also ich habe wirklich verschiedene Ebenen. Ich habe ein gesellschaftliches Leben, in dem ich mich bewege. Ich habe einen Freundeskreis auch auf gesellschaftlicher Ebene natürlich. Einen sehr ausgeprägten Freundeskreis. Und ich habe einen
Freundeskreis auf der SM-Ebene. Die überschneiden sich fast nicht. Es gibt vielleicht ein,
205
zwei Personen, die sich überschneiden. (...) Da würde man anecken. Das geht nicht. Also auf
gesellschaftlicher Ebene muss ich mich auch entsprechend verhalten. Wie alle anderen.
Fall 6: Marion - ...SM ist für mich die aktivste Seite von Sex
Wir trafen Marion in einer Großstadt, wo sie gerade eine Woche Urlaub machte, um Gleichgesinnte treffen zu können. Das Interview wurde in der Wohnung eines ihrer Freunde durchgeführt. Sie ist entsprechend ihrer sadomasochistischen Interessen ganz schwarz gekleidet,
trägt hohe Stöckelschuhe, ist dezent geschminkt, hat aber grell rote Fingernägel. Marion hat
ein ruhiges, freundliches und selbstsicheres Auftreten. Im sadomasochistischen Arrangement
nimmt sie vorzugsweise die masochistische Rolle ein. Ihre dominanten Phantasien lebt sie nur
sehr selten aus.
Lebensumstände
Zum Zeitpunkt des Interviews ist Marion 36 Jahre alt und lebt ohne festen Partner in einer
Großstadt. Sie ist als Freiberuflerin mit akademischem Abschluss tätig.
Biographischer Hintergrund
Nach ihrer Erziehung, Kindheit und Jugend befragt, weiß Marion nichts besonderes zu berichten, was ihrer Meinung nach im Zusammenhang mit SM stehen könnte. Über ihre Eltern sagt
sie: Meine Eltern hatten nicht viel Zeit, waren ganz freundlich zu mir. Ich hatte ein kühleres
Verhältnis zu meiner Mutter. Zwischen mir und meinem Vater gab es eine ziemlich heiße Liebe. Marion gibt aber an, dass sadomasochistische Phantasien und Vorstellungen bei ihr schon
sehr früh vorhanden gewesen seien: In meiner Kindheit war das so lange ich denken kann da.
Es war Sexualität und hatte damals aber noch keinen Namen. Es war etwas, das immer viel
mit Macht zu tun hatte. (...) Ich weiß nicht, ob mir jemand meine Neigungen eingeredet hat.
Wenn es mir jemand eingeredet hat, dann war das wohl schon im dritten Lebensjahr.
Zugang und Erfahrungen
Obwohl es Marion mit 15 Jahren eigentlich schon bewusst war, wo ihre sexuellen Interessen
liegen, hat sie bis zum Erwachsenenalter keine Anstrengungen unternommen, diese zu realisieren. In Hochschul- und Studentenkreisen, in denen sie sich lange Zeit bewegte, war es
206
nicht üblich, diese Art der Sexualität zu diskutieren, geschweige denn zu praktizieren. Erst im
Alter von 25 Jahren machte sie ihre ersten praktischen Erfahrungen. Sie begegnete einem
Mann, der sie dominierte: Ich bin vor knapp zehn Jahren, da war ich 25, einem Mann begegnet, der sowieso eine sehr starke erotische Ausstrahlung auf mich hatte. Der hat mich dominiert, also in einer eher soften Art und Weise. Er hat mir die Hände gefesselt und dann einfach sein Spiel gespielt. Und ich habe gemerkt, indem er sein Spiel spielt, war das für mich
ein phantastisches Erlebnis. Als ob sich die neue Welt für mich real macht. (...) Ich hatte Spuren an den Handgelenken und ich war ungeheuer stolz darauf, weil ich dachte ‚Ich habe
meins gefunden’. Der vorsichtige Versuch, mit anderen über diese Erfahrung zu reden, schlug
jedoch fehl, woraufhin sie für eine lange Zeit keine Anstrengungen unternahm, diese Erfahrung zu wiederholen: Das war die Zeit Ende der siebziger in die achtziger Jahre rein, wo ich
auch in Zusammenhängen gelebt habe, die man als Alternativbereich bezeichnen kann. So in
der Frauenbewegung und alles, was da so dran hing. Und da war so ziemlich das letzte, was
angesagt war, zu thematisieren, dass Macht in der Sexualität Lust machen kann. (...) Es waren nur tastende Versuche, Ansprechpartner zu finden und ich habe sie nicht gefunden. So
ergab es sich, dass sadomasochistische Sexualität für Marion wieder einige Jahre tabu war.
Ausschlaggebend hierfür war auch die Schwierigkeit, einen entsprechenden Partner zu finden:
Ich bin nie auf jemanden getroffen, der mir da entsprochen hätte und ich habe auch keinen
Weg gesehen, aktiv zu suchen. Weil, man erkennt einander nicht, man sieht es sich nicht an.
(...) Ich wusste aber die ganzen Jahre ‚Das ist mein Ding und das bin ich eigentlich’. Ich kann
Sexualität ansonsten auch genießen, aber je softer es ist, umso langweiliger ist es eigentlich
und im Grunde suche ich was anderes. Geändert hat sich diese Situation für Marion im Alter
von 33 Jahren, als sie zum erstenmal auf eine codierte Kontaktanzeige in einer allgemeinen
deutschen Tageszeitung antwortete, in der zwei Männer eine Geliebte suchten. Hieraus entwickelte sich eine Dreierbeziehung, die drei Monate dauerte. Zu einem der beiden Männer hatte
Marion darüber hinaus eine längere Beziehung, in der sie ihre sadomasochistischen Neigungen ausleben konnte: Und dieser eine Mann, der sozusagen übrig blieb, mit dem ich lange
noch Kontakt hatte, der hat eine ausgeprägt sadomasochistische Ader. Er liebt Fesselspiele,
er liebt es auch zu schlagen und er hat auch die andere Seite in sich, dass er auch unterworfen werden will. Und mit dem hatte ich die letzten zweieinhalb Jahre eine ganz lockere Beziehung. Wir haben uns alle vier, sechs oder acht Wochen getroffen. Das war ein ganz lockeres
Verhältnis. Damit war für mich der Weg offen, das zu leben, was ich will.
Seitdem lebt Marion ihre Neigungen regelmäßig aus und hat ihre Interessen und Aktivitäten
in diesem Bereich ständig weiterentwickelt. Abgesehen von ihrer szenetypischen Kleidung
hat sie sich spezielle Kleidungsstücke und Werkzeuge zugelegt: Ich habe eine schwarze Ledercorsage und auch noch Geschirr, ach das kennt ihr bestimmt. Das ist so ein Konstrukt aus
207
Lederriemen mit Nieten, was dann z.B. nur so um die Brüste rumgeht mit einer leichten Kettenkonstruktion dann noch dabei. (...) Und was für mich ein sehr erotisches Objekt ist, das
sind lange Lederhandschuhe. (...) Ich habe für den einen Mann ein Halsband gekauft. Dann
habe ich mir ein Teil machen lassen. Das ist etwas ganz Besonderes. Eine Art Gürtel mit zwei
Kunstgliedern. Ich kann mir eines reintun und ich kann damit gleichzeitig jemand anders vögeln. Das finde ich als ein sehr reizvolles Instrument. Darüber hinaus manifestiert sich Marions Interesse an sadomasochistischen Sexualpraktiken auch im literarischen Bereich. Sie liest
sehr gerne und viel. Zeitschriften spielen für sie ebenso eine Rolle wie Bücher: Ich lese die
‚Schlagzeilen’ und so ziemlich alles, was mit SM zu tun hat und was ich nicht sofort als größten Blödsinn in die Ecke stelle. Größter Blödsinn sind für mich die ganz dümmliche Sorte von
Pornos, halt dumm geschriebene, platte Geschichten. Meistens von Männern mit wenig Einfühlungsvermögen in einer nur pur pornographischen Art und Weise. Also ich will jetzt nicht
die ganze Pornokritik der Frauenbewegung runterleiern, aber das ist es im wesentlichen. Also
alles, in dem man nicht die Feinheit und das Spielerische und die Lust finden kann, die Sachen tu ich weg. Ansonsten lese ich alles, was mir dazu in die Finger kommt. Ich mag auch
Pornos, wenn sie gut sind. SM-Pornos, aber auch andere. Marion hat zu zwei organisierten
SM-Gruppen Kontakt aufgenommen; einen Zirkel gibt es in der Stadt, in der sie lebt, eine
andere Gruppe ca. 500 km von ihrem Wohnsitz entfernt, was aber insofern für Marion unproblematisch ist, als sie dort bei einer Freundin wohnen kann.
SM-Identität und Alltagsrolle
Der Kontakt zu Gleichgesinnten war für Marion von zentraler Bedeutung, erfuhr sie hier doch
zum erstenmal die positive Bewertung eines von der Gesellschaft als ‚deviant’ definierten
Bereiches und damit die Entlastung von Schuldgefühlen und Konflikten: Ich fand und finde es
immer noch sehr, sehr schwer es zu leben. Worunter ich einfach sehr gelitten habe war die
Einsamkeit, dass ich mit meiner Art von Sexualität alleine bin. Ich konnte mit diesem Mann zu
tun haben und ich konnte versuchen, sonst über Anzeigen Kontakt zu Männern zu finden. Aber
all das, was ich dabei erlebt habe, es waren wunderschöne Sachen und auch beschissene Geschichten, die mussten in mir drin bleiben, weil ich keinen Weg gesehen habe, es meinen
Freundinnen oder Bekannten gegenüber zu erzählen. Weil ich gemerkt habe, dass das auf
sehr viel Unverständnis stößt und weil ich niemanden zu missionieren habe und ich bin auch
nicht sehr exhibitionistisch, dass ich das jetzt ausbreiten müsste an jedem Tisch. Und das hat
dazu geführt, dass ich in mir sehr verkapselt war. (...) Und vor gut vier Wochen habe ich dann
meinen ganzen Mut zusammen genommen. Ich wusste, dass es die Szene-Zeitschrift gibt und
habe sie gelesen und wusste, die machen ein Fest und wusste auch, dass es einen Stammtisch
208
gibt und habe meinen ganzen Mut zusammen genommen und bin für eine knappe Woche nach
[Stadt] gefahren und bin in einem großen Kraftakt dann zu diesem Stammtisch gegangen.
Und es ist sehr, sehr schön für mich, die Leute hier kennengelernt zu haben. Weil es das erstemal in meinem Leben einfach normal gesehen wurde. (...) Es hat mich sehr frei gemacht, zu
wissen, dass ich mit den Leuten hier, die ich sehr mag, über alles reden kann, wie es gute
Freunde tun oder gute Bekannte. Also es fiel mir ein Stein vom Herzen.
Für Marion sind sadomasochistische Sexualpraktiken unweigerlich Akte von Gewaltausübung, die aber, und das ist für sie entscheidend, freiwillig und mit dem Bewusstsein von
Dominanz und Unterwerfung geschehen: SM ist Gewalt, selbstverständlich. Für mich ist es
aber eine immer einverständliche und spielerische Gewalt, die zwei Leuten Lust macht. (...)
Diese Entscheidung ist immer freiwillig. (...) Da sollte mir mal einer unterkommen, der mich
zwingt, nein, das geht nicht. Das ist ein Geschenk, was ich jemandem mache. Sie wendet sich
entschieden gegen feministische Thesen, wonach Sadisten brutal und Masochistinnen bedauernswerte Geschöpfe seien und formuliert ein ausgesprochen positives Männerbild: Dass die
Sadisten potentielle Vergewaltiger sind, kann ich nicht bestätigen. Meine einfühlsamsten
Liebhaber hatte ich unter diesen Menschen gefunden. Ich habe, um es zu generalisieren, da
Menschen getroffen, die sehr viel feiner und sensibler mit meinem Körper umgehen und sehr
viel besser rauskriegen, was gut ist für mich und die sich mehr Zeit lassen und viel weniger
auf sich gucken als viele andere Männer, mit denen ich zu tun hatte. Und potentielle Vergewaltigungssituationen, wo es wirklich gegen meinen Willen ging, die habe ich im Bereich des
sogenannten normalen Sex erlebt. Und der Behauptung von den armen Kreaturen widerspreche ich auch. Gerade in ihrer passiven Rolle innerhalb eines sadomasochistischen Spiels sieht
sie die aktive Seite ihrer Sexualität: SM ist für mich - auch wenn ich in der masochistischen
Rolle bin - die aktivste Seite von Sex, die es überhaupt gibt. Mich in halb zugesoffenem Kopf
mit irgendjemand in der Wohnung aufs Bett zu legen, da gehört nicht viel Verantwortung von
mir für mich dazu. Diese Sachen brauchten keine Entscheidung. Aber mir zu sagen und zu
spüren, wenn ich jemandem begegne, dass ich diesem Menschen vertraue, dass ich mir von
diesem Menschen die Augen verbinden lasse, dass ich mich von diesem Menschen in einen
Raum führen lasse, den ich nicht kenne, das ist etwas anderes. Diese Sorte von Ausliefern,
das ist eine so bewusste Entscheidung, da muss ich ‚Ja’ sagen und zwar ohne wenn und aber.
Das ist die bewussteste Entscheidung für das, was passiert überhaupt. Das ist etwas Doppelseitiges: Auf der einen Seite sieht es so aus, als ob ich die Verantwortung völlig abgebe, so
‚Ach, ich habe ja nix damit zu tun und bin ja gefesselt und was da passiert war ist überhaupt
nicht mein Ding gewesen’. Das mag irgendwo auch ein Element davon sein, aber ich denke es
ist viel komplizierter, weil bevor ich mich in dieser Situation befinde, ich mich entscheiden
muss, mich für diese Situation zu vergeben. (...) Ja, das ist eine schwierige Sache mit den
209
Begriffen. In dem Moment, wenn eine Frau sagt, ‚Ich könnte mir es jetzt toll vorstellen, wenn
Du dies und jenes machst, wenn Du mich jetzt fesselst’, dann mag dieses Fesseln ganz furchtbar passiv aussehen und irgendwo auch so sein, als Konsequenz. Aber das zu sagen, das heißt
ja, ‚Ich bin hier und ich will was. Ich will was für mich und ich habe einen Vorschlag. Ich will
das jetzt kriegen’. Und das ist das Aktive und das Offensive. (...) Ich bin gar nicht in der
machtlosen Position. Es ist nämlich ganz genau umgekehrt. Ich fühle eine große Macht, gerade dadurch, wenn ich mich in die passive Rolle begebe. Es ist im Endeffekt immer mein Spiel
und er hat zu tun, was ich ihm befehle. Wenn es ihm dabei auch gut geht, dann ist das ja sehr
schön. (...) Ich habe gelegentlich festgestellt, dass manche Männer von meiner Sexualität erschrocken waren, also dass ich offenbar in dem, wie ich mich sexuell verhalte, für viele Männer zu offensiv bin. Damit scheinen manche Männer Probleme zu haben.
Marions passive Rolle im sadomasochistischen Arrangement ist ausschließlich auf den spielerischen Rahmen beschränkt. Masochismus, Passivität und Willenlosigkeit dem Partner gegenüber haben für sie nichts im Alltag von Beziehungen zu suchen. Dementsprechend gestaltet sich ihr Verhalten: Selbstverständlich halte ich jemandem, der zwei Tüten trägt, gerne die
Tür auf. Selbstverständlich stehe ich auch gerne in einer Runde auf, um das Salzfäßchen zu
holen. (...) Ich habe in meinen Beziehungen beispielsweise niemals die Hausarbeiten, Spülen
und so, niemals alleine gemacht. Das mag es durchaus geben. Ich habe auch schon solche
Frauen kennengelernt. Aber das ist nicht mein SM und das, was ich mir darunter vorstelle
und wo die Grenzen sind. Ich höre auch von Frauen, die sich von ihrem Typen befehlen lassen, wann sie das Haus verlassen dürfen und wann nicht und solche Geschichten. Das übersteigt mein Vorstellungsvermögen. Ich kann nur versuchen, das so hinzunehmen und zu sagen
‚O.k., so etwas gibt es also auch in der Welt’. Das hat aber mit meiner SM-Geschichte nichts
zu tun und ich könnte mir auch nicht vorstellen, dass es irgendwann so sein würde. Das wäre
ja langweilig. Das ist ausgeschlossen. (...) Um mich von einem Mann dominieren zu lassen,
grenze ich für die Situation einen Anfang und ein Ende ab. Ganz klar. Es gibt immer mal Situationen, wo man mal beim Kaffeetrinken kleine Anspielungen macht oder ansatzweise ein
Spiel macht. Z.B. dass jemand Kaffee verschüttet und der andere sagt im Scherz ‚20 Stockschläge’. Das ist dann auf der einen Seite so was wie ein Insiderjoke, auf der anderen Seite ist
es aber auch wie ein Flirten miteinander. Und das sind die einzigen Punkte, wo sich Grenzen
verwischen können. Im alltäglichen Leben definiert sich Marion als eine selbstbewusste Frau,
die sich für eine Sache engagieren kann. Ihre bisherigen politischen Aktivitäten mögen hierfür
als Beleg gelten: Ich komme aus der Gewerkschaftsjugendbewegung, war jahrelang in kommunistisch-dogmatischen Gruppen und auch in der Frauenbewegung. Auch wenn sie im Bereich der Politik mittlerweile nicht mehr so aktiv ist, weiß sie dennoch ihre Meinung im Be-
210
reich des links-alternativen Spektrums zu vertreten und persönliche Interessen im Allgemeinen durchzusetzen.
Marion empfindet es als besonders unangenehm, im Geheimen agieren zu müssen, um überhaupt einen Partner finden zu können und wünscht sich für die Zukunft einen offeneren Umgang mit sadomasochistischen Sexualpraktiken, der das Finden eines geeigneten Partners ermöglicht: Ich kann also nur nochmal sagen, dass es nur mit äußersten Schwierigkeiten verbunden ist, einen Partner zu finden. Die Anzeigengeschichte ist komisch. Sie ist zeitraubend
und das einzige gemeinsame ist ja zunächst einmal, dass man die gleichen sexuellen Vorlieben hat, sonst aber nichts. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ich auf jemanden treffe, der mich
nicht reizt, der mir nicht schmeckt, der mir nicht gefällt, wo keine Gemeinsamkeiten sind. Es
wäre mir lieber, ich könnte jemanden anders kennenlernen. Viel lockerer, ungezwungener.
Bisher blieb mir aber nichts anderes übrig. Ich hoffe, es wird sich in Zukunft ändern.
Für Marion spielt es überhaupt keine Rolle, wo ihre sadomasochistischen, insbesondere ihre
masochistischen Neigungen herrühren. Das einzige, was ihrer Meinung nach zählt, ist, ob es
für die betreffende Person ein positives oder negatives Erlebnis bedeutet. In diesem Zusammenhang wendet sie sich gegen jedweden (feministischen) Dogmatismus, der Frauen das
Recht auf sexuelle Selbstverwirklichung abspricht: Wenn Feministinnen sagen, Masochismus
wäre der Frau anerzogen und es ist ja gar nicht ihr eigener Wunsch, da muss ich doch erst
einmal fragen, was das Kriterium für den eigenen Wunsch ist. Also da scheint mir umgekehrt
bei der Fragestellung der Wunsch der Vater des Gedankens gewesen zu sein. Es ist mir im
Moment auch ziemlich egal, wie sie es sehen und wo das herkommt: ob das was Angeborenes
ist, ob in meiner Kindheit etwas gelaufen ist, was dazu geführt hat, ob es mir jemand eingeredet hat. Ich weiß, was ich will und dass es mir gut tut. Und ich spreche jedem das Recht ab, in
dem Bereich der Sexualität eine Ideologie drüber zu stülpen. Für manche Frauen mag das
Ganze schlecht sein. Für wieder andere Frauen sind Ehen schlecht oder sie leben oft in lesbischen Beziehungen oder haben keinen Typen. Der einzige Maßstab ist aber doch, ob es mir
gut geht. Ich bin erwachsen genug und habe lange genug Sexualität gelebt, um zu wissen, was
mir gut tut.
1.9.2.6
Frauen zwischen Dominanz und Submission
Die dargestellten Fälle zeigen, dass sich für Frauen mit sadomasochistischen Neigungen keine
ähnlichen oder gar einheitlichen Muster in Kindheit und Jugend nachzeichnen lassen. Insbesondere die Erziehungserfahrungen sind divergent. So finden sich sowohl bei sexuell dominanten als auch passiven Frauen autoritäre und liberale Erziehungsstile. Das gleiche gilt für
211
die Erziehungsinhalte, die sich im Spektrum zwischen der Vermittlung tradierter und emanzipierter Weiblichkeitskonzepte bewegen. Vanessa, eine in ihrer Sexualität sowohl masochistische als auch sadistische Frau, war in ihrer Kindheit der autoritären Erziehung ihres Adoptivvaters ausgesetzt. Im schulischen Bereich erwartete man von ihr - ebenso wie von ihren Brüdern - gute Leistungen. Carmen, eine Domina, wurde von ihren Eltern sehr offen erzogen,
berichtet aber von prägenden Erlebnissen (dem Ehebruch ihrer Eltern), die sie im Zusammenhang mit ihrer dominanten Neigung sieht. Für Eva, ebenfalls eine Domina, wäre es aufgrund
ihrer autoritären Erziehung in der Nachkriegszeit denkbar gewesen, eine Masochistin zu werden. Dorothea, auch sadistisch orientiert, wurde von ihrer Mutter sehr religiös erzogen und
litt unter den Spannungen in der elterlichen Ehe. Für Maria, eine Sklavin, lassen sich keine
autoritären Familienstrukturen nachzeichnen. Sie wurde bewusst und konsequent zur Selbständigkeit und materiellen Unabhängigkeit von einem Mann erzogen und Marion, masochistisch orientiert, kann nichts Spektakuläres aus ihrer Kindheit berichten und wurde von ihren
Eltern ‚normal’ und ohne besondere Auffälligkeiten erzogen.
Sicherlich ist mit den Eltern nur ein Teil der möglichen Sozialisationsagenten angesprochen Schule, Beruf, Freizeit, Medien etc. kommen im Entwicklungsprozess ebenfalls maßgebliche
Bedeutung zu -, aber es wird deutlich, dass eine lineare Kausalität zwischen den Erfahrungen
aus der Sozialisation und der sadomasochistischen Orientierung nicht besteht. Hinzu kommt:
Wenn geschlechtsspezifische Sozialisationserfahrungen für weiblichen Masochismus verantwortlich wären, müssten - dieser These entsprechend - Männer, die in einer patriarchalen Gesellschaft genau die gegenteiligen Erfahrungen machen, eher sadistisch orientiert sein. Dass
dem nicht so ist, beschreibt bereits Reik (1941/1977). Er sieht den Masochismus als die häufigste Perversion bei Männern, wohingegen er seiner Meinung nach bei Frauen äußerst selten
ist. Neuere Untersuchungen weisen ebenfalls darauf hin, dass vor allem Männer die Lust am
Schmerz suchen. So schreibt beispielsweise Weinberg (1983, S. 107): “An interesting phenomen in the sadomasochistic world is what appears to be an overrepresantation of ‘dominant’ women and ‘submissive’ men. (...) The presence of high proportions of dominant
women and submissive men in a society in which men are supposed to be aggressive and
women are defined as passive presents an interesting paradox (...).”
Auch wenn sadomasochistische Sexualpraktiken nicht selten durch einen Mann angeregt werden, machen sich die Frauen häufig von der Fremdinitiation frei und entwickeln einen eigenen
Stil im Umgang mit der schwarzen Sexualität. Für den weiblichen Sadomasochimus lassen
sich, genau wie beim männlichen Pendant, bestimmte Habitusformen und spezialkulturelle
Integrationen aufzeigen. Vanessa ist in eine organisierte Szene eingebunden. Sie engagiert
sich in einem Arbeitskreis für Sadomasochismus und nimmt regelmäßig an verschiedenen
Veranstaltungen wie Feten und Gesprächsabenden im Rahmen von SM teil. Als wir sie inter212
viewten war sie gerade dabei, eine Frauengruppe zu organisieren, um frauenspezifische Probleme zu diskutieren. Unabhängig von den Interessen ihres Partner suchte Carmen den Kontakt zu einem professionellen Domina-Studio, wo sie ihre Neigungen heute realisiert. Trotz
schlechter Erfahrungen und der zeitweisen Distanzierung vom Sadomasochismus hat Maria
zum Masochismus zurückgefunden und nimmt, ebenso wie Vanessa, an verschiedenen Gruppenveranstaltungen teil. Nachdem Eva den Zugang zu SM über ihren Ehepartner gefunden
hat, verselbständigte sich auch ihr Interesse. Neben ihrer Verbindung zu verschiedenen Sklaven, betätigt sie sich innerhalb der SM-Szene als Schriftstellerin für Magazine und Zeitschriften oder stellt Photos zur Veröffentlichung zur Verfügung. Dorothea hat ihr Interesse an SM
unabhängig von einem Partner intensiviert und kultiviert, was sich in dem Umbau ihres Hobbyraumes zu einem SM-Studios ausdrückt. Marion hat sich diverse Werkzeuge und Kleidungsstücke zugelegt, was als Ausdruck ihres eigenen Wunsches gewertet werden kann.
Bezüglich der Intensität der Praktiken des Erlebens lassen sich keine Unterschiede feststellen.
Zwar gelangt das American Psychiatric Association’s 1980 Diagnostic Manual of mental Disorders (DSM-III) in diesem Zusammenhang zu der Auffassung, dass härtere Formen des
Sadismus bei Frauen praktisch nie beobachtet wurden (vgl. Mass 1983), aber die Tatsache,
das solche Verhaltensweisen bislang nicht beobachtet wurden, bedeutet noch nicht, dass es sie
nicht gäbe. Wir konnten bezüglich der Härte der präferierten Praktiken keine Unterschiede
zwischen sadistischen Männern und Frauen feststellen. Gleichzeitig wird aber deutlich, dass
die Möglichkeiten, solche Interessen auszuleben, für dominante Frauen wesentlich günstiger
sind als für Männer. Die Dominas - ob mit oder ohne finanzielle Interessen - sind die Königinnen in der SM-Szene, die häufig ihren eigenen Hofstaat an masochistischen Männern und
Sklaven haben. Carmen, die ‚Freizeitdomina’ besucht regelmäßig sogenannte Damenzirkel
in einem Dominastudio, wo sich masochistische Männer dominanten Frauen bedingungslos
und ohne Limits ausliefern müssen. Eva hat neben ihrem festen Lebenspartner Sklaven, die
sie regelmäßig für einen Tag besucht, um ihre sadistischen Bedürfnisse zu befriedigen. Ähnlich Vanessa, der ebenfalls mehrere Sklaven zur Verfügung stehen und Dorothea hat seit
über 30 Jahren einen festen Zirkel von passiven Männern um sich geschart, die sie entsprechend ihren Vorstellungen dominiert. Diese hier genannten Frauen sind keine Einzelfälle,
sondern durchaus typisch für Sadistinnen, die sich in der Szene bewegen.
Die Logik patriarchaler Unterdrückung verlängert sich also nicht (um es noch einmal zu wiederholen) - zumindest was die von uns untersuchte SM-Szene angeht - in den sexuellen Bereich. Auch ist der Sadomasochismus nur ein Teilaspekt des jeweiligen Identitätsentwurfs.
Wenn eine Frau in ihrer Sexualität gerne devot sein möchte, bedeutet das nicht zwangsläufig,
dass dies ein Weg ist, ihre eigene Unterdrückung in anderen Bereichen lustvoll zu erleben,
etwa im Kontext beruflicher Abhängigkeit. Vanessa ist eine selbständige, beruflich erfolgrei213
che und finanziell unabhängige Frau, und nimmt im sexuellen Bereich dennoch gerne die passive Rolle ein. Maria ist ebenfalls finanziell unabhängig und kann trotz ihrer Sklavinnenrolle
in der Freizeit noch eigene Bereiche haben. Auch Marion, die Masochistin, ist beruflich und
finanziell unabhängig und betrachtet ihre passive Sexualität nur als einen, von ihrer restlichen
Identität unabhängigen Bereich. Umgekehrt sind sexuell dominante Frauen im Alltag nicht
unbedingt dominant. Carmen, und Dorothea, die Dominas, führen mehrere Leben: Im sexuellen Bereich sind sie dominant, möchten diese Verhaltensweisen im Alltag jedoch vermeiden. Eva ist mit ihrer Rolle als Mutter und Hausfrau rundum zufrieden, aber dennoch finanziell abhängig von ihrem Mann. Die Beispiele zeigen, dass masochistische oder sadistische
Frauen weder notwendigerweise das Heimchen am Herd noch die Karrierefrau sind, also ihre
Familien- und Berufsrollen in die Sexualität weder verlängern noch kompensieren.
214
2. Paintballspieler - Normalität unter Gewaltverdacht
Ein Waldstück in Deutschland. Menschen in Overalls, Geländestiefeln und Masken robben Hügel hinauf, verstecken sich im Dickicht. Plötzlich - Schüsse hallen
wie aus Maschinengewehren.
Eine militärische Übung als Vorbereitung auf eine kriegerische Auseinandersetzung oder gar
der Ernstfall? Das sicherlich könnte man vermuten, wüsste man nicht, dass diese Szene Momente eines Paintball-Turniers beschreibt, an dem ich im Sommer 1996 teilgenommen habe.
Innerhalb der allgemeinen Gewaltdebatte gibt es heftige Diskussionen um Paintball oder
‘Gotcha’, einem Phänomen, das nach weit verbreiteter Meinung die ohnehin zunehmende
Gewaltbereitschaft forciert, gesellschaftliche Werte und Ordnungen, ja den sozialen Frieden
gefährdet. In der Regel handelt es sich um junge Männer, die hier aktiv sind und denen Gewaltaffinität und aggressives Handeln unterstellt wird. So werden Paintball- oder Gotchaspieler häufig als aggressive Militaristen oder selbsternannte Rambos bezeichnet, und mit der
Skinheadszene, neonazistischen Wehrsportgruppen oder Söldnertrupps in Verbindung gebracht, die auf diese Weise militärische Übungen absolvierten. Jugendschützer befürchten, die
Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft werde durch solche Spiele weiter zunehmen.
Paintballspieler sind mit waffenähnlichem Equipment, sogenannten ‘Markierern’113 ausgerüstet, die es erlauben, mit bunten Farbkugeln aus Gelatine (die zuweilen mit Erdbeer- oder Pfefferminzgeschmack versehen sind) auf die Spieler der gegnerischen Mannschaft zu schießen.
Beim Aufprall platzen diese Kugeln und hinterlassen einen oft neonfarbenen Farbfleck
(‚Splash’). Sie ‘markieren’ somit den Gegenspieler, der dann das Spielfeld verlassen muss
und für den Rest des Spiels ausscheidet.
113
Im Rahmen des Waffengesetzes sind Markierer ab dem 18. Lebensjahr in Spezialgeschäften oder über den
Versandhandel erhältlich.
215
Abb.: Markierer und Paintballspieler mit Markierer und Schutzausrüstung
(Quellen: www.paintball.de und CD- Fotosammlung ‘Xtreme sports’, Jörg Höhle )
Diese quasi-kriegerische Handlung ist Dreh- und Angelpunkt der kritischen Diskussionen um
dieses Spiel. Schlagworte wie ‚Kriegsverherrlichung’, ‚Nationalsozialismus (Rechtsradikalismus)’ und das ‚Schießen auf einen Menschen’ kennzeichnen die Richtung der Kritik. Personen als Zielobjekt seien nicht zu akzeptieren, so die Gegner, da hier gegen die Würde des
Menschen, und somit gegen das Grundgesetz, verstoßen werde. Daran ändere sich auch dadurch nichts, dass keine scharfe Munition zum Einsatz kommt, sondern nur Farbkugeln.
Schlagzeilen wie ‘Sport oder Mord?’ dokumentieren den Stand der Diskussion und die Emotionalität, mit der dieses Thema behandelt wird. Durch die Aburteilung in der Öffentlichkeit
geraten die Paintballfans unter einen hohen Rechtfertigungsdruck.
Die ablehnende Haltung gegenüber Paintball und einer sich hierzulande etablierenden Szene
ist nicht nur emotional-kognitiv, sondern zeigt sich auch am konkreten Widerstand des Umfeldes: Vor allem Schwierigkeiten bei der Suche nach einem geeigneten Spielfeld machen den
Paintballern zu schaffen. Aber auch mit einer Reihe von Anzeigen und juristischen Verfahren
sehen sich die Akteure konfrontiert, teilweise mit den entsprechenden finanziellen Konsequenzen.114 Bemühungen der Spieler, Paintball aus dem Bereich des Subversiven zu lenken,
laufen ins Leere oder fruchten nur sehr langsam. Was bleibt, ist der Rückzug auf privaten Boden oder, das ist üblich, die Militärgelände der ‘Alliierten Streitkräfte’ (vor allem amerikanische und britische Einrichtungen) als Ausweichmöglichkeit zu nutzen.
Ungeachtet dessen hat sich Paintball über Amerika und England auch in Deutschland verbreitet und auch hierzulande seit Anfang der neunziger Jahre eine funktionierende Szene etabliert,
114
Zur Finanzierung der juristischen Auseinandersetzungen hat die Paintball-Szene einen Spenden-Fonds eingerichtet, der bereits bis zum Mai 2000 weit über 60.000 DM erbracht hat.
216
die über eigene Medien verfügt und miteinander kommuniziert. Die Magazine ‘GotchaSports’ und ‘Xtreme-Sports - Paintball & More’ (erscheinen regelmäßig ca. halbjährlich) liefern dem Interessierten viele wichtige Informationen: Händleradressen und Shops, regionale
Übersichten der besten Spielfelder (Indoor und Outdoor), technische Informationen zu Ausrüstungsgegenständen (Markierer, Masken, Schutzbrillen, Anzüge), Events und Termine, aktuelle Tournament-Rankings, Teamübersichten regional sortiert nach Postleitzahlbereichen
(Namen, Anschriften, Telefon/Fax, e-mail/Internet), Erfahrungsberichte und Reportagen von
Turnieren und Ligaspielen, ‘News Ticker’, Kleintanzeigen (Verkäufe, Kaufgesuche, Kontakte), Hintergrund-Infos ‘Was ist Paintball?’/Historie und vieles mehr.
Dazu einige Beispiele aus dem Inhalt von ‘Gotcha - Das Paintball-Magazin’,115 Ausgabe
4/97 (August/September): „Was ist Paintball? Fragen und Antworten; Paintball und die Medien; Liga Süd; 5. Eastern Trophy ‘97 - Turnierbericht aus Berlin; Who is Who?; Spielfeldtest; Procuct News; Clubverzeichnis; Paintball Flohmarkt.“
Im Internet gibt es mittlerweile eine Vielzahl an Homepages, wie Pommerening (in: Gotcha
3/97, S. 32) unter der Überschrift „News From Paintnet“ treffend bemerkt:
„Bislang waren nur sehr wenige deutsche Homepages im Internet zu finden. Was
sich jetzt aber in den letzten Wochen auf diesem Sektor getan hat, ist einmalig.
Immer mehr deutsche Paintballer oder Vereine bringen ihre eigene Homepage ins
Internet (...) Hier wird alles geboten und gezeigt, was unseren Paintballsport so
attraktiv macht.“
Das Ergebnis meiner Recherche vom August 1996 im Internet nach Eingabe der Suchbegriffe
‘Paintball’ oder ‘Gotcha’ war negativ. Um damals entsprechende Angebote im Internet zu
finden, war die Kenntnis von ‘Adressen’ notwendig. Bereits ein Jahr später (September 1997)
wurden mir über die Suchmaschine Yahoo.com nach Eingabe des Suchbegriffs ‘Paintball’
294 ‘Site-Matches’ angezeigt. Im Juni 2001 schließlich erscheinen zu diesem Stichwort 346
Treffer. Nahezu alle größeren Clubs und Vereine haben zum Teil recht professionelle, eigene
Wegpages. Dort gibt es Informationen in Sachen Ausrüstung, Turnier- und Veranstaltungspläne, Erfahrungsberichte sowie Darstellungen des Regelwerks und der unterschiedlichen
Varianten des Paintball-Spiels.
Darüber hinaus gibt es diverse Computerspiele (so z.B. die Paintball-Version des Computerspiels ‘Lemmings’, das mittlerweile Kultstatus erlangt hat) und Videos (Spielfilme und Dokumentationen, Turnieraufzeichnungen). Personen unterschiedlicher Herkunft und Bildung
115
Das Magazin wurde durch die beiden Magazine ‘Gotcha-Sports’ und ‘Xtreme-Sports’ ersetzt.
217
haben sich in Clubs und Vereinen organisiert, um über ‘mediale Trockenübungen’ hinaus
ihrem Hobby zu frönen. Ohne Berücksichtigung kleinerer ‘Splittergruppen’ werden mittlerweile Zahlen zwischen 150 und 160 ‚Teams’ gehandelt. Unter der Rubrik ‚Teams auf einen
Blick’ im Magazin ‚Xtreme sports’ (05/00, S. 38) werden, nach Postleistzahlen sortiert, 138
Zusammenschlüsse von Paintballspielern (Ansprechpartner, Telefon/Fax, e-mail) aufgelistet.
Verschiedene kommerzielle Anbieter im In- und Ausland versorgen die Szene über den Versandhandel oder im Ladenverkauf (Waffenhandlungen) mit dem entsprechenden (‘Outdoor-)
Equipment’ rund um das Paintball-Spiel: Markierer, Ersatzteile und Farbkugeln (die im übrigen in der Szene kurz als ‘Paint’ bezeichnet werden), Schutzmasken, Stiefel, Anzüge, Fahnen, Sticker u.v.m. Einzelne Schätzungen der Szene gehen von 50.000 mehr oder weniger
organisierten Paintballspielern in Deutschland aus. Diese Zahl erscheint mit Blick auf die geschätzte bzw. ermittelte Anzahl der Vereine und Clubs (Teams) jedoch übertrieben.
In den USA und auch im europäischen Ausland vermag Paintball kaum die Gemüter zu erregen. Paintball/Gotcha kommt ursprünglich aus den USA (Gotya gesprochen Gotcha = Slang
für ‘I got you’ - ich habe Dich erwischt!) und ist dort seit Ende der siebziger, Anfang der
achtziger Jahre als Freizeitmuster, Action- und Adventurespiel sehr verbreitet. Gewaltverherrlichung ist dort kaum ein Thema. ‘Martialische’ oder ‘militärische’ Begriffe, die Aggression
bis hin zu tödlicher Gewalt suggerieren (Dead-Zone, Terminators etc.), werden nicht problematisiert und auch nicht tabuisiert. Vielerorts gibt es spezielle Anlagen für Paintballer. Auch
z.B. in England, Frankreich, den Niederlanden, den skandinavischen Ländern und Spanien
(vor allem auf der Ferieninsel Mallorca) gibt es seit Mitte der achtziger Jahre öffentliche
Paintball-Gelände. Vor allem in Japan - bekannt für Videos, Comics oder Computerspiele, die
bizarre Formen des Sex und brutale Aggressionen thematisieren - und vereinzelt in den USA,
werden Extremformen des Paintball popularisiert. Auf Spielfeldern, die Kriegsschauplätzen
aus dem Zweiten Weltkrieg nachgestellt sind, wird z.T. in Original- SS-Uniformen Paintball
gespielt. Die Mehrheit der deutschen wie auch der internationalen Szene – so wurde mir in
verschiedenen Gesprächen berichtet - distanziert sich jedoch von dieser Variante.
Die intraszenischen Differenzen sowie die Reglementierung dieses ‘Spiels’ nach schriftlich
fixierten Richtlinien, welche die Sicherheit und körperliche Unversehrtheit betreffen, werden
von der allgemeinen Öffentlichkeit in Deutschland allerdings kaum wahrgenommen. Ebenso
wenig werden biographische und aktuelle Bezugsrahmen (familiärer Hintergrund, Bildung
und Beruf, soziales Umfeld) der Akteure exakt hinterfragt, um auf diese Weise Thesen hinsichtlich eines Gefährdungspotenzials ableiten bzw. widerlegen zu können. Mitnichten machen sich die schärfsten Kritiker - und hier an vorderster Front besorgte Bewahrpädagogen die Mühe, mehr als wertende Sekundärdaten zur Kenntnis zu nehmen, und sich dem Thema
218
zunächst neutral-explorativ zu nähern. Will heißen: Der Versuch, Betroffene zu Wort kommen zu lassen, zu beobachten und sogar selbst einmal am Geschehen teilzunehmen, um sich
ein Urteil bilden zu können, findet nicht statt.
Dem Phänomen des Paintballspiels wird im Folgenden nachgegangen. Ich möchte die Frage
beantworten, welcher ‘Sinn’ für die Akteure damit verbunden, und wie Gewalt demnach bei
den etablierten Gruppen und Individuen zu verstehen ist.
Zur Empirie
Zwischen 1996 und 2000 hatte ich intensiven Kontakt zur Szene, der vereinzelt auch heute
noch anhält. Insgesamt habe ich fünf Einzelinterviews sowie zwei ausführliche Gruppendiskussionen mit Mitgliedern der deutschen Paintballszene durchführen können. Diese wurden
ergänzt durch eine Vielzahl telefonischer Interviews, teilnehmender Beobachtungen (bei denen ich weitere Kurzinterviews machen konnte), schriftlicher Dokumente, Korrespondenz,
Einsicht in die vereinseigene Datenbank (PC) eines Vereins, Fotos und Video- bzw. Filmmaterial, Szene-Zeitschriften, Presseberichte sowie Recherchen im Internet. Im Wesentlichen
fokussiert die Darstellung der Paintballer auf eine Gruppe, die in der Szene als ‘Little Devils’
bekannt ist. Sie verzichtet bewusst auf Anonymität. Dies hängt - wie noch gezeigt wird - mit
dem Selbstverständnis der Gruppe und der damit verbundenen Öffentlichkeitsarbeit ab. Sie
versucht, Paintball aus dem Bereich des Subversiven zu lenken und einer Kriminalisierung
der Spieler entgegen zu wirken.
Die Little Devils stehen stellvertretend für das Handeln und das Selbstverständnis der Mehrzahl der Paintballspieler der deutschen Szene. Meine Beobachtungen im Rahmen des bereits
erwähnten Turniers sowie Erfahrungen und Erkenntnisse aus meinen Interviews und Gesprächen mit anderen Szenemitgliedern, die nicht zu den Little Devils gehören, erlauben diese
Aussage.
Paintball - Das Spiel
Zunächst einmal ist Paintball eine Freizeitaktivität, die vorzugsweise von Männern, aber auch
von einigen Frauen (in den USA und Kanada gibt es reine Frauenteams) ausgeübt wird. Genauer betrachtet handelt es sich um ein Abenteuerspiel, das nach strengen Regeln und Sicherheitsvorkehrungen betrieben wird, auch wenn dies für den Außenstehenden auf den ersten
Blick nicht so erscheint. Wie im Sport üblich, werden Turniere veranstaltet, Liga-Spiele, Europa- und Weltmeisterschaften durchgeführt.
219
Es gibt unterschiedliche Varianten des Paintballspiels. Gespielt wird jedoch meist im Freien
(seltener in geschlossenen Räumen, wie Kellern oder alten Hallen) auf einem abgegrenzten
und durch ein Netz nach außen gesicherten Spielfeld, das mindestens ca. 40x60 Meter misst.
Paintball im Freien unterscheidet zwischen ‘Woodland’ und ‘Speedball’. Beim WoodlandSpiel umfasst das Spielfeld eine großzügige Fläche in einem Waldgebiet. Die zurückzulegenden Strecken sind z.T. enorm, das Gelände u.U. anstrengend - weil hügelig und dicht bewachsen. Das Spielfeld ist nicht mehr zu überblicken. Speedball hingegen ist auf eine kleine, offene weil überschaubare Fläche begrenzt, und daher - wie der Name vermuten lässt - viel
schneller zu spielen. Speedballfelder können im Rahmen eines Turniers in ein WoodlandSpielfeld integriert sein (siehe Abb. Spielfeldplan).
Abb.: Speedball-Spielfeld mit Sicherheitsabsperrung (Netz) nach außen und Deckungsvorrichtungen/Holzwände (Quelle: Fotosammlung der ‘Little Devils’)
Immer häufiger werden die Spiele auf ‘Sup’Air’-Feldern ausgetragen. Hier bestehen die Deckungsvorrichtungen116 aus aufblasbaren, bunten Barrikaden (pink, gelb, grün, lila, orange
etc.). Die Etablierung dieser Variante kann als ‚Distanzierungsstrategie’ interpretiert werden:
Die bunten Kegel und Zylinder sollen mehr an Kinder-Hüpfburgen denn an Schützengräben
erinnern und verleihen dem Spiel einen komischen Charakter.
116
Dort, wo auf kleineren Spielfeldern gespielt wird, also eher keine ‚natürlichen’ Deckungsvorrichtungen gegeben sind, werden häufig z.B. Strohballen oder Gummireifen aufgestapelt, um sich so vor dem Markieren
durch die Farbkugeln des Gegners und dem Ausscheiden aus dem Spiel schützen zu können.
220
Abb.: Sup’Air-Spielfeld (Quelle: CD- Fotosammlung ‘Xtreme sports’, Jörg Höhle)
Abb.: Marshals und Teams auf Sup’Air-Spielfeld
(Quelle: CD- Fotosammlung ‘Xtreme sports’, Jörg Höhle)
Ungeachtet dieser Unterschiede kann die Grundstruktur des Spiels an folgendem Beispiel
(Woodland) erläutert werden: An einem Spiel nehmen zwei Mannschaften teil (oftmals fünf
Spieler pro Team, je nach dem zwischen zwei und zehn oder mehr Spieler). Jede der Mannschaften erhält eine bunte Fahne. Auf der einen Seite des Spielfelds steht die Fahne von
Mannschaft A, auf der anderen die von Mannschaft B.
221
Abb.: Spielfeldplan (Quelle: Deutscher Paintball Sport Verband - DPSV, Tournament/Game
Regeln)
Ziel des Spiels ist es, die Fahne der gegnerischen Mannschaft zu erobern und sie auf die eigene ‘Flagbase’ zu bringen (und dabei die eigene Fahne gleichzeitig vor dem Gegner zu schützen). Wem das zuerst innerhalb der Spielzeit von in der Regel zwischen fünf und 20 Minuten
gelingt, hat das Spiel gewonnen. Die Akteure haben die Möglichkeit, sich gegenseitig am
Erreichen der Fahne des anderen durch ‘markieren’ zu hindern oder den Gegner noch zu markieren, wenn er sie schon erreicht hat und versucht, sie auf die eigene Base zu bringen. Wer
222
markiert ist (egal, ob an der Ausrüstung oder am Körper), scheidet aus (‚Player is out’). Ein
Schiedsrichter (Marshal) nimmt dem Spieler die Mannschaftsbinde ab und er muss das Spielfeld schnellstmöglich verlassen und sich in die ‘Neutral Zone’ (auch ‘Dead Zone’ oder ‘Dead
Man’s Zone’ genannt) begeben. Beim Verlassen des Spielfeldes muss der Spieler eine oder
beide Hände über den Kopf heben und darf weder mit seinen Teamkollegen kommunizieren
noch ‘Paint’ oder ‘Markierer’ austauschen. Auch in der neutralen Zone ist das Verhalten weiter reglementiert: Die Spieler müssen sich - wie der Name schon sagt - ‘neutral‘ verhalten,
dürfen ihrer Mannschaft weder Tipps zurufen noch am Markierer, der hier abgelegt werden
muss, ‘herumspielen’ bzw. dürfen keine Veränderungen vornehmen.
Die Little Devils
Ich habe die ‘Little Devils’ über zweieinhalb Jahre (bis Anfang 1999) begleitet. Dabei konnte
ich zu fast allen Gruppenmitgliedern Kontakt aufnehmen. Mit sechs Mitgliedern wurden ausführliche Gespräche in Interviews und Gruppendiskussionen geführt, mit den anderen Kurzgespräche, die als Gesprächs- und Gedächtnisprotokolle in die Auswertung mit eingeflossen
sind. Die Teilnahme an einem Wochenendturnier, an Clubtreffen etc. ermöglichte die Beobachtung von Kleidungsstilen, Sozialverhalten oder auch Gruppenstrukturen- und hierarchien.
Es handelt sich bei dieser Gruppe um einen eingetragenen Verein, dessen 15 Mitglieder mit
einer Ausnahme junge Deutsche sind. Sporadisch kommen einige Interessierte zu Besuch, so
dass noch ungefähr fünf Personen als lose assoziiert mitgerechnet werden können. Die Little
Devils sind in der Paintballszene bekannt und haben ein gutes Image als faire Spieler und engagierte Szenemitglieder. Das jüngste Gruppenmitglied ist 18, das älteste 36 Jahre alt. Die
meisten sind Anfang bis Mitte 20. Der harte Kern resp. die Gründungsmitglieder kommen aus
Reutlingen, einer Kreisstadt mit ca. 130.000 Einwohnern, oder der näheren Umgebung.
Typisch ist, dass die jungen Männer ohne besondere biographische Auffälligkeiten sind:
‘normale’ junge Erwachsene, die noch in der Ausbildung sind oder einer geregelten beruflichen Tätigkeit nachgehen. Die Unauffälligkeit und biographische Normalität innerhalb dieser
Gruppe deckt sich mit meinen Beobachtungen innerhalb der gesamten Szene, die ich im
Rahmen der ‚Bielefeld open’ und den verschiedensten Kontakten und Gesprächen machen
konnte: Familienväter, die mit Ehefrau, Kind, Kinderwagen und Kombi unterwegs sind und
Unternehmersöhne, die den väterlichen Dachdeckerbetrieb leiten, sind hier ebenso vertreten
223
wie Studenten der Betriebswirtschaft, Informatik oder Angestellte im öffentlichen Dienst.117
Einzige gemeinsame Merkmale sind die Leidenschaft zum Abenteuer und - so scheint es zumindest - eine gesicherte finanzielle Situation, die es erlaubt, sich dieses teure Hobby leisten
zu können. Immerhin kann eine gute Turnierausrüstung (Schutzmasken, Markierer etc.)
durchaus zwischen zwei- und fünftausend Mark kosten.118 Auch die regelmäßige Teilnahme
an Turnieren etc. ist kostspielig. Hier schlagen Fahrtkosten zu den Veranstaltungsorten im Inund Ausland, Teilnahmegebühren, vor allem aber der Verbrauch an Farbkugeln zu Buche. Sie
‚erleichtern den Geldbeutel’ eines Einzelnen an einem Wochenende um ca. 400 bis 500 Mark.
2.1
Herkunft und aktuelle Lebenssituation
Familie und private Situation
Ihrer Herkunft nach sind die Befragten der Mittelschicht bzw. der gehobenen Mittelschicht
zuzurechnen. Die Eltern verfügen über mittlere Bildungsabschlüsse (Hauptschule oder Realschule mit anschließender Berufsausbildung): Es sind Arbeiter oder Angestellte, teilweise mit
eigenem Haus. Einige der Eltern haben einen höheren Bildungsabschluss (Abitur, Studium)
und bekleiden gehobene Positionen (Geschäftsleitung, selbständige Unternehmer). Entsprechend der für diese Generation und Schicht typischen Rollenverteilungen sind es überwiegend
die Väter, die für den Unterhalt der Familie sorgen. Nur einige der Mütter sind berufstätig.
Die meisten Gruppenmitglieder haben ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern bzw. zu anderen
Familienmitgliedern wie Geschwistern oder Großeltern, was sich in regelmäßigen Besuchen
zu Hause oder in gemeinsamen Aktivitäten niederschlägt. Beispielsweise aber auch darin,
dass sich die Eltern angesichts der öffentlichen Kritik an Paintball um ihre Kinder Sorgen
machen:
A: Meine Mutter macht sich Sorgen um meinen Sport und fragt immer nach. Sie
hat Angst, ich könnte verwahrlosen. (Gedächtnisprotokoll Clubtreffen)
117
Während meiner Tätigkeit als Studienleiterin für die GIM, ein Marktforschungsinstitut in Heidelberg, hatte
ich Kontakt zu Mitarbeitern der Marketingabteilungen unterschiedlicher, renommierter Konzerne. Dort sind
mir Mitarbeiter (Führungsnachwuchskräfte) begegnet, die in ihrer Freizeit entweder regelmäßig Paintball
spielen oder dies sporadisch schon getan haben.
118
Einsteigerausrüstungen zum Trainieren sind gebraucht aber auch schon ab ca. 400 DM erhältlich.
224
A: Ich habe jetzt schon ein paar Wochen nix mehr mit meinen Eltern gemacht. Es
wird Zeit, dass ich mal wieder was mit denen mach. Das ist mir auch sehr wichtig,
weil sie sich in meiner Kindheit auch sehr um mich bemüht haben (Gedächtnisprotokoll Clubtreffen).
A: Wir haben hier bei uns ja zwei Brüder im Verein. Die verstehn sich bombig.
Das ist typisch dafür, dass Familie und Geschwister den meisten wichtig sind. Das
ist aber doch normal. (Gedächtnisprotokoll Clubtreffen)
Meine Beobachtungen bestätigen diese Darstellungen: beim Besuch eines Gruppenmitglieds
war der Vater anwesend. Während des Interviews reparierte er gerade den Wagen des Sohnes,
um ihm so die hohen Reparaturkosten zu ersparen. Schließlich telefonierte der Interviewte
mehrfach mit seinem Bruder, um ein Treffen zu verabreden.
Einige der jungen Männer haben eine feste Freundin, die auch schon mal mit zu den Turnieren fährt.
Einzelgänger, die z.B. wie Söldner Eltern und Familie hinter sich gelassen haben, konnte ich
weder bei den Little Devils noch in der Szene antreffen.
Wohnsituation
Unauffällig und wenig außergewöhnlich ist auch die aktuelle Wohnsituation der Vereinsmitglieder. Etwa die Hälfte der Befragten wohnt noch bei den Eltern. Dies erscheint heute für
diese Altersgruppe im Allgemeinen typisch. So können Kosten reduziert und finanzielle Freiräume für Aus- und Weiterbildung, Studium, Hobbys und Freizeit geschaffen werden. Andere
haben eine eigene Wohnung; alleine oder mit der Freundin zusammen.
Wie oben bereits angedeutet, habe ich ein Vereinsmitglied zu Hause besucht. Die Wohnung
liegt in einem Vorort von Reutlingen in einer ‘beschaulichen’ Wohngegend. Typisch sind
Ein- und Mehrfamilienhäuser (bis max. sechs Wohneinheiten) und eine aufgelockerte Bauweise mit Grünflächen und Vorgärten. Die Wohnung liegt im zweiten Stock eines VierFamilienhauses, das vermutlich Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre erbaut wurde.
Es wirkt gepflegt. Vom Stil her kann die Wohnungseinrichtung als eine Mischung zwischen
‘bürgerlich-konventionell’ und ‘alternativ’ beschrieben werden: Kiefernmöbel, bunt gemustertes Sofa, Kissen, bunte Teppiche, typisch deutsche Gardinen, Stereoanlage, CD-Ständer
etc. Es finden sich diverse Sammlerobjekte wie Plüschtiere oder Comicfiguren (z.B. Snoopy)
oder MAD-Hefte. Der Gesamteindruck: ordentlich und aufgeräumt.
225
Die Wohngegenden der übrigen Mitglieder wurden mir als ‘normal’, ‘ländlich-ruhig’ und ‘gut
bis gehoben’ beschrieben. Dort, wo das Niveau der Wohngegend niedriger sei, könne dies auf
die finanzielle Situation während der Ausbildung oder des Studiums zurückgeführt werden. In
jungen Jahren seien die Ansprüche noch nicht so hoch und könne man ganz gut vom Umfeld
abstrahieren.
A: Wir wohnen eigentlich alle in ganz normalen Gegenden. Also so wie hier
[meint Wohngegend, die oben beschrieben wurde; d.A.]. Also, da wo ich jetzt mit
meiner Freundin wohne, ist es vielleicht nicht so ruhig und beschaulich, aber
wenn man, wie wir in unserem Alter, noch nicht so viel Geld hat, dann muss man
eben Abstriche machen.
Die Einrichtungen der Paintballer werden von ihnen selbst und den Gruppenmitgliedern als
‘bunt gemischt’ beschrieben. Sie reichen von Flohmarktmöbeln über ‘Ikea’ bis hin zum ‘Jugendzimmer’.
A1: Also einer von uns ist so im ‘American Style’ eingerichtet. Er hat ein Motorrad an der Wand als Regal für die Stereoanlage. Und der [nennt Name] hat die
Wohnung im Sperrmüll-Stil eingerichtet [andere lachen]. Ja ist doch so. Guck Dir
doch mal den Krempel an. Da ein französisches Bett, dann so ein alter Schrank...
A2: Der ist antik...
A1: Ja, aber alles doch kunterbunt. Und ein anderer wohnt noch bei seinen Eltern.
Der hat dort ein Jugendzimmer mit Aquarium und so. Und ne Katze. Der ist Tierliebhaber. Meine Wohnung, oder besser die von meiner Freundin und mir, ist so
im Ikea-Stil und auch ein bisschen Out-door-mäßig. Da stehen dann so Zubehör,
Zelt, Kocher und so rum.
Die Freizeitangebote in Reutlingen und den Vororten bzw. in den Wohngegenden der Paintballer beschreiben die Befragten als vielfältig, ‘wie in jedem Kaff’ und ‘typisch schwäbisch’.
Sie reichten von einer Vielzahl diverser Sportmöglichkeiten in Vereinen bis hin zur ‘Narrenzunft’.
Bildung und Arbeit
Alle Befragten haben einen Schulabschluss und befinden sich zur Zeit in der Aus- oder Weiterbildung. Sie verfügen über ein eigenes Einkommen und sind somit finanziell unabhängig
(von ihren Eltern). Das Spektrum reicht vom Hauptschulabschluss bis zum Universitätsdiplom, vom Schreiner, Ver- und Entsorger, Werkzeugmacher, Automechaniker, Forstwirt,
Großhandelskaufmann bis hin zum Betriebswirt und Rechtsreferendar. Viele legen besonde-
226
ren Wert auf den Beruf und entsprechende Berufsbezeichnungen. Ein Beispiel hierfür ist der
‘Medienkoordinator im Prozesssupport und Kontaminationsmanagement’ bei etablierten Firmen wie DaimlerChrysler oder ähnliche.
A1: Wie gesagt, bei uns ist alles vertreten. Das ist eine Mischung. Wir haben auch
unser eigenes Geld. Wer noch studiert, der jobbt und finanziert sich damit.
A2: Einer war im Ausland, hat als Student ein Praktikum in Seoul gemacht. Der
arbeitet mittlerweile, hat nen guten Job als Betriebswirt bekommen.
Die familiären Hintergründe, Bildungs- und Berufssituation verweisen auf Normalbiographien und liefern keine Hinweise auf Besonderheiten, die gewaltaffines Verhalten motivieren
könnten.
2.2
Die Gruppe
Entstehung
Der Verein ging aus einer zunächst losen Interessengemeinschaft hervor, die sich regelmäßig
auf einem ‘halb-offiziellen’ Spielfeld getroffen hat, um Paintball zu spielen. Die Aktivitäten
waren der Polizei vor Ort bekannt und wurden geduldet:
A: Wir haben uns ganz früher mal in den Anfangszeiten vor unserem Verein halt
kennengelernt auf nem Spielfeld in der Nähe von Sigmaringen. Hat sich halt auch
so rumgesproche, dass da die Möglichkeit besteht, legal und mit Einverständnis
der Polizei einmal zu spielen. Dann hat man sich da halt getroffe, miteinander gespielt. Es war dann das Interesse da, um gemeinsam was auf die Beine zu stellen,
aber was Offizielles. (...) So sind wir halt zu unserer Vereinsgründung gekommen,
dass die Leute halt doch ein bisschen aus recht unterschiedlichen Richtungen zusammengewürfelt sind. Eben halt die, die sich schon länger für Paintball engagiert
haben und früher auf dem alten Spielgelände Paintball gespielt haben.
Weil die Mehrzahl der Mitglieder aus Reutlingen selbst oder aus kleineren Orten in der näheren Umgebung kommt, hat man sich für den Namen ‘Paintballspielergemeinschaft Reutlingen
e.V.’ entschieden und sich als Team - worauf im Folgenden noch eingegangen wird - den
Namen ‘Little Devils’ gegeben. Offiziell wurde der Verein am 02.06.1994 gegründet und
kurze Zeit später beim Amtsgericht in das Vereinsregister eingetragen.
Entsprechend der Satzung hat der Verein zum Ziel, Paintball in Deutschland bekannt zu machen und zu ‘legalisieren’:
227
„Zweck der Vereins ist die Ausübung des Paintball-Sportes, dessen Verbreitung,
Förderung des Sportes, Sportgeistes und der damit im Zusammenhang stehenden
Interessen“ (aus der Satzung vom 02.06.1994).
Selbstverständnis
Die Mitglieder treffen sich regelmäßig, um neueste Informationen aus der Szene auszutauschen oder den Verein zu verwalten, um Spiele vorzubereiten etc. Treffpunkt ist häufig ein
Club- und Vereinsraum, der in einem Dachgeschosszimmer untergebracht ist, das zur Wohnung eines Vereinsmitglieds gehört. Der Vereinsraum entpuppte sich als wahrer Fundus für
den ethnographischen Forscher: Urkunden und Teamfotos in Bilderrahmen und Passepartouts
an den Wänden dokumentieren Teamfahrten zu Turnieren und Meisterschaften, Pokale auf
Regalen zeugen von der erfolgreichen Teilnahme an Paintballveranstaltungen und dokumentieren das soziale Ansehen (Fair-Play-Preis). T-Shirts mit Unterschriften, die von ‘gegnerischen’ Mannschaften als Geschenk überreicht wurden, vielzählige Zeitschriften rund um
Paintball, chronologisch sortiert in Zeitschriftenständern, Fotokisten und Alben, Dokumentationsmappen für Sponsoren, Kisten mit Aufklebern, Geschenke für Austauschvereine etc.
zeugen vom Engagement und Interesse am Paintballspiel. ‚Heiligtum’ ist ein Arbeitstisch, auf
dem die Markierer abgelegt sind. Dort liegen verschiedene Modelle; frisch ‚geputzt’, die Ersatzteile säuberlich sortiert.
Überall zu sehen ist ‘der kleine Teufel’, den die Gruppe als ‘Symbol’ ihrer ‘Corporate Identity’ erhoben hat. Er ziert nicht nur Vereinsplakate, sondern dient als Icon auf Stempeln, Briefpapier, Kleidungsstücken wie Kappen oder Krawatten oder kleinen Schnapsfläschchen, die
die Mitglieder auf Turnieren als Freundschaftsgeschenke an andere Vereine verteilen. Die
Spieler legen Wert darauf, dass dieser Teufel nicht im Sinne von Diabolismus, des Bösen,
Martialischen verstanden werden darf. Vielmehr handele es sich bei dieser Wahl teilweise um
Zufall, vor allem jedoch sei diese kleine Figur witzig gemeint:
A: Wir sind zu dem Namen gekommen, weil uns damals jemand einen kleinen
Stoffteufel als Glücksbringer geschenkt hat. [holt ein kleines Stofftier von einem
der Regale im Vereinsraum; L.S.]. Das fanden wir irgendwie witzig. Ein Teufel
überlistet andere, das ist die Verbindung zu Paintball, mehr nicht.
Wie bei vielen anderen Vereinen auch, ist die Verwaltung gut organisiert und wird mittlerweile über ein entsprechendes PC-Programm erledigt. Hier sind die (Spiel-)Daten der Mitglieder
gespeichert, Fähigkeiten und Vorlieben oder Turniererfahrungen jeweils in einer ,Spielerinfo’
registriert.
228
Abb.: Spielerinfo Little Devils
229
Die Mitglieder werden regelmäßig über aktuelle Termine und Veranstaltungen informiert, wie
die folgende Übersicht zeigt:
Abb.: Termininfo für Vereinsmitglieder der PSG Reutlingen (Little Devils)
Gespielt wird meist nur an Wochenenden, da der Verein über kein eigenes Spielfeld verfügt.
Dann fahren die Mitglieder in der Regel gemeinsam zu einem der vielen Turniere, LigaSpiele oder zu Meisterschaften, die immer wieder von unterschiedlichen Vereinen und Veranstaltern durchgeführt werden. Die Little Devils nehmen dann entweder in der Funktion der
230
Schiedsrichter oder auch Zuschauer teil, meistens jedoch als Mannschaft oder Team, um
selbst mitzuspielen.
So z.B. im Juli 1996. Diese Fahrt, an der ich teilgenommen habe, dauerte fast ein ganzes Wochenende. Abfahrt war Freitagnacht bzw. Samstagmorgen zwei Uhr, Ziel eine Meisterschaft,
ausgetragen in Bielefeld, die ‘Bielefeld - Open’. Insgesamt war der Ausflug rundum nahezu
perfekt organisiert: Ein Mtiglied der Little Devils stellte einen Kleinbus zur Vefügung, andere
sorgten für Proviant, Getränke und Musik. An eine entsprechende Zusatzausrüstung für mich
als Gast war gedacht. So konnte das Turnier für die Little Devils gegen ca. zehn Uhr beginnen. Es endete am Abend gegen 19 Uhr mit der Siegerehrung und der Verleihung der Pokale.
Nicht zuletzt aufgrund meines dilettantischen Anfängerspiels erzielten die Little Devils an
diesem Tag keinen der Siegerpokale. Allerdings wurden sie als ‘Long-Distance-Runner’ ausgezeichnet, das Team, das am weitesten angereist war. Als Anerkennung hierfür gab es ein TShirt. Die Rückkehr nach Reutlingen erfolgte am frühen Sonntagmorgen, da ich am späten
Samstagabend noch eine Gruppendiskussion durchführte, an der auch Szenemitglieder aus
anderen deutschen Vereinen und Paintballteams beteiligt waren.
Die Gruppe hat sich spezielle Anzüge zugelegt, in denen sie an Wettkämpfen teilnimmt. Eines dieser ‘Kostüme’ macht ihrem Namen alle Ehre: Rote Hosen und ein blaues Oberteil, dazu eine Kappe mit roten Hörnern, die an einen Teufel erinnern.
Abb.: Gruppenbild mit Forscherin (vorne Mitte): Turnierteam der Little Devils im einheitlichen Dress
Im Laufe der Zeit sind andere Outfits hinzugekommen: silber-rot-schwarz ‘gesplasht’ (Splash
= Farbklecks durch Paint), bunte Pullover mit schwarzen Armen und gelbem Schriftzug des
231
‘Sponsors’. Das Tragen solcher Kostüme ist in der Szene keine Seltenheit. Andere Gruppen
und Teams erscheinen zuweilen im Star-Trek-Outfit, im Kuh-Dress oder in Postsäcken. Hierbei handelt es sich - wie noch gezeigt wird - um eine bewusste Distanzierung von militärischen Anmutungen. Die Kleidung im Alltag ist heterogen und keiner Szene eindeutig zuzuordnen.
Weitere Turnierkleidung ist ein Anzug, den die Devils ‘Crazy black splash’ nennen. Er besteht aus einem gestreiften Fußballtrikot und einer schwarz-rot gemusterten Hose. Dieser Stil
sei dem Moto-Cross-Bereich119 entnommen.
Die Little Devils sind – wie bereits erwähnt - in der Szene mittlerweile gut bekannt und aufgrund ihres Engagements für die Sache geschätzt. Mittlerweile werden sie von kommerziellen
Anbietern von Paintballzubehör gefördert:
„Little Devils get powered & toxic!
Die berühmt berüchtigten kleinen Teufelchen aus dem wilden Süden werden in
Zukunft nicht nur durch neue Spieler, sondern auch von OPM Paintballsportsupplies Germany und von VENOM - the toxic toys unterstützt. Mit dieser exkluiven Mischung aus Qualität, High Tech und ‘Frischfleisch’ hoffen die Devils
dieses Jahr auf so vielen Turnieren wie möglich zu spielen und auch einige Erfolge zu erreichen“ (Gotcha 3/97, S. 13).
Sponsoring ermöglicht es, die erheblichen Kosten dieses Hobbys ein wenig zu kompensieren.
Zudem trägt die Förderung durch einen bekannten Sponsor zum Ansehen eines Vereins innerhalb der Szene bei und man hofft auf Synergieeffekte insbesondere bei der Bewältigung
der PR-Arbeit.
Die jugendkulturellen Bezugsszenen der Gruppenmitglieder sind heterogen. Ein Mitglied der
Gruppe sieht sich z.B. seit über 16 Jahren den Pfadfindern verbunden, ein anderes fühlt sich
zur Techno-Szene hingezogen, ein weiteres fühlt sich in die Kultur der ‘PC-AdventureGames’ involviert. Tatsächlich füllen ihre Adventure-Spiele einen kompletten CD-Ständer,
wie ich bei einem meiner Besuche feststellen konnte. Gemeinsame Interessen über Paintball
hinaus sind innerhalb dieser Gruppe eher untypisch. Allerdings zeigt sich bei den Mitgliedern
anderer Clubs und Vereine eine gewisse Affinität für Outdoor-Adventure-/TreckingAktivitäten und Adventure Games. Die Inhalte im Internet und Paintballmagazinen verweisen
119
Das Equipment der Paintball-Szene wird vielfach über Anbieter von Moto-Cross-Zubehör bezogen. Oft handelt es sich hierbei um Kleidung oder sonstiges Zubehör, das genuin für den Moto-Cross-Bereich produziert
und angeboten, dann aber von der Paintball-Szene angeeignet und umfunktioniert wurden. Bekannte Firmen
wie ‘GT’ oder ‘Scott’ haben dies erkannt und produzieren mittlerweile speziell für die Paintball-Szene.
232
auf Verbindungen zur Moto-Cross-Szene (hier: Quads = motorradähnliche, geländegängige
Fahrzeuge mit vier Rädern).
Die Kleidungsstile oder Musikgeschmäcker sind ebenfalls heterogen: Techno und Rock und
Pop sind ebenso vertreten wie Klassik. Einzig gemeinsam ist allen eine gewisse Reaktanz
gegenüber volkstümlicher Musik. Einer der Befragten bringt es auf den Punkt:
A: Was unseren Stil angeht, ist das nicht einheitlich. Die einen mögen dies, die
andren das. Ich bin mehr Woll-Pulli-mäßig angezogen, viele tragen Jeans und
Shirts, die einen hören Techno, die anderen Pop, und ich hör ganz gerne Klassik.
Meine Eltern kommen so aus Richtung intellektuelles Bildungsbürgertum wie
man so schön sagt. Bei uns zu Hause hören wir viel Klassik. Einige hören auch
ganz gerne Musicals. Was aber keiner von uns leiden kann, ist Volksmusik.
Die Behauptung von Stilpluralismus als typisch für die Gruppe bestätigte sich im Rahmen
meiner Beobachtungen: Jeans und Sportbekleidung bekannter Markenartikelhersteller sind
ebenso vertreten wie No-Name-Produkte, Birkenstock-Schuhe ebenso üblich wie Lederstiefel,
‘gestylte’ Kurzhaarfrisuren genauso vertreten wie lange Haare und Zöpfe. Das Musikrepertoire im Rahmen der bereits erwähnten Fahrt nach Bielefeld war vielfältig, für jeden Geschmack etwas dabei.
Ebenso heterogen sind die weiteren Freizeitinteressen der Mitglieder. Sie reichen - wie bereits
erwähnt - von Pfadfinder-Aktivitäten oder Reisen und Extrem-Tourismus über Aerobic,
Computerspiele oder Handball bis hin zum Sammeln von Cartoons oder auch nur ‘Faulenzen’.
Trotz des außergewöhnlichen Hobbys ‘Paintball’ verfolgt die Mehrzahl der Vereinsmitglieder
eher konventionelle Lebensentwürfe (traditionelle Werteorientierung). Zwar ist Unabhängigkeit bei den Mitgliedern dieser Gruppe ein wichtiger Wert (post-materialistische Werteorientierung), gleichzeitig jedoch spielt Sicherheit eine wichtige Rolle. Dies umfasst zum einen die
berufliche Situation, zum anderen die emotionale Sicherheit: Arbeitsplatzsicherung, Weiterbildung und Karriere, Heiraten und Familie sind wichtige Themen:
A1: Ich mag es, in einer gewissen Weise unabhängig zu sein. Dazu gehört für
mich, ein langer Urlaub z.B. in Kanada, wo ich mal ganz auf mich gestellt bin,
fernab von Straßen und Zivilisation - auch mit einem gewissen Risiko. Aber dieses Bedürfnis geht nicht so weit, dass ich mir vorstellen kann, irgendwann komplett auszusteigen. Ich werde meine Freundin irgendwann heiraten und wir wollen
auch Kinder. (...) Wichtig ist mir, einen guten Arbeitsplatz zu haben, eine gesicherte Existenz. (...) Ich fühle mich im Moment unterfordert in meinem Job, aber
ich mach weiter. Kein Studium, eher eine praxisorientierte Weiterbildung. (...)
233
A2: Ich mach ja auch gerade den Meister. Ich bin vom Arbeitgeber freigestellt,
oder besser: ich arbeite Schicht, Nachtschicht und Wechselschicht. Das lässt sich
dann so einrichten, dass ich immer frei hab, wenn Schule ist, viermal in der Woche. (...) Heiraten ist bei mir und meiner Freundin jetzt noch nicht angesagt. Aber
irgendwann mal, werd ich auch daran denken.
Ihre politischen Haltungen beschreiben die Mitglieder des Vereins als Spektrum von linksalternativ, rot-grün, über bürgerlich-konservative Muster bis hin zu ‘völlig egal”. Bei manchen zeige sich eine gewisse Resignation und politisches Desinteresse, welches darin gründe,
dass ‚an der momentanen politischen Situation ohnehin nichts zu ändern’ sei.
In ihren mitmenschlichen Lebenszusammenhängen sehen sich die Little Devils als ‘normale’
Menschen, die ihren Alltag ‘ruhig’ und ‘stressfrei’ bewältigen und die aggressive Konflikte
eher vermeiden als sie zu suchen. Gleichsam als Beleg wird ausdrücklich darauf verwiesen,
dass pazifistische Motive für die Wehrdienstverweigerung und Paintball als Hobby durchaus
miteinander in Einklang zu bringen sind:
A1: Wir sind eigentlich ganz normale Leute und das wollen wir auch zeigen. Wir
gehen nicht einfach in den Wald und ballern rum. Die Leute gibt es zwar, aber das
sind nicht wir.
A2: Ich bin jetzt seit 13 Jahren bei den Pfadfindern, ich hab’ Zivildienst gemacht
und ich würde mich selbst als alles andere als irgendwie einen gewalttätigen Menschen bezeichnen. Ich mag es auch, in meiner Freizeit mal öfters mit meinen
Kumpels irgendwo am Feuer zu sitzen und was zu grillen und einfach zu schwätzen und net irgendwie jetzt zum Beispiel auf Sauftour zu gehen und dann, wie
sagt man, einen drauf zu machen und dann irgendwo zu randalieren oder sonst
was. Also damit hab ich echt überhaupt nichts am Hut.
A3: Und ich persönlich mag es mehr gemütlich, wie dass es irgendwo Stress gibt.
A1: Also ich bin ja mehr ein lebhafter Typ. Aber grad was Konflikte anbetrifft
und so, hab ich eigentlich auch wenig Interesse dran. Ich geh Streit meistens
aus’m Weg, weil mir das zu blöd ist und ich denk, man kann auch Probleme mit
Reden lösen. (...) Ich bin Fisch im Sternzeichen, und da heißt’s, man ist sensibel
und so fühl ich mich auch. Ich bin ein bedächtiger Mensch und lass mich zu nix
Brutalem hinreißen. Und ich spiele nicht nur Paintball, sondern hab auch ganz
normale andere Interessen: Skating, Moutainbiking, mach Aerobic im Studio und
geh’ spazieren.
234
Die Little Devils distanzieren sich von realer Gewalt und jedweden politischen Gruppierungen, insbesondere der rechten Szene. Dies ist auch in der Vereinssatzung festgelegt:120 “Der
Verein verfolgt keine politischen, religiösen oder militärischen Zwecke. (...) Personen mit
rassistischen, rechts- bzw. linksextremen politischen Ansichten ist die Mitgliedschaft versagt.”
So haben sich bei dieser Gruppe - wie in der gesamten Paintball-Szene auch - spezifische
Strategien etabliert, um sich von extremen politischen Gruppierungen, Militaristen und Anmutungen von realer Gewalt zu distanzieren. Erwähnt habe ich bereits die bunten Deckungsvorrichtungen des ‚Sup’Air’. Bedeutsam erscheint in diesem Zusammenhang weiter das ‘No
Camo’-Spiel. Gemeint ist - wie bereits angedeutet - oftmals in Phantasy-Anzügen anstatt in
militärisch oder martialisch anmutender Tarnkleidung zu spielen, um somit jeglichen Vergleich mit militaristischen Gruppen von vornherein auszuschließen. Zum anderen ist es
gleichsam ungeschriebenes Gesetz, keine roten Paintballs zu verwenden, die im übrigen in
Europa und in den USA gar nicht mehr oder kaum noch produziert würden:
A: Auf den Turnieren wird in der Regel No-Camo gespielt. Das kommt von Camouflage und heißt Tarnung. Wir vermeiden es, in Nato- oder militärähnlichen
Anzügen zu spielen. Wir wollen uns nicht kleiden wie Wehrsportgruppen, weil
wir keine sind, auch wenn es aus spieltaktischen Gründen sinnvoll wäre, Tarnkleidung zu tragen, weil man dann einfach schwerer zu sehen ist als in den bunten
Kostümen. In England oder in Amerika lachen die zum Teil darüber, weil Tarnanzüge dort kein Problem sind. Wir benutzen absichtlich auch keine rote Paint, weil
das gleich wieder den Anschein von Blut erweckt.
Eine weitere Distanzierungsstrategie besteht darin, den Begriff ‘Waffe’ auf das Paintballspiel
nicht anzuwenden, sondern immer von einem Markierer zu sprechen. Dementsprechend wirken die Markierer oftmals eher wie bunte Spielzeuge. Nicht selten sind lila- oder mintfarbene
Markierer bei den Turnieren zu sehen.
120
Die Ablehnung gegenüber der rechten Szene ist auch in einer Vielzahl anderer Regelwerke der Paintballszene schriftlich fixiert. So z.B. in den Tournament/Game-Regeln des ‘Deutschen Paintball Sportverbands’ oder
auch in anderen speziellen Turnier-Richtlinien (national und international).
235
Abb.: Die Little Devils bei einem internationalen Turnier in ‘No Camo’ (unten) und im Vergleich dazu eine britische Mannschaft im ‚Military-Look’ (Fotosammlung der Little
Devils)
236
Die Mitglieder der PSG Reutlingen verstehen Paintball als Outdoor- und Abenteuersport, der
nichts mit Gewalt zu tun hat. Gewalt bedeute, jemandem mit Absicht reale körperliche oder
seelische Schäden zuzufügen. Dies sei beim Paintball nicht der Fall, denn Gewalt sei nur gespielt, gleichsam künstlich inszeniert in einem eigens dafür vorgesehenen Rahmen mit doppeltem Netz und Boden:
A: Also wir kriegen öfters das Argument: ‘Ja, ihr schießt auf andere Leute. Ihr
könnt die doch verletzen’. Nein, ich verletz den ja eben nich, ich hab mit dem keinen persönlichen Kontakt. Er kriegt halt seinen Splat, aber das Splat kann man
wegwischen. Ne scharfe Kugel kann ich nich wegwischen, das tut en bisschen
mehr weh. Ich hab kein Interesse an scharfen Waffen und ich denk auch, die meisten Paintballspieler denken auch gar net an Krieg spielen oder so. (...) Wir markieren aufeinander, wir schießen aufeinander, aber wir wissen ja genau, dass dem
andern nichts passiert. Der guckt sich an, ‘oh’ sagt der, ‘da ist en grüner Klecks
drauf, da muss ich beim nächsten Mal aufpassen, da war ich wohl zu risikofreudig’.
Zum Vergleich führen die Paintballspieler ‘andere’ Sportarten wie Fußball, Boxen oder Fechten an, die gesellschaftlich nicht nur akzeptiert seien, sondern auch gefördert würden. Dabei so ihre Meinung - erreiche Gewalt im Sinne körperlicher Schädigung beim Paintball nicht
einmal das Niveau, das in anderen Sportarten erlaubt ist. Für sie ist Paintball ungefährlicher
und weniger moralisch verwerflich als das Boxen. Das Akzeptieren des einen (Fechten, Boxkampf) und die Negation des anderen (Paintball) empfinden sie als Ungleichbehandlung und
als ein Messen mit zweierlei Maß:
A2. Beim Fußball brechen sie sich die Knöchel oder verletzen sich die Bänder.
Das ist so in Ordnung (...)
A1: Was wir hier machen, ist doch noch viel harmloser als Fechten oder Boxen.
(...) Ich denk, da beißt sich doch die Katze in den Schwanz, weil wie ist es denn,
wenn se bei so einem Boxkampf für die teuerste Eintrittskarte 2.800 Mark bezahlen, nur dass se zugucken können, wie einer dem andern die Fresse vollhaut und
möglichst gut ins Gesicht und am Kopf trifft, dass der hinterher Hirnschädigungen
hat und weiß nicht was noch alles. So Knochen gebrochen hat. Da wird dann gejubelt, da kommt dann die Presse: ‘Was für ein toller Kampf, und wunderbar’.
A2: Oder beim Fechten.
A1: Da geht man mit Messern aufeinander zu. Das heißt auch nicht gleich, dass
der Fechter daheim das Messer nimmt, und jeden, wo’n dumm anmacht, gleich
absticht, oder? Ich finde das sehr schade, dass man uns das Schlimmste unterstellt
und den anderen nicht.
237
Im Hinblick auf diese Art der Argumentation resp. des Vergleichs mit Sportarten wie Boxen
oder Fechten verweist Binhack (1998, S. 120) in seiner ‚sportwissenschaftlichen Analyse’121
auf einen seiner Meinung nach deutlichen ‘problematischen’ Unterschied, der nämlich in der
wesentlich größeren Kampfdistanz beim Paintball/Gotcha bestünde: „Diese ist per se schon
abstrakter als die Nähe des ‘Auge in Auge“ mit dem Gegner, die ihn in seiner Körperlichkeit
(...), mit einem Wort in seinem ‘Menschsein’ ganz konkret erfahrbar macht. (...) Er [der Gegner; L.S.] wird verstärkt wahrgenommen als austauschbare, schemenhafte Figur, als bewegliches Ziel, das es als ‘tendenzielles Neutrum’ gegen dessen Widerstand zu ‘neutralisieren’ gilt.
(...) Während anderen Kampfsportarten stets ein struktureller Beziehungscharakter zugrunde
liegt, lässt es die Struktur des Gotcha-Spiels zu, daß man gerade bei seiner effizientesten Ausführung gar keine unmittelbare Kampfbeziehung mehr eingehen muss. Völlig anders als beispielsweise das klassische Duell, das auch als Pistolenduell stets Ausdruck eines offenen, aktiven, reziprok-antagonistischen Kampfes zur Demonstration von Ehrenhaftigkeit war, legt
das Gotcha-Spiel ein sehr effektives, überfallartiges Schießen aus dem Hinterhalt nahe (...).“
Mit dieser Art der Interpretation konfrontiert, argumentiert der Teamcaptain der Devils:
A: Ja, sicher - fehlende Distanz. Erstens hab’ ich keinen Feind oder kein Opfer,
sondern einen Wettkampfgegner. Und zweitens: Klasse, beim Boxen seh ich den
vor mir, der mir gerade das Nasenbein gebrochen hat und bekomme einen Hass
auf den, der mir die Fresse poliert. Und außerdem: Warum zielt Paintball auf Töten und Fechten nicht? Wo gibt es denn beim Fechten die meisten Punkte. Doch
nicht für den dicken Zeh. Das Fechten ist - wenn man denn von Nachahmung des
Tötens spricht - doch genauso. Die meisten Punkte gibt es doch für die Brust.
Aus soziologisch-ethnographischer Perspektive scheint ein Vergleich mit dem realen Heckenschützenwesen, wie Binhack ihn unternimmt, von (zumindest einem Teil) der Strategie des
Paintballspiels her zulässig (schießen, in Deckung gehen). Aber - und das ist ein wesentlicher
Unterschied - der fiktive Charakter, die Einbindung in einen sozialen Rahmen (Das ‘Vorher’
und ‘Nachher’) und der spielerische Charakter (hier: Organisierte Turniere, Sicherheitsmaßnahmen) dürfen in einer objektiven Diskussion nicht außer Acht gelassen werden. Konsequent zu Ende gedacht vergleicht Binhack die Fiktion des Gotchaspiels mit der Abstraktheit
moderner Kriegsführung, wonach der Gegner nicht mehr mit eigenen Händen getötet werden
muss, sondern aufgrund hochtechnisierter Waffensysteme per Knopfdruck und aus dem Hin-
121
Erwähnen möchte ich an dieser Stelle, dass Binhacks Arbeit mehr einem moralischen Postulat als einer wissenschaftlich wert-neutral formulierten Analyse gleicht. Er beruft sich zudem (mit Ausnahme von zwei persönlichen Gesprächen mit Mitgliedern der Gotchaszene) ausschließlich auf Kurzberichte in deutschen TVKultur- und Nachrichtenmagazinen aus den Jahren 1993/1994 sowie die Frankfurter Zeitung vom
05.12.1994. Insgesamt erliegt er oberflächlichen, moralisch-gefälligen Interpretationsangeboten und vermag
es nicht, dass Phänomen Paintball in seiner Komplexität zu erfassen.
238
terhalt ausgeschaltet wird. Er unterstellt die Gefahr des Verwischens von Spiel und Alltag, die
größer sei, als beispielsweise bei kriegerischen Computerspielen. Die Differenzen scheinen
den hier befragten Paintballern jedoch nicht verloren gegangen zu sein. Im Gegenteil: Der
selbstreflexive, kritische Umgang mit dem eigenen Faible, einer Vielzahl von Vorkehrungen
und Reglementierungen zur Sicherheit der Spieler und auch das Wissen um problematische
Einzelfälle spricht gegen einen zu befürchtenden Realitätsverlust.
Damit auch wirklich niemand zu Schaden kommt, wird Sicherheit nicht nur groß geschrieben,
sondern ist oberstes Prinzip. Gilt es zwar, den Gegner auf dem Spielfeld mit Farbkugeln zu
treffen und damit zum Ausscheiden zu zwingen, verbirgt sich dahinter jedoch keineswegs
unbesonnenes Handeln. Nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich am Körper dort ein
Hämatom bildet, wo man von einer Farbkugel getroffen wird. Eine Spielerin berichtete mir
bei dem bereits mehrfach zitierten Turnier von ihren Krampfadern, die vermutlich durch den
Aufprall der Farbkugeln verursacht wurden. Eine Vielzahl an Vorkehrungen soll jedoch
ernsthaftere Verletzungen ausschließen.
So musste ich, um mit den Little Devils ein Turnier besuchen und am Paintballspiel teilnehmen zu dürfen, folgende Erklärung unterzeichnen:
„Es wurde mir erklärt, daß das Spiel große körperliche und geistige Anstrengungen erfordern kann. Daß es gefährlich sein kann, wenn ich nicht nach den
festgelegten Spielregeln, die ich gelesen habe, spiele. Daß ich mir Verletzungen
zuziehen kann (Hämatome).
Ich versichere, den Anforderungen des Spiels körperlich gewachsen zu sein. Daß
ich Paintball als Sport und Spiel ansehe.
Ich verpflichte mich, die Spiel- und Verhaltensregeln DPSV und die Anweisungen der Schiedsrichter zu befolgen. Die Ausrüstung wie vorgeschrieben zu benutzen und nicht zur Schädigung Dritter einzusetzen. Meine Schutzkleidung (z.B.
Brille) im Spiel- und Schußbereich zu tragen.“
Deutlich wird hier, dass im Rahmen eines Spiels Sicherheitsvorkehrungen getroffen und zudem vom Turnierveranstalter überwacht werden. Der Deutsche Paintball-Sport-Verband
(DPSV) hat in einem 35 Seiten umfassenden Regelwerk u.a. Regeln zur Sicherheit der Spieler
definiert, die bei Verstoß von ausgebildeten, als ‘Marshals’ bezeichneten, Schiedsrichtern
geahndet werden. Die ‘Marshals’ beobachten das Spielgeschehen und kontrollieren im Vorfeld die Zulässigkeit der Markierer. Mit einem Chronographen, in der Szene kurz ‘Chroni’
genannt, wird die Schussgeschwindigkeit der Markierer geprüft, bevor der einzelne Spieler
das Feld betreten darf. Ein bestimmter Wert darf nämlich nicht überschritten werden, da
Schutzbrillen und -masken dem Aufprall der Farbkugeln ansonsten nicht standhalten könnten.
239
Abb.: Vorschriftstafel und Chroni bei einem Turnier (Quelle: Gotcha 3/97, S. 33)
Ebenso wird geprüft, ob andere Manipulationen (insbesondere am Markierer, aber auch an
Schutzmasken und anderem) vorgenommen wurden, die nicht zulässig sind. Alkohol und
Drogen sind vor dem Spiel verboten. Jugendlichen unter 18 Jahren wird die Teilnahme verweigert, da die Markierer unter das Waffengesetz fallen.
Wie ernst die Spieler diese Regeln nehmen, erläutert ein Spieler am Beispiel der Gesichtsschutzmasken:
A: Wenn man auf nem normalen Spielfeld spielt, dann is es immer Pflicht, die
Maske aufzuhaben und auch die bestimmte Geschwindigkeit einzuhalten. (...)
Man kriegt ansonsten keine Minuspunkte, sondern man wird vom Turnier ausgeschlossen, wenn man gegen die Regeln verstößt, wie zum Beispiel auch die Maske auf dem Spielfeld runternehmen. (...) Also wir haben auch schon Leute gehabt,
wo mal mitgehen wollten zum Spielen, die haben so ne Wochenendausrüstung
gehabt so mit Schweißerbrille und so. Und da haben wir gesagt: ‘Nee, mit der
Maske spielst Du nich’. Und er so: ‘Wieso, warum nicht?’ Haben wir die Maske
hingelegt und zwei-, dreimal darauf geschossen und da war das Glas kaputt. (...)
Wir haben auch immer genug Masken dabei, weil wir einfach dem Risiko aus
dem Weg gehen wollen.
Nahezu jede Ausgabe der verschiedenen Paintballmagazine und auch die unterschiedlichen
Websites der Clubs und Vereine enthalten Übersichten zu Sicherheitsvorschriften und Verhaltensmaßregeln. Dazu noch einmal ein Beispiel aus Xtreme Sports (05/00, S. 16f), das eine
weitere wichtige, bisher noch nicht genannte Sicherheitsvorkehrung thematisiert - der ‘Barrel
Plug’ im Lauf des Markierers, der außerhalb des Spielfeldes immer zu verwenden ist:
240
„Barrel Plug - neben der Maske einer der wichtigsten Punkte in Sachen Sicherheit. Der Barrel Plug ist ein kleiner Stopfen aus Plastik oder Hartgummi, der sich
außerhalb vom Spielfeld im Lauf des Markierers befinden muß. Löst sich versehentlich ein Ball, zerplatzt dieser und kann den Lauf nicht verlassen. Somit eine
der wichtigsten Vorschriften, um Zuschauer und Unbeteiligte am Spiel nicht zu
gefährden.“
Insgesamt ist festzuhalten, dass die Paintballspieler in ihrem Verhalten stark reglementiert
sind. Nicht das Chaos regiert, sondern die ‘Ordnung der Dinge’.
Nun stellt sich die Frage, was die Faszination an Paintball ausmacht? Hier treffen im wesentlichen drei verschiedene Motivstrukturen zusammen: Paintball vermittelt 1) außeralltägliche
Erfahrungen, Nervenkitzel und Thrill, 2) Selbstbestätigung im Wettbewerb und 3) Wir-Gefühl
und Teamgeist.
1) Nervenkitzel: Die Suche nach Spannung, Nervenkitzel und Thrill sind zentrale Motive des
Paintball-Spielers. Das Ausmaß der Entspannung korreliert mit der vorhergehenden Anspannung, der sich die Spieler ausgesetzt sehen. Künstlich herbeigeführte Angst, gefahrloses Spiel mit der gespielten Gefahr, die als real empfunden wird. Authentizität verleiht der
einem gigantischen theatralen Spektakel gleichende Rahmen, der es erlaubt, für einen festgelegten Zeitraum in eine Rolle zu schlüpfen, die außeralltägliche (Körper-)Erfahrungen
ermöglicht: Das Outdoor-Spielfeld als Ort, die Kleidung und diverse Utensilien spielen
hierbei eine wichtige Rolle. Sie sind die Vehikel, die Authentizität transportieren. Auch
wenn sich die damit verbundenen Emotionen für die Paintballer nur sehr schwer in Worte
fassen lassen, versuchen sie zu beschreiben, wie es ihnen ergeht:
A: Ich hab’ manchmal das Gefühl, meine eigene Angst zu riechen. Sicher weiß
ich, dass mir nichts passieren kann. Es sind ja nur Farbkugeln. Aber auf dem
Spielfeld verwischen Wirklichkeit und Spiel. Du merkst eigentlich nicht mehr,
dass du nur vom Spielfeld runter musst, und schon bist du wieder in einer anderen
Welt. Du glaubst, es ist echt und hast Angst. Angst getroffen zu werden, zu langsam zu sein, nicht schnell genug zu rennen, die Fahne zu verlieren. Du rennst, wie
um dein Leben. Das Herz schlägt dir bis in den Hals und du pinkelst fast in die
Hose, so aufregend ist das. (...) Und hinterher bist du unheimlich entspannt. Dein
Körper, aber auch im Kopf ganz klar.
A1: Es ist der absolute Adrenalinkick. Manchmal siehst du den anderen gar nicht.
Die Fahne liegt vor dir, du liegst im Wald, und jetzt freie Fläche. Die Fahne vor
dir, ist jetzt noch einer da, ist keiner da? Und dann, wenn du losrennst, dieser
Adrenalinpush ist unbeschreiblich. (...) Werd ich erwischt, schaff ich’s bis zur
Fahne, komm ich wieder zurück, wo sind die anderen? Und eben dieses ganze
Drumherum, das ist eben das, was einem da den sogenannten Kick gibt.
241
A2: Du blickst um dich herum, ich schau mir alles an, ich lausch auch, ist was zu
hören von den anderen. Dann geh ich weiter vor, immer das Ziel, die Fahne zu holen. Das Ganze spielt zusammen und auch die ganze Konzentration, die dazu nötig ist. Und dann, wenn ich es geschafft hab, die Erleichterung: Mensch, ich hab’s
geschafft.
Folgt man diesen Auführungen, sehen sich die Paintballspieler mehr als ‘Endorphin-Junkees’
denn als verstörte Militaristen (wie in der Presse häufig dargestellt und in der Öffentlichkeit
angeommen), die Farbwaffen (Markierer) gegen schwere MGs tauschten, sobald sich die Gelegenheit dazu böte.
2) Wettbewerb: Wie in vielen Sportarten auch, geht es im Paintball darum, der Beste zu sein,
körperlich und mental, und das Team damit zum Sieg zu führen:
A: Das ist doch auch ein Gefühl des Triumphes, dass er ihn besiegt hat. Das ist
wie beim Fechten oder beim Boxen auch.
A: Es geht doch auch darum, sich vom Kopf her zu messen. Das ist doch auch
Überlegung, Strategie. Beim Paintball braucht man nicht unbedingt einen absolut
durchtrainierten Körper, sondern es kommt auf das Denkvermögen an. Es gewinnt
der bessere Stratege, der, der den Überblick am besten behält. Das ist auch wie ein
geistiges Kräftemessen.
Hier wird thematisiert, was ob des gewaltaffinen Charakters häufig übersehen wird: die Aktualisierung der eigenen strategischen und damit geistig-intellektuellen Fähigkeiten. Das Spiel
gewinnt, wer sich die Fahne erkämpft, und nicht, wer die meisten Treffer erzielt. Den Weg
zur Fahne kann man theoretisch auch beschreiten, ohne den Gegner ‘auszuschalten’, sofern
man sich so geschickt verhält, dass man selbst nicht getroffen wird.
3) Wir-Gefühl und Teamgeist: Wichtiges Motiv für die Teilnahme am Paintballspiel ist ein
soziales Moment, dass nämlich Erfahrungen des Zusammenhalts, des ‘Füreinander-daSeins’ gemacht werden können:
A: Das ist auch das, was auch diesen Mannschaftscharakter ausmacht. Wenn dann
irgendwelche dauernd irgendwelche Einzelaktionen machen, dass einer davonrennt und irgendwie wild in der Gegend [auf dem Spielfeld: L.S.] rumballert oder
so was, das hat dann einfach keinen Wert. Da muss die Mannschaft einfach miteinander harmonieren.
A: Im Mittelpunkt steht immer das Team. Ich darf auf dem Spielfeld nicht nur an
mich denken, sondern an die Mannschaft, gemeinsam zu gewinnen. Wenn ich
mich dafür opfern muss und markiert werde, damit die anderen frei sind, die Fahne zu erobern, dann ist das o.k. Ich will mich ja auch blind auf die anderen verlas-
242
sen können, wissen, dass sie da sind, wenn ich sie brauche. (Postskript/Gesprächsprotokoll)
Xtreme (05/99, S. 11) bringt es aus der Szeneperspektive noch einmal auf den Punkt:
„Worin liegt der Reiz? Paintball ist eine ungewöhnliche Mischung zwischen
Einzel- und Mannschaftssport. Spieler müssen taktisch vorgehen und im Sinne der
ganzen Mannschaft handeln. Unter Zeitdruck bringt diese Anforderung an Körper
und Geist den absoluten Kick.“
Gemeinschaftserfahrungen werden beim Paintballspiel allerdings nicht nur auf dem Spielfeld
selbst vermittelt; der gesamte Rahmen transportiert soziale Nähe und freundschaftliche Verbundenheit:
A: Ich hab früher Fußball gespielt. Wenn da die Hackerei angefangen hat, war der
Streit da. Da ist es selten, dass man nach dem Spiel zu dem Team geht und mit
denen noch redet. Beim Paintball ist es ‘ne ganz andere Atmosphäre. Man geht
vor’m Spiel und nach’m Spiel hin und setzt sich noch zusammen. Wir haben auch
schon Sachen gehabt, dass zum Beispiel bei uns jetzt ein Markierer ausgefallen ist
und wir keinen Ersatzmarkierer hatten. Da sind die vom andern Team hergekommen, obwohl wir gegen die gespielt haben, und haben uns ‘nen Markierer gegeben. So was festigt, auch gerade dadurch, dass wir ja alle en bisschen abgedrängt
werden (...) Und abends nach ‘nem Turnier ist ja meistens auch die Player-Party.
Da sitzen alle Mannschaften, die teilgenommen haben, zusammen, machen noch
ein Festchen, und das ist ne wunderbare feine Sache. Und das ist eben auch ne Art
von Gemeinschaft, die man sonst nicht viel oder nicht oft erlebt in dieser Form.
(...) Wir haben auch mal gegen den Europameister gespielt und ich hab den
Teamcaptain von denen erwischt. Hinterher haben die den gesucht, der ihren
Team-Captain markiert hat und wollten dem quasi noch gratulieren. Die haben
dann noch ein T-Shirt mit ihren Unterschriften dagelassen. Und so geht das eben
ab.
So lautet dann auch das Motto in der Szene: ‘We are one family’. Man versteht sich, was mit
entsprechenden Gesten bezeugt wird. Nicht zuletzt ‘sitzt man in einem Boot”, besonders gegenüber den ‘Diffamierungen’ von außen.
Den freundlich-sozialen Umgang miteinander habe ich selbst erfahren. Als ich als Spielerin
bei der Bielefeld Open teilnahm, war mein Markierer defekt. Ein fremdes Team (das zu diesem Zeitpunkt die Teilnahme resp. Beobachtung durch eine Forscherin noch nicht realisiert
hatte) war sofort bereit, mit einem anderen Markierer auszuhelfen. Nach Veranstaltungsende
wurde, wie im Interview beschrieben, bei bester Stimmung gemeinsam gegessen und getrunken, wurden die Sieger gefeiert, die fairsten Spieler geehrt.
243
Diese differenzierte Betrachtung der Motivstrukturen kann allerdings nur analytischer Natur
sein. Denn auf dem Spielfeld, in der Praxis des Paintballspiels, amalgamieren Nervenkitzel
und Thrill, Wettbewerb und Teamgeist in der Handlung, ja sie bedingen sich gleichsam.
Darüber hinaus spielt bei Männern die Inszenierung der eigenen Männlichkeit und Coolness
eine Rolle - fernab von ‘Weibergewäsch’ und feministischen Zwängen, denen sie glauben,
sich im Alltag unterwerfen zu müssen. Mit Sicherheit dient das Paintballspiel auch dem geregelten und kontrollierten Abbau von Aggressionen, denen man im Alltag nicht nachgeben
darf. Diese Motivstrukturen wurden von der hier zur Diskussion stehenden Gruppe allerdings
nicht explizit geäußert, treffen jedoch - wenn nicht auch auf diese – in jedem Fall auf andere
von mir befragte Paintballspieler zu. Schließlich spielt auch das Bedürfnis nach Distinktion
eine Rolle. ‘Anders zu sein als die anderen’, einem exotischen Hobby nachzugehen, das nicht
jeder betreibt und sich auch nicht jeder leisten kann.
Zusammenleben und Struktur
Die Bestimmungen zur Mitgliedschaft im Verein sind im Wesentlichen in der Satzung definiert. Wie bereits erwähnt, ist hier - quasi de jure - festgelegt, dass Personen bestimmter politischer Couleur die Mitgliedschaft verweigert wird. Ebenso muss derjenige, der Mitglied werden will, zum Zeitpunkt des Eintritts 18 Jahre alt sein. Das Alter und die politische Gesinnung
der Vereinsmitglieder werden geprüft und die Mitgliedschaft im Verein erfolgt erst nach bestandener Probezeit. Ehe man Vereinsmitglied werden darf, muss man gleichsam einen Initiationsritus hinter sich bringen, an mehreren Turnieren teilgenommen, Integrität und ‘Correctness’ bewiesen haben. Der kritische Leser würde zu Recht an dieser Stelle anmerken, dass es
zwar ohne Weiteres möglich ist, anhand des Personalausweises das Alter zu überprüfen, dass
die politische Gesinnung jedoch nich einfach als Datum ‚objektiv’ abgerufen werden kann.
Dem ist zuzustimmen und darauf hinzuweisen, dass hier im Stadium des frühen Kontaktes
eine gewisse Unsicherheit besteht, die sich im Verlauf einer längeren Beziehung jedoch aufzulösen vermag.
Zum ‚richtigen Verhalten’ gehört es auch, sich auch im ‘Eifer des Gefechtes’ der Sicherheitsbestimmungen bewusst zu sein und sich entsprechend zu verhalten:
A: Wir prüfen das auch eingehend. Es ist nicht so, dass einer sagt: ‘Hallo, ich will
Paintball spielen’ und wir sagen: ‘Oh toll. Du kannst gleich mit’. Wir nehmen die
Leute mit, fünf Spieltage, und schauen erst mal, wie die sich verhalten und so.
Und dann klar, wir sind auch privat öfters zusammen, bei uns ist es ja mehr ein
Freundeskreis. Und wenn von außen einer reinkommt, wird erst mal eingehend
geprüft. Sollte sich dann später herausstellen, dass er irgendwo in ‘nem rechten
244
Feld tätig ist, fliegt der sofort raus. Weil, das sind halt diese Leute, die machen
unser Spiel kaputt.
Wie in jedem anderen Verein auch, gibt es unterschiedliche Funktionen und Ämter, die von
verschiedenen Mitgliedern ausgeübt werden. Vorstand, Kassenwart, Schriftführer etc. Ein
wichtiges Amt ist das des Pressesprechers: Er leistet Aufklärungsarbeit, schreibt Artikel für
die (Lokal)Presse, gibt Radio- und ggf. auch Fernsehinterviews für Lokalsender. Zur Klärung
und Verabschiedung wichtiger Entscheidungen finden Mitgliederversammlungen statt, im
Rahmen derer demokratisch abgestimmt wird.
Unterschiedliche ‘Ämter’ und Funktionen gibt es auch innerhalb der aktuellen Turnier- resp.
Spielteams: Der Teamcaptain ist für die strategische Organisation und Aufgabenverteilung
zuständig. Er teilt die Mannschaft sozusagen ein und hat das Sagen auf dem Spielfeld. Der
Teamcaptain entscheidet vor dem Hintergrund der jeweiligen individuellen Spielerkompetenzen wie Lauffähigkeit/Schnelligkeit, Treffsicherheit oder strategischem Geschick und Spielerfahrung über die grunsätzliche Teilnahme eines Spielers und/oder über seine Funktion im
Geschehen. Ihm zur Seite steht der stellvertretende Teamcaptain, der ihn mit Rat und Tat unterstützt.
Die Besetzung der formellen Ämter und Spielpositionen wiederum ist abhängig von informellen Hierarchien, die vor allem über spielerische Fähigkeiten definiert sind. Aber auch soziale
Kompetenz, das Engagement innerhalb der Szene, für den Verein, bestimmen das Ansehen
innerhalb der Gruppe und den Einfluss des Einzelnen bei wichtigen Entscheidungen.
Freundschaft ist bei fast allen Befragten ein zentraler Wert. Dazu gehört das Gefühl, sich auf
jemanden verlassen zu können, jemandem zu vertrauen und das Gefühl von Gemeinschaft
und Zugehörigkeit.
2.3
Wahrgenommene Gruppenperipherie
Perzipierte Fremdeinschätzung und eigene Bewertung
Wie für die Paintball-Szene insgesamt bereits festgehalten wurde, hat die Öffentlichkeit, haben Medien, Polizei und Vertreter öffentlicher Einrichtungen – wie bereits eingangs erwähnt oft große Vorbehalte gegenüber Paintballspielern. Davon zeugen die folgenden Aussagen der
Paintballspieler selbst:
245
A1: Meine Mutter hat mal im Fernsehen so nen Bericht gesehen und dann kam sie
hinterher zu mir: ‘Oh Gott, das sind ja Nazis und Du machst das doch auch’.
A: Ich bin bei einer [nennt öffentlichen Arbeitgeber] angestellt. Wenn die wüsste,
dass ich in meiner Freizeit Paintball spiele, könnte ich gehen. Ich habe das irgendwann mal angedeutet und mir kam das pure Entsetzen entgegen. (Beobachtungs- und Gesprächsprotokoll)
A: Meine Freunde denken, dass ich Bürgerkrieg spiele. Da hab ich ihnen gesagt,
dass sie dummes Zeug erzählen, und da haben sie dumm geguckt.
Birgit Ebbert von der ‘Aktion Jugendschutz’ kommentiert das Paintballspiel der Little Devils
so:
„Es handelt sich um ein Kriegsspiel mit dem echten Vorbild nachempfundenen
Waffen. (...) Aggressionen werden nicht abgebaut, vielmehr ist oft das Gegenteil
der Fall, wenn nämlich der sich als ‘King’ fühlende getroffen wird, und ausscheiden muß“ (zitiert nach einem Interview im ‘Schwäbischen Tagblatt’ vom
28.06.1997).
Wie bereits erwähnt, ist es nicht ohne Weiteres möglich, neue Spielfelder anzumieten bzw.
Grundstücke zu pachten, um darauf Paintball zu spielen. Deshalb vermuten die Paintballer
hinter denjenigen, die ein Grundstück bereitwillig zur Verfügung stellen, rechtsextremistische
Orientierungen:
A: Mit der Jugend kann man meistens drüber reden, mit den älteren Leuten wirds
halt schwieriger, grad auch hier im schwäbischen Raum, weil die Leute halt meistens Dickschädel sind. Und das ist auch das Problem bei der Geländesuche. Viele
lassen große Grundstücke einfach so verwildern. Wenn man dann hingeht und
fragt, ob mans pachten kann, sagen se: ‘Kein Problem’. Sobald man denen aber
dann erklärt, was man da drauf machen will, heißt es: ‘Oh, Ihr spielt Krieg und ihr
seid Nazis’ und solche Sachen. Das sind halt die Argumente, die man meistens an
den Kopf geschmissen kriegt. Und diejenigen, die dann nix sagen oder uns akzeptieren und ihre Grundstücke zur Verfügung stellen würden, die sind uns nicht geheuer, weil es Altnazis sind.
Öffentliche Waldstücke oder ‘Sportstätten’ werden auch von den zuständigen Behörden für
Paintballturniere nicht freigegeben:
A: Also ich hab’ nen Haufen Schriftzeug da. Ich hab versucht, hier ein Öffentlichkeitsturnier zu machen, die Stadt angeschrieben und gefragt, wie es aussieht,
ob wir ne Halle haben könnten. Da sind se dann mit irgenwelchen DIN-Normen
gekommen, wo Paintball nicht drin ist.
246
Die Reaktionen der Behörden und deren Begründung für die Ablehnung sind im Folgenden
nocheinmal dokumentiert:
„Mit Interesse haben wir die Ihrem Antrag vom 17.10.1994 beigelegten Informationen gelesen. Nach Ihrer Schilderung des Paintballspiels dürfte es sich hierbei
vermutlich nicht um eine Spiel- oder Sportart handeln, die im Württembergischen
Landessportbund organisiert ist.
Unsere städtischen Turn- und Sporthallen sind baulich so gestaltet, dass sie vorrangig den Belangen des Schulsports gerecht werden. Darüber hinaus werden diese Sporträume auch Reutlinger Vereinen für Sportarten zur Verfügung gestellt,
die in der DIN 18032 Teil 1 als Hallensportarten aufgeführt sind. Dies trifft für
das Paintballspiel leider ebensowenig zu, wie z.B. für die Sportarten Baseball,
Radsport, Rollsport u.a.
Auch die Mitbenutzung einer städtischen Sport-Freianlage können wir Ihnen leider nicht anbieten. Die städt. Sportplätze sind seit vielen Jahren so stark ausgelastet, dass wir keine weiteren Sportgruppen mehr berücksichtigen können.
Wir bitten um Verständnis für diesen ablehnenden Bescheid.“ (Auszug aus einen
Schreiben des Schul-, Kultur- und Sportamtes der Stadt Reutlingen vom
24.10.1994)
In einem weiteren Schreiben heißt es:
„Die Vergabe der Turn- und Sporthallen erfolgt nach bestehenden Richtlinien und
Normen. (...) ‘Paintball’ ist in dieser DIN nicht erwähnt.
Darüber hinaus ist die Beschaffenheit der Sporthallen nicht für eine Verunreinigung durch Farbstoffe ausgelegt.
Auch der Rechtsreferent des Württembergischen Landessportbunds hält es auch
langfristig gesehen für völlig ausgeschlossen, dass ‘Paintball’ als Sportart anerkannt wird.
Wir sehen deshalb keine Möglichkeit, Ihrer Bitte auf Überlassung einer Sporthalle
für ein Paintballturnier entsprechen zu können. Bitte haben Sie dafür Verständnis.“ (Auszug aus einem Schreiben der SBG-Sportstätten-Betriebsgesellschaft
Reutlingen mbH vom 29.11.1994)
Insgesamt agieren die Paintballer unter einem extremen Normalitätsdruck, der potenziell ein
Bias der Aussagen erzeugen kann. Dies aber eher dahingehend, dass einzelne problematische
Vorkommnisse verharmlost resp. verschwiegen werden. Nicht anzunehmen ist jedoch, dass
hierdurch der Charakter des Paintballspiels - wie vorliegend beschrieben - grundsätzlich in
Frage zu stellen ist hinsichtlich Motivation, Reglementierung etc.
247
Außenbeziehungen
Die Devils sind familiär eingebunden und die meisten haben noch weitere Hobbys. So ist ein
Mitglied (wie bereits gezeigt) seit vielen Jahren den Pfadfindern verbunden, ein anderes fühlt
sich zur Techno-Szene hingezogen, ein weiteres interessiert sich für Computerspiele. Insgesamt ist davon auszugehen, dass sie gesellschaftlich weitestgehend integriert sind und Isolation eher untypisch ist. Im Gegenteil: Auch mit ihrem Hobby gehen die Little Devils nach außen, in dem sie nämlich für ihre Sache öffentlich werben und streiten.
Wohlwissend um die Reaktanz, die Paintball in der Öffentlichkeit auslöst, haben die Akteure
- wie wir gezeigt haben - Strategien entwickelt, sich von dem Stigma des kriegsverherrlichenden Aggressors zu befreien. Sie verpflichten sich auf Fairness, Sicherheit und Distanzierung
zu radikalen politischen Gruppierungen. Diese Selbstverpflichtung über verschiedene ‘PRAktivitäten’ an die Öffentlichkeit zu transportieren, gehört zu jenen selbstreflexiven Handlungsmustern, die für den Verein und die organisierte Paintball-Szene typisch sind. Die PSG
Reutlingen hat eine Vielzahl verschiedener Aktivitäten aufzuweisen. Dazu gehören das Verfassen von Artikeln für Szene-Zeitschriften aber auch andere Printmedien, Zeitungsinterviews
oder die Organisation von Informationsveranstaltungen über Paintball.
Nachdem die Stadt Reutlingen keine Halle und auch keinen Ort für ein Paintballturnier zur
Verfügung gestellt hat, entschloss man sich kurzerhand, eine sogenannte ‘Wanderdisco’ namens ‘Charly 2000’ zu buchen. Nach dem Motto: ‘Kannst Du den Feind nicht besiegen, dann
mach’ ihn Dir zum Freund’ wurde aus dem geplanten Turnier eine Tanzveranstaltung, die den
Rahmen für einen Informationsstand bot. Die Disco-Nacht mit ‘Charly 2000’ durfte dann in
der ‘Julius-Kemmler-Halle’ mit Unterstützung der Stadt Reutlingen stattfinden:
„Da die Veranstaltung sehr kurzfristig geplant wurde, war es dann um so überraschender, als fast 1000 Jugendliche erschienen. Und Charly 2000 schaffte es immer wieder, die Menge zum Toben zu bringen. Auch die PaintballSpielergemeinschaft hatte mit ihrem Infostand großen Erfolg und konnte sich großer Beliebtheit erfreuen. Im großen und ganzen ein riesen Erfolg für den Verein,
der sich und seinen Sport vorstellte und für die Jugendlichen, die bis um 1.00 Uhr
tanzen konnten, bis die Fetzen flogen“ (zit. nach ‘Betzinger Blättle, 02.10.1995)
Auf diese Weise konnte der Verein neue Mitglieder gewinnen. Eine zweite Disco wurde kurz
darauf organisiert. Auch diese war erfolgreich und schien hinsichtlich der Imagearbeit im gefruchtet zu haben. Denn, so die Devils, das Echo in der Tagespresse sei daraufhin recht positiv gewesen.
248
Devianz
Würde man man sich den Blick der Medien oder öffentlicher Institutionen zu Eigen machen,
so wäre zu vermuten, dass die ‘Konten’ der Paintballer insbesondere aufgrund von Körperverletzungen oder Verstößen gegen die besonderen Strafvorschriften gegen den Rechtsextremismus122 belastet wären und ganze Strafregister damit gefüllt werden könnten. Dies ist unzutreffend: Keiner der Spieler ist nach eigenen Aussagen bisher mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Devianz im Sinne strafrechtlich relevanter Delikte spielt bei dieser Gruppe keine Rolle.
2.4
Intergruppenbeziehungen
Allianz und Ambivalenz
Den bisherigen Ausführungen der Paintballer folgend gilt in der Konsequenz festzuhalten,
dass für sie kein wirkliches Feindbild definiert werden kann. Gegner gibt es nur auf begrenzte
Zeit und in einem begrenzten Relevanzrahmen; so, wie bei anderen Sportarten auch:
A: Man sagt zu den anderen Mannschaften zwar Gegner, aber das sagt man in jeder Sportart. Nachher begegnet man sich, man schwätzt, wechselt noch ein paar
nette Worte, man macht Witze übereinander.
Sobald das Spielfeld verlassen wird, ein Turnier zu Ende ist, kehren die Beteiligten in ihre
Alltagsrollen zurück, werden Tische gedeckt, selbstgebackene Kuchen serviert. Die Siegerehrung und die Verleihung der Pokale können beginnen. Ein fast schon familiärer Kaffeeklatsch
beendet einen erlebnisreichen Turniertag.
Wie die Hooligans (vgl. Kap. III. 3) definieren sie den ‘sportlichen Gegner’ nicht als Feind,
sondern als ‘Erlebnisfreund’ und betonen den kollegialen und freundschaftlichen Charakter.
Über spezifische Allianzen oder ambivalente Haltungen wurde nicht gesprochen. Dies widerspräche auch dem bereits zitierten Motto ‘We are one family’. Lediglich wie im Alltag aller
Menschen gäbe es besondere Sympathien und Antipathien. Letztere haben dann häufig mit
der Frage des Engagements innerhalb der Szene zu tun. Es reicht nicht, ein guter Sportler zu
sein. Wer nur zum Spiel erscheint, sich sonst aber wenig für das Funktionieren der Szene engagiert, ist bei den Little Devils nicht gut gelitten.
122
So z.B. Verstöße gegen den Paragraphen 131 StGB, Gewaltdarstellung; Aufstachelung zum Rassenhass. Im
Vordergrund steht der Schutz der Gesellschaft vor sozialschädlicher Aggression und Hetze.
249
Abgrenzung
Deutliche Abgrenzungen formulieren die Gruppenmitglieder allerdings gegenüber solchen
Gruppierungen, die sich und andere durch ihr Verhalten, gleich welcher Art, in Gefahr bringen:
A: Es gibt ja so Gestörte, die rasen mit zweihundert über die Autobahn oder
schnallen sich aufs Dach drauf oder stehen auf der U-Bahn. Das find ich total beknackt. Da kann wirklich was passieren. (...) Das ist ja total beknackt, jetzt wirklich sein Leben zu riskieren. (...) Nicht zuletzt, weil die ja auch andere gefährden
können, wenn einer aggressiv Auto oder Motorrad fährt. Da kann wirklich schon
einer druff gehen. Dann ist’s aus, vorbei vielleicht.
Ähnliches gilt - wie bereits mehrfach dargestellt - gegenüber Individuen mit vor allem rechter
politischer Gesinnung. Dazu gehören sicher auch Personen aus der ‘rechten Skinhead-Szene’,
die glauben, militärische Übungen auf diese Weise durchführen zu können. Paintballer solcher Orientierung tauchten auf internationalen Turnieren schon einmal auf. Dies sei bedenklich, letztlich aber Sache der Turnierleitung. Sie selbst, wie andere deutsche Teams auch - so
die Devils - , würden ihnen als Leiter eines Turniers die Teilnahme verweigern und hätten
aufgrund der Teilnahme eines rechtsorientierten Teams auch bereits ein Turnier verlassen.
Insbesondere betonen sie noch einmal ihr Verhältnis zu den in Japan und z.T. auch in den
USA praktizierten Paintball-Varianten:
A1: Die Amis haben schon ein paar Irre dabei.
A2: Aber noch bekloppter sind die Japaner. Die sind voll durchgeknallt. Wie die
Paintball spielen, dafür hab ich kein Verständnis. Die simulieren alle möglichen
Kriege, die es mal gegeben hat, spielen die nach. Die sind mir echt nicht geheuer.
Das sind doch Psychopathen, aber keine Paintballer.
Kein Verständnis zeigen die Little Devils auch für psychisch labile ‘Einzelkämpfer’, die ‚auf
ungesichertem Gelände planlos rumballern’, sich und andere gefährden, indem sie entsprechende Verhaltensmaßregeln missachten. Für diese ‘schwarzen Schafe’, die die Szene diskreditieren, haben die Paintballer nichts übrig und möchten auch nicht mit ihnen in Verbindung
gebracht werden. Abgrenzung findet also nicht gegenüber anderen Szenen, als vielmehr innerhalb der eigenen Szene (intra-szenische Exklusion) statt. Distinktionen vollziehen sich hier
sehr stark unter dem Normalitätsdruck. Gruppen, die das ohnehin negative Bild der Paintballer in der Öffentlichkeit durch rechtsextreme Parolen, militaristisches Auftreten etc. noch
stärker verunglimpfen, werden ohne ‘Wenn und Aber’ abgelehnt. Sie bedrohen die eigene
positive Selbstdefinition als ‘Sportler’ in besonderem Maße.
250
2.5
Gruppenverlauf
Die Gruppe hat sich zwischen 1996 und Anfang 2000 kaum verändert. Es hat zwar Zu- und
Abgänge gegeben, die mehr oder weniger formellen Positionen sind jedoch noch immer mit
denselben Personen besetzt.
Die Little Devils haben sich noch besser in der Szene etablieren können. Dies aufgrund ihrer
spielerischen Fähigkeiten, vor allem aber wegen des Engagements innerhalb der Szene. Die
Mitglieder sind als Schiedsrichter auf Turnieren sehr gefragt, der Teamchef hat lange Zeit
Turnieranglisten betreut resp. herausgegeben. Auch sorgen die Little Devils für den Nachwuchs, die sogenannten ‘Rookies’. Es habe sich herumgesprochen, dass man ihnen gegenüber
keinerlei Arroganz zeige. So ist der Teamcaptain mittlerweile gleichzeitig auch Teamcaptain
der Nachwuchsspieler der ‘Allstars’, dem erfolgreichsten Team in Deutschland.
Die Gruppe verspürt aktuell eine leichte Normalisierungstendenz. Der Druck von außen sei
zwar immer noch stark, habe aber im Vergleich zu vor ein oder zwei Jahren abgenommen.
Zwar plane die neue Regierung eine Verschärfung der Gesetze, die Paintball problematisiere
und zu weiteren Reglementierungen beitrage. Auf der praktischen Ebene jedoch haben die
Little Devils von einer Kreisstadt offiziell ein Spielfeld angeboten bekommen. Auf Turnieren
lockern sich die krampfhaften Bemühungen des Vermeidens militärähnlicher Spielanzüge.
Wohlwissend, dass es bisher zu keinem nennenswerten bzw. folgenschweren Zwischenfall
gekommen ist und dass sich ‘Rechte’ in der Szene bisher nicht etablieren konnten, traut man
sich nun eher, funktional (Tarnung) sinnvolle ‘Armyhosen’ zu tragen, die bei Ravern und
Rappern ohnehin zulässig und üblich seien.
Die Fähigkeit des Thrillerlebens scheint nicht inflationär geworden zu sein. Die Gruppenmitglieder sehen keine Abnutzung oder Gewöhnung im ‘Reizkonsum’, die stärkere oder gar ‘realere’ Erlebnisse abverlange. Allenfalls der hohe Zeitaufwand, den das Hobby erfordere und
auch die hohen finanziellen Kosten werden gleichsam mit den Jahren hinterfragt. Beruf, Zeit
und Geld waren die Gründe für den Ausstieg bei einigen Gruppenmitgliedern. Freundschaft,
Spaß, Erfolg und soziales Ansehen Motive für den Einstieg bei den Little Devils.
251
3. Hooligans - Gewalt macht Spaß
Besuch aus Deutschland ...
„Als Markus Warnecke und 45 Gleichgesinnte (...) gegen Mitternacht am Busbahnhof Hannover den Bussa-Nova-Reisebus bestiegen, hatte keiner von ihnen
eine Eintrittskarte für das Spiel der Nationalelf gegen Jugoslawien bei sich, dafür
aber Massen von Bier und den festen Willen, sich zu prügeln. ‘Wir sind Hooligans’, bekennt Jörg Draht, Organisator der Fahrt, ‘einer gepflegten Schlägerei
sind wir nicht abgeneigt’“ (Der Spiegel 1998, S. 74 – zu den Ereignisse in Lens
1998).
Seit dem Brüsseler Heyseldrama 1985 evozieren gewaltbereite Fußballfans in der breiten Öffentlichkeit Empörung und Bestürzung. Erneut wurde das Problem der (Jugend)Gewalt in das
Bewusstsein gerückt, als Hooligans aus Deutschland bei der Fußballweltmeisterschaft in
Frankreich bei Krawallen in der nordfranzösischen Stadt Lens am 21. Juni 1998 den Gendarmen Daniel Nivel so schwer verletzten, dass dieser wochenlang im Koma lag und bleibende
Schäden davon trug.
Abb.: Tatfoto vom Juni 1998 in Lens: Ein Hooligan schlägt auf den am Boden liegenden
Polizisten ein (Quelle: http://mainz-online.de)
„Was im nordfranzösischen Lens (...) nach dem Spiel der Deutschen gegen die
Jugoslawen geschehen war, hatte ‘die Welt entsetzt’ (‘Bild’). Der BeinaheTotschlag, von blindwütig prügelnden Hooligans vollzogen an einem 43jährigen
Polizisten, beherrschte tagelang die Medien, beschäftigte den Bundestag und wurde zum politischen Zankapfel zwischen Deutschen und Franzosen. (...) Waren die
französischen Sicherheitskräfte schlecht vorbereitet auf ein erwartbares, von Düsseldorfer LKA-Leuten angekündigtes Spektakel der fliegenden Fäuste? (...) Einig
waren sich alle im empörten Aufschrei und in der Verurteilung von Tat und Tätern. ‘Gewaltverbrecher’ nannte sie Außenminister Klaus Kinkel und forderte eine
252
‘Hooligan-Datenbank’ (die es längst gibt). Von ‘kaum resozialisierbaren’ Tätern
sprach Innenminister Manfred Kanther. Über ‘reisende Gewalttäter’, die ‘dem
Ansehen Deutschlands schwer geschadet’ haben, klagte der SPD-Agbeordnete
Jürgen Meyer. DFB-Abgeordenete waren den Tränen nahe. Der Kanzler schämte
sich stellvertretend für die ganze Nation“ (ebd. S. 73).
Hooligans oder Hools sind gewaltbereite Gruppen, die sich seit 1987 innerhalb der deutschen
Fußballszene ausbreiten und sich dabei an den englischen Vorbildern orientieren. Sie sind
Teil eines Randaletourismus, wie er im oben zitierten Spiegel-Artikel beschrieben wird: Ort
und Zeit für körperliche Auseinandersetzungen werden oftmals schon via Telefon/Handy oder
Internet verabredet. In erster Linie geht es hier nicht unbedingt um Fußball, sondern um die
Schlacht nach dem Spiel.
Innerhalb der bundesdeutschen Fankulturen unterscheiden Utz/Benke (1997, S. 103) die
Gruppen der Novizen, Kutten, Hools und Veteranen, „die sich hinsichtlich ihrer Figurationsstruktur, der Interpretation der subkulturellen Wertvorstellungen und der daraus resultierenden Logik ihres Ausschreitungsverhaltens unterscheiden.“ Die Novizen stoßen im Alter von
zwölf bis 16 Jahren zur Fankultur. Dieser „Einstieg“ kann Ausgangspunkt einer längeren
Fankarriere sein. In der Szene insgesamt haben die Novizen das geringste Ansehen; sie werden als „Kinder, Heuler- oder Lutschermob“ (ebd., S. 106) verhöhnt und müssen sich zuerst
ihre Sporen verdienen. Ist ihnen das gelungen, können sie möglicherweise zu Kuttenträgern
aufsteigen. Kuttenträger sind Fangruppen, die ihre Vorliebe für ihren Verein durch Schals und
Mützen und die über und über mit Vereinsemblemen verzierte Jacke (Kutte) ausdrücken. Kutten gehören zu den etablierten und anerkannten Fans und sind auch für Außenstehende während der Bundesligasaison beim samstäglichen Stadionbesuch leicht auszumachen. Der Veteran stellt den Ausstiegstyp aus der Fankultur dar. Er ist nur noch lose über Kneipen, Cliquen
oder Freundesgruppen an die Szene gebunden und bewegt sich eher zurückhaltend in dieser
Welt. Hooligans bezeichnen einen neuen Fantyp in der bundesdeutschen Fankultur und unterscheiden sich von den übrigen Typen:
„Sie rekrutieren sich zum Teil aus ehemaligen Kuttenträgern, die bereits eine Karriere als Novize hinter sich haben. Neuerdings scheinen sie direkt aus Novizenkreisen und jugendlichen Gruppen Zulauf zu haben, die keine spezifischen Fanerfahrungen mehr aufweisen, sondern sich umweglos an die Hools anzuschließen
versuchen. Die Hooligans sind für den Außenstehenden nicht auf den ersten Blick
wie etwa die gleichaltrigen Kuttenträger erkennbar. Zu ihrer ‘Standardausrüstung’
gehören teure Jeans, Jogging-Bekleidung, Imitationen amerikanischer Baseballjacken und die ihrem Verständnis nach unverzichtbaren Regenschirme. Auch den
Hools dient die spezielle Kleidung als Mittel, sich gegenüber den anderen Typen
der Fankultur intern abzugrenzen und nach außen für die gegnerischen Hools
leicht erkennbar zu sein. Daß das Tragen von Symbolen in der Fanszene als abgrenzungsrelevantes Zugehörigkeitssymbol gelesen wird, zeigen Ausdrücke mit
253
verächtlicher, abwertender Konnotation, mit denen Hools Kuttenträger beschreiben: Kuttenlutscher, Kuttenaffe, Kuttenkinder oder - in anderer Stoßrichtung - Assimob. Die Hoolsfigurationen weisen keine formalisierte Binnenstruktur auf. Zugang und Mitgliedschaft ist für Außenstehende nur sehr schwer zu erhalten. Da
das Gruppenziel der Hools im Unterschied zu den Kuttenträgern vornehmlich darin besteht, gewalttätige Ausschreitungen relativ rational zu planen und durchzuführen, ist Zugang und Mitgliedschaft für andere Fangruppen, besonders für Kuttenträger, wegen der durch sie gegebenen Entdeckungsgefahr seitens der Polizei,
nicht zu haben“ (ebd. 1997, S. 109f).
Neben der hier ausführlich zitierten Analyse von Utz/Benke gibt es eine Vielzahl deutschund englischsprachiger Literatur zum Phänomen der Hooligans. International bemühen sich
Journalisten sowie renommierte Wissenschaftler um ein adäquates Verständnis der Interaktions- und Motivationsstrukturen. Hinweisen möchte ich auf die Studien von Deiters/Pilz
(1998), Farin/Hauswald (1998), Gehrmann/Schneider (1998), Hahn u.a. (1988), Heitmeyer/Peter (1992), Matthesius (1992), Weis (1993).123 Einen ausführlichen Erfahrungsbericht im
Sinne einer ethnographischen Analyse liefert die Schilderung von Buford (1992), der seine
Erlebnisse mit den gefürchteten englischen Hooligans in den Fußballstadien Englands und
Europas beschreibt.
Als Erklärung für die von Hooligans ausgeübte Gewalt werden häufig adoleszente Identitätskrisen oder makrosozial bedingte Sozialisationsdefizite sowie gewisse Dispositionen für gewalttätige Verhaltensweisen verantwortlich gemacht (vgl. Utz/Benke 1997). Auf diese Ursachen von (Jugend)Gewalt verweisen auch Eckert u.a. (1998; 2000), wenn sie vor allem Mehrfach-Problemlagen hinsichtlich Herkunft, Familie und Ausbildung als ausschlaggegend bezeichnen. Für die besonders realitätsnahen und gewaltaffinen Tripps der von mir untersuchten
Hooligans kann allerdings ein Zusammenhang zwischen Gewalt und benachteiligten Lebenslagen so nicht notwendigerweise nachgezeichnet werden. Bei ihnen spielt die ‘Lust an der
Gewalt’ als Ausdruck der Suche nach dem ‘ultimativen Kick’ eine wichtigere Rolle. Diese
emotionale Dimension kann bis zu einem gewissen Umfang auch für andere gewaltaffine Jugendkulturen (Türkengangs, HipHopper, Skinheads oder Punks) nachgezeichnet werden, denn
fast immer schwingt in der gewaltaffinen Auseinandersetzung auch Gewaltlust mit. Für die
Hooligans lässt sich aber zeigen, dass diese Lustquelle nicht ‘Nebenprodukt’ ist, sondern
vielmehr im Zentrum eines bewusst herbeigführten, martialischen Erlebnistourimus steht.
123
Vgl. auch Marsh u.a. (1978); Haferkamp (1987); Horak u.a. (1987)
254
Zur empirischen Datenbasis
Bei den hier skizzierten Hooligans handelt es sich um eine Gruppe von ca. 150 Mitgliedern.
Diese Zahl schließt allerdings die sogenannten ‘Mitläufer’ ein. Die Altersspanne reicht von
ca. zwölf (der Nachwuchs) bis 35 (die Alten) Jahre. Zum harten Kern gehören vor allem die
18- bis 26-Jährigen. Dies sind ca. 30 bis max. 50 Männer, die im Rahmen von Fußballspielen
und Kneipenbesuchen auch schon einmal ihre Freundinnen oder Frauen mitbringen. Die
Frauen sind allerdings - so meine Beobachtungen - nur ‘Gäste’. Die sozialen und familiären
Herkunftslagen sind heterogen, die eingeschlagenen Ausbildungs- und Berufswege ebenso.
Die Gruppe definiert und profiliert sich über Fußball, mehr aber noch über die Gewaltrituale
im Anschluss an die Fußballspiele.
Die Daten zu diesem empirischen Portrait habe ich zwischen 1995 und 1999 erhoben. Der
persönliche Kontakt zu den Hooligans bestand zwischen 1995 und 1997. Die Informationen
aus den Jahren 1998 bis 1999 basieren auf einem Gespräch mit einem Experten der Polizei,
der die Gruppe seit langem beobachtet und kennt, und der von mir auch schon vorher befragt
worden war.
Im einzelnen habe ich zwei ausführliche Interviews mit Hooligans sowie Expertengespräche
mit Straßensozialarbeitern und Polizisten durchgeführt. Hinzu kommen zahlreiche Unterhaltungen mit den Hooligans und eine Reihe von (teilnehmenden) Beobachtungen. Anlass für
letztere waren zwei gemeinsame Stadionbesuche und eine Nonstop-24-Stunden-Begleitung
der Hools an einem Wochenende. Dass die immens zeitaufwendige Datenerhebung bei dieser
Gruppe keine Gruppendiskussionen oder weitere aufgezeichnete Interviews erbracht hat, liegt
an der Besonderheit der Gruppe: Sie aktualisiert sich nur anlässlich der entsprechenden Fußballspiele mit anschließender Randale. Meine Begegnungen mit der Gruppe fanden deshalb in
erster Linie während und nach der sogenannten ‘dritten Halbzeit’ statt. Von einer ‘geordneten’ Interviewsituation kann auch angesichts des hohen Alkoholkonsums und der Schlägereien deshalb keine Rede sein.
255
3.1
Herkunft und aktuelle Lebenssituation
Familie
‘Meine’ Hooligans stammen aus sehr unterschiedlichen Familienverhältnissen. Die sozialen
Herkunftslagen reichen von den unteren Schichten bis hin zum Großbürgertum und Unternehmerfamilien. Informationen aus Gesprächen mit der Polizei und Straßensozialarbeitern,
aber auch meine eigenen Recherchen zeigen, dass dabei das ganze Spektrum von ‘normalen’
bis hin zu sehr problematischen Familiengeschichten vertreten ist. Einer der Befragten, der
zum Untersuchungszeitpunkt gerade eine Umschulung im Handwerk machte, ist im Heim
aufgewachsen, weil ihn seine Eltern - wie er sagt - ‘nicht erziehen konnten und abgeschoben
haben’. So sei er ‘auf die schiefe Bahn geraten’, habe Kontakte in die kriminelle Szene bis hin
zur organisierten Kriminalität. Zum Zeitpunkt meines letzten Gespräches erwartete ihn ein
Verfahren wegen versuchten Mordes. Er gab an, dass seine reichen Eltern gute Kontakte zum
Gericht hätten und „wohl wegen ihres schlechten Gewissens“ eine Kaution für ihn hinterlegt
hatten. So müsse er bis zur Verhandlung nicht in Untersuchungshaft. Dies wurde von den
anderen Gruppenmitgliedern bestätigt.
Typischer scheinen allerdings konventionelle Verhältnisse zu sein, wie das folgende Beispiel
stellvertretend zeigt. Es handelt sich um einen jungen Mann, der religiös erzogen wurde, was
hier als Hinweis auf traditionell orientierte und ‘geordnete’ Familienverhältnisse interpretiert
werden kann.
A: Ich bin sehr streng katholisch erzogen worden, also war mal Messdiener.
F: Ja.
A: Ja, ich musste jeden Sonntag in die Kirche gehen, bis ich 14, 15 war, mit
Freunden dann statt zum Gottesdienst zu gehen, in ‘ne Kneipe gegangen bin und
geflippert habe und so, und als ich dann nach Hause kam und mein Vater gefragt
hat, was der Pfarrer gepredigt hat, und ich mir ja was ausgedacht habe und dann
entweder Druck gekriegt habe, weil es nicht stimmte oder, irgendwann haben’s
denn mal aufgegeben, dass ich also in die Kirche gehe und Messdiener mache und
so weiter und so fort. Gläubig bin ich eigentlich auch, kann man sagen, aber deswegen muss ich nicht jeden Tag in die Kirche rennen. Ich geh eigentlich nur in die
Kirche, wenn mal ‘ne Hochzeit ist oder ‘ne Taufe, Konfirmation, Kommunionfeier, ansonsten eigentlich nicht. Hat aber nach meiner Ansicht nichts mit dem Glauben zu tun. Irgendwo glaube ich, dass es so was gibt, aber, ja, warum auch nicht?
Beten tu ich eigentlich nicht, brauche ich net (lacht).
256
In der Interviewpassage wird die Akzeptanz des Jugendlichen in Bezug auf gesellschaftliche
und religiöse Bräuche (z.B. Taufe, Konfirmation, Hochzeit) und damit auch seine Verankerung ins ‘normale Leben’ deutlich. Solche Ereignisse werden nicht in Zweifel gezogen, sondern als das ‘Fraglose’ (Schütz/Luckmann 1979) hingenommen. Dies weist ebenso auf eine
Integration hin wie die Aussagen, die ich (nicht nur von diesem Jugendlichen) über die Zukunftsvorstellungen bezüglich des privaten Lebens erhalten habe. Familie gründen, Kinder
haben, Haus bauen, Auto besitzen, regelmäßig in Urlaub fahren und seinen Hobbys nachgehen können - das sind die Eckpunkte der Lebensplanung. Die älteren Hooligans sind teilweise
verheiratet, haben Kinder und üben einen Beruf aus.
A: Was mach ich? Montags pass’ ich normalerweise auf meine Zwerge auf abends, weil meine Lebensgefährtin ja bis zehn Uhr arbeitet, dienstags geh ich
normal zum Training, Fußballtraining, donnerstags auch, freitags zieh ich um die
Häuser, bisschen tanzen gehen oder Billard spielen gehen. Oder es passiert ja auch
mal, dass freitags dann Fußball ist, geht ja von Freitag bis Sonntag, kommt drauf
an. Aber wenn freitags oder sonntags Fußball ist, bin ich samstags zu Hause meist
abends, muss ich nicht haben, dass ich weggehe. Ja, und sonntags spiel ich meist
selber Fußball oder ich geh dann ins Stadion, es kommt drauf an, was für’n Spiel,
also en ganz normales Freizeitverhalten, mal Sauna, Schwimmen. Das Übliche,
Normale.
Dass hier eine ausgesprochen konventionelle Orientierung vorliegt, wird immer wieder deutlich. So betonen die Befragten mehrfach, dass es sich bei ihnen in erster Linie nicht um randständige Personen, gescheiterte Existenzen oder ‘Verlierer’ handelt:
A: Ehm, wichtig vor allen Dingen zu schreiben wäre, dass Hooligans aus allen
Schichten kommen, sogar weniger aus den untersten Schichten, also mehr aus der
Normalbürgerschicht und auch obersten Schicht, dass die eigentlich nur sich austoben beim Fußball, das heißt also, im normalen bürgerlichen Leben ganz normale
Leute sind, die ihrer Arbeit nachgehen, die auch Familie und Kinder haben, die
eigentlich so, ist zwar übertrieben, aber sonst keiner Fliege was zuleide tun.
In einem Punkt wird die ‘Normalität’ des bürgerlichen Lebens allerdings aufgebrochen: Das
Wochenende und seine ‘Ausbruchsversuche’ (vgl. Cohen & Taylor 1977) in Form des Hooliganismus. Dies ist im vorliegenden Interviewbeispiel auch in anderer Sicht interessant. Zumindest bei diesem ‘Fußballrowdie’ trifft das typische Austrittsmuster aus Subkulturen, nämlich über eine feste Partnerschaft, nicht zu. Trotz Ehe und Kindern verbleibt er noch in der
Szene.
257
Wohnsituation
Die jungen Männer leben in einer Großstadt mit ca. 500.000 Einwohnern. Die konkrete
Wohnsituation konnte nicht ermittelt werden. Die Hools befanden sich zum Zeitpunkt der
Interviewdurchführung unter massivem polizeilichen Verfolgungsdruck. Alle Hinweise auf
die persönliche Identität wurden deshalb von den Jugendlichen vermieden. Eine Begehung
des Wohnviertels oder gar der Wohnungen konnte deshalb nicht stattfinden.124
Bildung und Arbeit
In der Bildungs- und Ausbildungssituation der Gruppenmitglieder setzt sich die Heterogenität
der Herkunftsfamilien fort. Dazu ein Hooligan-Experte der Polizei:
A: Man kann sagen, es geht los von Sonderschülern, aber nicht überproportional,
sondern wirklich nur der Ausnahmefall bis also Realschüler, aber auch Hauptschüler, Gymnasiasten auch, teilweise auch dabei gewesen, auch Leute, die natürlich nicht mehr zur Schule gehen, ist klar, die zwar noch schulpflichtig sind offiziell, aber dann irgend’ne berufsbildende Schule besuchen oder ähnliches. Ohne
dass man sagen kann, irgend’ne Schulform wäre überproportional vertreten.
Es handelt sich also um eine Gruppe mit sehr verschiedenen Ausbildungsgraden und Berufen.
Divergierende soziale Startbedingungen und die darauf aufbauenden Bildungsverläufe führen
in entsprechend unterschiedliche Tätigkeitsfelder. Vom Lehrling über den Kaufmann bis hin
zum Jura-Studenten ist alles vertreten. Ebenso gehören ‘gescheiterte Existenzen’ wie Alkoholiker oder Drogenabhängige - auch wenn dies von den Gruppenmitgliedern heruntergespielt
wird - zur Clique. Sieht man einmal von letzteren ab, so zeichnet fast alle Jugendlichen ein
pflichtbezogenes Arbeitsethos aus. Dies wird besonders in dem Bemühen deutlich, Beruf und
Karriere durch die deviante Leidenschaft nicht zu gefährden.
A: Aber ich sage mal, sobald ich irgendwas machen würde, oder irgendwas kommen würde, wo ich die Gefahr sehen würde, dass zum Beispiel mein Studium oder meine Zukunft oder so darunter zu leiden hat, was ja nun bei meinem Studium
auch schon an Kleinigkeiten manchmal hängen kann, würde ich sofort sagen:
“Nee, das war’s, das ist es mir nicht wert.”
A: Hmhm. Auch in meinem Job will ich mich mal irgendwann weiterbilden. (...)
Ich muss irgendwo mein Ziel finden. Wann ich das finde, weiß ich nicht, kann
morgen sein, kann nächstes Jahr sein, das kann auch erst in fünf Jahren sein, aber
124
Treffpunkte für die Interviews waren vor allem das Stadion und als ‘Locations’ der Hools bekannte Kneipen.
258
wenn ich so einigermaßen meine Ziele realisiert habe, dann will ich mich auch irgendwie mal ein bisschen mehr weiterbilden. Nicht des Geldes wegen, sondern
einfach für mich selbst.
Die berufliche Zukunftsorientierung steht eindeutig in Richtung gesellschaftlicher Etablierung. Sich des Etikettierungspotenzials und der Folgen des Prügelns auf der Fußballbühne
durchaus bewusst, findet eine klare Rationalisierung des Handelns statt: Gewalt ja, Karrieregefährdung nein. Auch wenn die Definition der beruflichen Ziele vielleicht noch vage und
unabgeschlossen ist, geht die grundsätzliche Orientierung klar in den Bereich ‘legaler’ Karrieren. Eine materialistische Werthaltung ist dafür bezeichnend.
3.2
Gruppenwirklichkeit
Entstehung
Die Ursprünge der untersuchten Hooligangruppe sind nicht klar nachzuzeichnen. Es gibt aber
in den Gesprächen und Interviews Hinweise auf zwei verschiedene Zugangsmuster. Eher selten war der Quereinstieg aus anderen Szenen. Einige der Hools haben sich vorher, z.T. auch
noch während ihrer Hooligan-Zeit, in der rechten Skinheadszene getummelt und dort auch
schon erste Gewalterfahrungen gesammelt. Ohnehin scheint zwischen Skinhead- und Hooliganszene eine beständige Wanderungsbewegung zu bestehen. Wohl auch deswegen werden
die Hools als eher rechts eingestuft. Typischer als die Interszenenfluktuation ist aber der Zugang über den Fußball. Einige der Befragten haben richtiggehende Karrieren vom aktiven
Jugendfußballer hin zum Hooligan durchlaufen:
A: Der Einstieg war so mit 14 Jahren, war das halt so, da war ich auf meiner
Schule mit’n paar Freunden und da sind wir dann halt mal zum Fußball hingegangen. Mich hat das durch ‘nen Nachbarn, den ich früher mal hatte, auch schon interessiert. Der hat mich dann mal als ganz kleinen Steppke mitgenommen. Und ich
war nun nicht so fußballverrückt, aber ich hatte auch mal Fußball gespielt. Und in
dem Alter verfolgt, glaub ich, jeder Junge die Bundesliga und wir sind dann halt
auch mal hingegangen. Und auf der Schule war’n dann halt noch’n paar Ältere,
sag ich mal, die schon kurz vorm Abitur standen, die haben dann gefragt, ob wir
nicht in so ‘ner Art Fanclub mitmachen wollen. Haben wir gesagt: “Ja, in Ordnung.” Und dann sind wir halt oft in diese Fankurve reingegangen und richtig so
mit Singen und Tralala, also halt, was man so mit 13, 14 Jahren halt so macht, und
fanden das auch alle ganz toll. Und irgendwann hab ich dann halt mal mitgekriegt,
nach dem Spiel sind dann plötzlich alle aus dieser Kurve rausgelaufen. Und das
war damals noch so, es waren halt viele Leute mit Trikots, Kutten oder BomberJacken und Jogging-Hosen und so was, also irgendwie noch, ja, wie soll ich sa-
259
gen, sah halt anders aus als heute. Und die sind halt alle in eine Richtung gerannt
und dann bin ich dann mal hinterher gelaufen und dann hab ich halt gesehen, dass
aus dem andern Block, aus dem Gästeblock andere rauskamen, und dass es dann
halt zu Rumgelaufe und Prügeleien kam, und halt irgendwie dazwischen Polizei
und ich fand das halt total aufregend, richtig spannend.
In die gleiche Richtung weist das folgende Beispiel. Hier wird zudem deutlich, wie unter dem
Einfluss der Peergroup in der Pubertät eine Interessenverschiebung stattfindet. Der Jugendfußballer verliert den Anschluss an das Leistungsniveau der Mannschaft, weil er abends mit
seinen Freunden durch die Diskotheken zieht. Als Folge muss er gezwungenermaßen das
Fußballspielen aufgeben. Seinen Hooliganismus betreibt er quasi als Fortsetzung des Fußballhobbys mit anderen Mitteln:
A: Ja, angefangen hat’s, ja, mein Vater, der hat früher selber Fußball gespielt, war
fußballbegeistert.
F: Hmhm
A: Gut. Na, ja, auf jeden Fall war selber fußballbegeistert und mit sechs Jahren
hat er mich im Fußballverein angemeldet und das hat mir auch Spaß gemacht. Na
ja, und er hat dann auch jede Sportschau gesehen und so weiter. Und ist er mit mir
auch ins Stadion gefahren. Also er war die ganze Woche auf Montage, dann kam
er freitags nach Hause, geduscht, gegessen, Kaffee getrunken, dann ging’s meist
ab ins Stadion. Ja, und so kam das Interesse überhaupt im Allgemeinen zum Fußball und ich war damals ein sehr guter Fußballspieler, hab mit 11 Jahren dann den
Verein gewechselt, also in ‘ne größere Stadt, der jetzt auch weit entfernt war, also
musste immer mit dem Bus fast 13 km hin- und herfahren. Ja, war auch in der
Auswahl schon und natürlich hatte ich auch als Vorbild vielleicht mal Fußballprofi zu werden. Ja, und als ich dann so 14, 15 wurde, ging das los, ne, Kumpels abends, schon in die Disko gegangen.
F: Jetzt hier vom Fußball?
A: Nee, nee, das kommt ja noch alles (lacht).
F: Ah, so.
A: So Kumpels, die ich so eben bei mir zu Hause hatte, ne, in ‘ne Disko gegangen, und was weiß ich, und ich wollte das auch mal mitmachen. Und meine Eltern, die waren dagegen, habe ich mich nachts immer aus dem Zimmer geschlichen, ne, bis morgens, was weiß ich, und dann wieder reingeschlichen. Ja, und das
haben sie dann irgendwann mal spitzgekriegt und haben gesagt: “Wir geben nicht
das viele Geld dafür aus, dass du hier deine Partys machst.” Das heißt also, ich
hab auch in der Leistung dann nachgelassen, ne. Na ja, dann hab ich mich
abgemeldet, hab ich so weiter Fußball gespielt und dann war auch erst ‘ne
Zeitlang Ruhe, also auch mit Fußballstadion und so, und haste dann die erste
Freundin gehabt. Und angefangen hat es eigentlich richtig dann so Anfang der
260
habt. Und angefangen hat es eigentlich richtig dann so Anfang der 80er Jahre.
Hatte ich dann auch ‘ne Freundin gehabt und mit der bin ich dann zusammengezogen und dadurch hab ich Leute kennengelernt, die eben auch ins Fußballstadion
fahren. Ja, und dann habe ich mich dazugesellt, angefangen als Schalträger, hab
mir so’n Schal gekauft, nun, ging das weiter, so ‘ne Kutte gemacht und was es alles so gibt, Mütze und Fahne, und so ging ich dann richtig los ins Stadion. Nun,
das hat mir irgendwie Spaß gemacht und dann bin ich mal beim Auswärtsspiel
mitgewesen, und das war so ein halbes Derby. Und da hab ich dann eben so Hooligans kennengelernt, so die Leute, die ja auf Gewalt richtig aus waren. Und zwar
hab ich das daran gemerkt, dass wir also, dass wir mit ‘nem Zug in der Stadt waren, in ‘ne Straßenbahn reingegangen sind und die ist kaum losgefahren, dann
hat’s schon gescheppert, ne, buff, alles kaputt gewesen, die ganze Straßenbahn
und so weiter und so fort.
Über diese unterschiedlichen Zugänge ist allmählich eine Gruppe entstanden, die - wie bereits
erwähnt - aus ca. 30 Mitgliedern besteht. Die bis zu 100 Mitläufer kommen meist bei fußballerischen Großereignissen dazu. Es liegt eine relativ hohe Fluktuation vor. Insbesondere ältere
Mitglieder verlassen die Gruppe wegen Partnerschaft und Ehe, vor allem aber wegen laufender (teilweise mehrfacher) Strafverfahren. Wer den Ausstieg nicht ganz schafft, resp. den
Kontakt aufrecht erhalten will, bleibt mehr oder weniger noch ‘lose’ assoziiert. Ein Mitarbeiter der Polizei konkretisiert die Gründe des Ausstiegs:
A: Die Älteren gehen raus, die Jüngeren kommen nach, auch damit verbunden,
dass eben die Älteren teilweise auch Strafverfahren offen haben. ‘Ne Zeit lang
geht’s gut, denn vielfach sind sie ja auch nur in Gewahrsamnahme, ohne Straftaten nachweisen zu können, aber irgendwann erwischt es den einen oder anderen
dann doch mal. Und wenn’s eben häufiger vorkommt, dann kriegen sie Bewährungsstrafe und dann ziehen die meisten sich dann irgendwann zurück.
Auch in der Perspektive der Polizei zeigt sich, dass die Mitgliedschaft in dieser Gruppe und
die Teilnahme an entsprechenden gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Kalkül verbunden
ist. Kosten und Nutzen werden sorgfältig gegeneinander abgewogen. Die Konfrontation mit
dem Gesetz, vor allem die möglichen Folgen, werden gescheut.
Selbstverständnis
Die Suche nach Gewalt und die mit ihr erlebten Gefühle sind - wie bei vielen anderen Hooligangruppen auch - Kern des Selbstverständnisses dieser Gruppe. Die Vorfreude auf diese Intensiverlebnisse beginnt oft schon in der Nacht zuvor und äußert sich in Schlaflosigkeit und
Unrast. Der Tag beginnt früh, öfters sind auch lange Anfahrten in Kauf zu nehmen. Das Fußballspiel, die Jagd durch die Straßen, die Verfolgung durch gegnerische Hools und Polizei
und schließlich der Kampf selbst erzeugen höchste emotionale Erregtheit, das Gefühl von
261
Angst und Nervenkitzel. Die eigentliche Schlägerei als Höhepunkt ist meist nur von kurzer
Dauer. Die folgenden Interviewpassagen können dies anschaulich vermitteln:
A: Also das ist es aber, warum man das macht. Das ist nicht ‘ne Angst an sich, es
ist halt ein Nervenkitzel. Von wirklich guten Sachen kriegt man Kribbeln im
Bauch und ist nervös. Und als ich früher halt so die ersten, als ich auswärts gefahren bin, dann irgendwann angefangen habe damit, konnte ich die Nacht vorher
kaum schlafen. So ‘ne Mischung aus Angst und Freude und überhaupt.
A: Dieser Kick, dieses Bauchkribbeln ist genauso, wenn de dich frisch verliebst,
und dein Bauch kribbelt und deine innerliche Stimme sagt: Ah, das kann nicht
sein, dass ich den Menschen gut finde. Aber man kann nichts dagegen tun. So ist
das eben, man braucht das irgendwie. Früher war’s ja noch schlimmer, da bin ich
schon ganz nervös morgens um fünfe aufgestanden, hab erst mal gefrühstückt,
Zeitung gelesen und so, und dann in Ruhe geduscht und fertig gemacht, Klamotten zusammengelegt und’n Film wahrscheinlich noch zwischendurch geguckt, bis
es dann endlich los ging. So aufgeregt war ich, dass ich also wirklich kaum schlafen konnte die Nacht. Das Kribbeln, die Vorfreude war schon immer da. Das ist
wie so ‘ne Droge. Man weiß, dass es Blödsinn ist, aber man macht’s trotzdem.
Das ist genau wie wenn ich eine rauche, ich weiß, das ist absoluter Schwachsinn,
aber ich mach’s trotzdem. Fun, einfach Spaß. In erster Linie natürlich fahr ich ins
Stadion, um Fußball zu gucken. Was ja auch oft gesagt wird, die wollen nur zum
Randale machen, was ja gar nicht stimmt. Ja, und dann die Action, hinterher, vorher, einfach nur so aus Spaß, das Kribbeln im Bauch, das gewisse, was passiert
dann, ne, wenn se um ‘ne Ecke kommen und so, das gewisse, wie manche eben
Bungeespringen machen. Keine weitere Bedeutung. Einfach nur Spaß haben.
A: Es ist ja auch beim Fußball so, dass diese Massenschlägereien meist nicht lange dauern, paar Sekunden, und dann war’s das auch schon, weil entweder die Bullen kommen dazwischen oder selten mal, wie jetzt zum Beispiel, letztes Jahr,
wo’s wirklich also über Minuten hinaus geklatscht hat und ‘ne Jagerei ohne Ende
war. So was ist selten passiert, aber da ist es passiert, und waren auch sehr viele
Verletzte und alles. Aber in den meisten Fällen kommt es entweder nicht dazu oder es ist nur von kurzer Dauer und sind meist sowieso nur 10, 20 Prozent, die ja
wirklich rangehen.
Das Fußballspiel selbst wird zwar verfolgt, stößt aber nur auf minimales Interesse. Besondere
- weil außeralltägliche Erfahrungen - machen die Hools nicht während des Spiels, sondern im
Anschluss daran. Ein Befragter vergleicht den Erlebniswert der Fanschlachten mit einem Urlaub auf Mallorca. Vielen dient die Ferieninsel bereits seit längerem als Enklave, sich von
Alltagszwängen zu befreien, sexuellen Trieben unkontrolliert nachzugeben oder im Rausch
von Alkoholexzessen das zu tun, was zivilisierte Menschen normalerweise nicht tun würden:
A: Aber wenn se beim Fußball sind, drehen se durch. Das heißt genauso, wenn ein
normaler Bürger in Urlaub fliegt und der landet auf Mallorca, dann ist er auch ein
ganz anderer Mensch. So kann man das beim Fußball auch beschreiben. Man ver-
262
gisst sein Alter, die ganzen Sorgen, man will Fun haben, Spaß, man kann sich austoben und du darfst dich bloß nicht erwischen lassen. Wenn de im normalen Leben irgendwo was machst und so, dann hängen se dir gleich was weiß ich hinterher und wirst de gleich erwischt und so, und da kannst de also, da hast de mehr
Bewegungsfreiheiten.
Die Fanschlachten sind also auch Ausbruchsversuche aus dem Einerlei und den Zwängen des
Alltags. Besonders die großen internationalen Wettbewerbe wie Europa- und Weltmeisterschaften sind das Ziel aller ‘hooliganesken Urlaubsträume’. Schon lange vorher beginnt die
Vorfreude auf diese Großereignisse. Ein Polizeimitarbeiter bemerkt dazu:
A: In Hooligan-Kreisen freut man sich schon drauf. Da hört man also tatsächlich:
„Mensch, nächstes Jahr England, geile Aktion, da geht’s wieder gut ab.“ Weil die
englischen Fans ja auch dafür bekannt sind und die sind ja auch verrückt in dem
Bereich.
Besonders wichtige Spektakel üben also schon lange im voraus eine beträchtliche Faszinationskraft aus. Wegen solcher Ereignisse wird unter Umständen auch immer wieder der Ausstieg aus der Szene verschoben. Zu groß sind die Verlockungen bevorstehender FußballEvents. Hier entlang richtet sich teilweise die ‘Karriereplanung’ als Hooligan.
A: In näherer Zeit wollt ich sowieso Schluss machen, weil ich manchmal denke:
Was hat das überhaupt für’n Sinn? Weil du läufst da wie so’n Irrer durch die Gegend und prügelst dich und riskierst en blaues Auge und so, und das war’s dann
auch. Irgendwo ist das Schwachsinn. Aber auf der andern Seite, ich wollte mit 30
aufhören, ich hab’s bis heute noch nicht geschafft.
F: Was glaubst de, wo dran das liegt, dass du’s nicht geschafft hast?
A: Das kribbelt immer wieder. Ich hab mir gesagt, ‘96, also jetzt nachdem ich’s
mit 30 nicht geschafft hab (räuspert sich), ‘96 England ist Schluss, endgültig.
F: Da fährst du aber nochmal hin?
A: Hab ich vor, ja. Na, ja, jetzt ist ja ‘98 die Weltmeisterschaft in Frankreich.
F: (lacht).
A: Ist auch wieder so’n Ding, da hab ich gedacht: Na, ja, dann aber, dann allerspätestens. Na, ja, und jetzt hat sich rausgestellt, dass im Jahr 2000 Belgien/Holland
dran ist, Belgien/Holland, also die Europameisterschaft ist, und da ist es normalerweise immer Pflicht, hinzufahren.
263
Bei den Herstellungsbedingungen der Gewaltrituale selbst bleibt nichts dem Zufall überlassen. So sind die Fanschlachten nicht selten ‘Verabredungen’, die lange vorher schon sorgsam
geplant werden. Durch diese Planungen muss einerseits gewährt sein, dass der ‘Feind’ auch
an Ort und Stelle ist. Andererseits ist es wichtig, die Einsatzpläne und Präventivmanöver der
Polizei zu unterlaufen, was aber nicht immer gelingt. Durchaus kann die geplante AdrenalinEkstase auch mit einer ‘Taxifahrt’ enden (so nennen die befragten Hools das Abtransportieren
mit dem Polizeiwagen). Gerade die strategische Herbeiführung der Thrillerlebnisse macht
deutlich, dass es sich bei den Schlachten der Hools nicht bloß um dumpfe Gewaltausschreitungen aufgrund von Frustration und Monotonie handelt, sondern dass vielmehr Kalkül und
Rationalität im Sinne einer Erlebnistechnik einen wichtigen Anteil haben.
A: Ja, und entweder man hat halt irgendwas mit jemand anders verabredet, dass
die wissen, wann wir kommen oder wohin wir kommen, oder wir wissen, wohin
wir kommen sollen. Oder es ergibt sich halt so, dass wir natürlich versuchen an
die ranzukommen und die versuchen an uns ranzukommen, sei es auf dem Weg
zum Stadion, sei es im Stadion, sei es danach, sei es, dass wir uns in irgend’ner
Kneipe treffen oder wissen, wo die ihre Kneipe haben. Das kann man einfach
nicht so sagen, das ist von Mal zu Mal auch so unterschiedlich.
F: Hmhm.
A: Es gibt halt andere Städte, zu denen wir Kontakt haben, dann wird vorher telefoniert, es gibt Städte, da fährt man hin auf Verdacht und weiß überhaupt nicht,
was da nun ist und ob überhaupt dann was ist. Das kann man nicht pauschalisieren.
Es ist aber zu beobachten, dass im Spiel mit diesen extremen Erlebnissen eine hundertprozentige Sicherheit vor Ausschreitungen und Kontrollverlusten nie gewährleistet ist. Besonders
wenn der Alkoholpegel ein bestimmtes Maß überschreitet, sind Eskalationen und Rahmenverletzungen zu beobachten. Dann kommt es immer wieder auch innerhalb der Gruppe zu Gewalt:
A: Wenn vielleicht mal was außer Kontrolle gerät, dann ist das sicherlich dadurch
bedingt, dass viele Leute vielleicht in sich angestaute Aggressionen nicht unter
Kontrolle kriegen, andere Leute vielleicht aus Angst und aus Panik dann reagieren
und durchdrehen und bei vielen Leuten halt einfach nur der Adrenalinspiegel und
vielleicht auch mal das ein oder andere Bier, das sie zuviel getrunken haben, mit
‘ne Rolle spielen.
Allerdings distanzieren sich die befragten Hools von solchen Kontrollverlusten, bei denen
Unbeteiligte zu Schaden kommen oder bloßer Vandalismus ausgelebt wird.
264
A: Man kann mich beleidigen, man kann zu mir Arschloch sagen, das geht mir
hintenrum vorbei, juckt mich nicht, interessiert mich nicht. Aber da ist mal ‘ne Situation gewesen, da war ich ziemlich stinkig, auf den wollt ich drauf los. Und das
hat man mir auch bestätigt, das hätte jeder andere genauso gemacht wie ich auch.
Aber da gehört wirklich was zu, um mich da rauszukriegen, dass ich mich da
rumprügeln würde, aber der hat’s geschafft. Ich hab mich zwar zurückgehalten,
aber wenn se mich nicht zurückgehalten hätten, wär ich drauf losgegangen, ist
noch gar nicht so lange her, aber im Allgemeinen kann man sagen, dann laß ich
denjenigen da stehn. Gut, wenn er mich angreifen würd oder so, würde ich mich
natürlich wehren, wie jeder andere auch. Im Großen und Ganzen bin ich’n lustiger
Typ und geh eigentlich Streit und Ärger aus dem Wege. Ich will meinen Spaß haben, wenn ich ausgehe und will lachen.
A: Ich persönlich halte davon absolut gar nichts von diesen ganzen Sachbeschädigungen und auch Plünderungen, die ja auch schon vorgekommen sind. Und wenn
du da nämlich richtig erwischt wirst, dann hast du nämlich nicht nur ‘ne deftige
Anzeige am Hals, dass du dafür abgehst, sondern kost auch richtig Kohle.
F: Und das bist du nicht bereit, zu riskieren?
A: Nee, das werde ich nicht, da hab ich mich auch rausgehalten. Ich war zwar dabei, aber ich bin im Hintergrund geblieben, da hab ich also mich wirklich rausgehalten, war keine Polizei da, gar nichts. Ich hätte da voll mitmachen können, aber
ich wollt es nicht. [...] Genau wie auf der einen Raststätte da, wo da auch hier ‘ne
Bedienung ziemlich was derbe abgekriegt hat, weil die einfach dazwischen war,
finde ich Scheiße, will ich mich nicht dazu zählen irgendwie, ne, ist nicht mein
Ding. Da würd ich mich auch immer raushalten auch.
Noch deutlicher wird die Sonderstellung der Fußballgewalt und das Bewusstsein bei den befragten Hools über den angemessenen Rahmen in der folgenden Passage, wo der Befragte den
Versuch unternimmt, Gewalt zu definieren. Dabei wird sehr deutlich zwischen Gewalt und
den Erlebnisfreuden im Kampf unterschieden. Gewalt kommt im realen Alltag in zahlreichen
Situationen vor. Was die Hools dagegen machen, ist aus ihrer Sicht eher Sport und Wettstreit,
eine harte Freizeitbeschäftigung unter Männern:
A: Was ist Gewalt? Gewalt ist für mich nicht das, was beim Fußball ist. Gewalt ist
für mich eher, was schon im normalen Leben abgeht. Ob’s jetzt in der Familie ist,
wo der Mann die Frau schlägt oder die Kinder misshandelt oder Messerstecherei,
oder irgendeinen abknallt, oder Gewalt gegen den Staat. Zum Beispiel Linke gegen die Polizei, gegen die Staatsmacht, dass die mit Dingen was durchsetzen wollen, ach, wie soll ich das ausdrücken, die haben en bestimmtes Ding, das passt denen nicht und dann denken die, jetzt muss man dem Staat mal was auf die Birne
hauen und dann passiert es wie zum Beispiel traditionsmäßig am 1. Mai in Berlin
oder so, wo von vornherein schon feststeht, heute oder morgen oder übermorgen
knallt es richtig gegen den Staat. Das ist für mich Gewalt. Fußball würd ich nicht
als Gewalt bezeichnen. Gewalt ist irgendwas Höheres für mich, nicht so ‘ne kleine
265
Boxeinlage. Da müsst ja zum Beispiel im Sport Boxen, ja, Karate oder so, auch
was, muss ja auch Gewalt sein, ist ein ganzer normaler Sport. Wir sehn das eigentlich als Sport. Entweder bin ich besser als der, der vor mir steht oder ich bin
schlechter. Wie beim Boxen, entweder geb ich dem was auf die Glocke oder er
gibt mir was auf die Glocke. Und einer ist dann Weltmeister oder Europameister
und Deutscher Meister oder sonst was, wir sehn das eher als Sport, en bisschen
Fun, ein bisschen Action, Kribbeln im Bauch.
Hooligan-Schlachten sind aus der Sicht der Akteure also keine ‘Gewalt’, sondern Kräftemessen und Stimulation. Es ist eine rauhe Form des ‘sensation seeking’ (Zuckerman/Bone 1972).
Gleichzeitig bringt der Erfolg im Kampf Anerkennung und Respekt sowohl innerhalb der
eigenen Gruppe als auch außerhalb in der Szene. Dies wird in den Interviews nicht explizit
genannt. Zu stark dominiert der Gedanke des aktiven Herbeiführens von Nervenkitzel und
Thrill. Beobachtungen, die ich bei den obligatorischen und abschließenden Trinkgelagen nach
‘getaner Arbeit’ machen konnte, verdeutlichen aber die Wichtigkeit des Kampferfolgs. Erfolg
tritt nicht nur im Falle des Besiegens anderer Gruppen ein, es reicht schon aus, ‘seinen Mann
zu stehen’ und nicht zu kneifen. Die Heimkehrer aus der Schlacht sonnen sich in ihren Heldentaten.
Gegenüber den Gefühlsbädern des Kampfes und den anschließenden ‘Würdigungen’ werden
andere Aspekte der Selbstdefinition, wie etwa jugendkulturelle Moden unwichtig. Bezüglich
ihres Outfits sind die von mir befragen Hooligans keiner eindeutigen Richtung zuzuordnen.
Wer es sich finanziell leisten kann, trägt Sportschuhe bekannter Sportartikelhersteller sowie
Hosen, Jeans, Hemden und Jacken von führenden Designern. Den sonnenbankgebräunten
Muskelmann mit langem Haar und Zopf in lässiger Jeanshose und Lederjacke traf ich ebenso
an wie den Kahlrasierten oder extrem Kurzhaarigen im noblen Zwirn (Hemd aus Seide mit
Leinen, Krawatte, Markenjeans, hochglänzende schwarze Lederschuhe und Jacket). Zu finden
war auch der tätowierte Rockertyp in Lederhose, schmutziger Jeansjacke mit abgeschnittenen
Ärmeln, T-Shirt und Lederstiefeln. Die Musik in den unterschiedlichen Szene-Treffpunkten,
lässt ebenfalls keine eindeutige Richtung erkennen: von Disco über Soul zu Rock-Pop oder
Reggae scheint es keine eindeutige Präferenz zu geben. Die Diversität modischer Stilattitüden
und musikalischer Geschmäcker ist in gewisser Weise ein Zeichen für deren Beliebigkeit und
relative Bedeutungslosigkeit bezüglich der Selbstdefinition der Gruppe. Ähnlich uneindeutig
ist auch die politische Orientierung. An Politik sind die Befragten nicht interessiert, sie hat
keinerlei Relevanz für ihr persönliches Leben. Allenfalls eine latent ‘rechte’ Orientierung
lässt sich vermuten. Politische Aussagen bleiben stets unverbindlich und offen. Niemand äußert Sympathie für radikale Positionen. Ein Hool sagt:
A: Ich möchte an der Gesellschaft an sich nichts ändern. Und da ist es mir ehrlich
egal, ob ich nun, sagen wir mal, die FDP mit der CDU an der Regierung habe o266
der die SPD mit den GRÜNEN, das sind Kleinigkeiten, die einen sicherlich ab
und zu mal betreffen, aber ansonsten fühl ich mich halt so wohl, dass ich mich
halt politisch nicht in irgendein Extrem schlagen möchte.
Insgesamt ist festzuhalten, dass die untersuchte Gruppe intensive Gefühlsstimulationen im
Kampf sucht. Ihr Selbstverständnis ist untrennbar mit dieser Motivation verbunden. Das besondere Erlebnis wird in besonderen Ritualen zelebriert, die es von der Alltagsrealität abkoppeln, was aber nicht immer gelingt. Das Beispiel der Hools zeigt, dass der Gegenstand der
Gefühlsproduktion völlig unerheblich geworden ist. Was dem Außenstehenden als hasserfüllte Schlägerei sozial desintegrierter Personen erscheint, ist für die Insider ein kalkuliertes Spiel
mit dem Risiko. Aber genau wie der Bungee-Springer hat auch der Hooligan eine Sicherung,
die ihn in seiner Situation vor dem freien Fall in ‘unzivilisierte’ Zeiten bewahrt. Das Auffallende an der Gewalt der Hools ist ihre Konstruktion als Fiktion, unabhängig davon, wie real
ihre Spiele wirken mögen. Man bezahlt zwar mit seinen echten Zähnen für den Thrill, aber
das machen Hochgeschwindigkeits-Biker, Boxer etc. auch. So kann auch Gewalt jenseits aller
gesellschaftlichen Regeln zum Spiel werden. Gleichzeitig wird über den Erfolg im Kampf und
das dadurch gewonnene Ansehen ein positiver Selbstwert generiert.
Zusammenleben und Struktur
Die untersuchte Gruppe besteht fast nur anlässlich des Fußballspiels und der daran anschließenden Randale. Es handelt sich in gewisser Weise um ein Zweckbündnis. Weitergehende
Freundschaften bestehen nur vereinzelt. Gemeinsame Aktivitäten über ‘den Samstag’ hinaus
sind bislang fast immer im Sande verlaufen:
A: Wenn Fußball vorbei ist, geht meist jeder seinen eigenen Weg. Gut, es gibt’n
paar Leute, die sind untereinander auch so befreundet. Aber es ist nicht häufig so.
Meist treffen sie sich alle beim Fußball und dann ist man eben Kamerad und
kumpelhaft, man trinkt einen zusammen und das geht meistens nach dem Fußball
auseinander. Es ist mal so gewesen, dass wir vorgehabt haben: Ja, jeden Donnerstag treffen wir uns in der Kneipe und im Monat zahlen wir jeder 10 Mark ein,
dann machen wir ab und zu mal ‘ne Feier und das hat nicht lange gedauert, dann
ist das auseinander gegangen, weil zu viele Leute dann auch nicht gekommen sind
und so. Also das hat sich nie richtig irgendwie aufgebaut, ne.
Die Gruppe ist klar strukturiert. Hierarchiebildend ist die Zugehörigkeit zum festen Kern verbunden mit entsprechenden Aktivitäten und Mut. Wer mehr oder weniger aus sicherer Entfernung nur den Beobachter spielt, ist weniger akzeptiert. Ein Hool führt aus:
A: Es gibt, es schimpfen sich zwar viele Hooligans, aber man kann sagen, ja, viele
Möchtegern-Hooligans, die sich einfach nur beweisen wollen vor andern Kumpels
267
und so: Ja, ich geh zum Fußball und dann ging die Boxerei ab und die haben noch
nie einen umgeboxt oder mal eine gekriegt, aus dem einfachen Grunde, weil se
viel zu weit weg waren, das erst mal aus der Ferne beobachtet haben. Das sind eigentlich sehr viele. Es gibt’n harten Kern und dann gibt es Mitläufer.
Ansehen und Prestige wird nur den ‘wirklichen Kämpfern’ zu Teil. Aber nicht nur der kurzfristige Erfolg, sondern vor allem - eng damit verknüpft - eine entsprechende Szenekarriere
(‘Die Alten’) bestimmen den Rang eines Gruppenmitglieds. Oben steht, wer lange und erfolgreich dabei ist. Neulinge müssen sich zuerst einmal bewähren:
A: Und, ja, was heißt Mutproben, wenn halt gesehen wurde, man hat halt schon
mal am Anfang ein, zwei Mal was hinter die Löffel gekriegt sozusagen, also nicht
schlimm, aber es wurde halt so gesagt: „Hier, geb mal’n Bier aus oder sei froh,
dass du mitfahren darfst. Und wenn ich dich nachher nicht vorne sehe, dann
kriegst du nach dem Spiel von mir noch eine.“
A: Akzeptiert wirst de eigentlich erst, wenn de richtig mit vorne dabei bist und
dich auch stellst, wenn die gegnerischen Hooligans kommen und nicht gleich wegrennst. Aber das kriegen die Leute nach ‘ner Zeit auch mit, wer mitmacht. Man
muss sich das wirklich erkämpfen. Es gibt ja auch Nachwuchsleute, wenn die
ewig da wegrennen, ja, dann kriegen die was aufs Maul, ist klar. Weil, ich weiß
nicht, ist nun mal so.
Die Alten sind nicht nur die Angesehensten, sie sorgen auch dafür - sofern das möglich ist dass die Tradition und insbesondere ihre Verkörperung durch bestimmte Regeln (z.B. Verbot
des Waffengebrauchs) eingehalten werden. Abgeklärter als die jungen Nachwuchshools üben
sie eine wichtige Kontrollfunktion in der affektiv geladenen Situation der Schlägerei aus. Sie
halten die jungen ‘Heißsporne’ vor den ärgsten Ausschreitungen zurück. Kritisch anzumerken
ist, dass ihnen das allerdings nicht immer gelingt.
F: Kriegen die Druck von den andern, wenn se das machen?
A: Wenn se erwischt werden, ja. Zumindest, es sind ja meist die Leute, die erst
anfangen, die mehr hinten in der Reihe stehen. Und die Leute, die zu den Alten
gehören, die packen sich die dann schon mal und geb’n ihnen zur Not auch eine
aufs Maul, ne. Zum Beispiel war ein Spiel gewesen, da hat einer en Stein aufgehoben und da kam’n Alter an und sagte: „Ja, wenn du den net gleich wegschmeißt, dann fliegst du da hinterher.“ Ich find’s nicht korrekt, ne. Weil dadurch
ja wirklich viel passieren kann und richtig was, wenn du so’n Stein an den Kopf
kriegst, wenn der unglücklich dann landet, ne, dann liegst de daneben.
Der Einfluss der Alten machte sich überall im Gruppenleben bemerkbar. Sie haben Vorbildfunktion. So gelang der Kontakt zu dieser Szene über eine solche ‘zentrale Figur’:
268
A: Wenn [nennt Namen] dich hierher bringt, dann hör’ ich dir wenigstens zu.
In dieser hoch gewaltaffinen Gruppe werden bestimmte Autoritäten selten in Frage gestellt.
Möglicherweise ist diese Struktur im Zusammenhang mit dem hohen Risiko im Gewaltritual
zu sehen. Angesichts der hohen Dynamik der Situation können nicht hinterfragte Führerfiguren funktional sinnvoll sein.
In der Gruppe gibt es aber noch eine andere wichtige Funktion. Vor dem Showdown haben
alle ein mulmiges Gefühl oder Angst - was auch von den meisten offen eingestanden wird.
Hier helfen die ‘Pusher’, indem sie stimulieren, anfeuern, euphorisieren und so ein Gefühl der
Unbesiegbarkeit produzieren:
A: Ich hab’s schon erlebt, dass sich Leute an den Händen gefasst haben und irgendwo raufgerannt sind, nur um sich gegenseitig zu pushen, und um sich gegenseitig vielleicht auch’n bisschen Mut zu machen und, also es ist halt ganz wichtig,
diese Mischung aus Motivation und Gruppengefühl. Es gibt Leute, die können
andere so gut pushen, dass sie einfach keine Angst mehr haben oder einfach gut
drauf sind oder so, gute Stimmung verbreiten und dann natürlich auch halt die
richtige Stimmung kriegen, um zu sagen: Selbst, wenn ich umfalle oder sonst was
passiert, da muss ich jetzt durch, und zwar mit meinen Kollegen und mit meinen
Freunden zusammen.
Diese Personen haben in gewissem Sinne die gleiche Funktion, wie die Trommler und Fahnenträger in historischen Militärschlachten. Durch ihre ‘Motivationsarbeit’ wird es für den
Einzelnen subjektiv leichter, die Norm der Tapferkeit einzuhalten: Es ist wichtig, nicht zu
kneifen. Nur wenn niemand kneift, hat die Gruppe überhaupt eine Chance oder besteht gar die
Aussicht auf den Sieg (und die anschließende Siegesfeier). Dementsprechend wichtig ist Tapferkeit und Solidarität im Kampf.
A: Da ist sicherlich was dran, man kennt sich, man weiß, dass man sich auf viele
Leute verlassen kann und dieses Gruppengefühl kommt gerade immer dann, wenn
man irgendwo anders ist, ich sag mal, in ‘ner fremden Stadt, wo man nicht weiß,
was ist nun, und wenn man dann vielleicht nur mit 30 Leuten da ist, dann muss
man sich halt irgendwie zusammengehörig fühlen, um überhaupt irgendwas hinzukriegen (...). Ich glaube, dass es auch ‘ne Sache war, warum es die Leute auch
so zum Fußball hinzieht. Das ist halt irgendwie schon, du hast da Freunde, für die
du sonst was machen würdest, auf die du dich verlassen kannst. du bist sicherlich
nicht mit jedem gut Freund, aber ich kann für mich persönlich sagen, dass ich da
10 Leute rumlaufen habe, für die würde ich, auf gut deutsch gesagt, in jeder Situation des Lebens meinen Arsch hinhalten.
Die erfahrene Solidarität im Kampf wird zu einem besonderen Ausweis für Verlässlichkeit.
Nur diejenigen, die mit ihrem Körper für mich einstehen, sind einen besonderen Einsatz wert
und - so ließe sich weiterführen - sind die Garanten für die interne Stabilität des Rituals. Ge269
rade weil dies so wichtig ist, wird diese Norm sehr stark im Ehrencodex der Gruppe verankert.
Auch nach außen finden sich Normen und Trennregeln. Eine der wichtigsten besagt, dass Außenstehende - wie bereits angedeutet - nicht in die Auseinandersetzungen miteinbezogen werden:
A: Das sind doch genau solche Leute wie ich auch. Die fahren da auch hin, um
Spaß zu haben. Das sind ja nicht irgendwelche Kutten oder normale Leute, die
zum Fußball gehen, Väter oder sonst solche Leute, es sind ja nur diese Gruppierung, die auch darauf aus sind, ihre Kräfte zu messen, ne. So, und wenn ich zum
Fußball fahre und will das, dann muß ich damit rechnen, dass ich richtig was aufs
Maul kriege, entweder gib oder stirb. Also es gibt nur zwei Möglichkeiten. Und
dies Risiko geh ich von vornherein ein und das machen die Leute eben auch, ne.
Die gehen dann genau das gleiche Risiko ein wie ich auch. Das ist ja nicht so,
dass wir da irgendwelche Kutten da schlagen oder so, die sind für uns total unwichtig, ne. Die stehn in ihrem Block da und machen da, singen ihre Lieder und
was weiß ich, die sind passé, da wird nicht drangegangen.
Die weitgehende Einhaltung dieser ‘Trennregel’ wird von dem bereits zitierten HooliganExperten der Polizei bestätigt:
A: Also hier wirklich nur die Hooligans selbst und die suchen sich auch die anderen Hooligans aus, die eben auch Randale haben wollen und da geht es dann eben
zur Sache. Da ist es nicht so, dass irgendwelche Unbeteiligten größtenteils, klar,
ein oder zwei können immer mal dazwischen kommen, aber Unbeteiligte eigentlich nicht.
Die erlebniszentrierten Arrangements sind zusätzlich durch weitere Regeln abgesichert. Lange Zeit zählte ein gewisses Fairplay, der faire Faustkampf und damit das Verbot von Waffen
zu den ungeschriebenen Regeln der Szene. Dazu ein Hooligan:
A: Ich sag mal, solange die Leute wissen, wie es abzulaufen hat, solange die Leute sich da’n bisschen auskennen, es einigermaßen fair zur Sache geht, es gibt’n
paar Regeln, liegt einer, dann liegt er. Und dann wird ihm entweder aufgeholfen
oder man lässt ihn gleich in Ruhe und gut, man macht halt möglichst nichts mit
was anderem als mit seiner Hand und oder seinem Fuß. Weil, wie gesagt, man
möchte ja nun auch keinen unbedingt irgendwas antun. Das sind halt so Deeskalationsregeln, sag ich mal.
F: Und was wäre bei euch nicht korrekt im Verhalten?
A: Zum Beispiel, wenn es Ausschreitungen gibt mit Gegenständen oder so, Steine
schmeißen, Messer, Baseballschläger. Normalerweise ist es ja so, dass, es gibt da
so ‘ne Art Gesetz, ne, ohne Waffen und wenn einer liegt, dann liegt der, ne. Und
270
da gibt’s aber genug Leute, die im Vorbeigehen nochmal richtig reintreten, ne,
find ich Scheiße.
Dieser Teil des Ehrencodex ist aber in den letzten Jahren offensichtlich etwas brüchiger geworden. Dazu nochmals der Polizeimitarbeiter:
A: Bei den Auseinandersetzungen selber, da gab es mal früher so’n Ehrenkodex,
dass es hieß: Hooligans, die Auseinandersetzungen sind immer ohne Waffen, also
nur Fäuste und Füße zum Treten und sobald einer auf der Erde liegt, ist erledigt.
Aber dies hat sich leider, wie man auch, wie öfter auch drinsteht, schon en bisschen geändert, dass also denn die Leute, die auf der Erde liegen, teilweise eben
auch getreten werden und dass eben auch mit Biergläsern und weiß ich, mit
Schlägern also irgendwie da zugelangt wird.
Dazu bemerkt Heitmeyer in einem Interview in „Der Zeit“ (Die Zeit Nr. 27 vom 25.08.98, S.
10):
„Die Hemmschwellen werden niedriger, weil die Täter ihr Tun politisch begründen; der Gegner wird erniedrigt und zum Freiwild erklärt. Außerdem lösen sich
soziale Verankerungen auf mit der Folge, daß es den Tätern völlig egal geworden
ist, wenn andere zu Schaden kommen. Schließlich schaukeln sich die Hooligans
auf, es entsteht eine besondere Dynamik, und gerade in diesen unstrukturierten
Gruppen läuft die Gewalt schnell aus dem Ruder. Nicht das Handy oder die EMail-Adresse sind die neuen Wesensmerkmale der Hooligans, sondern ihre Unstrukturiertheit. Damit meine ich, daß sie sich an keine Regeln mehr halten und
keine Hemmschwellen mehr kennen. Natürlich haben Hooligans schon immer mit
den Muskeln gespielt und zugeschlagen. (...) Heute aber ist die Gewalt enthemmt
und unterliegt keinen sozialen Normen. (...) es kommt den Tätern nicht mehr auf
einen bestimmten Gegner an. Die Opfer werden nach Belieben ausgesucht, und
auch die Art, wie sie malträtiert werden, ist nicht mehr kalkulierbar. Genau damit
tut man sich schwer, und auch die Polizei ist machtlos, wenn sich größere Gruppen an absolut keine Regeln halten“.
Gerade durch zunehmende Ausschreitungen und den offenbar enthemmten Waffengebrauch
verliert die Szene an Authentizität. Nicht zuletzt deswegen wird schon seit einigen Jahren von
einem Teil der Hools die Rückbesinnung auf alte Traditionen gefordert. ‘Faire Randale’ und
die Einsatzhaltung ‘Hooligans without Weapons’ (Weis 1993) werden zunehmend wieder
propagiert.
271
3.3
Wahrgenommene Gruppenperipherie
Perzipierte Fremdeinschätzung und eigene Bewertung
Intern besteht ein positives Selbstbild. Die Selbstdefinition lautet - wie aufgezeigt - ‘Spaß
haben’ oder ‘mit Gleichgesinnten seinem Ding nachgehen’. Dies wird als absolut normal
empfunden. Die Illegalität der Sache und auch die mit den Schlägereien verbundenen Gefahren können diese Einschätzung nicht beeinträchtigen.
Extern erfährt die Gruppe dagegen keine positive Beurteilung. Ablehnung und negative Bewertung erfolgt vor allem durch die Presse. In ihr wird nach Ansicht der Befragten ein unzutreffendes und negatives Bild gezeichnet, das mit Hooliganismus nichts zu tun hat. Dort würde immer von Massenschlägereien und den gefährdeten Stadionbesuchern gesprochen, was
angesichts der abgegrenzten Erlebnisräume nur sehr bedingt zutreffe.
A: Man muss auch sehen, so Sachen, zum Beispiel, die immer unheimlich aufgebauscht werden. Das war zum Beispiel so, da hast du nun 200 Leute, 100 auf der
einen, 100 auf der anderen Seite. Und die können sonst was machen. Die können
stundenlang gegeneinander vorgehen, das interessiert keine Sau. Nun ist zufällig
mal’n Kamerateam in der Nähe oder ‘n Reporter oder sonst irgendwas. Und dann
gibt das da, irgendwo prügeln sich Leute und das sieht natürlich auch immer gewaltvoll aus, wenn die ganze Straße, wenn man das im Fernsehen sieht bei Eurooder bei Länderspielen, Europa-Pokalspielen oder ja, bei irgendwelchen anderen
Sachen im Fernsehen das sieht, wie die so aufeinander zulaufen, das sieht natürlich nach so einer brutalen Gewalt aus.
Auch wenn eine solche Aussage sicherlich als Verharmlosungsstrategie zu deuten ist, tragen
die Medien mit ihrer Berichterstattung über die Hools nicht unbedingt immer zur ‘Aufklärung’ bei. Im Gegenteil: Durch ihre teilweise einseitig-sensationsorientierte Darstellung verschärfen Medien die ‘Binarisierung’ von Wirklichkeitskonstruktionen. Dies gilt auch für die
untersuchten Hools. Einerseits werden sie unnötig stigmatisiert, andererseits erfahren sie aus
den Medien, dass eine ‘gegnerische Gruppe zur Schlacht aufrüstet’ und die eigene Gruppe
massiv bedroht ist. Medien wirken in diesen Fällen eskalierend.
Außenbeziehungen
Die befragten Hools sind in ein dichtes Netz von Außenbeziehungen eingebunden. Ausbildung, Arbeit, zahlreiche andere Freizeitaktivitäten, manchmal auch die Familie, schaffen ein
integrierendes Netz:
272
A: Nee, das ist nicht nur bei meinen, also da muss ich sagen, gut, bei mir ist’s so,
ich hab halt nun drei feste Freundeskreise, das ist einmal der Fußballfreundeskreis, dann die Leute, mit denen ich studiere, da habe ich sehr viel Glück gehabt,
dass ich da tolle Leute kennengelernt habe. Und halt so der alte Freundeskreis, der
halt, sag ich mal, aus der Gemeinde kommt, in der ich früher aufgewachsen bin.
Da sind halt die Fäden auch noch nicht abgerissen, wir machen auch oft was
zusammen, die ziehn jetzt halt auch alle hier her und es ist also nicht so, dass ich
nur in eine Richtung fixiert bin. In letzter Zeit sicherlich öfter, weil es hat bei mir
wieder ein bisschen zugenommen und dadurch, dass ich mich mit den anderen
jetzt auch wesentlich besser versteh als früher, ist ja dieser Fußballfreundeskreis,
so möchte ich ihn mal nennen, obwohl wir sicherlich mehr Gemeinsamkeiten haben als nur Fußball, ist schon im Moment sehr dominant.
Das Hobby ist in der Regel so angelegt, dass es möglichst nicht in andere soziale Verkehrskreise hineinwirkt.
A: Und die meisten haben ihre Freunde doch schon woanders, Freunde und Kumpels, ich zum Beispiel auch, die zwar auch was mit Fußball irgendwie im Gange
haben, aber keine Stadiongänger sind in dem Sinne, geschweige denn überhaupt
was mit Gewalt zu tun haben. Die haben andere Interessen, ne, die ich dann mit
denen auch nachgehe aber die aber nicht mit zum Fußball gehen.
F: Ist das so’ne Art Doppelleben oder wäre das übertrieben, von ‘nem Doppelleben zu sprechen?
A: Das ist übertrieben, nein, das ist übertrieben. Die wissen ja, was ich mache.
Das kalkulierte Suchen nach Thrills bedeutet also auch, die abweichenden Aktivitäten kompatibel mit ‘normalen’ Sozialbeziehungen zu lassen. Dies scheint bei dieser Gruppe auch zu
funktionieren. Es ist aber anzunehmen, dass Strafverfolgung und Bestrafung dieses Verhältnis
stören. Entweder das Hobby wird dann aufgegeben oder es setzt ein Weg in die Stigmatisierung ein. Auch dies unterstreicht den Charakter einer Zweckgemeinschaft.
Devianz
Devianz entsteht bei der untersuchten Gruppe fast nur im Zusammenhang mit dem Hooliganismus. Die bereits angeführten ‘Entgleisungen’ führen gelegentlich zu Übergriffen und Vandalismus. Die strafrechtlichen Konsequenzen werden gefürchtet und führen - wie schon erwähnt - nicht selten zum Ausstieg aus der Szene. Das Hobby darf nicht das ‘übrige Leben’
gefährden. Diese Ansicht stellen die Befragten immer wieder selbst als handlungsleitend heraus. Polizei und Sozialarbeiter bestätigen diese Aussagen.
273
3.4
Intergruppenbeziehungen
Allianz und Ambivalenz
Die Gruppe verbündet sich gelegentlich mit anderen Hooligangruppen, um einen gemeinsamen Gegner zu bekämpfen. Ambivalente Beziehungen zu anderen Gruppen wurden in den
Interviews nicht thematisiert. Insgesamt scheinen diese beiden Formen der Intergruppenbeziehungen - sofern hier ein Bild darüber gezeichnet werden kann - fast oder überhaupt nicht
zu bestehen. Dies hängt vermutlich mit der temporären Konstruktion der Gruppe zusammen.
Sie besteht - wie erwähnt - nur anlässlich von Fußballspielen und in der unmittelbaren Zeit
danach. Und dann ist eigentlich nur die Beschäftigung mit dem Gegner relevant. Dieser ist in
gewisser Weise auch ein Freund.
Wie erklärt sich diese Paradoxie? Auf den ersten Blick scheint die Hooliganwelt in viele Lager aufgeteilt zu sein, die sich unversöhnlich, feindlich und hasserfüllt gegenüberstehen. Dieses Bild stimmt aber nur wenig mit der Realität überein. Die Konstruktionen haben einige
Besonderheiten, die in engem Zusammenhang mit der Erlebnisrationalität stehen. Obwohl die
Rivalität mit Fäusten und Füßen bis zum k.o. ausgetragen werden kann und ‘richtig hingelangt’ wird, ist das Verhältnis der Gruppen untereinander nicht von Hass geprägt. Der Rivale,
mit dem man sich auseinandersetzt, ist zumeist auch ein Freund:
A: Also prinzipiell gibt es erstmal kein Feindbild, sondern das ist so ‘ne Art Städtewettkampf, sag ich mal. Es gibt halt die und die, von denen weiß man, dass sie
gut sind, und dann gibt es die und die, von denen weiß man, dass sie nicht so gut
sind. Dann weiß man, es gibt Faire, es gibt Unfaire, dann gibt es Leute, mit denen
trifft man sich und dann passiert was und dann geht man mit denen dann ein Bier
trinken. Manche haben Bekannte überall in jeder Stadt oder auch Brieffreundschaften oder man telefoniert vorher und viele Leute kennt man vom Sehen, sag
ich mal, von Europapokalspielen, von Länderspielen, wo halt alle zusammen sind,
lernt man halt Leute kennen. Und insofern gibt es prinzipiell erst mal keine
Feindbilder. Dass man sicherlich mit einigen Vereinen schlechte Erfahrungen gemacht hat oder mit einigen Leuten aus anderen Städten, und deshalb nicht so gut
auf die zu sprechen ist, das ist schon so’ne Sache, aber ansonsten Feindbilder an
sich, sehe ich eigentlich nicht. Aber prinzipiell sind das halt Leute von anderen
Vereinen und da gibt es keinen großartigen Hass, also bei manchen schon, bei
manchen nicht. Ich kann da, wie gesagt, nicht für alle sprechen. Die sind nun mal
da, die wollen dasselbe wie wir und, also ich hab da keine Hassgefühle oder so.
Weiter führt der Befragte in einem anderen Gespräch aus:
A: Das sind nicht Anhänger der gegnerischen Mannschaft, das sind die Leute, die
dieselben Interessen haben wie wir und sich uns halt gegenüberstellen wollen. Die
274
sind nun mal da, die wollen dasselbe wie wir und, also ich hab da keine Hassgefühle oder so. Was man so als Hass bezeichnet, ist vielleicht so ab und zu mein
Adrenalinüberstoß, wenn nun gerade was passiert, dass man nun also total aufgekratzt und aufgedreht ist, aber Hass würde ich sagen, nein (Gesprächs-protokoll).
Demnach sprechen die Hools nicht von Feinden, sondern von Gegnern im Wettkampf. Die
Anderen sind hier der notwendige Part in den Gewaltritualen zur Herstellung bestimmter Gefühle. Die Konstruktion eines ‘guten Feindes’, der prinzipiell ebenbürtig ist und keineswegs
gehasst wird, ist notwendig, damit es überhaupt zu den gewaltsamen Auseinandersetzungen
kommt. Erst wenn die anderen im Spiel mitmachen, seinen Sinn nicht weiter hinterfragen,
kann Lustgewinn aus den kollektiven Gewalt-Happenings erzielt werden. Hier liegt zwar ‘reale’ Gewalt vor, aber durch ‘Modulationen’ im Goffman’schen Sinne wird sie in einen anderen
Sinnkontext transformiert. Dies gilt auch für die Feindkonstruktion. Es ist ein ritualisiertes
Spiel, ein ‘So-tun-als-Ob’, das allerdings sehr authentisch inszeniert ist. Der Echtheit wegen
ist wiederum die Rahmenkonstruktion sehr labil; aus dem Spiel wird sozusagen sehr leicht
Ernst.
Abgrenzung
Die Fähigkeit zur Kontrolle der Statuskämpfe und Erlebnisfreuden darf aber nicht den Blick
dafür verstellen, dass es auch für die hier befragte Gruppe Feindmuster gibt. Während die
Gegner in der Erlebnisarena normalerweise nicht die eigene positive Distinktheit bedrohen,
empfinden die Befragten dies in Bezug auf zwei andere Gruppen mit Nachdruck. Erstens sind
hier gegnerische Hoolgruppen im unmittelbaren Nahraum zu nennen, d.h. rivalisierende Cliquen aus Nachbarstädten. Jedes ‘Lokalderby’ hat seine besondere Brisanz, weil man es den
Nachbarn, die immer als Bedrohung der eigenen Einmaligkeit und Besonderheit präsent sind,
in besonderer Weise zeigen will.
A: Feindbilder kommen meist zustande durch (...) wie soll ich das ausdrücken,
durch regionale Fußballspieler. Mal’n Beispiel: Stadt X aus dem Norden spielt
gegen Stadt Y aus dem Süden, so. Und das Fußballspiel ist in der Stadt X, die aus
Stadt Y kommen hoch, die klatschen sich, das war’s. Das ist kein Feindbild, weder Feindbild noch sonst noch was. Anderes Beispiel: Stadt X aus dem Norden
spielt gegen Stadt Y aus dem Norden. Städte liegen nicht weit auseinander entfernt, und da ist, da geht das schon los, Vormachtstellung im Norden oder im
Westen, gibt’s ja Schalke, Dortmund, Duisburg, was es da alles gibt, Düsseldorf,
Köln. Je näher die, also ich hab das, das ist eigentlich so, je näher die Städte zusammen sind, desto größer ist das Feindbild. Weil die haben ihre Region da und
die Nachbarstadt hat ihre Region und irgendwo will die besser sein als die. Das
sind diese sogenannten Derbies. Und die hat man sehr schnell als Feindbild (...).
Ja, das war früher schon so, das ist heute noch so und so was trägt sich auf die
275
Generation irgendwie. Also es gab ja früher, gab es ja nicht diese Ausschreitung
in dem Maße, diese Zusammenrottung, aber es gab schon immer irgendwie beim
Fußball Schlägereien oder so, das gab’s früher auch schon.
Auch hier zeigt sich die besondere Brisanz von Nähe im Zusammenhang von Distinktion. Die
nahen Gruppen sind stets präsent und stellen die Überhöhungsansprüche einer Gruppe in Frage, denn sie leben fast im gleichen Lebensraum, gehen den gleichen Aktivitäten nach, haben
ein ähnliches Selbstverständnis. Diese Nähe lässt wenig Raum für ein positives Absetzen der
Eigengruppe.
Zweitens werden zwei weitere Gruppen zum Feind. Hier amalgamiert das Feindbild auch mit
irrationalen Hassgefühlen gegenüber den Fans des FC St. Pauli. Diese Ablehnung eint die von
uns untersuchte Gruppe mit vielen anderen Hooligan-Gruppen in der Bundesrepublik. Der FC
St. Pauli hat eine besondere Fangemeinde, die zu einem größeren Anteil als anderswo aus
Punks, Autonomen etc. besteht. Die tendenziell eher mit dem rechten Lager sympathisierenden Hools (dies aber keineswegs in Form einer direkten und bewussten Zuordnung, denn
niemand von den Befragten würde sich als ‘rechts’ bezeichnen) lehnen diese ungewöhnlichen
Fans ab. Zum einen weil es politische Differenzen gibt, zum anderen - und das scheint mir
wichtiger, weil die St. Paulianer das Bild des Fußballfans in gewisser Weise auch karikieren.
Aus der Sicht der echten Hools sind die Fans vom Millerntor vor allem ‘Asoziale’, ‘Zecken’,
‘Drogenabhängige’ etc., die den Fußballsport verunglimpfen oder gar verunreinigen. Gleichzeitig stellen sie das auf Männlichkeit und Härte beruhende Selbstbild in Frage. Deswegen
stehen ihnen die meisten Hools unversöhnlich gegenüber. Hier fehlt den Selbstdarstellungen
der Befragten auch jene Prägnanz, mit der sie etwa die Produktion von Kicks und die Außeralltäglichkeit ihres Hobbys beschreiben. Wenn es um die Feinde geht, werden die Beschreibungen schwammig und stereotyp (z.B. Linke, Zecken). In der folgenden Interviewpassage
zeigt sich dies beispielhaft:
A: Ja, gut, wenn so’ne Mannschaft wie St. Pauli, das, die haben en Ruf nun mal,
das sind Linke, Autonome, die sind in der ganzen Szene irgendwo, also fast im
ganzen Land irgendwo sind die als Zecken angesehen und da geht das schon mal
politischer zur Sache, aber nicht weil die Jungens rechts, sondern einfach weil die
da eben links sind, ne, Kiffer, Drogenabhängige und so weiter und so fort.
Aus der Sicht der Eigengruppe bedrohen solche abweichenden Fußballfans genauso wie die
Hoolgruppe aus der Nachbarstadt das eigene Selbstbild. Hier wird der ‘rationale’ Rahmen des
Erlebnismanagements verlassen. Nicht die Produktion von Gefühlen spielt bei diesen Auseinandersetzungen eine Rolle. Gewalt ist hier vielmehr Ausdruck von Abwertung. Hier liegt ein
typisches Beispiel einer Intergruppenrelation vor, wo über Stereotypisierung von Merkmalen
(links, drogenabhängig etc.) ein Feindbild konstruiert wird. Die eigentliche Sache, der Fuß276
ballsport, tritt dabei völlig in den Hintergrund. Er liefert nur noch den Aktualisierungsanlass
für Gruppenauseinandersetzungen, die nicht mehr ritualisiert und kontrolliert als Spaß unter
Freunden ablaufen. Hier kommt es auch häufiger zu Ausschreitungen gegenüber Unbeteiligten. Den Hools sind dann nicht nur die St. Pauli-Fans, sondern alle Punks als Gegner recht.
Ohnehin hat sich das Feindbild ‘Punk’ in der Hooliganszene mehr und mehr verselbständigt.
Nach dem Spiel wird durch die entsprechende Stadt gezogen, auf der Suche nach Opfern.
Gegenreaktionen der ‘Opfer’ bleiben meist nicht aus.
Zwischen den verschiedenen Hooligangruppen ist Verständigung möglich, weil keine ‘echte’
Feindschaft (von Ausnahmen abgesehen) besteht. Zu anderen Gruppen wird (aus dargelegten
Gründen) keine Beziehung hergestellt, folglich sind keine Verständigungsprozesse erforderlich. Eine Ausnahme sind die Derbyrivalen, die St. Pauli-Fans und immer mehr die Punks
generell. Aus den dargelegten Motiven sind hier keine rationalen Arrangements, sondern Hass
und Ablehnung bezeichnend. Verständigung ist in der stark vorurteilsbeladenen Intergruppensituation nicht möglich und nicht gewünscht.
Auffallend bei den Befragten ist - und dies ist ein wichtiger Bestandteil von Verstehensleistungen - die Fähigkeit, die eigene Position zu reflektieren und zu hinterfragen:
A: Ja, natürlich musst du irgendwo’n Rad abhaben. Irgendwie hat man ‘ne Macke,
wenn man so was macht. Aber es hat keinen Sinn irgendwie andern Leuten was
aufs Maul zu hauen. Im Endeffekt, was hab ich davon, wenn ich jetzt aus ‘nem
anderem Verein irgendwem eine aufs Maul haue. Wenn de wirklich klar denkst,
hast de davon gar nichts.
An anderer Stelle doziert der Befragte weiter über sein abweichendes Hobby:
A: Das ist ein Phänomen, was man eigentlich nicht erklären kann. Erklären schon,
aber was ein Normaldenkender, wir sind auch normaldenkende Menschen, aber
was’n ein Außenstehender eben nicht begreift, ne. Ich zum Beispiel begreife
nicht, wie man Alkoholiker sein kann oder drogenabhängig, das begreif ich zum
Beispiel nicht. Ich versteh die Leute auch, die machen das, aus irgend’m Grund
machen die das, ich würd die nie verurteilen deswegen. Genauso wie diejenigen
nicht begreifen, dass ich zum Fußball fahre und mich da rumboxe.
Prinzipielle Einsicht in Sinn und Unsinn des eigenen Treibens besteht. Die Lebenspraxis zeigt
aber, dass die Thrills viel zu wichtig sind, als dass sie einer Einsicht folgend geopfert werden.
Die zusätzliche Rationalisierung des eigenen Handelns (‘Ist ja nur Spaß’) und die damit implizierte Folgenlosigkeit für andere machen es zusätzlich leicht, die Einsicht ohne Konsequenzen zu belassen.
277
3.5
Gruppenverlauf
Die Gruppe ist in ihrer Größe und Struktur ähnlich geblieben. Es hat hinsichtlich des aktiven
Verhaltens Abwanderungen und Neuzugänge gegeben. Mit der Zeit haben einige der ‘Alten’
den Ausstieg geschafft. Aus familiären und/oder beruflichen Gründen ist für viele die Ära des
Nervenkitzels vorbei. Sie treffen sich allenfalls noch mit den ‘Kumpels’ von früher zum Spiel,
verlassen jedoch sozusagen das Feld vor Beginn der dritten Halbzeit. Der ‘Nachwuchs’ hat
sich hochgearbeitet. Damit wurden Positionen innerhalb der Hierarchie erhalten, die Personen, die diese besetzen, jedoch teilweise ausgetauscht.
Einige der älteren Mitglieder sind immer noch aktiv dabei und es hat auch negative Verläufe
gegeben. Nach Auskunft eines Mitarbeiters der Polizei handelt es sich dabei um diejenigen,
die ihr Leben nur schwer im Griff haben. Wie zu Beginn gezeigt, besteht die skizzierte Gruppe aus Personen aus unterschiedlichen sozialen Verhältnissen. Auffällig ist, dass denjenigen
der Ausstieg gelungen scheint, die aus relativ geordneten Verhältnissen kommen, d.h., wo der
soziale Druck und berufliche wie familär-emotionale Zukunftsperspektiven wirksam geworden sind. Immer noch dabei und - wie noch zu zeigen sein wird - auf einem höheren Gewaltniveau und teilweise unter Verlust jeglicher Beschränkungen durch einen Ehrenkodex, sind
eher diejenigen, die familäre, berufliche oder Drogenprobleme haben. Demnach scheint zwischen den Ausstiegschancen aus der ‘Devianz’ und dem additiven Charakter derselben ein
enger Zusammenhang zu bestehen.
Deutlich gesagt werden muss, dass es Verschiebungen hinsichtlich des Gewaltniveaus und
eng damit verbunden Veränderungen im Ehrenkodex der Gruppe gegeben hat. Einige Mitglieder waren an der Eskalation im Rahmen der Weltmeisterschaft 1998 in Frankreich beteiligt. Nach Aussagen der Polizei seien sie zwar nicht mit der Absicht nach Frankreich gefahren, den Konflikt mit den französischen Kollegen zu suchen, in Ermangelung eines Gegners
jedoch (die Hooligangruppen wurden durch Bemühungen der Polizei voneinander fern gehalten) wurde - wie durch die Medien hinreichend bekannt - die Staatsgewalt Ziel einer Gewalteskalation mit folgenschwerem Ausgang. Unter erheblichem Alkoholeinfluss wurde ein Polizist von den Hooligans fast zu Tode geprügelt. Die Auflösung des Ehrenkodexes, wonach
Waffen verboten sein sollen und Gewalt dann ein Ende findet, wenn der Schwächere am Boden liegt, ist eine bedenkliche Entwicklung, die die Polizeiexperten beobachten. Das Mitführen von gefährlichen Waffen - Messern, Pistolen, Baseballschlägern - wird mittlerweile häufig
stillschweigend von den Gruppenmitgliedern toleriert. Über die genauen Gründe kann mehr
oder weniger nur spekuliert werden. Jedoch gilt auch hier: Maßgeblich ist die soziale Einbindung der ‘Täter’; die Tatsache oder das Bewusstsein darum, ob es noch viel oder wenig zu
verlieren gibt. Es hat den Anschein, dass die Hooliganszene zunehmend als Sammelbecken
278
für ‘Sozialverlierer’ funktioniert. Damit wäre im Hinblick auf zunehmende soziale Probleme,
unter denen insbesondere Jugendliche innerhalb unserer Gesellschaft mehr und mehr zu leiden haben, eine weitere Eskalation zu befürchten. Hier scheint Sozial- und Fanarbeit dringend
von Nöten. Insgesamt jedoch betrachtet sind Aktionen wie ‘Lens’ und damit einhergehend
verheerende Kontrollverluste immer noch die Ausnahme. Sie stehen nicht für das traditionale
Selbstverständnis von Hooligans und der von mir untersuchten Szene-Mitglieder.
279
III.
Spezialisierte Affektkulturen in der Erlebnisgesellschaft
1. Zur Erlebnisgesellschaft
In der Einleitung habe ich bereits dargestellt, wie vielfältig und teilweise originell sich die
Suche des modernen Menschen nach dem ‘besonderen Erlebnis’ gestaltet. Um Themen wie
Ekstase, Tod, Traum, Phantasie, Meditation, Spiritualität, Sekten/Okkultismus, Drogen, Bioenergetik, mediale Grenzerfahrungen, Abenteuer, Reisen und Sport ließe sich eine noch längere Liste jeweils ausdifferenzierter Aktivitäten darstellen, die darauf abzielen, aus der Routine und Habitualisierung des Alltags auszubrechen.
In seinem umfangreichen Werk beschreibt Schulze (1993) die moderne ‘Erlebnisgesellschaft’,
in der sich die individuelle Gestaltung des Lebens nicht mehr an äußeren Notwendigkeiten,
am ‘Überleben’, orientiert, sondern am ‘aufregenden Leben’, das im Fokus menschlicher Bedürfnisse steht. Er konstatiert:
„Die Problemperspektive des Lebens verlagert sich von der instrumentellen auf
die normative Ebene; an die Stelle der technischen Frage ‘Wie erreiche ich X’ tritt
die philosophische Frage ‘Was will ich eigentlich?’ (...) Auf die beispiellosen
Veränderungen der Situation in den letzten Jahrzehnten reagieren die Menschen
mit einer Veränderung der normalen existentiellen Problemdefinition. Das Erleben des Lebens rückt ins Zentrum. Unter dem Druck des Imperativs ‘Erlebe Dein
Leben’ entsteht eine sich perpetuierende Handlungsdynamik, organisiert im Rahmen eines rasant wachsenden Erlebnismarktes, der kollektive Erlebnismuster beeinflusst und soziale Milieus als Erlebnisgemeinschaften prägt“ (ebd. 1993, S.
34).
Auch in seiner Begrifflichkeit hat das Phänomen in den letzten Jahren einen regelrechten
Boom erlebt. Der semantische Raum unserer Sprache stellt sich als ein einziges Erlebnis dar:
Erlebnisorientierung, Erlebnismarkt, Erlebnispark, Erlebnisbad, Erlebnisreisen, Erlebnishunger, Erlebnismesse, Erlebnispädagogik, Erlebnismarketing,125 Erlebniskauf, Erlebnisseminare
- Erlebnisgesellschaft. Das Leben wird so gleichsam zu einem einzigen ‘Erlebnisprojekt’:
125
Entsprechend der üblichen Anglizismen in Werbung und Marketing distanziert man sich hier vom gleichsam
provinziell anmutenden Erlebnisbegriff und spricht schon längst vom ‘Event’. So gibt es den regelmäßig
stattfindenden ‘Deutschen Eventmarketing-Kongress’ oder auch die jährliche ‘World of Events’ als internationale Fachmesse für Event-Marketing.
280
„All diese Ästhetisierung und Pseudo-Entästhetisierung von Produkten ist Teil eines umfassenden Wandels, der nicht auf den Markt der Güter und Dienstleistungen beschränkt bleibt. Leben schlechthin ist zum Erlebnisprojekt geworden. Zunehmend ist das alltägliche Wählen zwischen Möglichkeiten durch den bloßen Erlebniswert der gewählten Alternative motiviert: Konsumartikel, Eßgewohnheiten,
Figuren des politischen Lebens, Berufe, Partner, Wohnsitutationen, Kind oder
Kinderlosigkeit. Der Begriff des Erlebnisses ist mehr als ein Terminus der Freizeitsoziologie. Er macht die moderne Art zu leben insgesamt zum Thema“ (ebd.
1993, S. 13f).126
2. Spezialkulturen in der Erlebnisgesellschaft
Einen ähnlichen Ansatz haben die Trierer Soziologen entwickelt. Sie sprechen von spezialisierten (Affekt)Kulturen, die sich in der modernen Gesellschaft herauskristallisieren. Ausgehend von einer historisch-strukturtheoretischen Arbeit (vgl. Winter/Eckert 1990) wurden verschiedenste
Spezialkulturen
in
unterschiedlichen
Studien
(Gewalt/Horror,
Sexuali-
tät/Pornographie, Neue Medien/Computernetzwerke/Internet, agressionsaffine Jugendgruppen) nachgezeichnet.127 Das Phänomen der Spezialkulturen wird dabei wie folgt erklärt:
„Zentrales Charakteristikum der modernen, medienvermittelten Kultur scheint zu
sein, spezifische Gefühlslagen und -praxen, die in der bisherigen Geschichte der
Menschheit in religiöse, familiale, politische und militärische Symbolik eingebunden waren, aus diesen übergreifenden Sinnzusammenhängen herauszulösen
und sie isoliert und spezialisiert zur ‘Wahl’ zu stellen. So lassen sich spezifische
Meditationstechniken in der Hoffnung auf spirituelle Erfahrungen einüben, ohne
das Lehrgebäude zu übernehmen, in dem sie entwickelt worden sind; so können
die Grenzerfahrungen eines Überlebenstrainings ‘gebucht’ werden, ohne dass sie
als Vorbereitung auf einen Krieg 'Sinn' machen; so sind symmetrische Kommunikationsformen erlernbar, ohne dass diese an genossenschaftlich-demokratische
Organisationsstrukturen gebunden wären. Liebe und Sexualität, die auch in der
Vergangenheit eher normativ als faktisch an Ehe und Familie gebunden waren,
legitimieren sich zusehends aus sich selbst. Nachdem die persönlichen Beziehungen heute weitestgehend aus der Jurisdiktion und Kontrolle von Verwandtschaft
und Nachbarschaft entlassen sind, ist nicht einfach ein ‘Freiraum’ entstanden,
sondern eher ein Marktplatz, auf dem Menschen als Anbieter und Nachfrager von
Freundschaft, Liebe, Geborgenheit und Abenteuer auftreten. Auf diesen Märkten
differenzieren sich spezifische Sinnwelten heraus, die wir als Spezialkulturen bezeichnen. In ihnen finden sich Menschen zusammen, die eine gemeinsame Wahrnehmung der Wirklichkeit oder gemeinsame Interessen und Spezialisierungen
126
Schon der Autokauf hängt nicht mehr von funktionalen Aspekten ab, sondern vom Erlebniswert, den diese
oder jene Automarke vermittelt (BMW postuliert ‘Freude am Fahren’ im Claim der Marke).
127
Vgl. Eckert u.a. (1990; 1991); Eckert u.a. (2000); Wetzstein u.a. (1995)
281
verbindet. Dabei ist es nicht erforderlich, dass zwischen allen Mitgliedern der
Spezialkulturen unmittelbare face-to-face-Beziehungen entstehen, vielmehr gruppieren sie sich auch überlokal um spezifische Themen und Sinnangebote“ (Wetzstein u.a. 1993, S. 17f).
Als ein Grund für die Herausbildung von Spezialkulturen ist die kommunikative Infrastruktur
der Medien zu nennen, die es immer leichter macht, ‘Wahlnachbarschaften’ für spezielle Interessen aufzubauen. Ein anderer und damit verbundener Grund liegt in dem Bedeutungszuwachs der Selbstverwirklichung. Mit der Ausdehnung der Bildungsbeteiligung erfahren immer mehr Menschen, dass sie selbst Gegenstand ihrer Arbeit sind und sein müssen (vgl.
Eckert 1984; Eckert 1990). Gesteigerte Reflexivität und Selbstbezogenheit ist die Folge. Der
sich Bildende wird tendenziell zum Baumeister seiner eigenen Identität.
Der Schub an Reflexivität in den letzten Jahrzehnten, maßgeblich getragen durch die mediale
Universalisierung von Selbstbezogenheit und Selbstverwirklichungsidealen, führt zu immer
weiter fortschreitenden Differenzierungen, zur Herausbildung von immer neuen Spezialkulturen, in denen immer spezifischere Bedürfnisse ausgelebt und ausagiert werden. Während
Selbstverwirklichung in der bildungsbürgerlichen Tradition noch begründungspflichtig war,
und beispielsweise durch den genialen Beitrag zur Innovation in Kunst und Wissenschaft legitimiert wurde, ist heute bereits durch die unzähligen Wahlmöglichkeiten im Konsum sichergestellt, dass die subjektive Gefühlslage zum Kriterium werden kann, auch ohne dass dies
begründungspflichtig ist. Der Widerspruch zwischen Pflicht und Neigung, wie er bei Kant
und Schiller thematisiert wird, ist in vielen Lebensbereichen, insbesondere der Freizeit, durch
die Selbstlegitimation der Neigung aufgelöst. Erlebnisorientierte Spezialisierungen gehören
deshalb zur Grundstruktur der Freizeitgesellschaft.128
3. Außeralltäglichkeit, Gewalt und Zivilisation
Neben Spezialkulturen, die sich um Themen wie ‘Aquarell-Malen’, ‘Briefmarken-Sammeln’,
‘Modelleisenbahn’, ‘Heimwerken’ oder ‘Camping’ herauskristallisieren, haben sich auch sol-
128
Selbstverwirklichung bedeutet dann aber auch Selbstvergewisserung hinsichtlich des Körpers und der Gefühle. Sie wird hergestellt in persönlichen Beziehungen, im Extremsport, im Medienkonsum. Der Wunsch, den
Körper, das animalische, den Affekt zu spüren, Grenzerfahrungen und Ekstase zu erleben, ist Ausdruck einer
postmoderenen Variante der Selbstthematisierung, die in immer schnellerem Tempo immer neue Räume der
Außeralltäglichkeit und des Thrills produziert. Körpererfahrung wird für manche Menschen zum zentralen
Konstruktionsprinzip der subjektiven Identität, weil gerade sie unhintergehbare Authentizität zu beglaubigen
scheint (vgl. Trilling 1989).
282
che etabliert, in denen Körper- und Grenzerfahrungen ausgelebt werden können, die wir normalerweise aus unserem Verhaltensrepertoire sowohl im beruflichen als auch im privaten
Rahmen ausklammern (Angst, Rausch, Ekstase, Schmerz, Ekel, Wut, Thrill). Menschen suchen hier anders gerahmte Situationen - Beispiele sind Urlaub (‘Ballermann Mallorca’) oder
auch der Karneval - auf, um ihre Affekte (dort, wo niemand sie kennt) auszuleben.
Heute haben sich für diese Erlebnisformen regelrechte Emotionsmärkte herausgebildet, die in
ganz unterschiedlichen Bereichen (z.B. Sport, Meditation, Drogen, Sexualität, Sekten, Selbstfindungsgruppen oder mediale Extremsituationen) ähnliche Gefühls- und Körpererfahrungen
ermöglichen.129 Durch sie sollen die ‘animalischen Leidenschaften’ (vgl. Vincent 1990) aus
der alltäglichen Mäßigung herausgehoben und extreme Gefühls- und Ich-Erfahrungen durchlebt werden. Ekstasen oder andere Extrem-Emotionen sind heute frei verfügbar. Jeder kann sofern er will - seine Grenzen suchen und überschreiten. Gerade der Sport bietet heute hierfür
zahlreiche Möglichkeiten. Mandell (1981) vermutet für den Marathonlauf, dass - ausgelöst
durch komplexe neurochemisch-elektrophysiologische Reaktionen - neben dem sogenannten
‘first second wind’ auch der ‘second second wind’ entsteht. Mit beiden gehen rauschähnliche
Zustände einher, die im ‘second second wind’ nochmals gesteigert werden: "In the longdistance runner the second wind is beyond pain, hunger, thirst, anger, or depression: transcendent" (ebd., S. 217). Ein anderes Beispiel ist das Bungee-Jumping. Der Sprung aus großer
Höhe, nur durch ein Gummiseil gesichert, führt zu komplexen körperlichen Reaktionen.
Schon vor dem Sprung führen spezifische physiologische Prozesse zu einer veränderten
Selbstwahrnehmung, die nach überstandenem freien Fall in ein euphorisches Gefühl mündet
(vgl. Hoppe 1992).
Auch aggressionsaffine Affekte und Gewalt (fiktiv oder real) werden in spezialisierten Kulturen ausgelebt. Solche Spezialkulturen kristallisieren sich um mediale Gewaltinszenierungen
(Literatur, Kino, Video, Computer/Internet), wie sie in den Arbeiten von Eckert u.a. (1990;
129
Die Ähnlichkeit solcher Erlebnisse verdeutlicht die folgende Schilderung eines begeisterten Bergsteigers:
"Dort oben werde ich ganz einfach herrlich stark und entfesselt, tief aus dem Körper heraus. Ich lebe ein Leben der ungewohnten Fülle. Schuften wie ein Wilder, essen wie ein Wilder, Mut-Taten tun wie ein Barbar.
Ja, durch und durch wild sein, danach bin ich süchtig. Das Saft- und Machtgefühl spüren, das aus dem vollen
Körpererleben kommt. Worte sind da so schwach, dieses Daseinsgefühl zu beschreiben. Es ist ein Lebensgefühl der vollen Pulse, ein Raubtiergefühl. Die Käfige sind offen, die Dompteure sind fort, das Raubtier ist los.
Da kriegt das Dasein eine ganz andere Fülle und Selbstverständlichkeit. Eine neue Lebensgewißheit ist da,
die nicht erst durch Gedanken gedacht sein muß. Die Basis des Daseins ist klar: Da ist die Bergnatur und
mein Raubtier-Ich. Das gibt ein Wechselspiel, das läuft von selbst. Ich bin inzwischen ganz zufrieden, wenn
mir am Berg das Geistige abhanden kommt. Dafür handele ich mir Stärke und Wildheit ein, ein großes Lebensgefühl, das von unten, aus den Knochen, aus den Muskeln und Eingeweiden kommt. Klare und gewaltige Rhythmen teilen das Leben ein, Spannung und Erlösung, Zweifel und Triumph, Hunger und Sättigung"
(Aufmuth, 1984, S. 89f).
283
1991) und Winter (1995) beschrieben werden. Der Sport bzw. Kampfsportarten wie Catchen,
Ringen, Boxen oder Fechten sind weitere Beispiele der Manifestation von Gewalt. Schließlich
sehen wir in jugendkulturellen Szenen, dass Gewalt als Selbstzweck inszeniert und als Mittel
der Distinktion eingesetzt wird (vgl. Eckert u.a. 2000).
Gewalt ist aber keineswegs ausschließlich ein Phänomen unserer Zeit bzw. unseres westlichen
Kulturkreises. Ihre Verbreitung und Kultivierung im Alltag, im Krieg oder in Opferritualen
wird von Anthropologen, Ethnologen und Historikern beschrieben. Gay (2000) beschäftigt
sich mit den vielfältigen, individuellen und kollektiven, Erscheinungsformen ‘kultivierter’
Gewalt in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Einen Überblick über den Umgang mit Gewalt in unterschiedlichen historischen Epochen und geographischen Regionen
liefern Sieferle/Breuninger (1998).130 In seinem ‘Traktat über die Gewalt’ spricht Sofsky vom
gewaltdisponierten Gattungswesen Mensch. An verschiedenen historischen Beispielen erläutert er unterschiedliche Formen und Eskalationsmechanismen der Gewalt, die zu einer „entgrenzten Freiheit“ wird, sobald nur alle Zwecke und Disziplinierungen abgestreift sind. Die
„menschliche Bestialität“ könne weder kulturell durch die jeweiligen Sitten noch individuell
durch psychische Dispositionen der Täter erklärt werden; Sofsky geht vielmehr von Gewaltfaszination im Sinne einer anthropologischen Konstante aus:
„Alle Aspekte menschlichen Handelns können sich in einer Bluttat vereinigen. Da
ist der Genuß der Ausschweifung, das Hohngelächter über das Leiden der Opfer,
die Entgrenzung des Affektes. Da ist die gleichgültige Gewohnheit, das wiederholte Ritual der Inszenierung, der regelmäßige Ablauf des Schlachtfestes. Da ist
die Kreativität des Exzesses, die Geselligkeit der Mörder, die Zusammenarbeit der
Spießgesellen und Zuträger, und da ist nicht zuletzt der erfolgreiche Plan, der
Kalkül, die Rationalität der Grausamkeit“ (ebd. S. 49). Die Entgrenzung der Gewalt wird durch ihre „Ordnung“ reguliert bzw. unterdrückt, doch die „Leidenschaft“ hat weiterhin Bestand: „Auf die alten Triebkräfte mag auch der Staat nicht
verzichten. Er stellt die Affekte in seinen Dienst und läßt sie bei Gelegenheit frei.
Dem zuverlässigen Soldaten steht der wilde Berserker zur Seite, die organisierte
Razzia wird von einer lynchenden Straßenmeute angefeuert, die kühle Grausamkeit des Vollstreckers gewinnt Elan durch die Hitze des Aktionsexzesses“ (ebd. S.
22).
Mit Eibl/Eibesfeld (1976) ist davon auszugehen, dass Aggression und Sexualität gleichsam
zur Grundausstattung eines jeden Menschen gehört. Ihre Inszenierung und Kontrolle jedoch
steht im Kontext der Zivilisationsgeschichte, die den Menschen eine immer stärkere Beherr-
130
Vgl. auch: Colpe/Schmidt-Biggemann (1993); Sorel (1981) sowie den historischen Abriss medialer Gewaltdarstellungen, den Hartwig (1986) in seiner Publikation „Die Grausamkeit der Bilder“ unternimmt. Einen
ausführlichen Überblick über Gewalt in Opferritualen liefert Girard (1992).
284
schung abverlangt. So kann das Ausleben der Affekte als eine Reaktion auf die Verhaltensnormen des Alltags, die ein beständiges, vernunft- und zweckorientiertes Handeln fordern,
verstanden werden. Die Vergegenwärtigung der zivilisatorischen Transformationen seit dem
Beginn der Neuzeit, wie Elias (1976) sie untersucht hat, verdeutlichen diese Funktion. Elias
zufolge ist der Affekthaushalt des heutigen Individuums durch bestimmte soziale und kulturelle Einflüsse geprägt worden, was er exemplarisch an der höfischen Gesellschaft darstellt.
Waren unmittelbare und spontane Affekte in vormoderner Zeit durchaus übliche und akzeptierte Verhaltensformen, so sind es heute vor allem das rationale Kalkül und die Selbstkontrolle, die den Umgang mit anderen Menschen prägen.
Für diese psychogenetischen Veränderungen macht Elias grundlegende gesellschaftliche
Umwälzungen verantwortlich.131 Gesellschaften auf einem höheren Komplexitäts- und Interdependenzniveau sind ohne ein stabiles Gewaltmonopol nicht denkbar. Die individuelle Gewalthandlung wird zu einer Bedrohung der allgemeinen Befriedung. Deswegen sind Gewalt
und Aggression durch ein strenges Normkorsett begrenzt und nur derjenige, der seine Affekte
unter Kontrolle hat, braucht keine negative Sanktionen zu befürchten. Dem unkontrollierten
und unberechenbaren Individuum droht hingegen Bestrafung und Kasernierung. Aber nicht
nur hinsichtlich aggressiver Affektäußerungen wird dem einzelnen Menschen ein bestimmtes
Verhalten abverlangt, sondern auch in bezug auf sein ganzes Verhalten. Es errichtete sich um mit Foucault (1977, S. 230) zu sprechen - eine "Mikro-Justiz der Zeit (Verspätungen,
Abwesenheiten, Unterbrechungen), des Körpers (falsche Körperhaltungen und Gesten, Unsauberkeit), der Sexualität (Unanständigkeit, Schamlosigkeit)." Das zunächst äußere Zwangssystem verändert sich evolutionär mehr und mehr in einen Selbstzwang und funktioniert
gleichsam als internalisierter Automatismus. Das zivilisierte, ‘triebgedämpfte’ Verhalten erscheint als natürlich.
Elias (1976, S. 328f) folgert nun weiter, dass das Erleben von Affekten abgeschwächt und
neutralisiert wird: "Wie die Monopolisierung der physischen Gewalt die Angst und den
Schrecken verringert, die der Mensch vor dem Menschen haben muß, aber zugleich auch die
Möglichkeit, Anderen Schrecken, Angst, oder Qual zu bereiten, also die Möglichkeit zu bestimmten Lust- und Affektentladungen, so sucht auch die stetige Selbstkontrolle, an die nun
der Einzelne mehr und mehr gewöhnt wird, die Kontraste und plötzlichen Umschwünge im
Verhalten, die Affektgeladenheit aller Äußerungen gleichermaßen zu verringern. Wozu der
Einzelne nun gedrängt wird, ist eine Umformung des ganzen Seelenhaushalts im Sinne einer
131
Einen allgemeinen Überblick zu den komplexen Transformationen der Moderne geben auch: Aries/Duby
(1990); Beck (1986); Beck/Beck-Gernsheim 1990; Braudel (1985); Hahn (1984); Luhmann (1984); Tenbruck
(1989).
285
kontinuierlichen, gleichmäßigen Regelung seines Trieblebens und seines Verhaltens nach
allen Seiten hin. (...) Aber wie er nun stärker als früher durch seine funktionelle Abhängigkeit
von der Tätigkeit einer immer größeren Anzahl Menschen gebunden ist, so ist er auch in seinem Verhalten, in der Chance zur unmittelbaren Befriedigung seiner Neigungen und Triebe
unvergleichlich viel beschränkter als früher. Das Leben wird in gewissem Sinne gefahrloser,
aber auch affekt- und lustloser, mindestens was die unmittelbare Äußerung des Lustverlangens angeht" (Elias 1976, S. 331).
Die Nivellierung der äußerlich sichtbaren Emotionsregungen bedeutet aber noch nicht, dass
der Mensch auch innerlich befriedet ist. Zwar kann er seinen Gefühlen nicht mehr freien Lauf
lassen, das bedeutet aber nicht, dass sie nicht mehr da wären.132 Jeder Mensch lebt deshalb im
Spannungsverhältnis von zivilisatorischen Selbstkontrollzwängen und dem inneren Aufbegehren gegen diese Restriktionen, was sich in den temporären Befreiungsversuchen von diesen Verhaltensstandards äußert: "Aber die Triebe, die leidenschaftlichen Affekte, die jetzt
nicht mehr unmittelbar in den Beziehungen zwischen den Menschen zum Vorschein kommen
dürfen, kämpfen nun oft genug nicht weniger heftig in dem Einzelnen gegen diesen überwachenden Teil seines Selbst" (ebd).133
Demnach muss das Individuum im Alltag das Verhalten zeigen, das von ihm erwartet wird.
Eine Vielzahl von ritualisierten Verhaltensschablonen, wie Goffman sie beschrieben hat (vgl.
Kap. III. 1.5.2), sichern dabei die Stabilität und Zuverlässigkeit der Handlungen des Individuums und gewähren auch in bestimmtem Umfang Kontrollentlastungen, weil sie mehr oder
weniger automatisch realisiert werden. Unmittelbar mit den Anforderungen des Alltags ist die
132
Deutlich zeigt sich diese Feststellung im Bereich der Sexualität, wie Bataille (1982, S. 88) treffend formuliert: "Der Liebesakt und das Opfer decken beide dasselbe auf: das Fleisch. Das Opfer läßt an die Stelle der
geordneten Funktionen des Lebewesens das Blinde zucken der Organe treten. Dasselbe gilt für die erotische
Konvulsion: sie befreit die blutgefüllten Organe, deren blindes Spiel sich über das überlegte Wollen der Liebenden hinaus fortsetzt. Auf das überlegte Wollen folgen die tierischen Bewegungen der vom Blut geschwellten Organe. Eine Gewalttätigkeit, die von der Vernunft nicht mehr kontrolliert wird, beherrscht diese
Organe, spannt sie bis zum Platzen, und plötzlich wird es zu einer Freude der Herzen, dem Überschwang dieses Sturmes nachzugeben. Die Bewegung des Fleisches überschreitet, während der Wille abwesend ist, eine
Grenze. Das Fleisch ist in uns jener Exzess, der sich dem Gesetz des Anstands widersetzt. Das Fleisch ist der
angebore Feind jener, die das christliche Verbot quält; wenn es aber, wie ich glaube, ein vages und umfassendes Verbot gibt, das sich in verschiedenen, von Zeit und Ort abhängigen Formen der sexuellen Freiheit
entgegenstellt, so ist das Fleisch Ausdruck für die Rückkehr dieser bedrohlichen Freiheit."
133
Die Theorie von Norbert Elias sieht Sieferle (1998, S. 27) in Anthony Burgess Roman ‘Clockwork Orange’
plastisch illustriert: „Am Anfang steht die Gewalt der Täter, die in der Zerstörung und in der Zufügung von
Leid ihre private Lust gewinnen. Sie finden Macht, Selbstachtung und Anerkennung, wenn sie andere verletzen und demütigen können. Doch dann verkehren sich die Fronten. Der Schläger wird zivilisiert, er unterliegt
der strafenden Umkonditionierung, seine Schmerzschwelle wird gesenkt, was ihn zur Empathie, zur Leidensfähigkeit und zur Friedfertigkeit erzieht. Diese Disziplinierung wird jedoch als Traumatisierung erfahren:
Ihm wird eine offene Wunde implantiert, die bei der kleinsten Reizung schmerzt.“
286
Außeralltäglichkeit verbunden, die als temporärer Ausstieg aus den allgemein geltenden Verhaltenskonventionen verstanden werden kann. Den Alltag als Bezugspunkt der Außeralltäglichkeit beschreibt Weber (1921/1976) in seinen soziologischen Grundbegriffen bzw. in seiner
Theorie sozialen Handelns als ein sich in sehr kleinen Abständen regelmäßig wiederholendes
Handeln. Somit liegt der Unterschied zwischen Alltag und Außeralltäglichkeit in der Häufigkeit des Vorkommens. Weber versteht unter Alltag aber auch gelebtes, traditionales Handeln.
Zum Alltag dazu gehörig fasst er schließlich zweckrationales Handeln, das durch die rationale
Abwägung des Zwecks, der zu verwendenden Mittel und der zu erwartenden Nebenfolgen
gekennzeichnet ist.134 Mit der zunehmenden Rationalisierung der Welt unterstellt Weber
(1921/1988) die Abnahme von magischen und mystischen Vorgängen und bezeichnet diesen
jahrhundertelangen Prozess, der bereits in frühen Hochkulturen begonnen habe und bis heute
anhält, als die „Entzauberung der Welt“. Luckmann (1991) formuliert, dass die ‘Religion’
nicht verschwindet, sondern diffundiert. Menschen haben religiöse und oder spirituelle Erlebnisse in anderen, unterschiedlichen Bereichen, so z.B. der Zapfenstreich beim Militär. Auch
im Sport und in verschiedenen Hobbys sind vormals religiöse Erfahrungen vorhanden.135
Rituale übernehmen hier eine besondere Funktion: Einerseits strukturieren sie den Alltag,
machen Verhalten erwartbar; andererseits stellen Rituale aber gerade auch den Übergang vom
134
Die Dialektik von Alltag und Außeralltäglichkeit vermag Schulze (1999, S. 79) an einem sehr einfachen, aber
plastischen Beispiel zu beschreiben: „Der Film ‘Baka’, vor Jahrzehnten von französischen Ethnologen gedreht, gibt Szenen aus dem Leben eines Naturvolks in Afrika wieder. Ab und zu sieht man einen alten Mann,
der den Kindern signalisiert, dass er ihnen eine Geschichte erzählen möchte. Die Kinder hören auf zu spielen,
setzen sich hin und schauen ihn erwartungsvoll an. Alle seine Geschichten beginnen mit der Floskel: ‘Das
war so’, und sie enden mit dem Satz ‘So war das’. Was hier sichtbar wird, ist eine Ur-Idee: gemeinsam aus
dem Fluss des Alltagsgeschehens herauszutreten und eine Enklave in Raum und Zeit zu schaffen, in der ein
Arrangement zwischen Akteuren und Beobachtern gilt - der Tausch von Aufmerksamkeit gegen eine bemerkenswerte Darbietung. Noch nie aber so scheint es, hat es so zahlreiche Verabredungen zwischen dem universellen Erzähler und seinem ewigen Publikum gegeben“ (Schulze 1999, S. 79).
135
Aus der Vielzahl psychologischer Erklärungsversuche möchte ich hier explizit auf die Ansätze von Balint
und Zuckerman/Bone verweisen. Balint unterstellt dem Menschen Lustgewinn durch das Erfahren von Angst
im Sinne des Wissens um Risiko und Gefahr in Grenzsituationen. Dabei sind drei Elemente konstitutiv: 1.
Das Bewusstein eines äußeren Risikos oder einer Gefahr, 2. Die freiwillige Konfrontation mit der Gefahr und
3. die Hoffnung und das Vertrauen auf die Bewältigung der Gefahrensituation und das Wiederherstellen der
Sicherheit (vgl. Balint 1982). Zuckerman geht von einem gewissen Grundbedürfnis des Menschen nach Aktivität, Spannung und Erregung aus. Dieses jedoch ist nicht bei allen Menschen gleich ausgeprägt. So gibt es
die ‘high-sensation-seekers’ und die ‘low-sensation-seekers’. Hohe Reizsucher haben einen stark ausgeprägten Stimulationsbedarf, den er durch eine sensorische Deprivation erklärt. Die Schwelle des Empfindens von
Angst z.B. liegt bei hohen Reizsuchern sehr viel höher als bei anderen. Für hohe Spannungssucher stellt sich
das Problem, dass das Alltagsleben als zu spannungslos empfunden wird und sich diese Erfahrungsräume suchen, die ihren Bedürfnissen entgegen kommen (vgl. Zuckerman/Bone 1972). Apter (1994) schließt sich diesen Konzepten weitestgehend an, indem er auch das Bedürfnis nach Risko-Erfahrung als etwas Natürliches
betrachtet und dafür plädiert, ‘Räume des Risikos’ zu schaffen. Zum Thema Risikolust vgl. auch Hauck
(1989) sowie Brengelmann (1991).
287
Alltag zur außeralltäglichen Erfahrung her: „Symbole schließlich sind Verkörperungen einer
anderen Wirklichkeit in der alltäglichen; sie können aber auch in Verbindung mit bestimmten
(nämlich ritualisierten) Handlungen in Anspruch genommen werden, um die Grenzen zu anderen Wirklichkeiten, einschließlich der letzten Grenze, zu überschreiten. (...) Rituelle Handlungen richten sich an die außeralltägliche Wirklichkeit“ (Luckmann 1991, S. 175f).136 Gebhard (1987) erläutert die Beziehung zwischen Alltag und Außeralltäglichkeit am Beispiel des
Fests, das die soziale Ordnung des Alltags aufhebt und teilweise umkehrt. Schützenfeste, Partys, Volksfeste als Orte emotionalen Handelns, die es erlauben, aus sich heraus zu gehen, Tabus und Normen zu negieren: „Das Fest ermöglicht die Flucht, das Vergessen und die Erholung von der alltäglichen Wirklichkeit“ (ebd. S. 12).137
Grenz- und Körpererfahrung, Angstlust und Thrill im Sinne von nicht zum Alltag gehörenden
und darum außeralltäglichen Erfahrungen - das sind Motive, die sich sowohl für Sadomasochisten als auch für Paintballspieler und Hooligans nachzeichnen lassen. Die Beispiele zeigen,
dass die Menschen in diesen Szenen Aggression und Gewalt nicht nur ‘erleiden’, sondern sie
zur lustvollen Stimulation unter bestimmten Bedingungen suchen. Sie stellen Gefühlslagen
her, die im Rahmen von Gewalt(ritualen) eingebettet sind. Allerdings zeigen sich hier im
Vergleich unterschiedliche Authentizitätsstufen hinsichtlich des fiktiven bzw. realen Charakters bzw. der Interpretation von Gewalt sowohl aus der Innen- als auch der Außenperspektive
und den Eskalationsressourcen der jeweiligen Szenen. Der fiktive Charakter des Paintballspiels ist deutlich größer als der im sadomasochistischen Ritual oder bei den Gewalthandlungen der Hooligans.
Unter der Annahme einer allgemeinen Definition von Gewalt als (absichtliches) Zufügen
bzw. Erleiden physischer und/oder psychischer (Macht/Ohnmacht) Beeinträchtigung, können
die hier untersuchten gewaltaffinen Spezialkulturen im Vergleich zu anderen Phänomenen
wie folgt verortet werden:
136
Runkel (1988, S. 102) verweist auf „das Bedürfnis nach Überschreiten der Normalität und des Gewöhnlichen, der friedlichen, aber langweiligen Homogenität“, das es immer geben wird und stellt hierfür die Bedeutung der Rituale heraus. Georges Bataille (1982, S. 235) spricht von einem menschlichen „Verlangen, an den
Grenzen des Möglichen und des Unmöglichen mit fortwährend wachsender Intensität zu leben.“
137
Vgl. dazu auch Simmel (1923/1983, S. 13ff) über das Abenteuer: „Und zwar ist nun die Form des Abenteuers, im allerallgemeinsten: daß es aus dem Zusammenhang des Lebens herausfällt. (...) In einem viel schärferen Sinne, als wir es von den anderen Formen unserer Lebensinhalte zu sagen pflegen, hat das Abenteuer Anfang und Ende. (...) daß es in sich eine durch Anfang und Ende festgelegte Gestaltung eines irgendwie bedeutungsvollen Sinnes ist, und daß es, mit all seiner Zufälligkeit, all seiner Exterritorialität gegenüber dem Lebenskontinuum, doch mit dem Wesen und der Bestimmung seines Trägers in einem weitesten, die rationaleren Lebensreihen übergreifenden Sinne und in einer geheimnisvollen Notwendigkeit zusammenhängt. Hier
klingt die Beziehung des Abenteurers zum Spieler an.“
288
Abb.: Authentizitätsstufen von Gewalt
1) Sadomasochismus
Der Sadomasochismus ist - das hat die bisherige Analyse deutlich gemacht - eine Inszenierungsform von Erotik und Sexualität, die von der ‘normalen’ Sexualität in zum Teil drastischer Art und Weise abweicht. Erfahrungen mit der Abweichung und den gesellschaftlichen
Reaktionen darauf haben alle Sadomasochisten gemacht oder imaginativ vorweggenommen.
Gleichzeitig haben manche Sadomasochisten gelernt, mit der devianten Leidenschaft umzugehen und ihre Leidenschaft (trotzdem) zu kultivieren. In der sadomasochistischen Spezialkultur ist die Verbindung von Sexualität und Gewalt und das Ausleben von intensiven Affekten konstitutiv. Einem ‘zivilisierten’ Menschen erscheinen diese Verhaltensformen als bedrohlich oder zumindest als fremd, denn solche ‘affektuellen Kollektive’ wirken auf den ersten Blick unberechenbar und die allgemein gültige Affektkontrolle scheint nicht zu gelten.
Außeralltäglichkeit manifestiert sich im SM-Rahmen durch die Chance des exzessiven Auslebens von Emotionen. Gleichzeitig wird in dieser Situation all das, was der Alltag im Umgang
mit anderen Menschen erfordert (z.B. Rituale, Konventionen), hyperritualisiert, karnevalisiert
oder ins Gegenteil verkehrt. Die alltäglichen Ordnungen lösen sich in der außeralltäglichen
Erfahrung des Sich-gehen-lassens und der Sicherheit vor negativen Konsequenzen auf. Außeralltäglichkeit konstituiert sich also in der Ablösung des Verhaltens von den Alltagserwartungen und der Befreiung dieser Ablösung von negativen Konsequenzen. Damit wird auch
deutlich, dass Außeralltäglichkeit ein Phänomen ist, das es schon immer - wenn auch in verschiedenen Erscheinungsformen - gegeben hat. Jede Epoche und jede Kultur prägen eigene
Formen der Außeralltäglichkeit (vgl. Eckert 1990).
289
Die Analyse hat gezeigt, dass die sadomasochistische Spezialkultur keineswegs eine anarchische Welt ist, in der es keine Normen und Regeln gibt. Das, was sie von anderen gesellschaftlichen Systemen unterscheidet, ist ein eigenes Wert- und Normsystem, das aber nur innerhalb
dieser Szene Gültigkeit hat. So gehört z.B. zum sadomasochistischen Arrangement unbedingt
die Zustimmung der beteiligten Personen. Des Weiteren werden die Grenzen dessen, was erlaubt ist, vorher abgesprochen, so dass das Ausleben von Gewalt in einem kontrollierten und
reglementierten Rahmen stattfindet. Das sadomasochistische Ritual ist auf diese Weise eine
Simulation, eine virtuelle Handlung.
Daraus lässt sich ableiten, dass die Grenzen für Regel- und Normüberschreitungen nicht in
allen gesellschaftlichen Teilsystemen gleich sind. So ist das Ausleben von Emotionen in der
sadomasochistischen Szene anders codiert als in der übrigen Gesellschaft. Hier gilt, was
Vester (1991, S. 112) festgestellt hat: "Die emotionalen Bindungen und die auf sie bauenden
Wertentscheidungen und Tauschbeziehungen stellen auch ein soziales Drama dar. Dieses soziale Drama beinhaltet den Versuch der interaktiven Ausbalancierung zwischen den von einer
Situation gestellten Anforderungen und Herausforderungen und den vorhandenen Ressourcen
zur Situationsbewältigung bzw. Situationskontrolle. Als Ergebnis dieses Versuchs können
sich implizite Definitionen des fairen Austausches etablieren, die dann in der weiteren Entwicklung der Austauschbeziehung als normativer Maßstab fungieren. Es werden dann möglicherweise moralische Wertvorstellungen wie ‘gut’ und ‘böse’ ausgebildet und soziale Verfahren entwickelt, die diesen Werten entsprechen sollen." Der ‘faire Austausch’ wird in der Spezialkultur der Sadomasochisten durch ein eigenes Regelsystem gewährleistet. Wer diese
Normen nicht beachtet, hat keine Chance Mitglied in sadomasochistischen Szenen zu bleiben.
Nur wer ein situationsangepasstes Emotionsmanagement beherrscht, ist akzeptiert. Doch nicht
nur Emotionen werden in dieser Spezialkultur anders als in der übrigen Gesellschaft kultiviert. Auch das ästhetische Empfinden ist ‘spezialkulturtypisch’ codiert.
Im Sadomasochismus kann sich die Suche nach Ekstase und Grenzerfahrungen äußern, wie
sie in allen Gesellschaften bei religiösen bzw. kultischen Riten möglich waren resp. sind: Initiationsriten, Hinrichtungs- und Marterfeste, Märtyrien und extreme Askesen sind Beispiele
hierfür.138 Gemeinsam ist diesen ‘künstlichen Paradiesen’, dass sie die Zustände ekstatischen
138
Bahnen (1992, S. 14) schreibt in diesem Zusammenhang: "Obwohl das Grausamkeitsthema über Jahrtausende hinweg einen beträchtlichen Anteil sexueller Besetzung auf sich gezogen haben muß, konnte es zunächst keine soziale Komponente entwickeln. Sadomasochistische Sexualakte, Lebensweisen gar, müssen
extreme Ausnahmen gewesen sein. (...) In unserem Kulturkreis ist es aber dann zu einem bedeutenden Veränderungsprozeß gekommen, welcher den Ansätzen sexueller Faszination am Grausamkeitsthema eine Art
Sozialisationsvorsprung vor anderen Themen perverser Grundorientierung (z.B. sexuellem Interesse an Fäkalien) gab. Ursache war nicht zuletzt der Aufstieg des Christentums und seine Entwicklung zur katholischen
Kirche. Ihre zentrale, vergesellschaftende Mythologie umkreiste das Thema Erlösung, Himmelfahrt durch
290
Erlebens absichtsvoll herbeiführen und an bestimmte Anlässe gebunden sind. In der säkularisierten Welt fallen sie zunächst dem Diktat der Rationalität zum Opfer und verschwinden
ganz aus dem Alltag des zivilisierten Individuums139 oder werden in die Bereiche subversiver
Enklaven abgedrängt. Im Unterschied zur Alltagsbezogenheit der Außeralltäglichkeit transzendiert die Ekstase den Alltag in die ‘Hypertrophie des Präsens’ (vgl. Hahn 1976) und die
Referenzlosigkeit des Erlebens.140 Die Differenz von Außeralltäglichkeit und Grenzerfahrung
markiert deshalb - bezogen auf den Sadomasochismus - auch unterschiedliche Grade der Partizipation, denn nicht jeder will Grenzen überschreiten, manchen genügt schon die Außeralltäglichkeit.
Die zentralen Werte der modernen westlichen Welt sind Freiheit, Gleichheit und Solidarität,
die die Basis für persönliche Selbstbestimmung (pursuit of happiness im Sinne der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung) bilden. Zwei von ihnen werden durch die sadomasochistischen Spezialkulturen herausgefordert. Kann man freiwillig das Spiel der Unfreiheit wählen,
kann unter Gleichen ein Vertrag über Ungleichheit geschlossen werden? Ist jemand berechtigt, auf seine körperliche Unversehrtheit zu verzichten? Vieles in der Beurteilung wird davon
abhängen, ob Freiheit und Gleichheit, die vor der ‘Klammer’, vor dem ‘Spiel’ stehen, nicht
grundsätzlich aufgegeben werden, sondern immer wieder herstellbar sind. Vieles in der Beurteilung dürfte davon abhängen, ob die körperlichen Beeinträchtigungen prinzipiell reversibel
sind.
In zivilisationstheoretischer Perspektive stellt sich hier jedoch noch eine andere Frage. Sadistische und masochistische Impulse haben in Religion und Erziehung, in Militär und Polizei -
das Aufsichnehmen von Leiden; das extrem sozialfreundliche Motiv des Sich-Aufopferns für ein Ideal (...)
wurde zu einem Hauptinhalt der Überlieferung, der Kunst, der Gebete. Dadurch kam es zu einer beträchtlichen Verklärung des Themas Grausamkeit."
139
Gelpke (1982, S. 141f) verdeutlicht dies am Beispiel der Bedeutung von Rausch und Ekstase im Orient und
Okzident: "Diese technische Zivilisation ist ihrem ganzen Wesen nach funktionalistisch; und das einzige, allgemein verbindliche Kriterium, an dem die moderne Gesellschaft das Individuum mißt, ist mehr und mehr
dessen sozialer Funktionswert. Rausch wie Eros aber sind - ihrem eigentlichen, die Grenzen des bloß Funktionellen sprengenden Wesen nach - transzendent. Ihr gemeinsamer Nenner heißt Ekstase. Das aber ist etwas,
was wohl in die orientalischen und andere außereuropäischen Gesellschaften integriert worden ist, keineswegs aber in die Zivilisation des Westens. Deren ganzer, so extrem auf Leistung und Zweckdenken ausgerichteter Funktionalismus, deren linear und ad infinitum in den Zeitablauf projizierte Fortschrittsgläubigkeit,
schließen ein tieferes Verständnis, eine geistige Durchdringung und existentielle Bejahung des Phänomens
der Ekstase zwangsläufig aus."
140
Csikszentmihalyi (1987, S. 59) beschreibt diesen Zustand als 'flow' und bemerkt dazu: "Im flow-Zustand
folgt Handlung auf Handlung, und zwar nach einer inneren Logik, welche kein bewußtes Eingreifen von Seiten des Handelnden zu erfordern scheint. Er erlebt den Prozeß als ein einheitliches 'Fließen' von einem Augenblick zum nächsten, wobei er Meister seines Handeln ist und kaum eine Trennung zwischen sich und der
Umwelt, zwischen Stimulus und Reaktion, oder zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verspürt."
291
bzw. überall dort, wo es zu Machtmonopolen kommt - eine Bedeutung gehabt, zumeist als
Macht, die unbegriffen im Rücken der Akteure deren Handeln mitbestimmt hat. Kann die
Ausdifferenzierung einer spezialisierten Szene die anderen Lebensbereiche von solchen Impulsen entlasten? Zumindest bei den befragten Personen scheint es sich so zu verhalten.
2) Paintballspieler
Anders als bei den Sadomasochisten verbleibt Gewalt bei den Paintballspielern nur auf der
fiktiven Ebene; es gibt keine wirklichen Waffen oder Verletzungen (sieht man einmal von
möglichen Hämatomen, die eher selten vorkommen, ab). Insofern können die Paintballspieler
im Sinne der üblichen Gewaltdefinition nicht als gewaltaffin eingestuft werden. Sie spielen
Gewalt und Kampf, dies aber nicht anders als das Indianerspiel von Kindern oder Ritterspielen auf Burgfesten, wo Gewalt nicht tatsächlich ausgeübt wird. Was für den Außenstehenden
nicht selten als Ausdruck psychopathischer Gewaltverherrlichung und Kriegsspielerei verstanden wird, entpuppt sich als modernes ‘Räuber-und-Gendarme-Spiel’ braver Familienväter, Studenten und sogar Kriegsdienstverweigerern, das in vom Alltag klar abgegrenzten
Rahmen geschieht.
3) Hooligans
Den Hooligans reicht das nicht. Ähnlich wie im Bereich von Kampfsportarten wie Boxen,
Karate und anderen ‘martial arts’ wird in einem Spielrahmen Gewalt tatsächlich angewendet.
Das Risiko von Verletzungen gehört dazu. Wer am Spiel teilnimmt, willigt in eine Art Vertrag ein und kann später keinen Schadensersatz oder Vergeltung beanspruchen.
Die Hooligans kämpfen zwar wirklich, allerdings in Grenzen, die ein gemeinsamer Kodex mit
einer gewissen Regulierungsfunktion vorgibt. Die Balance bei der Gratwanderung zwischen
Angst und Risikolust auf der einen und den möglichen, irreversiblen Verletzungsfolgen auf
der anderen Seite wird zum entscheidenden Aspekt der extremen Erfahrungen, wie es auch
bei Extremsportarten häufig vorkommt.
Beachtenswert ist, dass die Hooligans - bei aller Brutalität, die sichtbar wird - ein (für sie
selbst) zivilisiertes Spiel spielen. Den Hools ist zunächst einmal die Notwendigkeit einer besonderen Rahmenkonstruktion bewusst, ebenso die erforderliche Absicherung dieses Spielrahmens durch Regeln und Kontrolle wie auch die Erfordernis der freiwilligen Einwilligung
in das Ritual. Dass die Beteiligten sich gegenseitig verletzen können und dies auch tun, ist für
292
sie akzeptabel. Dass im Spiel mit dem Risiko eine Gefahr für unbeteiligte Andere nicht auszuschließen ist, macht das Spiel und seine Grenzen prekär. Die Gründe für Grenzübertretungen
sind unterschiedlich. Sicherlich spielt der Kontrollverlust unter Alkoholeinfluss eine Rolle,
möglich auch, dass die antizipierte Medienaufmerksamkeit nach dem Motto ‘Helden für einen
Tag’ bedeutsam ist. Nicht auszuschließen ist auch, dass sich die Hooligans gerade in internationalem Zusammenhang in die Rolle nationaler Helden phantasieren. Viel fundamentaler als
diese Stimuli dürfte aber der Rahmenbruch durch die erzeugten spezifischen Emotionen selbst
sein. Gerade weil das Spiel der Hools so real ist, funktioniert das Rahmenmanagement nicht
immer und Entgleisungen sind die Folge. Das Spiel ist um so faszinierender, je echter das
Spiel ist. Je echter das Spiel ist, um so eher verliert es seinen spielerischen Charakter. Der
Rahmen bricht - mit fatalen Folgen, wie in Lens.
Trotz unterschiedlicher ‘Authentizitätsstufen’ in den verschiedenen Szenen handelt es sich um
Spiele (vgl. Caillois 1982; Huizinga 1987), die über Grenzziehungen und Transformationsregeln außeralltägliche Erfahrungen ermöglichen. Spiele grenzen Alltag aus und produzieren in
einem eigenen Rahmen Spannung. Der Rahmen konstituiert sich über Spielregeln, Chancengleichheit und ungewissen Ausgang. Die Faszination des Spiels dürfte nicht nur auf die innewohnenden Spannungsquellen zurückzuführen sein, sondern auch auf die Ausgrenzung von
Alltag. Das Spiel stellt eine abgegrenzte Form des Erlebens dar, die durch einen ‘Als-ObCharakter’ gekennzeichnet ist. Während des Spiels tut man so, als ob es nur die Wirklichkeit
des Spiels gebe. Der Rahmen, die Einbettung in andere Wirklichkeiten ist nicht mehr bewusst.
Die Spieler gehen im Spiel auf.
Sadomasochisten, Paintballspieler und Hooligans zeigen, dass sich neue Regeln des Umgangs
mit destruktiven Affekten prinzipiell finden lassen. Dieses Ergebnis ist allerdings an den engen Rahmen von persönlichen Beziehungsnetzen und freiwilligen Vereinbarungen gebunden
und daher nicht ohne weiteres auf die Gesellschaft übertragbar. Gleichwohl trägt das in ihr
entwickelte Lösungsmuster Züge, die letztlich der Transformation der Ethik im Modernisierungsprozess entstammen: Konkrete Rechte und Pflichten werden immer mehr durch abstraktere, universalistische Regeln ersetzt, die nichts positiv vorschreiben, sondern Bedingungen
und Grenzen für inhaltlich bestimmte Handlungen formulieren.
Es sind typischerweise Situationen, welche die Mitglieder der jeweiligen Kultur respektive
Szene als folgenlos verstehen, entweder weil die Opfer keinen Zugang zu Justiz haben oder
weil ein Einverständnis zwischen Opfern und Gegnern besteht, dass das Ganze nur ein Spiel
sei oder - im Falle der Paintballspieler - tatsächlich nur ein Spiel ist. Der Charakter dieser
Formen der Gewalt also ist von anderen Gewaltformen grundsätzlich verschieden. Während
die Schlägerei in der Kneipe, die Vergewaltigung oder Tötung immer auch (staatliche) Ge-
293
gengewalt provozieren, handelt es sich bei gewaltaffinen Spezialkulturen um eine Gewalt, die
folgenlos bleibt. Das vorgängig eingeholte Verständnis des Opfers beinhaltet den Verzicht auf
Rache und Vergeltung; einer möglichen Eskalation wird auf diese Weise vorgebeugt. R. Girard weist in seinem Buch ‘Das Heilige und die Gewalt’ darauf hin, dass das Opferritual in
primitiven Gesellschaften die Funktion hat, die Ausbreitung von Gewalt in der Gemeinschaft
zu verhindern, indem es die Gewalt auf ein Objekt lenkt, das sich nicht wehren kann. Die dem
Opfer angetane Gewalt bleibt folgenlos. Girard (1992, S. 59) verwendet die Metapher des
unreinen Blutes, um diese Ambivalenz sichtbar zu machen:
„Wir haben bereits von versehentlich oder böswillig vergossenem Blut gesprochen; es ist dieses Blut, das noch am Opfer trocknet, seine Klarheit verliert, trüb
und schmutzig wird, Krusten bildet und sich schichtenweise ablöst; das Blut, das
an Ort und Stelle alt wird, und das unreine Blut von Gewalt, Krankheit und Tod
sind eins. Diesem bösen, schnell verdorbenen Blut stellt sich das frische Blut der
eben dargebrachten Opfer entgegen, das immer flüssig und rot bleibt, weil es im
Ritual erst im Augenblick des Vergießens gebraucht wird und gleich wieder weggewischt wird (...).“
Im Opferritual stellt sich kein Vergeltungswunsch ein. Es soll befrieden und symbolisiert dies
durch eine finite Gewalthandlung, die keine Anschlüsse zulässt. Eine ähnliche Qualität haben
die Gewaltrituale bei Sadomasochisten, Paintballern und Hooligans. Der Peitschenschlag im
Dominastudio provoziert nicht den Gegenschlag des Sklaven. Die Prügeleien unter Hooligans
provozieren keine von Ihnen selbst initiierten strafrechtlichen Konsequenzen, und die fiktive
ausgeübte Gewalt im Paintballspiel zieht keine aggressiven Handlungen außerhalb des Spielfeldes nach sich. Der soziale Charakter von Gewalt ist darum von anderen Gewaltformen zunächst einmal verschieden. Er impliziert den Verzicht auf Rache und Vergeltung, einer möglichen Eskalation wird auf diese Weise vorgebeugt.
Bedingung ist hier jedoch die Freiwilligkeit der Teilnahme und die Reversibilität der Folgen.
Begrenzte Aggression wird durch eine vorausgehende Vereinbarung legitimiert. Das generelle
Verbot der privaten Gewaltanwendung wird durch Einwilligung und einem vereinbarten Racheverzicht gleichsam ausgetrickst. Basis ist die Etablierung einer Spezialkultur zum Ausagieren der Affekte mit eigenen Regeln, Distinktionen und Kontrollen.
Abschließend gilt festzuhalten, dass die hier referierten Beispiele die Thesen über den Zivilisationsprozess im Sinne einer zunehmendem Affektkontrolle keineswegs revidieren. In allen
Szenen wird ein hohes Maß an Selbstkontrolle offensichtlich; bei solchen Gewaltritualen handelt es sich um höchst rational herbeigeführte Erlebnistechniken, die soziale Folgenlosigkeit
und Abgrenzung vom Alltag sicherstellen (auch wenn dies - das zeigt das Beispiel der Hooligans in Lens - nicht immer gelingt). Für alle gilt, dass reflektiertes Handeln zugrundegelegt
294
werden kann, welches Stimulation im Kampf sucht. Die Thrills werden in besonderen, von
der Alltagsrealität abgekoppelten Ritualen zelebriert. Die von Elias (1976) beschriebene
Transformation von Verhaltensstandards hin zu Affektkontrolle und Triebdämpfung zeigt sich
gerade in der Ausdifferenzierung solcher spezialisierter Szenen, in deren Enklaven Affekte
und Emotionen ausgelebt werden können.
295
Anhang
296
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320
Glossar
a) Hooligans, Paintball und sonstige Kapitel
b) Sadomasochismus
a) Hooligans, Paintball und sonstige Kapitel
Airbagger: Jugendliche, die ‘zum Spaß’ (Kick oder Thrill) Autos aufbrechen bzw. stehlen,
um mit ihnen bewusst gegen die Wand zu fahren, und auf diese Weise den ‘Airbag’ auszulösen. → Autocrasher.
Autocrasher: → Airbagger
Autonome: Personen, die vielen thematischen Feldern der linken Polit-Szene zugehörig bzw.
dort aktiv sind (z.B. Anti-AKW, Anti-Nato, Anti-Faschismus, Anti-Imperialismus, Feminismus, Ökologie).
Ball: (aus dem Engl.) Kürzel für → Paintball. Bezeichnet sowohl die ‘Sportart’ als auch die
Farbkugel. Besteht aus einer Hülle aus bunter Gelatine, gefüllt mit einer Mischung aus Glycerin etc.; häufig mit Fruchtgeschmack. ‘Munition’ für die → Markierer, platzt beim Aufprall
und hinterläßt einen Farbfleck. Explizit wird keine rote → Paint verwendet, um Assoziationen mit Blut zu vermeiden. Häufige Farben: neon, blau, orange, gelb, grün, pink oder bunt
gemischt/gemustert.
Battlepack: Bezeichnung im → Paintball; gürtelartige Tasche/Rucksack-ähnliche Tragekonstruktion zur Aufbewahrung einer extra Tasche für den CO2-Tank sowie der (Ersatz)Farbkugeln, die sich in sog. → Pots befinden, während des Spiels/auf dem Spielfeld.
Base: (aus dem Engl.) Bezeichnung im → Paintball für den Ort, die Basis, auf der die eigene
Flagge steht, von wo aus das → Team startet und wohin es die gegnerische Flagge bringt.
Barrel Plug: Bezeichnung für Laufstopfen; neben der Schutzmaske einer der wichtigsten
Punkte zur Gewährung der Sicherheit beim → Paintball; Stopfen aus Gummi oder Plastik,
der sich entsprechend der Regeln des Paintballspiels außerhalb des Spielfeldes immer im Lauf
des → Markierers befinden sollte. Verhindert das unbeabsichtigte Austreten einer Farbkugel.
Breakdance: Akrobatische Tanzform aus dem → HipHop
Camo/Camouflage: Bezeichnung für die Verwendung von Tarnkleidung beim → Paintball.
Wird in der deutschen Paintballszene wegen Assoziationen zu militärischen Spielen in der
Regel abgelehnt (→ military look).
Chrony/Chronograph: Im Rahmen von Paintballturnieren eingesetztes Gerät zur Ermittlung
der Schussgeschwindigkeit mittels Lichtschranke oder ‘Radar’. Entsprechend der Regeln ein
Muss (vor und nach dem Spiel) zur Gewährung der Sicherheit und Chancengleichheit.
Dead Zone/Dead Man’s Zone: (aus dem Engl.); auch → Neutrale Zone/Neutral Zone. Bereich, in dem sich die markierten bzw. ausgeschiedenen Spieler in der Nähe des → Paintball-
321
spielfeldes aufhalten. Die Kommunikation mit den noch auf dem Spielfeld befindlichen Spielern sowie die ‘nachträgliche’ Manipulation am → Markierer sind in dieser Zone verboten.
DPSV (Deutscher Paintball Sportverband): ‘Dachorganisation’ der deutschen Paintballspieler. Herausgeber von Regelwerken, vertritt Interessen der Paintballspieler in der Öffentlichkeit.
Ecstasy: Synthetische Droge, in der Wirkung leistungssteigernd und gefühlsverstärkend.
Elevator-Rider: Vor allem Kinder und Jugendliche, die zwecks Thrillerlebnis vorzugsweise
auf den Dächern von Fahrstühlen und Aufzügen fahren.
Flagbase: → Base
Gotcha: (aus dem Engl. von Gotya, Slang für ‘I have got you). Oft synonym verwendet für →
Paintball. In der Paintballszene häufig abgelehnter Begriff, da hiermit ‘militärische’ Varianten des Paintballspiels assoziiert werden bzw. gemeint sind.
Graffiti: Der Begriff (von ‘graffito’ aus dem Italienischen) geht auf das lat. Verb ‘graphire’
zurück und bedeutet so viel wie ‘Einritzen’, ‘Einkratzen’. Bezeichnet heute ‘subkulturelle
Zeichnungen’ auf der Basis von Sprühfarbe (bunt oder nur schwarz). Graffitis sind vor allem
auf Bahngeländen oder Zügen sowie an größeren Häuser- und Hallenfassaden zu sehen.
Grufty-Szene: Anhänger okkulter Themen und Praktiken. Schwarze Kleidung und weißpudriges Make-up unterstreichen die Assoziationen zum Tod (Gruft).
Hooligan: Gewalttätiger Fußballfan (Rowdy, Randalierer).
HipHop: Bezeichnung für eine Ende der siebziger Jahre entstandene Jugendkultur. Typische
Aktivitäten: → Sprayen, → Breakdance, → Rappen, → Skaten und → Streetball.
Indoor: Hallenvariante des → Paintballspiels; wird auch in großen Kellern gespielt.
Long-Distance-Runner: Diejenigen Spieler im Rahmen eines → Paintballturniers, welche die
weiteste Entfernung zur Anreise auf sich genommen haben.
Markierer: Luft- oder CO2-betriebenes, waffenähnliches Schussgerät im → Paintball; oft in
vielen bunten Farben.
Marshal: Schiedsrichter beim → Paintballspiel. Nach den Spielregeln des Paintballspiels ist
seinen Anweisungen in jedem Fall Folge zu leisten.
Maske: Spezialschutz während des → Paintballspiels für den Gesichts- und Kopfbereich;
sollte entsprechend der Regeln in jedem Fall auf dem Spielfeld, aber auch im ausgeschilderten
Bereich rund um das Spielfeld getragen werden
Military Look: Verwendung von Tarnkleidung beim → Paintballspiel. Der Military Look ist
in der deutschen Szene häufig verpönt, da er die Szene aufgrund der Assoziation zu Kriegsspielen diskreditiere. Widerspricht der Forderung nach → No Camo
No Camo: Beim Paintball häufige Vereinbarung bzw. Bedingung auf Turnieren, keine Tarnkleidung zu tragen. → Camo, Military Look
Neutrale Zone: auch → Dead-Zone oder Dead Man’s Zone; Bereich, in dem sich die markierten bzw. ausgeschiedenen Spieler in der Nähe des Paintballspielfeldes aufhalten. Die Kommunikation mit den noch auf dem Spielfeld befindlichen Spielern sowie die ‘nachträgliche’
Manipulation am → Markierer ist verboten.
322
Outdoor: 1) Bezeichnung für Sportarten im Freien, meist Abenteuer-/Adventure-Aktivitäten.
2) Variante des → Paintballspiels, bei der im Freien gespielt wird.
Paint: (Aus dem Engl.) Dieser Begriff wird speziell für die verwendete ‘Marke’ der Farbkugelen verwendet - → Ball, Paintball.
Paintball: Von den Anhängern als Abenteuer-, Extrem-, Fun-, und Strategie-Sport bezeichnet.
Mannschaftsspiel, bei dem zwei Mannschaften gegeneinander antreten, um die Fahne der
gegnerischen Mannschaft zu erobern und auf die eigene → Base zu bringen. Der Gegner kann
am Erlangen der Fahne gehindert werden, indem er mit dem → Markierer ‘abgetroffen’ bzw.
durch Farbkugeln → markiert wird. Er muss das Spielfeld verlassen. Gespielt wird meist im
Freien, aber auch in geschlossenen Räumen (Kellern, Hallen). Es gibt unterschiedliche Varianten: z.B. → Speedball, Sup’Air oder Woodland.
Player ist out: Bezeichnung für einen von einer Farbkugel/→ Paint getroffenen Spieler beim
→ Paintball.
Pot: Länglicher Nachfüllbehälter (aus Kunststoff) für die Farbkugeln. Wird auf dem Spielfeld
im -→ Battle Pack mitgeführt.
Quad: Vierrädriges, geländegängiges Fahrzeug aus dem Moto-Cross-Bereich. Findet Interesse bei den Anhängern des → Paintballsports.
Randale: Gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Hooligans am Rande von Fußballspielen (Bundesliga, internationale Meisterschaften). Typisch sind auch Zerstörung und Vandalismus in Innenstädten (Lokale, Geschäfte).
Rappen/Rap: Sprechgesang, rhythmisches Sprechen.
Real-Life-Show/Real-People-Format: Medial-kommerzielle Rundum-Beobachtung von Personen mittels Kamera (und Mikrophon), die sich der Kasernierung (auf einer Insel, in einem
Wohn-Container etc.) bereit erklärt haben. Bekanntestes Beispiel: ‘Big Brother’ (RTL2); auch
‘Big Diet’ (RTL2) oder ‘Girlscamp’. Zuschauermotivation: ‘Authentische Menschen in authentischen Situationen’.
Rechte: Politisch rechts Orientierte (auch: Rechtsradikale, Neonazis).
Rookie: (aus dem Engl., wörtlich: Grünschnabel): Bezeichnung aus der Paintballszene für
Anfänger/Novizen, die den ‘Sport’ erst einmal erlernen müssen (Spielregeln, Sicherheitsvorschriften, Strategie, Ausrüstung/Werkzeuge, Szenestruktur etc.).
Skaten: (aus dem Engl.) Rollbrettfahren auf öffentlichen Plätzen oder in eigens dafür vorgesehenen
sportlichen
Einrichtungen/Bahnen,
z.T.
mit
akrobatischen
Übungen/Sprüngen/Kunststücken. → HipHop
Speedball: Schnellste Variante des → Paintballspiels. Kann im Freien (auf fußballfeldähnlichen Plätzen) und in Hallen mit künstlichen Deckungen (Autoreifen, Paletten, Strohballen)
gespielt werden.
Splash: Farbfleck durch Aufprall einer → Farb-/Paintballkugel, Treffer.
Sprayen: → Graffiti-Kunst; Herstellen von Bildern oder Schriftzügen (Kunstwerken) mit
Spraydosen.
Streetball: ‘Straßen’variante des Basketballspiels. → HipHop
323
Sup’Air: → Speedball-Variante auf künstlich angelegtem Spielfeld. Deckungen bestehen aus
aufgeblasenen bunten Zylindern oder Kegeln. Die Zuschauer können die Spielzüge überblicken.
Team: Bezeichnet in der → Paintballzene einen Verein (oder Club) bzw. eine Mannschaft im
Rahmen von Liga-Spielen, Turnieren und sonstigen Wettkampfveranstaltungen.
Teamcaptain: ‘Führungsposition’, Mannschaftskapitän beim → Paintball; ähnlich einem
Spieler-Trainer im Fußball. Der Teamcaptain entscheidet, wer bei einem Turnierspiel mitspielt und wer welche Funktion übernimmt.
Treffer: → Splash
Wagendorfbewohner: Personen, die auf einem Wagendorfplatz (Bau- und Campingwagen),
meist in Großstädten, wohnen. Typisch ist eine ‘antibürgerliche’ Aussteigerhaltung und die
Suche nach alternativer Selbstverwirklichung.
Woodland: Variante des → Paintballspiels, bei der im Freien auf einem größeren, hügeligen
Gelände gespielt wird.
Yuppie: Young urban professional people; lifestyleorientierte Aufsteiger/Jungkarrieristen.
b) Sadomasochismus
Analpraktiken: Analerotik, analer Koitus (Geschlechtsverkehr) oder Penetration mit verschiedenen Gegenständen.
Bizarr: Szene-Begriff für außergewöhnliche Praktiken, wie etwa → Koprophilie, Urolagnie,
Klinik-Sex oder Verkehr mit Schwangeren.
Bondage: Fesselung des ganzen Körpers oder der Extremitäten mit Ketten, Seilen, Schnüren
etc., auch ‘Einpacken’ in Ganzkörpersäcke oder ‘Einsperren’ in Käfige oder Räume.
Bottom/B: Szenebegriff für die → submissive Rolle im sadomasochistischen Arrangement (→
Masochismus, M, Sklave).
Breeches: Reithose.
Chaps: (Leder)-Hosen, die an Gesäß und Geschlechtsteil ausgeschnitten sind. Sie werden
sowohl auf der Haut als auch über Jeans getragen.
Cockring: Um den Penis befestigter Ring aus Metall, Gummi oder Leder. Neben der
Schmuckfunktion (→ Intimschmuck) dient er der Erhaltung oder Verbesserung der Gliedversteifung.
Cruising area: Öffentliche Orte wie Parks oder → Klappen, an denen Schwule ihre Sexpartner rekrutieren und auch Sexkontakte haben.
Darkroom: Meist Neben- oder Kellerraum in Schwulen-Kneipen, wo anonymer Sex (auch
Sadomasochismus) praktiziert werden kann.
Dehnung: Dehnen von Körperöffnungen (Vagina und/oder Anus) mit Gegenständen (z.B. →
Dildos oder Analstopfen verschiedener Größe) oder von Hoden und Penis mit Gewichten.
324
Dildo: Nachbildung des steifen männlichen Gliedes (zumeist aus Kunststoff, aber auch
Gummi/Leder). Es wird von Männern und Frauen zur sexuellen Stimulation benutzt. Einige
Varianten können umgebunden werden.
Dirty: Sexpraktik, die Exkremente (auf dem Körper verreiben, verspeisen) mit einbezieht.
Domina: → Dominante Frau. 1. Professionelle Domina, die (gegen Bezahlung) die masochistischen Wünsche ihrer meist männlichen Kunden befriedigt. Geschlechtsverkehr ist dabei in
der Regel ausgeschlossen. 2. Ausdruck für dominante Frauen, die keine finanziellen Interessen mit der Ausübung von sadomasochistischen Praktiken verbinden.
Dual: Person, die sich nicht auf eine SM-Rolle (→ Top oder → Bottom) festlegt, sondern beide praktiziert (→ Switch).
Englische Erziehung: Wechselspiel zwischen einer → dominanten und einer → submissiven
Person. Dazu gehören Bestrafungen, wie etwa Schlagen, Peitschen etc. Oft werden solche
Inszenierungen in einem Lehrer/Schüler-, Vater/Sohn-, Vater/Tochter-, Mutter/Sohn
o.ä.Verhältnis nachempfunden.
Fist Fucking/Fisten (FF): Anale oder vaginale Penetration mit zur Faust geschlossener Hand
und Unterarm.
Flagellation: Praktik bei der Schlagen und Geschlagenwerden im Vordergrund steht. Dazu
können Peitschen, Rohrstöcke, Ruten, Reitgerten oder Ähnliches verwendet werden. Oft in
Verbindung mit Erziehungsspielen (→ Englische Erziehung).
Flag-Szene: Gruppe von Personen, die sexuelle Lust durch → Flagellation empfindet.
Fetischismus: (Sexuelle) Fixierung meist bei Männern auf bestimmte Körperteile (z.B. Füße,
Brüste) oder Kleidungsstücke (Unterwäsche, auch getragen, Korsetts) oder bestimmte Materialien (Leder, Gummi).
Golden shower: Urinieren auf den Körper oder in den Mund des Partners.
Harness (Pferdegeschirr): Lederriemen, die durch Metallringe und Nieten zusammengehalten
werden. Sie werden auf der nackten Haut getragen.
High Heels: Hochhackige Frauenschuhe und Stiefel, werden als Fetisch von Frauen und
Männern gebraucht.
HWG: 1. Häufig wechselnder Geschlechtsverkehr. 2. ‘Huren wehren sich gemeinsam’: Initiative von Prostituierten, zur Vertretung ihrer Interessen nach außen.
Intimschmuck: Ringe, Ketten oder ähnliche Gegenstände, die im Intimbereich oder an den
Brüsten angebracht werden. Zur Befestigung werden die betreffenden Körperteile perforiert
(→ Piercing).
Jack-Off-Party: (abgeleitet vom Amerikanischen jerk off = ‘wichsen’). Von Schwulen organisiertes Fest, bei dem ausschließlich → Safe-Sex-Praktiken erlaubt sind und der Einlass nur bis
zu einer bestimmten Uhrzeit erfolgt. Wer die Party danach verläßt, muss draußen bleiben.
Kaviar: Szenebezeichnung für Kot (→ Dirty).
Klammern: Sie werden zur schmerzhaften Befestigung an der Brust, im Intimbereich oder an
anderen Körperstellen verwendet; sind meistens aus Kunststoff oder Metall.
Klappen: Öffentliche Bedürfnisanstalten, die Schwule zum Sex nutzen (→ Cruising Area).
325
Klinik-Sex: Sexpraktiken, die in klinikähnlichen Räumen stattfinden. Dazu gehören ArztPatient-Inszenierungen (z.B. das Einführen eines Katheters, Untersuchungen auf einem gynäkologischen Stuhl, → Klistiere etc.).
Klistier: Einlauf. Diverse Flüssigkeiten werden mittels eines Schlauches in den Mastdarm zu
dessen Entleerung bzw. Reinigung eingeführt. Wird häufig vor Analverkehr_oder im Rahmen
des → Klinik-Sex angewandt.
Koprolagnie: (Sexuelle) Neigung zu Kot(Spielen); Beschmieren, Verreiben.
Koprophagie: (Sexuelle) Neigung zum Verspeisen von Kot.
Leder-Szene: Personengruppe in der schwulen (aber auch heterosexuellen) Subkultur, die eine
fetischistische Vorliebe für Lederkleidung und -materialien hat.
Lolita: 1. Vom sexuellen Verhalten und vom Aussehen her frühreifes Mädchen (zwischen 9
und 24 Jahren). 2. hier: Vom äußeren Erscheinungsbild her mädchenhafte Frau.
Masochismus: Neigung zu (sexuell) unterwürfigem Verhalten; Rolle im → sadomasochistischen Arrangement (→ Bottom, M, Submission), die durch das ‘Erleiden’ physischer wie auch
psychischer Beeinträchtigungen/Gewalt gekennzeichnet ist.
M: → Bottom, kann auch die Abkürzung für → Meister sein.
Meister: Wird (besonders bei Schwulen) für die → dominante Rolle verwendet.
Nadelspiele: Nadeln werden zur Stimulation sowohl an den Geschlechtsteilen als auch an
anderen Körperstellen angebracht. Häufig werden auch Vorhaut, Brustwarzen oder Schamlippen durchstochen.
Natursekt (NS): Sexpraktik, die Urin miteinbezieht; Verreiben auf dem Körper, Trinken (→
Dirty)
Negrophilie: Sexuelle Orientierung, bei der die Befriedingung durch Handlungen an Leichen
erlangt wird.
Nymphomanie: ‘Krankhaft’ gesteigerter Geschlechtstrieb der Frau.
One-night-stand: Sexuelle Aktivitäten zweier oder mehrerer Personen für eine Nacht ohne
weitere Verpflichtungen.
Päderastie: Gleichgeschlechtliche Beziehung von älteren zu jüngeren Männern (Knaben)
insbesondere im alten Griechenland. Gemeint ist sowohl die sexuelle Beziehung als auch ein
erzieherisches Verhältnis im intellektuellen Sinn.
Pädophilie: Neigung zu sexuellen Handlungen mit Kindern.
Piercing: Durchstechen von Körperteilen mit Nadeln oder anderen Gegenständen zur Befestigung von → Intimschmuck.
Poppers: Rauschmittel auf Amylnitratbasis mit gefäßerweiternder und muskelentspannender
Wirkung (→ Analverkehr).
S: → Dominante Rolle im → sadomasochistischen Setting.
Sackfolter: Behandlung der Hoden mit unterschiedlichen Gegenständen, wie etwa Riemen,
Nadeln, → Cockringen oder Gewichten.
326
Sadismus: Neigung zu (sexuell) → dominantem Verhalten; Rolle im → sadomasochistischen
Arrangement, die durch das ‘Zufügen’ physischer wie auch psychischer Beeinträchtigungen/Gewalt gekennzeichnet ist (→ Domina, Meister, S, Top).
Sadomasochismus: Sammelbegriff für → masochistiche und → sadistische Orientierungen
bzw. Praktiken; Interaktion zwischen → Sadist und → Masochist.
Safe sex: Sexualpraktiken, die vor einer AIDS-Ansteckung oder auch Geschlechtskrankheiten
schützen sollen.
Scat: (aus dem Engl.) Fäkalien → Dirty
Schoko: → Dirty_
Sklave: Unterworfene Person, die absoluten Gehorsam gegenüber ihrem → Meister_bzw.
ihrer → Domina zeigt (→ Bottom, M).
Sklaven-Auktion: Inszenierung, die einer antiken Versteigerung von → Sklaven_nachempfunden ist. Dabei werden Letztere meistbietend (für einen begrenzten Zeitraum, in der Regel
ein paar Stunden) 'verkauft'.
Sling (engl.: Schleuder, Schlagriemen Schlinge): Ein meist aus Leder gefertigtes Gurtwerk
zum Aufhängen an der Decke, bei dem sich der darin liegende Körper in einer entspannten
und für verschiedene Sexualpraktiken (wie etwa Fist Fucking) geeigneten Rückenlage befindet.
SM: Gebräuchliche Abkürzung für → Sadomasochismus.
Stopcode: Begriff, auf den sich die an einer → sadomasochistischen Inszenierung Beteiligten
vorher einigen. Er wird gebraucht, wenn einer der Partner das Setting unterbrechen möchte.
Straps und Grips: Vereinigung von Prostituierten (→ HWG).
Strenge Erziehung: Besonders harte Bestrafungsmaßnahmen gegenüber einem → Sklaven
oder Schüler.
Stromspiele: Sadomasochistische Praktiken, bei denen mittels leichter Stromschläge gefoltert
wird.
Swinger: Männer oder Frauen, deren Sexualverhalten in besonderem Maße auf wechselnde
Geschlechtspartner abzielt (Gruppensex).
Switch: → Dual
Tabuloser Sex: Sex, der sehr weit gesteckte Grenzen hat, meist auch → bizarre Praktiken mit
einbeziehend.
Toilettensklave: → Sklave, der die Ausscheidungen anderer Personen, mitunter auch aus dem
WC, verspeißt oder trinkt.
Top: → Domina, Meister, S, Sadist.
Toys: Gegenstände (‘Spielzeuge’) für → sadomasochistische, bizarre oder änhnliche Sexualpraktiken.
Transvestit (TV): Person, die Kleider des anderen Geschlechts trägt.
327
Transsexueller: Person, die sich im Körper des eigenen Geschlechts unwohl fühlt, bis hin
zum Wunsch nach einer Geschlechtsumwandlung (hormonell, operativ).
Urolagnie: Sexuelle Neigung zu Urin(spielen).
Vibrator: Elektrisches (phallusartiges) Massagegerät, das zur sexuellen Stimulation benutzt
und häufig vaginal oder anal eingeführt wird.
Wasserspiele: Sexuelle Spiele unter Einbeziehung von Urin. → Natursekt.
Watersports: → Wasserspiele, → Natursekt.
Whipping: (aus dem Engl.) Jemandem eine Tracht Prügel versetzen. → Flagellation.
Zofe: Assistent(in) einer dominanten Person, der/die anderen Beteiligten unter Umständen
auch für Geschlechts- und Oralverkehr zur Verfügung steht oder die untergeordnete Rolle
einnimmt.
Zoophilie: Sexuelle Neigung zu Tieren.
328
Beispiele Datenerhebungsmaterial
329
Gewalt, Abenteuer oder Sport?
Schon seit geraumer Zeit sind Gotcha- oder Paintballspieler/innen ins Kreuzfeuer der
Kritik geraten. Schlagzeilen wie ‘Sport oder Mord?’ dokumentieren den Stand der
Diskussion. Selten findet die Perspektive der Fans dieser und ähnlicher Sportarten
Berücksichtigung. Ihre ‘Sicht der Dinge’ soll deshalb im Rahmen einer Untersuchung
herausgearbeitet werden. Was sind die Motive, welche Faszination verbirgt sich dahinter? Sind diejenigen, die diesen Sport ausüben, gewaltverherrlichende oder gar
gewalttätige Individuen?
Dies sind Fragen, die nur beantwortet werden können, wenn die Fans selbst zu Wort
kommen. Ziel dieser Untersuchung ist also, eine nicht wertende Darstellung der
Perspektive der ‘Spieler’, ihrer Erfahrungen und Erlebnisse, die mit dem Ausüben dieses Kampfsportes (?) verbunden sind, vorzunehmen. Dies kann aber nur
gelingen, wenn sie im direkten Gespräch bereit sind, darüber zu berichten, denn die
Auswertung von z.B. Artikeln aus der Regenbogenpresse würde allenfalls Erkenntnisse über Vorurteile erbringen, nicht aber die Realität treffen.
Über Ihr Interesse würden wir uns sehr freuen und Ihnen als kleines Dankeschön
nach Fertigstellung den Forschungsbericht zur Verfügung stellen. Noch ein wichtiger
Hinweis: Die Identität von Einzelpersonen, persönliche Daten wie Namen oder Adressen und ähnliches spielen keine Rolle!
Kontakt:
Arbeitsgemeinschaft sozialwissenschaftliche Forschung und Weiterbildung
an der Universität Trier e.V.
z.H. Linda Steinmetz
DM I - 116 - Postfach 7
54286 Trier
Tel. 0651/201-3232 oder 3233; Fax 0651/201-3232
e-mail: [email protected]
330
Linda Steinmetz
DM I/116 - Postfach 7
D-54286 Trier
Tel. 0651-201-3232
Fax: 0651-201-3232
e-mail: [email protected]
Paintball Club Austria
Endergasse 4
1120 Wien
Sehr geehrte Damen und Herren,
aufgrund Ihrer Anzeige in ‘Paintball Pur’ (Heft 3, 1996, S. 40/41) erlaube ich mir, Sie heute
anzuschreiben. Ich selbst habe keinerlei Erfahrungen mit Paintball oder Gotcha, auch verfüge
ich über keinerlei Kenntnisse bezüglich Regeln, Techniken, Strategien u.v.m. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Soziologie der Universität Trier interessiere ich mich
im Rahmen eines Forschungsprojektes für Ihr ‘Hobby’.
Zunächst einmal geht es mir darum, einen ersten Überblick über den Sport selbst zu erhalten
(Regeln, Kleidung, Sport-‘Waffen’ etc.). Dann bin ich auch daran interessiert, etwas über die
Szene (Veranstaltungen, Clubs, Wettbewerbe, Nachrichtenbretter/Rubriken im Internet) etc.
herauszufinden. In erster Linie interessiert mich jedoch, was die Faszination dieser Sportart
ausmacht, welches die Motive sind, diesen Sport auszuüben, welche Gefühle und ‘Körpererfahrungen’ damit einhergehen (Erfahrungsberichte zu sog. ‘Extremsportarten’ sind z.B. aus
dem Bereich des Bergsteigens bekannt).
Um all dies herauszufinden, bin ich jedoch auf die freundliche Unterstützung der
Fans/Sportler angewiesen. Deshalb würde es mich freuen, wenn Sie als Experten mir weiterhelfen könnten. Vielleicht können Sie in diesem Zusammenhang das beiliegende Papier auch
in Ihrem Club, ggfs. an Freunde und Bekannte weiterreichen?
Einen ersten Einblick erhoffe ich mir über Clubdarstellungen, Veranstaltungshinweise, Flugblätter, Videos, Erfahrungsberichte, (nicht-kommerzielle) Szene-Magazine u.ä., also all jene
Materialien, die die Sport-Szene über sich selbst produziert. Dann bin ich aber auch daran
interessiert, mit einzelnen Sportlern oder Clubs (Gruppen/Teams) über ihr Hobby zu sprechen/diskutieren. Sollte es Ihnen möglich sein, Materialien zur Verfügung zu stellen, erhalten
Sie diese selbstverständlich zurück. Die Gespräche könnten telefonisch oder ggfs. vor Ort bei
Ihnen durchgeführt werden.
Wenn mein Anliegen Ihr Interesse findet, würde ich mich über einen kurzen Anruf/Fax oder
Antwortbrief (liegt frankiert bei) freuen. Vielleicht darf ich ja bereits auf die ein oder andere
Clubzeitschrift o.ä. hoffen.
Damit Sie sich einen Eindruck über die bisherigen Arbeiten der Forschungsgruppe machen
können, lege ich Ihnen einige Kopien bei.
In Erwartung Ihrer Antwort verbleibe ich mit bestem Dank im voraus
mit freundlichen Grüßen
Linda Steinmetz
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