Außeralltäglichkeit und Grenzerfahrung im Kontext von Gewalt Ethnographische Streifzüge durch die Spezialkulturen der Sadomasochisten, Paintball-Spieler und Hooligans Inauguraldissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität zu Frankfurt am Main vorgelegt von Linda (Dietlinde) Steinmetz aus Trier 2001 Dank Herzstück der vorliegenden Dissertation ist die empirische Analyse gewaltaffiner Spezialkulturen, wie sie sich im Phänomen des Sadomasochismus, des Paintballspiels und der Hooligans manifestieren. Ohne die Unterstützung all jener aus der SM-, Paintball- und der HooliganSzene, die mir Rede und Antwort standen, mir bei meinen Feldexplorationen behilflich waren und mir so ihre ‘Kultur’ transparent gemacht haben, wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Für das ganz besondere Engagement danke ich meinem Kontaktmann bei der Polizei, der mir den Weg in die Hooligan-Szene ermöglicht hat. Ebenso dem Hooligan ‘Blubber’, der mich bei meinen Streifzügen durch die Szene begleitet hat. Hervorheben möchte ich die Unterstützung durch die Paintball-Spieler Marko Pollak, Frank Gensthaler und Jörg Höhle. Sie haben mir die Nennung ihrer Namen an dieser Stelle gestattet. Danken möchte ich auch allen, die mich ermuntert haben, das Projekt ‘Dissertation’ zu Ende zu bringen. Herzlichst möchte ich mich hier bei meinem Erstgutachter, Herrn Prof. Dr. Klaus Neumann-Braun, für seine wertvollen Anregungen und die Unterstützung insgesamt bedanken. Herrn Prof. Dr. Klaus Allerbeck danke ich für seine Tätigkeit als Zweitgutachter. Namentlich nennen möchte ich ebenfalls Herrn Prof. Dr. Wilhelm Schumm sowie Herrn Dr. Christian Stegbauer, die mir die Ergänzungsprüfung im Fach Soziologie abgenommen haben. Mein Dank gilt ebenso meinem langjährigen Mentor Herrn Prof. Dr. Roland Eckert sowie der Arbeitsgemeinschaft sozialwissenschaftliche Forschung und Weiterbildung e.V. an der Universität Trier. Herr Hans Spängler und Frau Ulrike Abele als meine Vorgesetzten bei der Allianz Lebensversicherungs-AG brachten mir für die Fertigstellung meiner Arbeit viel Verständnis entgegen. Besonders motiviert wurde ich auch durch den Fachbereichsleiter Vertrieb, Herrn Thomas Fischer. Christa Reis, Natalia v. Levetzow-Hartleb, Gerhard Keim sowie all meine Kolleginnen und Kollegen bei der Allianz ermunterten mich immer wieder und leisteten mir Zuspruch. Zu danken habe ich schließlich meinen lieben Kollegen Eberhard Loos für das Redigieren der Arbeit und Frank Mühleck für die technische Unterstützung. Meinem Lebenspartner Hermann Dahm danke ich für die kritische Lektüre, die Drucklegung sowie für seine Geduld mit mir. Gewidmet habe ich diese Arbeit meiner Mutter und meinen Töchtern Nastasja und Yessica. Stuttgart, im Juni 2001 Linda Steinmetz Vorwort Die vorliegende Arbeit basiert auf meinen umfangreichen Forschungsaktivitäten, die ich unter der Leitung von Prof. Dr. Roland Eckert, Lehrstuhl Allgemeine Soziologie, an der Universität Trier im Rahmen verschiedener, stiftungsfinanzierter Forschungsprojekte durchgeführt habe. Die Analyse stellt Auszüge aus groß angelegten Studien der Arbeitsgemeinschaft sozialwissenschaftliche Forschung und Weiterbildung e.V. an der Universität Trier (ASW) dar. Zu nennen ist das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt zum Thema Sadomasochismus, das die hetero- und homosexuelle SM-Szene in Deutschland zu Beginn der neunziger Jahre beleuchtet. Ebenso die von der Volkswagen-Stiftung finanzierte Arbeit, die sich mit gewaltaffinen Gruppen (hier z.B. auch: Rechte, Autonome, HipHop- und Technogruppen, Breakdancer und Wagendorfbewohner) beschäftigt. Im Rahmen dieses Projektes habe ich die Paintball-Spieler und Hooligans untersucht. Einzelne Teile der Arbeit sind - teilweise modifiziert - bereits in verschiedenen Forschungsberichten, Buch- und Zeitschriftenpublikationen erschienen. Inhalt I. Einleitung und Forschungsfrage ..................................................................................... 7 I. Methodologie, Feldzugang und Forschungsinventar................................................... 17 1. Die ethnographische Sozialwissenschaft ..................................................................... 17 2. Retrospektive Wegbeschreibung - der Zugang zum Untersuchungsfeld ..................... 21 3. Erhebungsverfahren und empirische Basis .................................................................. 29 3.1 Originäre Felddaten .............................................................................................. 30 3.2 Forschergenerierte Daten...................................................................................... 31 3.2.1 Problemzentrierte Interviews.................................................................. 31 3.2.2 Beobachtungen: Reisestationen, ‘Happenings’, ‘Events’....................... 32 3.2.3 Gruppendiskussionen.............................................................................. 35 4. Auswertungsstrategien ................................................................................................. 36 II. Die empirische Analyse - Zur Phänomenologie gewaltaffiner Spezialkulturen....... 38 1. Sadomasochismus: Szenen und Rituale ....................................................................... 40 1.1 Exkurs: Sadomasochismus im Spiegel öffentlicher Diskussion und wissenschaftlicher Theorien ................................................................................. 47 1.1.1 Sadomasochismus und öffentliche Meinung.......................................... 47 1.1.2 Konstitutive Merkmale menschlicher Sexualität.................................... 48 1.1.2.1 Der Sexualtrieb ....................................................................................... 48 1.1.2.2 Sozio-kulturelle Formung sexueller Verhaltensweisen.......................... 49 1.1.3 Sadomasochismus im Spiegel bisheriger Forschung.............................. 55 1.1.3.1 Etymologie des Begriffs ......................................................................... 55 1.1.3.2 Die frühe Sexualwissenschaft................................................................. 57 1.1.3.3 Neuere Untersuchungen ......................................................................... 58 1.2 Erste Berührungspunkte und Entdeckung der sadomasochistischen Neigung ..... 63 1.3 Persönliche Beziehungen...................................................................................... 76 1.3.1 Chancen bei der Partnerwahl.................................................................. 76 1.3.2 Monogame Beziehungen ........................................................................ 78 1.3.3 Promiskuitive Beziehungen.................................................................... 81 1.3.4 Gruppenveranstaltungen und Feten ........................................................ 84 1.3.5 Exkurs: Die professionelle Domina-Szene............................................. 93 1.4 Codes und Symbole ............................................................................................ 103 1.4.1 Kontaktanzeigen ................................................................................... 103 1.4.2 Kleidung und Schmuck ........................................................................ 106 1.4.3 Fetischismus und Sadomasochismus.................................................... 110 1.5 Das sadomasochistische Szenario....................................................................... 112 1.5.1 Die Praktiken ........................................................................................ 113 1.5.2 Die sozialen Mechanismen im SM-Arrangement ................................ 127 1.6 Faszination, Gefühle und Erlebnismuster........................................................... 134 1.6.1 Das erotisierte Herrschaftsverhältnis.................................................... 134 1.6.2 Schmerz und Ekel................................................................................. 141 1.6.3 Sadomasochismus als Außeralltäglichkeit und Grenzerfahrung .......... 150 1.7 Das Problem der Gewalt ..................................................................................... 152 1.8 Die Trennung von Alltag und Sadomasochismus .............................................. 161 1.9 Frauen und Sadomasochismus............................................................................ 165 1.9.1 Weiblicher Sadomasochismus in der wissenschaftlichen Diskussion.. 165 1.9.2 Die SM-Debatte in der Frauenbewegung ............................................. 168 1.9.2.1 Frauen und SM - Ein Boom-Thema zu Beginn der 90er Jahre ............ 168 1.9.2.2 Weibliche Sexualphantasien................................................................. 169 1.9.2.3 Praktizierter Sadomasochismus............................................................ 171 1.9.2.4 Frauen in der SM-Szene ....................................................................... 176 1.9.2.5 Fallbeispiele masochistischer und sadistischer Frauen ........................ 177 1.9.2.6 Frauen zwischen Dominanz und Submission....................................... 211 2. Paintballspieler - Normalität unter Gewaltverdacht................................................... 215 2.1 Herkunft und aktuelle Lebenssituation............................................................... 224 2.2 Die Gruppe.......................................................................................................... 227 2.3 Wahrgenommene Gruppenperipherie................................................................. 245 2.4 Intergruppenbeziehungen ................................................................................... 249 2.5 Gruppenverlauf ................................................................................................... 251 3. Hooligans - Gewalt macht Spaß................................................................................. 252 3.1 Herkunft und aktuelle Lebenssituation............................................................... 256 3.2 Gruppenwirklichkeit ........................................................................................... 259 3.3 Wahrgenommene Gruppenperipherie................................................................. 272 3.4 Intergruppenbeziehungen ................................................................................... 274 3.5 Gruppenverlauf ................................................................................................... 278 III. Spezialisierte Affektkulturen in der Erlebnisgesellschaft ......................................... 280 1. Zur Erlebnisgesellschaft ............................................................................................. 280 2. Spezialkulturen in der Erlebnisgesellschaft ............................................................... 281 3. Außeralltäglichkeit, Gewalt und Zivilisation ............................................................. 282 AnhangLiteratur................................................................................................................... 296 Literatur ................................................................................................................................ 297 Glossar ................................................................................................................................... 321 Beispiele Datenerhebungsmaterial...................................................................................... 329 I. Einleitung und Forschungsfrage Von Himmelsfahrten und Höllenspektakeln Als besonderes Phänomen unserer Zeit hat sich eine Vielzahl unterschiedlicher Formen des ‘Reizkonsums’ (vgl. Hauck 1989) herausgebildet. In den westlichen bzw. industrialisierten Ländern - und hier vor allem auch in den USA und Japan - wagen sich immer mehr Menschen freiwillig an die Grenzen ihrer physischen und psychischen Belastbarkeit. Sie tun vermeintlich unangenehme, ‘verrückte’ Dinge, mit denen sie sich (und zum Teil auch andere) nicht selten in (Lebens-)Gefahr bringen. Und sie tun es, nicht nur ‘trotz’ eines subjektiv empfundenen oder objektiv existierenden Risikos, sondern - entsprechend der Zeitgeistdevise ‘No Risk - No Fun’ - gerade wegen des Risikos (vgl. Apter 1994). Le Breton (1995, S. 105 bemerkt dazu: „Neue Praktiken fassen (...) Wurzel, Gewächse der jüngsten Moderne: Werbung, Sport, Sensationsleistungen, Fitneßwettbewerb, intensive Freizeitgestaltung.“ Oftmals handelt es sich um junge Leute auf der Suche nach der außeralltäglichen Erfahrung, doch die ‘Erlebnisgesellschaft’ (vgl. Schulze 1993; 1999) der Superlative bleibt nicht nur ihnen vorbehalten. Viele Erwachsene, wobei es sich nicht zuletzt um in Beruf, Politik und Sport hochgestellte Persönlichkeiten handelt, unterliegen der Faszinationskraft von Aktivitäten, die nicht nur Kraft und Mut erfordern, sondern ein mehr oder weniger großes Risiko in sich bergen. Selbst ‘eine’ Steffi Graf (mit Amüsement ob dieser Stilblüte erlaube ich mir dieses Zitat) weiß - auf der Suche nach dem Sinn des Lebens (?) - der Langeweile ihrer Post-Tennis-Ära zu entkommen: Vor laufenden Kameras springt sie von einer Brücke in die Tiefe, aufgefangen nur von einem an ihren Fußgelenken befestigten Gummiseil, das sie vor dem scheinbar nahenden Aufprall auf der Wasseroberfläche eines Flusses rettet. Ein Traum, den sie sich nach ihrer eigenen Aussage schon immer einmal verwirklichen wollte, dessen Umsetzung ihr berauschende Glücksgefühle bescherte. Und - selbstverständlich: Auch wenn die Story zuerst bei den Privatsendern im TV ‘on air’ war, der Boulevardpresse (Bild) schien dies dann noch im nachhinein ein Titelthema wert. Doch nicht nur die Kicks der Prominenten werden als aktuelle und interessante Themen von den Medien gierig aufgegriffen und dramatisch inszeniert. Hartmann hat seit 1992 eine Vielzahl einschlägiger Sendungen verschiedener TV-Kanäle aufgezeichnet: 7 „Kein Sender, der sich nicht regelmäßig in fasziniert-enthusiastischen und/oder skeptisch-kritischen Features mit diesen und jenen Thrilling Fields befaßt und extreme Outdoor-Aktivist/inn/en jeglicher Provenienz zu seinen etablierten Talkshows und Diskussionsrunden eingeladen hätte - kein Wunder auch: Das Thema ist im doppelten Wortsinn spektakulär, und seine Protagonist/inn/en kommen gut an“ (Hartmann 1996, S. 67ff). Wie oben bereits angedeutet, steht das ‚Abenteuer’ im Mittelpunkt des Interesses insbesondere der privaten Sender. Jüngste Auswüchse sind die Real-Life-Adventure- und SurvivalShows von RTL (Expedition Robinson) und SAT 1 (Inselduell), die im Sommer 2000 zum erstenmal gesendet wurden. Hier müssen Männer und Frauen auf einer Insel in Malaysia nach dem Motto ‘Back to the Roots’ regelrecht ums Überleben kämpfen, inseltypische Aufgaben erledigen (z.B. Nahrungsbeschaffung aus dem Wasser, Früchte sammeln etc.), in einer Art ‘Spiel ohne Grenzen’ Wettkämpfe austragen oder auch Mobbing-Attacken der Teilnehmer abwehren.1 Mit besonderem Blick auf die USA erstaunt der Erfindungsgeist der Produzenten, insbesondere wenn es um solche Arrangements geht, die Identität, Integrität und Würde der Teilnehmer regelrecht zu vernichten suchen. Im militärischen Szenario des ‘Boot Camp’2 setzen sich Menschen 28 Tage lang extremen Erniedrigungen aus (‘sich fühlen wie der letzte Depp’), herbeigeführt durch willkürliche Drills der vermeintlichen Vorgesetzten (Offiziere). Hart gesotten müssen auch die Spieler der japanischen Produktion von ‘Takeshi’s Castle’ (dreimal täglich! gesendet auf DSF) sein. Sie haben mehr oder weniger sportliche Aufgaben zu erledigen, die nahezu unmöglich ohne ‘Verluste’ durchführbar sind: Durch die besondere Anlage sind schwerste Stürze vorprogrammiert, landet das Gesicht in kloakenähnlichen Trögen oder wird die Kleidung vom Leib gerissen. Die Teilnehmer werden öffentlich (im Fernsehen) der Lächerlichkeit Preis gegeben. In diesen Shows amalgamieren körperliche Anstrengung, Nervenkitzel, psychische Belastung, Mobbing und Erniedrigung. Dies verlangt physische wie auch mentale Höchstleistungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Zur Grundstruktur der ‘Freizeitgesellschaft’3 gehören erlebnisorientierte Spezialisierungen, die sich in den vielfältigsten Ausprägungen medialer Inszenierungen, von Mutproben, gefähr- 1 Aufsehen erregte ein schwedischer Sender, der 1996 die erste der Inselshows produzierte. Ein Teilnehmer beging nach deren Ende Selbstmord (vgl. Stuttgarter Zeitung vom 03.07.2000, S. 15). 2 Die Übersetzung lautet ‘Armee-Ausbildungslager’. Der semantische Raum spricht für sich: Jemanden rausschmeißen, über der Arbeit sterben, vor Angst fast umkommen, kräftig zutreten/-schlagen, jemanden niedermachen, jemandem einen Tritt versetzen (vgl. Pons Großwörterbuch Englisch 1999, S. 1123) 3 Eine ausführliche Theoriebildung findet sich insbesondere in den Arbeiten von Bourdieu (1984); Gluchowski (1988); Rastetter (1996); Riesman (1958); Stengel (1996); Tokarski/Schmitz-Scherzer (1985); Uttlitz (1985) und Vester (1988). 8 lichen Spielen, sportlichen Ereignissen (Abenteuer-, Extrem- und Risikosport) und Reisen (Abenteuer- und Extremtourismus) etabliert haben. Wie selbstverständlich legen wir in Vergnügungsparks und auf Jahrmärkten unseren Körper in den Schoß computergesteuerter Fahrbetriebe und Bungee-Springer haben - wie das Beispiel der Tennisspielerin Steffi Graf zeigt schon längst den Charakter des durchgeknallten und ausgeflippten Außenseiters verloren. Diese und ähnliche Aktivitäten sind in breite gesellschaftliche Schichten diffundiert und erlauben ‘kleine Fluchten aus dem Alltag‘ (Enzensberger 1971) für jeden Geschmack. An vorderster Front die Fun-, Ausdauer- und Risikosportarten. Dazu einige Beispiele: • „Extreme Skiing: Steilwandabfahrten; ‘verrücktestes’ Beispiel (von Hans Kammerlander und Diego Vellig): auf einer 60 Grad steilen Route vom 8125 m hohen Nanga Parbat hinunter; (...) • Free-/Solo Climbing: ‘elegantes’ Extremklettern bei Verwendung möglichst weniger Sicherungshaken/Alleinklettern unter Extrembedingungen, zumeist ohne Seil; (...) • House Running: möglichst schnelles ‘Hinunterrennen’ von hohen Häusern, angeseilt, die Füße gegen die Fassade gestemmt und das Gesicht zur Straße gekehrt“ (Hartmann 1996, S. 70ff). Die ‘Eventkultur’ wird von der Freizeitindustrie aktiv vermarktet: Fun-Sportmessen und Veranstaltungen; kaum eine große Kaufhauskette, deren Sportabteilung nicht auch ähnliche wenn auch weniger extreme - Offerten im Repertoire hat.4 Und auch der Extrem-Tourismus ist schon lange keine Angelegenheit mehr von Einzelkämpfern wie Reinhold Messner, wenngleich dessen Leistungen eine Sonderstellung einnehmen. Dem Ideenreichtum der ‘Sensation Seeker’ (Zuckerman/Bone 1972) sind scheinbar keine Grenzen gesetzt:5 „Zu Fuß unterwegs 4 In einer Broschüre des einst eher konservativ-bürgerlichen ‘Konsumpalastes’ Breuninger in Stuttgart aus dem Jahr 1997 (‘City & Events - Fun & Sports - Adventure & Nature - Far & Away’, S. 23) findet sich z.B. ein Angebot zum Action-Weekend in Engelberg: „Wie alle anderen Seilbahnbenutzer verlassen auch BungeeJumper die Kabine durch die Türe - allerdings nicht in der Tal- oder Bergstation, sondern irgendwo unterwegs auf der Strecke. (...) In Engelberg könnt Ihr Euch (vor Ort) zwischen einem 70 Meter- oder einem 120 Meter-Sprung entscheiden - Nervenkitzel inklusive! Ergänzend (...oder alternativ) zu diesem ‘Höhenrausch’ bieten wir eine Gletschertrekking-Tour am Groß Titlis (3.238 m.ü.M) an.“ In der Werbe-/Marketingzeitung Horizont (28.07.2000, Nr. 28) wird unter der Rubrik ‚Fernseh News’ über „Extremsport im Olympiafieber“ berichtet. „UPC-TV und Extreme Group, Joint-Venture-Partner des europäischen Extreme Sports Channels, veranstalten in Zusammenarbeit mit Online Sports Marketing die World Extreme Games. Auf die offizielle Olympiade folgend, finden die Spiele vom 1. bis 3. Dezember ebenfalls in Melbourne (Australien) statt.“ 5 Schon der Blick auf das immense Angebot spezialisierter Zeitschriften und Magazine in den Presseforen der Bahnhöfe lässt ein schier unüberschaubares Angebot vermuten. 9 in der Arktis, Elefantenwaschen in Indien, (...) bei Kopfjägern und Kannibalen, (...) per Hubschrauber zum ‘Survival training’ in die menschenleere kanadische Wildnis“6 oder zum ‘Gorillatrekking’ nach Afrika.7 Auch die riskanten Reisen der Kriegsberichterstatter und nicht zuletzt die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesen und ähnlichen Themen lassen sich dem Phänomen der ‘Thrilling Fields’ (Hartmann 1996) zuordnen .8 Diese Verhaltensweisen bzw. ihre Folgen sind in verschiedene Richtungen an ein komplexes Netzwerk institutioneller Veränderungen geknüpft. So haben sich z.B. die alpinen Rettungswachten wie selbstverständlich auf die gefährlichen Touren der Ski- und Snowboardfahrer eingestellt, die fernab der gesicherten Pisten nicht selten todbringende Lawinen auslösen. Traurige Beispiele sind die Unglücke Anfang 2000 in Österreich und der Schweiz. Und schon längst wurde die Branche der Versicherer auf den Plan gerufen und hat reagiert. Die Frage nach riskanten Hobbys und Freizeitaktivitäten gehört mittlerweile zum Repertoire der Standardfragen der Anträge für Unfall- und Lebensversicherungen. Je nach dem werden Preisaufschläge verlangt, da sich das Risiko und damit die Zahlungswahrscheinlichkeit für die Versicherer bei frühzeitigem Tod erhöht. Bioenergetik, Meditation, Spiritualität, (Designer-)Drogen (Techno, Ecstasy), Sekten, Okkultismus (Grufty-Szene) und die Vielfalt medialer Inszenierungen von Schrecken und Gefahr sind weitere Beispiele für die ‘Ausbruchsversuche’ (Cohen/Taylor 1977) der zivilisationsmüden Individuen unserer Gesellschaft. Außeralltäglichkeit, Nervenkitzel und Thrill sind allerdings nicht immer in eine organisierte bzw. institutionalisierte, kommerzielle Eventkultur eingebunden, sondern haben oftmals subkulturellen Charakter. Beispiele hierfür sind Verhaltensmuster der in den Großstädten von Langeweile geplagten Jugendlichen, wie es Le Breton (1995, S. 84) beschreibt: „Surfistas, Jugendliche zwischen fünfzehn und zwanzig Jahren in den Vororten Rio de Janeiros, benutzen regelmäßig die Dächer der übervollen Züge, die zwischen ihren Wohnorten in den Vorstädten und der Innenstadt verkehren, um ihre Surfwettbewerbe auszutragen. Sie versuchen bei Geschwindigkeiten von bis zu 70 6 Krippendorf (1984, S. 87) 7 Vgl. Kohnen/Braun (1989) 8 An dieser Stelle muss explizit auf den Sammelband ‘Freizeit in der Erlebnisgesellschaft’ (Hartmann/Haubl 1996) verwiesen werden. In Anlehnung an das Schulzesche Konzept der Erlebnisgesellschaft (1993) werden in acht unterschiedlichen Beiträgen aus Psychologie und Soziologie erlebnisorientierte Freizeitbereiche skizziert. Themen sind (Massen)Tourismus, Fun- und Extremsportarten, Fußball, Popmusik, ’süchtiges’ Einkaufen als Zeitvertreib, Körperkult, Konfliktsimulationsspiele und virtuelle Vergnügungen im Cyberspace. Nicht unerwähnt bleiben soll auch die bemerkenswerte Arbeit von Keim (1999), eine ethnographische Analyse zeitgenössischer Konsumkultur am Beispiel des Kaufhauses ‘Breuninger’ in Stuttgart. 10 Stundenkilometern (...) das Gleichgewicht zu bewahren, ohne sich abzustützen und trotz des Fahrtwindes. (...) ‘An einen Unfall’, sagt einer dieser Surfistas, daran denkt man schon. (...) Am Anfang legst du dich so flach hin wie möglich, den Bauch gegen das Dach gepreßt. Aber bald wird das langweilig. Dann setzt du dich, dann versuchst du aufrecht zu stehen. Du kriegst den Wind voll in die Fresse, und dann beginnt das Spiel so richtig. Bald kommst du ohne dieses Gefühl nicht mehr aus, schlimmer als Rauchen ist das. Es gibt sogar welche, die nachts einen Surf hinlegen. Sie können fast nichts mehr sehen, sie gehen dann nach ihrem Instinkt, und das ist noch aufregender (Liberation, 20. Januar 1988).“ In ihrer Ausgabe vom 10.10.2000 (Nr. 234) hat die Stuttgarter Zeitung über ‘MöchtegernSchumis’ berichtet, die der Polizei durch illegale Autorennen Sorgen bereiten. Bei solchen Aktivitäten handelt es sich um abweichendes Verhalten, das nicht selten im Sinne von Delinquenz an strafrechtliche Konsequenzen geknüpft ist.9 Die hier beschriebenen Aktivitäten finden nicht nur das Interesse ihrer Anhänger und eingeschworenen Fangemeinden sowie der breiten Öffentlichkeit, sondern auch der anthropologischen, psychologischen und soziologischen Wissenschaft. Neben den (oben teilweise bereits zitierten) ‘Klassikern’ (Balint 1982; Callois 1982; Cohen/Taylor 1977; Csikzentmihalyi (1985); Elias/Dunning 1970; Huizinga (1987); Zuckerman/Bone 1972), die Angstlust, Körper- und Grenzerfahrung oder das Spiel und den Wettkampf thematisieren, setzen sich vor allem auch Apter (1994) oder Le Breton (1995) ausführlich mit den modernen Abenteurern, S-Bahn-Surfern, Elevator-Ridern, Autocrashern und Airbaggern, Rallyefahrern u.v.m. auseinander.10 Doch nicht nur die ‘realen’, auch die ‘fiktiv-virtuellen’ Erfahrungsräume11 sind spannende Themen der sozial- und gesellschaftswissenschaftlichen Forschung. Mediale Inszenierungen von ‘Grauen und Lust’ stehen im Mittelpunkt der Studien der Arbeitsgemeinschaft sozialwissenschaftliche Forschung und Weiterbildung e.V. an der Universität Trier (ASW) 9 Zum Thema Jugend, Risikoverhalten und Delinquenz vgl. Allerbeck/Hoag 1985; Eckert u.a. (1998; 2000); Engel/Hurrelmann (1993); Ferchhoff u.a. (1995); Freese u.a. (1985); Janke/Niehues (1995) Raithel (2001); Rogge (1988) 10 Vgl. hierzu z.B. auch: Böhnisch (1999); Boltz (1994); Damm (1995); Freese u.a. (1985); Huber (1994); Kühnel/Matuschek (1995); Semler (1994); Virilio (1994) 11 An dieser Stelle sei noch auf eine von vermutlich unzähligen ähnlich gearteten Webpages hingewiesen: ‘Rotten.com’ bietet dem Normalbürger Ein- oder besser gesagt Anblicke, die sonst nur Notärzten, Leichenbeschauern und Pathologen oder Kriminologen vorbehalten bleiben. So z.B. das zerstörte Gesicht eines Mannes nach einem Motorradunfall, halbverweste Leichen ehemaliger Scientology-Mitglieder, deren Todesursache nie geklärt werden konnte (glaubt man der Behauptung der ‘Anbieter’), der Körper eines Menschen, der von einer Riesenschlange verschlungen wurde oder ein Penis, an dem sich ein Aal festgebissen hat. Diese Bilder befinden sich gleichsam in einem virtuellen Raum, der öffentlich zugänglich ist. Aufgrund der fehlenden Zugangsberechtigung konnte ich nicht klären, was sich demjenigen offenbart, der über einen entsprechenden Userlevel an ‘die wirklich harten Bilder’ kommt. 11 um Prof. Dr. Roland Eckert. Die unterschiedlichen qualitativ-ethnographisch orientierten Studien zeigen, wie Horror- und Pornovideos oder entsprechende Computerspiele und -aktivitäten (Internet) den Nutzern das Erleben von sexueller Erregung, Grauen und Ekel ermöglichen (vgl. Eckert u.a. 1990; Eckert u.a. 1991; Winter 1995). Gewaltaffine Spezialkulturen - Sadomasochismus, Paintball oder Gotcha und das Phänomen der Hooligans Und damit möchte ich nun zum eigentlichen Thema der vorliegenden Arbeit kommen: Im Mittelpunkt des Interesses stehen nämlich verschiedene Erlebnisformen, die noch vielmehr als die oben beschriebenen Aktivitäten im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit bzw. Kritik stehen und Kirchenvertreter, Pädagogen, Psychologen, Polizei und Politiker, aber auch die bürgerliche Öffentlichkeit wachrufen. Viele Menschen suchen Situationen, in denen außeralltägliche Körpererfahrungen und mentale Grenzgänge in engem Zusammenhang mit gewaltaffinen oder gewalttätigen Handlungen stehen. Exemplarisch werde ich dies an drei Beispielen bzw. emotionalen Erfahrungsräumen erläutern, die seit Beginn der achtziger und neunziger Jahre immer wieder auf sich aufmerksam machen: 1) Sadomasochismus, 2) Paintball/Gotcha und 3) das Phänomen der Hooligans. Die drei Themen bzw. Gruppen mögen auf den ersten Blick wenig Gemeinsamkeiten aufweisen. ‘Das Auge des Ethnographen’ (Leiris 1985) jedoch zeigt, dass es eine Vielzahl motivationaler und struktureller Übereinstimmungen gibt. Zentraler Stellenwert wird dem Thema Sadomasochismus eingeräumt, mit dem ich mich bereits seit Ende der achtziger Jahre theoretisch und empirisch beschäftige (vgl. Steinmetz 1990). Es nimmt somit den größten Teil der Arbeit ein. Dem Phänomen der Paintballer oder Gotcha-Spieler, das ebenso über mehrere Jahre im Zentrum meiner Analysen stand, wird ähnlich dezidiert nachgegangen, wenn auch nicht vergleichbar ausführlich. Mehr oder weniger exkursorischen Charakter hat das Thema ‘Hooligans’, auch wenn ich mich empirisch intensiv damit beschäftigt habe und ganze Wochenenden nahezu rund um die Uhr mit Szenemitgliedern verbrachte bzw. in der Szene unterwegs war. Die Gründe liegen vor allem darin, dass die Erforschung der ‘Hooligans’ - im Vergleich zum Sadomasochismus und vor allem zum Paintball - in der Pädagogik und Soziologie eine lange wissenschaftliche Tradition hat. Allerdings spielt hier auch die besondere Form der Gewalt im Sinne von immer häufiger werdenden Eskalationen eine Rolle. Die Fußballweltmeisterschaft in Frankreich resp. die Ausschreitungen in Lens haben gezeigt, dass hier Rahmen des gegenseitigen Einvernehmens gesprengt werden und Externe (Polizei und andere) schlimmste körperliche und psychische Verletzungen bzw. bleibende Schäden davontragen. Darin unterscheiden sich - wie noch zu zeigen sein wird Hooligans von Sadomasochisten und Paintball-Spielern. 12 Bei der empirischen Annäherung an alle drei Bereiche habe ich mich am qualitativinterpretativen Paradigma orientiert. Neben Szenen-Ethnographien war es das Ziel dieser Vorgehensweise, die typischen Sinnmuster der weitgehend unerforschten ‘Kulturen’ zu rekonstruieren; letztlich das sichtbar zu machen, was für den ‘Fremden’ unsichtbar ist. Bei den ‘Real-Life-Explorationen’ ging es um den subjektiv gemeinten Sinn der Akteure, um ihre Perspektive bezüglich Aggression, Gewalt und Sexualität. Die Probanden wurden nach dem Schneeballverfahren rekrutiert. Dieses Auswahlprinzip erlaubt keine Aussagen über die quantitative Verteilung von bestimmten Merkmalen. Auch wenn Hypothesen formuliert werden können, bleibt die statistische Verteilung der Geschlechter oder des Alters im Dunkeln. Dies war aber auch nicht Zielsetzung der Arbeit. Vielmehr ist sie im Sinne qualitativer Forschungsstrategien als exploratives Vorhaben konzipiert. Die gewählte Untersuchungsmethode hat es schließlich auch nicht ermöglicht, Abweichler im Sinne von Straftätern, die sich der Körperverletzung oder gar einer Tötung schuldig gemacht haben, zu befragen, weil diese in den Szenen selbst ausgeschlossen werden. Eine Ausnahme sind einzelne Mitglieder der Hooligan-Szene. 1) Sadomasochismus Erschien Sadomasochismus noch Mitte der siebziger Jahre als periodisch auftauchendes, aber verstecktes Thema in Werbung und Presse, wurde dieses Phänomen insbesondere in den achtziger Jahren und Anfang der neunziger Jahre in der Bundesrepublik Deutschland (und vor allem in den USA) popularisiert. Die sadomasochistische Ikonographik drang verstärkt in die verschiedensten Bereiche der populären Kultur und rangierte in den ‚Media Agendas’ ganz oben. Man begegnet ihr heute immer wieder in Pop-Videos, der Belletristik, der Modewelt oder der (Zigaretten)Werbung. Auch in den zahlreichen Life-Style-Zeitschriften wurde und wird der Sadomasochismus thematisiert. Gerade in letzteren findet die ‚schwarze Leidenschaft’ immer wieder besondere Beachtung. Dazu bemerkt Schorsch (1980b, S. 113) treffend: „Belletristik und Unterhaltungsindustrie lieben die Lederkleidung, es rasseln die Ketten, das modische Spiel mit dem Extravaganten scheut auch vor einem schwül erotisierten, sadomasochistisch getünchten Faschismus nicht zurück.“ Und dennoch: Das in der Öffentlichkeit herrschende Bild vom Sadomasochismus ist von vielfältigen Vorurteilen und negativen Stereotypen wie ‚krankhaft gestörtes Sexualverhalten’ oder gar ‚Sexualverbrechen’ geprägt. Ja selbst die wissenschaftlich-soziologische Beschäftigung mit diesem Thema sollte sich als etwas ‘Anrüchiges’ erweisen. Kolleginnen und Kollegen rümpften die Nase ob der Beschäftigung mit diesem Forschungsgegenstand (immer noch muss ich darüber schmunzeln, dass dieselben 13 Kolleginnen und Kollegen später dann die Publikation der Forschungsergebnisse in den detaillierten Beschreibungen der Praktiken kannten). Diese Vorurteile innerhalb der öffentlichen Meinung gegenüber Sadomasochismus sind nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass sich innerhalb der wissenschaftlichen Diskussion bisher keine einheitliche Bewertung herauskristallisieren konnte. Die Forschung in diesem Bereich hat vielmehr heterogene Ergebnisse hervorgebracht und man hat sich weitestgehend mit den möglichen Ursachen und Therapieformen beschäftigt. Daneben werden häufig Fragen aufgeworfen, ob und inwiefern sich die verschiedenen Formen von Sadismus und Masochismus einander bedingen, also mögliche gesellschaftliche und soziale Ursachen des sexuellen Sadomasochismus diskutiert (vgl. Kap. III.1.1; III.1.9.1). Solchen oder ähnlichen Fragen soll im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht nachgegangen werden. Sadomasochistische Sexualpraktiken - als Wechselspiel von Dominanz und Unterwerfung, bei dem das Zufügen und Erleiden physischer und psychischer Schmerzen eine Rolle spielt - stehen aus der subjektiven Perspektive der Betroffenen und einer ethnographischen Analyse der etablierten Szene im Mittelpunkt. Angemerkt sei noch, dass ich angesichts der besonderen Bedeutung, die der Rolle der Frau in der soziologischen, psychologischen und politischen Diskussion zukommt, hier ein eigenes Kapitel über die Biographie sadomasochistischer Frauen ausgearbeitet habe. 2) Paintball oder Gotcha Auch die Paintball- oder Gotcha-Spieler haben in den letzten Jahren verstärkt auf sich aufmerksam gemacht und sind zunehmend ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Mit waffenähnlichen sogenannten ‘Markierern’ ausgerüstet, schießen sie mit bunten Gelatinekugeln, die beim Aufprall platzen, ‘zum Spaß’ auf Menschen (Mitspieler). Hier sei bereits angemerkt, dass diese Farbkugeln in der Regel keinerlei schlimmen Verletzungen verursachen, sondern ‚nur’ einen bunten Farbfleck (hin und wieder ein Hämatom) hinterlassen. Diese quasi kriegerische Handlung ist jedoch Dreh- und Angelpunkt der kritischen Diskussionen um dieses ‘Spiel’. Schlagworte wie ‘Kriegsverherrlichung’, ‘Rechtsradikalismus’ und das ‘Schießen auf einen Menschen’ kennzeichnen die Richtung der Befürchtungen und sind die thematischen Rahmen für die mehrheitliche Berichterstattung der Medien. Selten bemüht man sich um eine differenzierte Betrachtungsweise und verfällt anstelle dessen in moralische Diskussionen oder dramatische Beschreibungen in dem Glauben, einmal mehr rechten Gruppierungen auf die Spur gekommen zu sein. Ungeachtet dessen hat sich Paintball über Amerika und England auch in Deutschland verbreitet und auch hierzulande seit Anfang der neunziger Jahre eine Szene etabliert. Die Paintball- 14 und Gotcha-Szene wird ethnographisch analysiert, subjektive Motivations- und Einstellungsmuster werden herauskristallisiert. 3) Hooligans Das Phänomen der Hooligans nimmt generell eine besondere Stellung unter den Fußballfans ein. Hooligans distanzieren sich deutlich von den sogenannten ‘Kuttenträgern’ (das sind Fans, die sich und ihre Jacke über und über mit Vereinsemblemen schmücken) und heben sich von den ‘normalen’ unauffälligen Fußballbegeisterten ab. Sie nutzen den Rahmen des Fußballspiels für gewalttätige Auseinandersetzungen unter ihresgleichen - in jüngster Vergangenheit aber verstärkt auch mit Dritten bzw. der Polizei. Eine Affinität zu autoritär-nationalistischen Einstellungen ist bei einem Teil der Hooligans erkennbar und hinsichtlich des zum Teil zu Tage tretenden Gewaltniveaus sind strafrechtlich relevante Handlungen nicht untypisch. Die vorliegende Arbeit versteht alle drei Phänomene als die Herausbildung von ‘Spezialkulturen’, in deren Enklaven gewaltaffine Affekte - fiktiv und real - im Sinne außeralltäglicher Erfahrungen und der Suche nach Action und Thrill ausgelebt werden können (vgl. Kap. IV.). Dies erscheint zunächst provokativ: Vor dem Hintergrund der amtlichen Statistiken (Bericht des Innenministers/Polizeiliche Kriminalstatistik) und der Ereignisse der jüngsten Vergangenheit haben wir sicherlich allen Grund zur Sorge um die Gewalt in unserer Gesellschaft. Seit Anfang der neunziger Jahre mehren sich die fremdenfeindlichen Anschläge (vgl. Willems u.a. 1993) und die Zahlen des Verfassungsschutzes verweisen auf die zunehmende Gewalt gegenüber Ausländern. Überhaupt steigt seit einigen Jahren das Gewaltniveau der Jugendlichen an (vgl. Pfeiffer u.a. 1998). Geschürt durch die Berichterstattung in den Medien avancieren Ereignisse wie der Amoklauf eines Schülers in Bad Reichenhall und der Schülermord an einer Lehrerin in Meißen in der Öffentlichkeit gleichsam zum ‘pars pro toto’. Große Ratlosigkeit, wie der Gewalt von und unter Jugendlichen zu begegnen sei, macht sich breit.12 Deshalb ist zu fragen, wie sich gewaltaffine Affektkulturen wie die der Sadomasochisten, PaintballSpieler und Hooligans mit den Werten unserer dem Frieden und der Freiheit verpflichteten Gegenwartskultur vertragen. Wie stellt sich der soziale Charakter dieser Gewalt gegenüber anderen Gewaltformen dar? Können die Akteure noch zwischen Fiktion und Realität unter- 12 Dazu schreiben Eckert u.a. (2000, S. 13): „Die gesellschaftliche Reaktion ist hilflos: wieder einmal ertönt der Ruf nach Werterziehung, ohne daß wir wissen, ob es nicht gerade die Verteidigung von Werten ist, die den Kampf anleitet; der Ruf nach Strafverschärfung, ohne daß wir wissen, ob Strafe überhaupt abschreckende Wirkung hat, der Ruf nach Absenkung des Strafmündigkeitsalters, ohne daß wir wissen, was wir mit Kindern in einer Strafvollzugseinrichtung anfangen könnten. Kurzum, das Phänomen ist Gegenstand öffentlicher Erregung, ohne daß wir wissen, was zu tun wäre.“ 15 scheiden? Wenn ja, wie können ‘Spiel’ und Alltag unterschieden werden? Schließlich: wird die Affektkontrolle, die wir in Jahrhunderten des Zivilisationsprozesses gelernt haben (vgl. Elias 1976), wieder hinfällig? Zur Beantwortung dieser Fragen möchte ich zunächst die methodologische Einordnung, den Feldzugang, das Forschungsinventar und die Auswertungsstrategien beschreiben (Kap. II.). Den Hauptteil stellen dann die empirischen Ergebnisse dar (Kap. III.). Hier zeichne ich die Phänomene Sadomasochismus, Paintball/Gotcha und Hooligans im Sinne einer Szenen- (Sadomasochismus, Paintball) und Gruppenethnographie (Hooligans) nach. Dabei berücksichtige ich insbesondere folgende Analyseebenen: Biographische Hintergründe, Zugangsmuster und Erfahrungen, Identitäten und Alltagsrollen. In Kap. IV. skizziere ich die (zivilisations)theoretische Rahmung (Spezialkultur, Gewalt, Alltag und Außeralltäglichkeit - Abenteuer und Risiko, Sensation Seeking) und formuliere abschließend Thesen mit besonderem Blick auf die Gewaltdiskussion. 16 I. Methodologie, Feldzugang und Forschungsinventar 1. Die ethnographische Sozialwissenschaft Das Erfahren und Erforschen des Fremden ist eines der zentralen Themen der Ethnologie. Mittels geeigneter Forschungsstrategien soll der Forscher die Gewohnheiten und Alltagsbedingungen fremder Kulturen, aber auch spezifische kulturelle Bedeutungen und Regelsysteme verstehend untersuchen. Rudolph (1983, S. 49) charakterisiert den Gegenstand der Ethnologie als die Untersuchung von Menschengruppen „unter dem Aspekt von spezifischen Unterschieden ihrer Daseinsform bzw. - komplementär dazu - spezifische Unterschiede der Daseinsform von Menschengruppen überhaupt, d.h. nicht unter dem Gesichtspunkt der Verschiedenheit zu einer (jeweils) eigenen, gewissermaßen als Richtschnur vorausgesetzten Daseinsform (...).“ Diese Ethnien zeichnen sich durch bestimmte Gewohnheiten und Alltagsbedingungen, aber auch durch spezifische kulturelle Bedeutungen und Regelsysteme aus.13 Diese Art der Forschung haben sich auch einige Soziologen zu eigen gemacht. Im 20. Jahrhundert gibt es mehrere Forschungsrichtungen, die derlei ethnologisches Gedankengut mit soziologischen Theorie- und Forschungsansätzen zu verbinden suchen.14 Auch die vorliegen- 13 Ethnologie ist eng verknüpft mit völkerkundlicher, sozial- und kulturanthropologischer Forschung. Als einer der frühen und bekanntesten Vertreter ethnologischer Forschung gilt Bronislaw Malinowski (1884-1942). Er hat das Fremde systematisch und akribisch analysiert und uns z.B. in seiner Arbeit über ‘das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwestmelanesien’ die Sexualität auf der anderen Seite des Globus näher gebracht (vgl. ders. 1979). Seine Leistung besteht nicht im Berichten des Einzigartigen und Sensationellen, sondern vielmehr darin, eine vollständige Übersicht über die Phänomene zu liefern (vgl. Messner 1996). Erwähnt werden sollten in diesem Zusammenhang schließlich auch die Arbeiten von Benedict (1949), Lévi-Strauss (1989) oder Mead (1965). 14 In Deutschland hat R. Thurnwald den Grundstein zum Konzept der Ethnosoziologie gelegt. Zu seinen bedeutendsten Veröffentlichungen zählt das fünfbändige Werk 'Die menschliche Gesellschaft in ihren ethnosoziologischen Grundlagen' (1931-1935). 1925 gründete er die 'Zeitschrift für Völkerkunde und Soziologie', die nach 1950 unter dem Namen 'Sociologicus' wieder erschien. Die von ihm hergestellten Verknüpfungen zwischen den beiden Disziplinen wurden später von seinem Schüler R. König und auch von W.E. Mühlmann weiterentwickelt. Heute sind im deutschsprachigen Raum unter anderem die Studien von R. Girtler zur Prostituiertenszene (1990), die Arbeiten von R. Hitzler und A. Honer zu den Heimwerkern (1988), die Abhandlungen über Kaffeefahrten und Wünschelrutengänger von Knoblauch (1985; 1991), die Forschungsprojekte zu den Themen ‘Medien’, ‘Jugend’ und ‘Gewalt’ von R. Eckert u.a. (z.B. 1990; 1991; 1998; 2000) oder die kultursoziologische Dissertation von G. Keim (1999) zur Konsumkultur zu nennen. Einen Überblick zur ethnographischen (ethnologischen) Methode liefern: Amann/Hirschauer (1997); Berg/Fuchs (1993); Denzin (1997); Fetterman (1989); Hammersley/Atkinson (1993); Lindner (1990) oder Stagl (1995). Mit ethnographischen Ansätzen in der deutschen Jugendforschung haben sich Neumann-Braun/Deppermann (1998) auseinandergesetzt. Auch in den angelsächsischen Ländern hat die Verknüpfung von ethnographischen und sozio- 17 de Arbeit gehört in diesen Rahmen. Ethnographisch-soziologische Forschung in dieser Tradition meint, dass nicht nur fremde Völker, sondern kulturelle Sonderwelten untersucht werden, die sich durch spezifische Differenzierungs- und Segregationsprozesse innerhalb der eigenen Gesellschaft gebildet haben. War die „Ethnologie ein Jahrhundert lang wissenschaftliche Begleiterin von Kolonisation und Dekolonisation“ (Luyken 1996, S. 35), so untersucht der moderne Ethnologe nicht die Stämme im Busch. Wer Exotik sucht, muss nicht (mehr) in die entlegenen Winkel der Erde reisen, sondern findet sie gleich um die Ecke, in der New Yorker Bronx, in den Pariser Banlieues, in den U-Bahnen (vgl. Augé 1994) und - mit Blick auf die vorliegende Arbeit - hinter ganz normalen deutschen Gardinen. Diese vielfach als Subkulturen - in der Begrifflichkeit hier als Spezialkulturen - bezeichneten Enklaven werden genau so untersucht, als handele es sich bei ihnen um fremde Ethnien.15 Unter Kultur ist dabei im Anschluss an die kulturanthropologische Tradition ein Komplex von Bedeutungen und Vorstellungen, der symbolisch ausgedrückt wird, zu verstehen. Geertz (1983, S. 9) zufolge ist „der Mensch ein Wesen, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei Kultur als dieses ‘Gewebe’ anzusehen ist.“ Deshalb liegt die Aufgabe einer ethnographisch orientierten Kulturanalyse, die sich mit unserer Gesellschaft beschäftigt, im Verstehen von Sinnmustern. Sie verkörpern sich in den Handlungen, Ritualen und Gegenständen, mittels derer die Mitglieder von Spezialkulturen miteinander kommunizieren.16 logischen Ansätzen eine lange Tradition. Insbesondere die Vertreter der Chicago School in den USA verknüpften ethnologisches Wissen mit soziologischen Fragestellungen und gewannen nachhaltigen Einfluss auf die Soziologie. Besonders R.E. Park (1952) und W.L. Warner (1953) wurden durch ihre ethnologische Großstadtforschung bekannt. Zu nennen sind weiter die Arbeit von F.M. Thrasher (1927) zu kriminellen Gangs, die Street-Corner-Society-Studie von W.F. Whyte (1943) und die Arbeiten von H.S. Becker (1973) und J. Thomas (1983). Nicht zuletzt die Subkultur-, Jugend- und Medienforschung des ‘Center for Contemporary Cultural Studies’ in Birmingham mit Arbeiten von P. Willis (1981; 1991), J. Clarke u.a. (1979) oder J. Fiske (1987) sind in diesem Zusammenhang zu nennen. 15 Der französische Soziologie M. Maffesoli (1988) bezeichnet diese Segmentierung als 'Neo-Tribalismus'. Er lehnt sich damit begrifflich an ethnologisches Gedankengut an. So, wie bestimmte archaische Stammesformen eigenständige Kulturen hervorbringen, tun dies auch die Neo-Tribalisten in ihren Lebensräumen. 16 Bleibt noch darauf hinzuweisen, dass ethnologische Forschungsansätze resp. ethnographische Methoden Einzug in die kommerzielle Marktforschung gehalten haben (vgl. Hörz 1996; Keim 1999; Miller 1995; Shields 1992; Sherry 1995). Das auf qualitative Methoden spezialisierte Marktforschungsinstitut GIM (Gesellschaft für innovative Marktforschung) mit Sitz in Heidelberg hat im Jahr 1997 für den Musiksender MTV eine ethnographische Jugendstudie durchgeführt. ‘Real-Life-Explorationen’ mittels Tiefeninterviews, Beobachtungen, Feldtagebüchern und Photodokumentationen geben Aufschluss über die thematischen Bereiche Medien, Shopping, Sport, Mode, Ernährung oder Nightlife und erlauben Aussagen zu grundsätzlichen Werthaltungen, der Markenverwendung und Marken-Settings von Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 29 Jahren. Im Vorwort des (veröffentlichten) Berichtes heißt es: „Generell haben die klassischen Erhebungsinstrumente der Marktforschung ihre Grenzen, wenn es um die Erfassung der sozialen Wirklichkeit und ihrer Dynamik geht. Dies gilt besonders für die Zuschauerschaft von MTV. So sind junge Opinion Leaders nicht nur schwer für klassische Marktforschungsprojekte zu gewinnen, ihre mentale Komplexität (besonders in bezug auf das Konsumverhalten) kann man genauso wenig auf vorgefertigte Standard-Items in Fragebögen reduzieren. Qualitative Studien sind sicherlich kein Ersatz für die quantitativen Markt- und Mediastudien. Sie sind 18 Zu diesen kulturellen Enklaven hat der Sozialforscher, der zwar dem gleichen übergreifenden Kulturkreis wie die zu untersuchende Spezialkultur entstammt, weder einen selbstverständlichen Zugang, noch ist das Verstehen von diesen Welten ohne Weiteres möglich. Deshalb muss er zuallererst die notwendige Sensibilität für diese Fremdheit entwickeln und die unvertraute Kultur prinizpiell als eigenständige Symbol- und Sinnwelt begreifen. Nur wer das Fremde wahrnimmt und sich auf diese Wirklichkeit einlässt, hat die Chance, die zu untersuchende Kultur wirklich zu erkennen.17 Dementsprechend kann ein solches Forschungsvorhaben nur dann gelingen, wenn die normativen Bezugssysteme der eigenen Wirklichkeit temporär aufgegeben werden. Der Forscher muss sich auf die Relevanzsysteme der fremden Ethnien einlassen. Seine Aufgabe ist es dabei, „eine Kultur oder eine Gesellschaft oder eine Sitte so gut wie möglich in dem Bezugsrahmen der Gesellschaft, die er studiert, statt in seinem eigenen zu verstehen. Also nicht häßlich zu finden, was er häßlich findet, und wenn möglich zu verstehen, wie das kommt“ (Wolff 1981, S. 345). Gleichzeitig jedoch muss der Forscher darauf achten, dass die Perspektive der fremden Kultur nicht zur eigenen wird, denn nur so kann die objektivierende Beobachterposition erhalten bleiben. Angesichts der fortschreitenden Diversifizierung und Pluralisierung von Lebenswelten in unserer Gesellschaft (vgl. Beck 1986; Eckert/Winter 1990) wird diese Forderung immer wichtiger. Mit den Fremden unter uns teilen wir einige Gemeinsamkeiten, z.B. bestimmte Formen der Alltagsorganisation oder ähnliche Reproduktionsbedingungen. In den Bereichen, die für das Selbstverständnis dieser Personen und mitunter auch für ihre Identität wichtig sind, etwa die ‚Lust am grausamen Bild’ bei den Horrorfans (vgl. Eckert u.a. 1990) oder - im vorliegenden Fall - die Neigungen der Sadomasochisten, Paintball-Spieler und der Hooligans, versagt unser Verstehen, wenn wir unsere gewohnten Relevanzrahmen und Normen auf die fremden Erfahrungsräume übertragen. Dies macht es auch unumgänglich, die eigenen ästhetischen und aber eine notwendige Ergänzung, um Licht in die ‘Black Box’ junger Konsumenten zu bringen. Die Studie ‘Viewing the Viewers’ dient primär dem Verständnis der Bedürfnisse junger Zielgruppen. Sie ist somit relevant für die Programmplanung und für die Entwicklung einer ganzheitlichen Positionierungsstrategie von MTV. Gleichzeitig kann diese Art qualitativer Marktforschung auch ein wichtiges Tool für die Entwicklung von Marketingstrategien für ‘junge’ Produkte von Markenartiklern sein“ (MTV/GIM 1997). Ich selbst habe schließlich als Mitarbeiterin der GIM zusammen mit Gerhard Keim und in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität Berlin eine groß angelegte, von einem Auftraggeberkonsortium aus den Bereichen Medien, Kosmetik, Pet Food/Human Food und Automobil finanzierte, ethnographische Grundlagenstudie zum Thema ‘Senioren/50 Plus als attraktive Zielgruppe für das Marketing’ durchgeführt. 17 Die allzu häufige Nichtbeachtung dieser Aufgabe macht König (1984, S. 23) der Soziologie zum Vorwurf: "So erweist sich nur allzu deutlich, wenn man auch nur ein Mindestmaß an Kenntnis der gängigen soziologischen Forschung hat, daß das Phänomen des 'Fremden' eigentlich nirgendwo zu seinem wirklichen Gewicht in die Arbeit eingebracht wird, was natürlich der hemmungslosen Ausbreitung von Vorurteilen Tür und Tor öffnet." 19 moralischen Wertungen für den Prozess der Analyse zu suspendieren. Ohnedies könnten Forscher für Wertungen keine spezielle Autorität in Anspruch nehmen, die über die anderer Bürger hinausgehen könnte. Wissenschaftler beschreiben das ‚Sein’ und dafür können sie Sachautorität beanspruchen. Zu beurteilen, was sein soll, sind wir alle - Forscher und Laien - gleichermaßen kompetent. Die Untersuchung soll entsprechende Wertungen - der Leser, der Juristen, des Gesetzgebers - ermöglichen, nicht aber vorwegnehmen; eine Forderung, die Max Weber (1917/1973, S. 499) schon zu Beginn dieses Jahrhunderts erhoben hat: „Auf das Katheder gehört sie [die Wertung, L.S.] nicht, - sondern in die politischen Programme, Bureaus und Parlamente. Die Wissenschaften, normative und empirische, können den politisch Handelnden und den streitenden Parteien nur einen unschätzbaren Dienst leisten, nämlich ihnen zu sagen: 1. es sind die und die verschiedenen ‘letzten’ Stellungnahmen zu diesem praktischen Problem denkbar; 2. so und so liegen die Tatsachen, mit denen ihr bei eurer Wahl zwischen diesen Stellungnahmen zu rechnen habt.“ Bei der empirischen Annäherung an die Spezialkulturen der Sadomasochisten, PaintballSpieler und Hooligans waren Wertungen - so weit dies möglich ist - zu vermeiden. Wenn dennoch Begriffe wie ‘normal’ und ‘abweichend’ verwendet werden, so ist dies nicht wertend gemeint, sondern als Bezugnahme auf die Vorstellungen der Mehrheit zu verstehen. Mit Hilfe eines streng ethnographischen Forschungsverständnisses werden über subjektnahe wie auch verstehende Strategien die typischen Sinnmuster dieser fremden - und auch von der soziologischen Forschung kaum berührten - Welten rekonstruiert. Methodisch ist diese Art der Erkenntnisgewinnung auf ‚the actor’s point of view’ zentriert.18 Eine ethnographisch ausgerichtete Kulturforschung sucht das Subjekt deshalb in seiner Sozialwelt auf und versucht jene Strukturen und Bezüge zu untersuchen, die für sein Verhalten und seine Sinnorientierungen bedeutsam sind (vgl. Bergmann 1985). Bezogen auf die Sadomasochisten, Paintballer und Hooligans heißt dies, dass ihre Spezialisierung immer auch Teil einer umfassenden Lebenswelt ist, mit der sie auf vielfältige Weise verbunden sind.19 18 Blumer (1966, S. 542) führt dazu aus: "Since action is forged by the actor out of what he perceives, interprets and judges, one would have to see the operating situation as the actor sees it, perceive objects as the actor perceives them, as certain their meaning in terms of the meaning they have for the actor, and follow the actor's line of conduct as the actor organizes it - in short, one would have to take the role of the actor and see his world from his standpoint." 19 Auf diese soziale Verflechtung des einzelnen hat bereits Mead (1934/1968, S. 266) mit Nachdruck hingewiesen: "Doch selbst in den modernsten und entwickelsten Spielarten der menschlichen Zivilisation nimmt der einzelne, wie originell und schöpferisch er in seinem Denken auch sein mag, immer und notwendigerweise eine definitive Beziehung zum allgemein organisierten Verhaltens- oder Tätigkeitsmuster ein und reflektiert es in der Struktur seiner eigenen Identität oder Persönlichkeit, ein Muster, das den gesellschaftlichen Le- 20 Diese Vorgehensweise, die die subjektive Perspektive der Betroffenen, ihre ‚Story’ in den Vordergrund stellt, wird von Neumann-Braun/Deppermann (1998, S. 242) u.a. mit Bezug auf Bergmann (1985) kritisiert: Sie gebe „rekonstruierende Darstellungen der Alltagspraxis, nicht jedoch die Alltagspraxis selbst und auch nicht die Praxis des Darstellens“ wieder.20 Zuzustimmen ist, dass der Forscher Gefahr läuft, „von bewußter Täuschung, selektiven (möglicherweise sogar vorbewußten) Rekonstruktionen und interessegeleiteten Korrekturen (z.B. aus Gründen der sozialen Erwünschtheit)“ (Eckert u.a. 2000, S. 29) in die Irre geleitet zu werden. Den einseitigen Selbstbeschreibungen stehen hier allerdings folgende Strategien gegenüber: 1) Die Begleitung einzelner Gruppenmitglieder über einen längeren, teilweise mehrjährigen Zeitraum. Insofern handelt es sich nicht nur um retrospektive/biographische, sondern auch um Prozessdaten, die Widersprüche und Veränderungen aufzudecken vermögen. 2) Hinzu kommt die Perspektivenvielfalt der einbezogenen Personen. Befragt habe ich auch Familienmitglieder, Nachbarn, Freunde und Bekannte sowie Experten. 3) Schwach-reaktive Daten (Beobachtung durch den Forscher) erlauben die Kontrolle der Inhalte der Interviews. Feldmaterialien sind als natürliche, unverfälschte Kommunikation zu interpretieren. 2. Retrospektive Wegbeschreibung - der Zugang zum Untersuchungsfeld Ethnographische Forschung findet in den alltäglichen Bezügen der untersuchten Subjekte statt, denn die sinngemäße, authentische Rekonstruktion ihrer Erfahrungen, Gefühle und kulturellen Muster ist nur über unmittelbare Kontakte gewährleistet. Die Auswertung von ausschließlich sekundären Datenmaterialien (Presseberichte, Fernsehsendungen, Berichte von Dritten, Bücher usw.) bringt dagegen beinahe zwangsläufig Verzerrungen wie auch Fehlinterpretationen mit sich. Übertragen auf die hier untersuchten Spezialkulturen würde z.B. eine Analyse von Artikeln aus der Regenbogenpresse eher Erkenntnisse über Vorurteile und Informationsdefizite erbringen, als über die tatsächliche Lebenssituation der Betroffenen; d.h. über ihre Erfahrungen, Gefühle und Ängste würde man vermutlich kaum etwas erfahren. Der Forscher muss deshalb - soll seine Forschung alltags- und subjektnah sein - das Feld aufsu- bensprozeß manifestiert, in den er eingeschaltet ist und dessen schöpferischer Ausdruck seine Identität oder Persönlichkeit ist." 20 Vgl. auch Willems (1998) 21 chen und ‚soziale Welten aus erster Hand’ (vgl. Filstead 1979) beschreiben.21 Damit wird der Zugang zum Untersuchungsfeld entscheidend für den Erfolg ethnographischer Forschung. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass der Zugang zum Untersuchungsfeld für den ethnographischen Forscher nicht exakt planbar und antizipierbar ist. Er hängt im hohen Maße vom Erfindungsgeist des Forschers, seiner Kreativität, seinem zeitlichen Engagement und seiner Bereitschaft, sich auf das zu erforschende Phänomen einzulassen, ab. Gleichzeitig ist der Feldzugang immer auch sehr stark von zufälligen Ereignissen bzw. glücklichen Umständen bestimmt, und nicht zuletzt auch von Sympathien und Antipathien. Dies mag den methodologisch-methodisch gebildeten Leser aufschrecken: Wer allerdings behauptet, Emotionen völlig ausschließen zu können, hat den Blick für die Wirklichkeit verloren. Wenn Aussehen, Kleidung, Gestik, Mimik, Sprache etc., kurz ‘der Stil des Forschers’ dem Gesprächspartner im Feld nicht gefällt, kommt der intensive Kontakt erst gar nicht zustande. Der Forscher selbst kann dem Untersuchungsgegenstand (der zu befragenden Person) gegenüber seine eigene Haltung reflektieren, und muss Bewertungen soweit wie möglich vermeiden. Umgekehrt jedoch stehen die Gesprächspartner im Feld nicht in der Pflicht und können ihre Unterstützung von Gefallen und Missfallen abhängig machen. Somit kann die Reise in fremde Kulturen - das soll ‘retrospektive Wegbeschreibung’ in der Überschrift zu diesem Kapital zum Ausdruck bringen - immer nur im nachhinein beschrieben werden. Es gibt keine ‘Routenplanung’, keine Richtlinien, grundsätzlich erfolgversprechenden Vorgehensweisen, die Erfahrene den weniger erfahrenen Feldforschern mit auf den Weg geben könnten. Allerdings möchte ich aus meiner mehrjährigen Erfahrung insbesondere auch mit ‘abweichenden’ oder gar ‘kriminellen’ Subkulturen als einziges handlungsleitendes Paradigma formulieren: ‘Anything goes’. Dies impliziert, dass jede noch so kleine oder mit hohem Aufwand verbundene Chance genutzt werden soll oder besser: muss. Keine Kontaktmöglichkeit darf frühzeitig als mehr oder weniger erfolgversprechend (dis-)qualifiziert werden. Girtler (1988, S. 54) bemerkt zu diesem Problem: „Zu der am Beginn seiner Forschung wohl schwierigsten Frage des Forschers gehört die nach der Einleitung des Kontaktes zu der ihn interessierenden Gemeinschaft. Diese Frage ist eminent wichtig, da ein gelungener Zugang entscheidend für die Durchführung und den Erfolg der Untersuchung ist. Es wird oft übersehen, daß gerade hierin das vielleicht größte Problem des Forschenden liegt. Manche Eleven in der Soziologie und der Ethnologie meinen, der erste Schritt könne nicht 21 Für Haeberle (1989, S. 75) ist die Erfahrung vor Ort essentiell: "Ein Sexologe, der etwa Bordelle, Sexkeller, Herrensaunen, Nacktbadestrände, Sadomasochistenclubs und ähnliches nur aus Büchern kennt, hat seinen Beruf verfehlt." Diese Feststellung ist auch auf andere Lebensbereiche und -welten übertragbar. 22 schwer sein, und es würde sich schon jemand finden, der sie z.B. den Leuten vorstellt. Die weiteren Schritte und die Akzeptierung durch die betreffenden Personen würden sich von selbst ergeben usw. Der erfahrene Feldforscher weiß jedoch, daß ein guter und wirkungsvoller Zugang mit Mühen und auch mit einer Portion Glück verbunden ist.“ Im Falle der vorliegenden Arbeit war es das Ziel, den Status des ‚nichtteilnehmenden Beobachters’ und des akzeptierten Gesprächspartners zu erreichen. Doch dies war keineswegs einfach. Ehe ich ein erstes Gespräch mit einem Sadomasochisten, Paintballer oder Hooligan führen konnte, musste ich zunächst einmal eine Mauer aus Misstrauen, Angst, Schamgefühlen und Desinteresse überwinden, und um die Befragten für ein Interview zu gewinnen, musste zunächst eine Vertrauensbasis geschaffen werden. Dementsprechend schwierig hat sich der Zugang - „the first and most uncomfortable stage of fieldwork“ (Wax 1971, S. 15) - in die unterschiedlichen Szenen gestaltet. Die Chronologie des Feldzugangs kann in der Abfolge Recherchieren, Kontaktieren, Informieren (unidirektionales Verhalten), Kommunizieren und Akzeptieren (interaktiv) beschrieben werden. Recherchieren Zunächst einmal galt es, sämtliche (vorhandenen) Möglichkeiten der Kontaktaufnahme mit den Szenen resp. Spezialkulturen und ihrer Mitglieder zu eruieren: Bereits bekannte Ansprechpartner aus vorangegangenen Forschungsprojekten (hier ist insbesondere das Forschungsprojekt ‘Grauen und Lust’ zum Thema Videopornographie zu nennen; vgl. Eckert u.a. 1990), Kontakte durch Forscherkolleginnen und -kollegen, themenaffine Professionen und nicht zuletzt auch Studierende aus den Seminaren an der Universität sowie Freunde und Bekannte (jeder kennt jemanden, der jemanden kennt, der jemanden kennt...). Neben diesen persönlichen Kontakten zu Mittelspersonen war die Lektüre von Szene- und Fachpublikationen sowie die Abfrage im Internet ein wichtiger erster Schritt ins Feld. Aus der Sichtung sogenannter Fanzines (Fanmagazine aus den Bereichen SM, Paintball, Fußball/Hooligans) konnten wichtige ‘Persönlichkeiten’ aus den einzelnen Szenen ausfindig gemacht werden. Personen, deren Namen in Kontaktanzeigen, Kaufgesuchen, Leserbriefen oder Szeneberichten immer wieder auftauchten, stellten sich dann im Nachhinein auch als wichtige Kontakte heraus. Aber auch in wissenschaftlichen Publikationen oder z.B. Erfahrungsberichten von Streetworkern ließen sich Namen und Adressen von möglichen Kontaktpersonen finden. 23 Zu Beginn sammelte ich Namen, Telefonnummern sowie Anschriften möglicher erster Gesprächspartner. Zu jedem einzelnen möglichen Kontakt fertigte ich dann Protokolle mit kurzen Beschreibungen zur Herkunft bzw. Quelle des Kontaktes sowie Informationen über den Gesprächspartner oder die Gesprächspartnerin an. Also z.B. ‘Marko, 22 Jahre, schreibt regelmäßig Artikel für Paintballmagazine, Tages- und Wochenzeitungen. Zentrale Person in einem Club, die Szene scheint ihn zu kennen, man berichtet über ihn’. Kontaktieren und Informieren Diese Kontakte habe ich dann systematisch abgearbeitet. Entweder, indem ich die Personen anrief, sie anschrieb oder - im Falle von Geschäftsleuten mit öffentlich zugänglichem Laden sie direkt besuchte. Es war notwendig, mehrere hundert Telefonate zu führen und ebenso viele Briefe zu verschicken, in denen ich mich und das Forschungsanliegen vorstellte. Die Briefe waren weitestgehend individuell, d.h. beispielsweise mit Bezug auf die jeweiligen Anzeigentexte aus Magazinen etc. formuliert. Standardmäßig fügte ich ein Informationsblatt bei, das die soziologische Forschungsperspektive, die methodische Vorgehensweise, die Finanzierung des Projektes, datenschutzrechtliche Rahmenbedingungen und den ‘Verwendungszweck’ skizzierte.22 Neben dem Versenden von Briefen legte ich Informationsmaterial mit meiner Kontaktadresse in entsprechenden Szene-Lokalen und -Treffs oder Beratungsstellen aus. Mit Blick auf die unterschiedlichen Szenen waren dies Videotheken, Sex-Shops, SM-Läden, Domina-Studios, Bordelle, AIDS-Hilfen oder Waffengeschäfte, die Paintballzubehör verkaufen. Um an die Hooligans zu gelangen, stellte ich Mitarbeitern der Polizei Informationsmaterial zu meinem Anliegen zur Verfügung. Die Nutzung bestehender Kommunikationswege in den jeweiligen Spezialkulturen ist - diese Erfahrung machte ich auch in anderen Forschungsfeldern23 - ein wichtiger Teil eines erfolgreichen Feldzugangs. Werden die Befragungspersonen über ihnen vertraute Wege und Medien angesprochen, wird dem Forscher nicht selten ein Vertrauensvorschuss entgegengebracht, der den Weg in das Feld ebnen kann. Zusammenfassend gilt festzuhalten, dass den Zugang zur SM-Szene insbesondere Besitzer von SM-, Leder- und Dessous-Boutiquen ebneten, die entweder selbst praktizierten oder eben 22 Vgl. z.B. das Informationsblatt und den Brieftext für die Paintball-Spieler im Anhang. 23 So z.B. im Projekt 'Datenreisende - Die Kultur der Computernetze' (vgl. Wetzstein u.a. 1995). Das Ansprechen von Interviewpartnern über ihre elektronischen Kommunikationswege hat den Zugang zur Welt der Datenreisenden wesentlich erleichtert. 24 nur geschäftlich interessiert waren. Daneben waren AIDS-Hilfen und Organisatoren von Szene-Treffen sowie Clubsprecher beim Feldzugang behilflich. Nicht zu vergessen: Professionelle Dominas haben uns Kontakte zu Kunden und in die Prostituierten-Szene vermittelt. Ein erster Kontakt zur Paintball-Szene gelang mir über in der Szene akzeptierte und angesehene Persönlichkeiten. Der Zufall wollte es, dass ich diese gleich zu Beginn der Recherchen über Kontaktanzeigen in Paintballmagazinen ausfindig machen konnte. Der Zugang zu den Hooligans gelang im wesentlichen über einen auf die Szene spezialisierten Mitarbeiter der Polizei, der trotz des ‘feindlichen Status’ großes Ansehen genießt und als Vertrauensperson akzeptiert war. Er nahm mich mit zum ‘Dienst’ - hier: ins Fußballstadion zum Samstagsspiel - und stellte mich einigen Hools vor. Die ersten Ansprechpartner sollten dann später als Multiplikatoren oder besser gesagt als Promotoren für die Forschungsarbeit fungieren. Mit ihnen konnten weitere Strategien der Kontaktaufnahme erarbeitet werden, sie haben mich und mein Anliegen in der Szene ‘empfohlen’ und mir weitere interessante Gesprächspartner vermittelt und vorgestellt. Kommunizieren und Akzeptieren Von der Bekanntmachung des Projektes bis zur Durchführung eines Interviews oder ungestörter Beobachtungseinheiten im Rahmen von Veranstaltungen etc. waren aber noch einige Hürden zu überwinden bzw. lag ein langwieriger Vertrauensbildungsprozess. Fast alle Interessenten erfragten in zum Teil sehr ausführlichen Briefen oder Telefongesprächen genauere Informationen über meine inhaltlichen Ziele. Insbesondere die Art und Weise, wie die Interviews durchgeführt und später ausgewertet werden sollten, war in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Gerade der Umstand, dass sich (vor allem bei den Sadomasochisten) auch viele Akademiker unter den Befragten befanden, führte dazu, dass Fragen zur Methodenauswahl, zu Interpretationsverfahren etc. ausführlich beantwortet werden mussten. Die Offenlegung des forschungsmethodischen Vorgehens wie auch der geplanten Auswertungsstrategien trug wesentlich zur Akzeptanz bei. Ebenso wichtig war die Betonung von Anonymität und Datenschutz. Hier waren besondere Vorkehrungen notwendig. So musste ich dem überwiegenden Teil der Befragten garantieren, dass die Aufnahmebänder unmittelbar nach der Transkription gelöscht werden, was auch geschah. Daneben habe ich in den Interviews völlig auf die Nennung von Namen, Orten, Lokalen oder Shops verzichtet und weitestgehend auch den jeweiligen Dialekt unkenntlich gemacht. Andere Personen haben erst überhaupt keine persönlichen Daten von sich bekannt gegeben. Mit ihnen musste ich in langwierigen Briefwechseln über Postfächer Termine ausmachen. Die Treffen fanden zumeist an neutralen Orten (Lokale, Parks, öffentliche Plätze o.ä.) statt, und nicht selten wurde der Abend oder die Nacht als Zeit- 25 punkt gewählt. Hin und wieder habe ich die mitunter sehr langen Anfahrten von mehreren Stunden umsonst gemacht, weil die zu Befragenden nicht erschienen. Im allgemeinen haben sich die Interviewpartner aber an die Gesprächstermine gehalten. Einige Befragungspartner waren zwar nicht zum persönlichen Interview bereit, haben dann aber auf schriftlichem Wege Stellungnahmen abgegeben bzw. meine Fragen beantwortet. Zentral für den Vertrauensbildungsprozess war aber die Beantwortung der Frage nach meinem Erkenntnisinteresse, insbesondere ob ich psychiatrische, psychologische oder psychoanalytische Forschungsziele verfolgen würde. Dass ich diese Forschungsrichtungen aus den Untersuchungsfragen ausgeschlossen habe und stattdessen in einer ethnographischen Vorgehensweise die Perspektive der Feldakteure herausarbeiten wollte, hat der Forschungsarbeit sicherlich entscheidend weiter geholfen. Viele Befragten versprachen sich von dieser Vorgehensweise mehr Toleranz und Verständnis in Öffentlichkeit und Wissenschaft: “Angesichts des Unfugs, der in vielen wissenschaftlichen wie auch allgemeinen Veröffentlichungen zu diesem Thema geschrieben wurde (und wird), hat jede einigermaßen unvoreingenommene Aufarbeitung des Themas aus wissenschaftlicher Sicht Unterstützung verdient“ (Zum Thema Sadomasochismus; Antwortbrief). “Ich würde Ihnen nicht helfen, wenn Sie uns als ‚Kranke’, ‚Hilfsbedürftige’ oder ‚Perverse’ darstellen würden. Das haben andere schon oft genug getan” (Zum Thema Sadomasochismus; Antwortbrief). „Hallochen Linda! Obwohl, wie so oft, die Zeit knapp ist, werde ich Dir hier kurz Deinen Brief beantworten. Entschuldige bitte, dass ich Du zu Dir sage, aber ich glaube, wir sind doch alles aufgeschlossene und aufgeweckte Menschen. (...) Es gibt natürlich immer wieder Menschen, die an ‘Alles’ was auszusetzen haben ... die nicht mal Wert auf eine Erklärung legen ... die von vornherein alles verachten. Diese Leute wollen nichts verstehen und können es auch nicht, weil sie blind und stur durchs Leben gehen und nicht von ihrer Linie runter wollen. (...) Ich hoffe, Du machst das besser!” (Zum Thema Paintball/Gotcha; Antwortbrief). Mit dem Gefühl, dass ich die Interviewpartner ernst nehme, hat sich ihr Interesse gefestigt. Aber erst das intensive persönliche Gespräch und das Kennenlernen schaffte das nötige Vertrauen für ein Interview: ‚Nachdem Sie Ihr Projekt in unserem Club vorgestellt haben, bin ich gerne bereit, Ihre Forschungsarbeit mit einem Interview zu unterstützen’. Dass ich für diese Gespräche auch die entsprechenden Szene-Treffpunkte (Sex-Läden, Dominastudios, Bordelle, Lederbars, private Treffen, ein Paintballturnier, Clubräume und Wohnungen der Paintballer, Fußballstadien und Hooligan-Kneipen) aufgesucht habe, hat die Akzeptanz meines Anliegens zusätzlich verstärkt. 26 Resümierend ist festzuhalten, dass die Vertrauensbildung entscheidend durch das persönliche Gespräch in der Szene gefördert wurde. Indem sich der Forscher in diese Welt begibt, ermöglicht er ihren Mitgliedern, sich ein Bild über die Forschung und die involvierten Personen zu machen. Dazu gehörte auch die Öffnung der eigenen Person, meiner Interessen, Möglichkeiten und Grenzen. Letztere beschreiben insbesondere die erforderliche Distanz zum und die Neutralität gegenüber dem Forschungsgegenstand, allerdings auch die deutliche Kommunikation, dass der Forscher (im Gegensatz zum Journalisten) im Bereich devianten Verhaltens der Aussagepflicht unterliegt. Dies war allerdings nahezu ausschließlich relevant mit Blick auf die Hooligan-Szene und entsprechende (nicht-)teilnehmende Beobachtungen. Der emotionalen Öffnung des Forschers wird in der wissenschaftlichen Literatur eher weniger Bedeutung beigemessen. Sie erscheint konträr zum Forschungsanspruch ‘neutral’ und ‘distanziert’ zu sein. Die Bedeutung der Bereitschaft, auch ein Stück von sich Preis zu geben und auch bis zu einem gewissen Grad den Wünschen der Personen des Untersuchungsgegenstands entgegen zu kommen, darf jedoch auf keinen Fall unterschätzt werden. Bevor ein Gesprächspartner intime Details seiner Wünsche oder Lebensentwürfe berichtete, war es selbstredend notwendig, auch über das eigene Leben zu sprechen. Damit sind Fragen nach der Einstellung zu Partnerschaft und Familie, der familiären Situation aber auch ‘verfänglichere’ Fragen nach dem eigenen Interesse z.B. an SM-Praktiken, einer möglichen eigenen Faszination durch Paintball oder auch Fragen wie die nach der (Bewertung der) Attraktivität eines gerade von seiner Freundin verlassenen Hooligans gemeint. Dazu drei Beispiele: Ein SM-orientiertes Ehepaar um ein mehrstündiges Interview inklusive Besichtigung der hauseigenen ‘Folterkammer’ zu bitten, gleichzeitig jedoch deren Wunsch abzuschlagen, selbst einmal in ein Lederkleid zu schlüpfen, wäre für den Fortgang der Erhebung fatal gewesen. Ebenso die Verweigerung, selbst einmal an einem Paintballturnier teilzunehmen oder mit den Hooligans vor der Polizei zu flüchten. Nur indem man bereit ist, nicht nur als Forscher, sondern auch als Mensch aufzutreten, kann Vertrauen geschaffen werden. Ich möchte allerdings nicht versäumen, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass dabei häufig auch Grenzgänge entstanden sind. Einer der Hooligans sagte mir, dass er sich in mich verliebt habe. Es waren extreme Anstrengungen nötig, ihm klar zu machen, dass ich an ihm nicht als ‘Mann’, sondern in seiner Rolle als Hooligan interessiert war. In der Phase der Vertrauensbildung kann der Forscher auch eine Art Lehrzeit absolvieren, die es ihm erlaubt, sich den Szene-Regeln entsprechend zu verhalten, bestimmte Codes zu studieren und so die Fremdheit seines Eindringens zu minimieren. Kontaktpersonen, deren Vertrauen man gerade gewinnt oder gerade gewonnen hat, machen den Forscher mit den Gepflogenheiten, Eigenarten, ungeschriebenen Gesetzen etc. der Szenen vertraut. Sie machen ihn auch 27 auf bestimmte Ungeschicktheiten aufmerksam, die aus der Unkenntnis spezifischer Verhaltenskonventionen resultieren.24 Nicht zuletzt werden immer wieder richtige Prüfungen durch die Feldakteure inszeniert, in denen der Forscher seine Felderprobtheit unter Beweis stellen muss. Ein Beispiel: Bei einem Termin in einer größeren Stadt hing bei der angegebenen Adresse an der Haustür ein Zettel mit dem Hinweis ‚Uni Trier, bitte den Eingang durch den Garten benutzen’. Anhand einer zusätzlichen kleinen Skizze fanden mein Kollege, der mit mir zum Interviewtermin unterwegs war, und ich den Weg in den Garten. Von dort gelangten wir zum hinteren Hauseingang, der offen stand. Als wir eintraten, wurden wir von einer Frau in Domina-Kleidung empfangen. Sie führte uns eine Treppe hinauf in das Dachgeschoss der Villa. Schon beim Hinaufsteigen der Treppe ahnte ich, dass uns eine Überraschung erwartete. Der Interviewpartner hing nackt und gefesselt an Deckenhaken. Während der Vorführung war es wichtig, ein neutrales Verhalten zu zeigen, auch wenn es angesichts der Darbietungen nicht immer einfach war und zuweilen für alle Beteiligten komische oder auch belustigende Situationen entstanden. Der Interviewpartner machte sich nämlich - nachdem die Domina ihn von der Decke abgehängt hatte einen Spaß daraus, mehrfach splitternackt und mit Gewichten an den Hoden dicht an mir (ich saß auf einem Designer-Sofa) vorbeizugehen und spitzzüngig zu fragen: ‘Na Frau Steinmetz? Ist Ihnen das jetzt peinlich?’ Natürlich war es mir ‘auch’ peinlich und ich sah meinen Kollegen sich innerlich schütteln vor Lachen, schaffte es dann aber, die Contenance zu bewahren. Erst nach der bestandenen Probe konnte das Interview beginnen. Das Erlernen solcher Verhaltensweisen (das Meistern ‚kritischer’ Situationen) hat sich bei jeder Aktivität in der Szene ausgezahlt; nicht zuletzt hat es sich auch in den vielen anderen Interviewsituationen als förderlich erwiesen. Es gelang mir, zumindest in Teilen der Szenen akzeptiert und im Folgenden zu Szenetreffen, Events, Turnieren, privaten Partys, in DominaStudios oder zu den Gesprächspartnern nach Hause eingeladen zu werden. Andere Szenemit- 24 In diesem Zusammenhang werde ich ein erstes Gespräch mit einer Geschäftsfrau und professionellen Insiderin der SM-Szene nie vergessen: Trotz des Wohlwollens und der späteren intensiven Unterstützung durch diese ‘Dame’ wurden mir zunächst Hohn und Spott zuteil, als ich nach der Bedeutung szenespezifischen Vokabulars fragte: „Mädchen, wenn Du etwas über die SM-Szene erfahren möchtest, dann musst Du diese Dinge aber beherrschen“ war ihr Kommentar. Trotz aller Bemühungen und Reflexion war meine Sprache zunächst noch weit entfernt von der in der Szene üblichen weil wissenschaftlich-theoretisch oder zu normalbürgerlich. Dies sollte sich jedoch ändern und bald schon setzte eine Erfahrung ein, die Malinowski (1922, S. 7) für den Ethnologen folgendermaßen beschreibt: "His life in the village, which at first is a strange, sometimes an intensely interesting adventure, soon adopts quite a natural course very much in harmony with his surrounding." 28 glieder warben Interviewpartner und stellten sogar ihre Wohnungen für die Interviews zur Verfügung. Nur in manchen Fällen musste ich - wie bereits angedeutet - neutrale Treffpunkte in verschiedenen Großstädten ausmachen. Viele Personen fragten des Öfteren nach dem Stand der Arbeit oder erkundigten sich nach der ein oder anderen Literaturliste zum Themenfeld Sexualität und Sadomasochismus, Paintball oder zum Phänomen der Hooligans. Nach sehr aufwendigen Maßnahmen zur Vertrauensbildung lag die fremde Welt dann aber mehr oder weniger offen vor mir; ich konnte mit der Entdeckungsreise beginnen. 3. Erhebungsverfahren und empirische Basis In der vorliegenden Untersuchung habe ich mich nicht auf eine bestimmte Methode beschränkt, sondern versucht, das ganze Spektrum alltäglicher Wahrnehmungsformen für meine empirische Arbeit fruchtbar zu machen. Dazu bemerkt der ‚Kulturwissenschaftler auf dem Fahrrad’: „Der gute Forscher im Feld, der Kontakte zu Menschen sucht und wissen will, wie Menschen leben und wie ihre Rituale aussehen, darf sich nicht von einem exakten Forschungsplan leiten lassen. Ein solcher Plan, wie ihn für gewöhnlich Leute aufstellen, die mit Fragebogen arbeiten oder Experimente mit Gruppen durchführen, ist für die Erforschung menschlichen Handelns eher hinderlich. Nur wer sich dem Leben einer Gruppe, die er studieren will, vorbehaltlos überläßt, hat die Chance, tatsächlich herauszufinden, warum die Menschen in bestimmter Weise handeln und gewisse Symbole verwenden. Ein solcher Feldforscher hat es freilich nicht leicht, vor allem wenn er mächtige Gruppen oder kriminelle Subkulturen erforschen will. Ist er geschickt und setzt sich vielleicht gar mit den betreffenden Menschen zu Wein und Bier, so hat er schon einen gewaltigen Schritt in Richtung einer guten Studie gemacht“ (Girtler 1991, S. 20). Entsprechend diesem offenen methodischen Verständnis25 habe ich mich in den verschiedenen gewaltaffinen Spezialkulturen umgeschaut und Daten gesammelt, ohne mich auf thematische Leitfäden zu beschränken. 25 Auch Strauss (1991, S. 32) wendet sich gegen einen Methodendogmatismus und -purismus: "Geleitet von einer falschen (auf spekulativer Philosophie beruhenden) Vorstellung, derzufolge eine effektive Forschungsarbeit exakt, präzise und klar in der Technik sei, gehen Studenten und Sozialwissenschaftler oft davon aus, daß es möglich sein müßte, Regeln festzulegen, nach denen sozialwissenschaftliche Untersuchungen durchgeführt werden. Wir halten dies für eine nicht zutreffende Beschreibung davon, wie Arbeit - gleich welcher Art - verrichtet wird. (...) Wir möchten diesen Gedanken nicht weiter ausführen, sondern nur noch einmal wiederholen, daß in der Sozialforschung etliche strukturelle Bedingungen gegen eine strikte Systematisierung von methodologischen Regeln sprechen. Zu diesen Bedingungen gehören die Vielfalt von sozialweltlichen Gegebenheiten und die damit verbundenen Zufälligkeiten." 29 Grundsätzlich lassen sich dabei zwei unterschiedliche Datentypen unterscheiden. Die einen produziert das kulturelle Feld ohne Zutun des Forschers, die anderen werden durch den Einsatz von wissenschaftlichen Methoden erzeugt. 3.1 Originäre Felddaten In jeder Kultur wird eine Vielzahl von Symbolen, Medien und Bedeutungsträgern hergestellt und weitergegeben. Diese Daten sind für den Forscher eine wichtige Fundquelle. Insbesondere Historikern (und Kulturwissenschaftlern) stehen hierdurch völlig unterschiedliche Informationsquellen zur Verfügung: „Aufzeichnungen, Memoiren, offizielle und persönliche Briefe, Tagebücher, Zeitungen, Landkarten, Photographien und Gemälde“ (Strauss 1991, S. 27). Auch die Spezialkulturen der Sadomasochisten, Paintballer und Hooligans sind reich an solchen Materialien. So gibt es eine Vielzahl an Magazinen, Heften, Filmen und Texten oder auch Webpages. Hier finden sich Materialien wie Leserbriefe, Stellungnahmen, Diskussionen, Kontaktgesuche, Terminübersichten, Veranstaltungslisten, Kauf- und Tauschangebote etc. Ich habe eine größere Zahl dieser Medien-Produkte gesichtet und zur Auswertung verwendet. Mit Blick auf die SM-Szene standen mir mehrere Hundert Zeitschriften zur Verfügung, die durch einige Dutzend pornographische Filme ergänzt wurden. Zur Analyse der Paintballszene habe ich ca. zwanzig verschiedene Magazine berücksichtigt. Zusätzliche Datenquellen waren Briefe von Szene-Insidern, Stellungnahmen zu meinem Forschungsanliegen, Einladungsschreiben von Clubs, Flugblätter und Briefwechsel zwischen Szenemitgliedern. Diese füllten mehrere Ordner. Informationen aus vereinseigenen Datenbanken zur Mitgliederverwaltung und Eventorganisation, Tagebücher und Fotos oder auch juristische Korrespondenz mit Polizei, Gerichten und Anwälten ergänzten meine empirischen Materialien. Die Verwendung dieser Daten soll es dem Forscher (und Leser) erleichtern, sich in die fremden Welten hineinzuversetzen. Sie geben gleichzeitig Auskunft über Praktiken und Kommunikationsformen im Feld. Glaser/Strauss (1979, S. 103) verweisen darauf explizit, wenn sie herausstellen: „Das (...) Problem besteht darin, die erforschte soziale Welt so lebensnah zu beschreiben, daß der Leser ihre Bewohner buchstäblich sehen und hören kann. (...) Um dies zu erreichen, setzt der Forscher gewöhnlich verschiedene Darstellungsmittel eines recht umfangreichen Arsenals von Verfahren ein. Er kann direkt aus aufgezeichneten Befragungen oder Unterhaltungen zitieren. Er kann dramatische Passagen seiner unmittelbar im Forschungskontext angefertigten Notizen in die Darstellung aufnehmen. Er kann aus Erzählungen von Informanten zitieren. Er kann in Fallstudien den Ablauf von Ereignissen und Lebensberichte von Personen plastisch darstellen. Er kann einzelne Ereignisse und Handlungen zu be- 30 schreiben versuchen; und häufig wird er zumindest Hintergrundinformationen über Ort und Zeit einfügen.“ Im vorliegenden Fall bedeutet dies, dass z.B. die sprachliche Tabuierung von Sexualität und Gewalt, die in der Hochsprache und also auch der Wissenschaft gilt, ignoriert werden muss. Die Semantik des sadomasochistischen Feldes beispielsweise ist nur begrenzt übersetzbar. 3.2 Forschergenerierte Daten Neben dem Sammeln von Daten im Feld, spielt die methodisch kontrollierte Produktion von Daten durch den Forscher eine wichtige Rolle. Dazu habe ich verschiedene sozialwissenschaftliche Techniken im Rahmen eines Mehr-Methoden-Designs verwendet. Im Mittelpunkt stand dabei das problemzentrierte Interview (vgl. Witzel 1982), das durch Gruppendiskussionen und Beobachtungen ergänzt wurde. 3.2.1 Problemzentrierte Interviews Das Kriterium der Problemzentrierung hat „eine doppelte Bedeutung: einmal bezieht es sich auf eine relevante gesellschaftliche Problemstellung und ihre theoretische Ausformulierung als elastisch zu handhabendes Vorwissen des Forschers; zum anderen zielt es auf Strategien, die in der Lage sind, die Explikationsmöglichkeiten des Befragten so zu optimieren, daß sie ihre Problemsicht zur Geltung bringen können“ (ebd., S. 69). In gesprächsstruktureller Hinsicht bedeutet dies, die Interviewten als Experten des Alltags zu behandeln, d.h. Kontaktaufnahme und Kommunikationsformen so zu gestalten, dass eine Gesprächssituation entsteht, in der sich die Befragten ernst genommen fühlen und Interesse an der Thematisierung des Gegenstandsbereichs gewinnen. Im Unterschied zu anderen Formen des qualitativen Interviews - so etwa dem narrativen Interview, wie es von F. Schütze (1977) entwickelt wurde - geht der Forscher beim problemzentrierten Interview nicht ohne jegliches (theoretisches) Vorwissen in die Erhebungsphase, sondern bereitet sich durch Literaturstudium, eigene Beobachtungen und Expertengespräche auf das Gespräch vor. Auf der Basis dieser Vorüberlegungen werden die Schlüsselbegriffe für einen Gesprächsleitfaden formuliert, die dem Interviewer, etwa bei stockendem Gespräch oder unergiebiger Thematik, inhaltliche Anregungen geben. Wichtig für die Interviewdurchführung bleibt aber die Offenheit. Der Interviewte soll frei antworten können, ohne vorgegebene Antwortalternativen. Die auf diese Weise durchgeführten Interviews wurden, das ausdrückliche Einverständnis der Befragten vorausgesetzt, mit Tonband aufgezeichnet. Diese 31 Registrierform besitzt den Vorteil, dass der gesamte verbale Gesprächskontext und damit auch die Rolle, die der Interviewer im Gespräch spielt, erfasst wird. Gleichzeitig ist dadurch auch die Möglichkeit gegeben, sich voll auf die Gesprächssituation und den -verlauf zu konzentrieren. Insgesamt standen mir aus den Teilprojekten 79 auf Tonband aufgezeichnete Interviews mit Sadomasochisten, Paintballern und Hooligans mit einer Dauer von ca. 40 bis 180 Minuten zur Verfügung (übersetzt: mehrere tausend Seiten transkribiertes Gesprächsmaterial). Alle Interviews wurden durch Postskripte ergänzt, um wichtige nonverbale Informationen (z.B. Wohnungseinrichtung, die Ausstattung der privaten Folter- oder Materialräume, die Gesprächsatmosphäre, Geschehnisse außerhalb des eigentlichen Interviews wie z.B. Besuche von Freunden oder Verwandten, Telefonanrufe etc.) festzuhalten. Die Tonbandexplorationen wurden durch weitere (Kurz)Interviews, die nicht aufgezeichnet werden konnten, ergänzt. Dazu habe ich jeweils Gesprächsprotokolle angefertigt. Hinzu kamen schriftliche Befragungsunterlagen. Auch hier variierte die Länge der Interviews beträchtlich. Manche Personen antworteten stichwortartig auf zwei bis drei Seiten, andere wiederum führten ihre Antworten auf 20 und teilweise bis 50 Seiten aus. Die schriftlichen Interviews boten den Vorteil, dass ich auch Personen erreichen konnte, die aus Gründen der Anonymität kein mündliches Interview geben wollten. Auf diese Weise war sichergestellt, dass ich nicht nur Personen interviewen konnte, die selbstsicher und offensiv mit ihrer Neigung und Ihren Interessen umgehen. Andere wiederum bevorzugten den Weg über das Telefon. So habe ich eine ganze Reihe von Interviews und zahlreiche Kurzgespräche geführt. 3.2.2 Beobachtungen: Reisestationen, ‘Happenings’, ‘Events’ Beobachtung ist ein alltägliches Erfahren von Welt. Auch die wissenschaftliche Beobachtung folgt der allgemeinen Grundstruktur dieser menschlichen Wahrnehmungsform. Zwischen der alltäglichen und der wissenschaftlichen Beobachtung bestehen aber hinsichtlich Strukturierung, Planung und Zielorientierung wichtige Unterschiede. Beobachtung wird dann zum wissenschaftlichen Verfahren, wenn sie einem bestimmten Forschungszweck dient, systematisch geplant und aufgezeichnet wird und nicht nur eine Sammlung von Zufälligkeiten darstellt. Sie lässt sich demnach „als ein Verfahren definieren, durch welches der Beobachter sinnlich wahrnehmbares Handeln erfassen will. Er selbst verhält sich bei der Beobachtung gegenüber dem zu Beobachtenden grundsätzlich passiv (was aber nicht heißt, daß er nicht auf das Handeln in der betreffenden Gruppe einwirkt), wobei er gleichzeitig versucht, seine Beobachtung im Sinne seiner Fragestellung zu systematisieren und den Beobachtungsvorgang kritisch hinsichtlich einer Verzerrung durch seine Perspektive zu prüfen“ (Girtler 1988, S. 44). 32 In der Literatur zur Beobachtung wird zwischen verschiedenen Techniken unterschieden, etwa zwischen der teilnehmenden und nicht-teilnehmenden, der strukturierten und unstrukturierten, der offenen und verdeckten, der direkten und indirekten, der künstlichen und natürlichen Beobachtung (vgl. Dechmann 1978; Faßnacht 1989). Ich habe mich für ‚nichtteilnehmende Beobachtungsstrategien’ entschieden. Der Übergang zur teilnehmenden Beobachtung war jedoch insbesondere bei meinen Recherchen in der Paintballszene und bei den Hooligans gegeben. So war ich ein ganzes Wochenende mit einem Paintballclub unterwegs, um an einer Meisterschaft, der ‘Bielefeld open’ teilzunehmen. Bedingung, dass ich bei diesem Event dabei sein durfte war, dass ich versprechen musste, selbst auch einmal an einem Spiel teilzunehmen. Und dann gehörte ich als Forscher automatisch ein Stück weit dazu, wenn ich bei Kaffee und Kuchen, den die Spielerfrauen gebacken hatten, die Siegerehrung und die Pokalverleihung am Ende des Turniers beobachten konnte . Insgesamt habe ich in den unterschiedlichen Szenen verschiedene typische Orte ‚live’ in Augenschein genommen. Um der Gefahr einer vorschnellen Bedeutungszuweisung zu entgehen, war ich zu verschiedenen Zeitpunkten unterwegs und habe meine Beobachtungen und Aufzeichnungen immer wieder mit Szenemitgliedern ‘kommunikativ validiert’ (vgl. Lescher 1982). Die Auflagen der Probanden haben meinen Beobachtungen selbstredend Grenzen gesetzt. So konnte ich z.B. auf meinen Streifzügen durch die Hooligan-Szene keine Fotoaufnahmen machen. Dies war mir von meinen Kontaktpersonen untersagt worden, da die Fotos zu einem späteren Zeitpunkt von der Polizei hätten beschlagnahmt und als Beweismittel benutzt werden können. Zur Erklärung sei hier angemerkt, dass ich im Anschluss an ein Fußballspiel bei einer ‘Schlacht’ live dabei war, Schlägereien beobachten konnte und mit den Hools vor der Polizei flüchten musste. Schließlich war besondere Aufmerksamkeit hinsichtlich delinquenter Handlungen (auch: Wird der Forscher selbst zum Delinquenten?) und mit Blick auf den doch oft recht hohen Alkoholkonsum der Hooligans geboten. Domina-Studios Im Rahmen meiner Zugangsbemühungen ist es mir gelungen, zu verschiedenen DominaStudios Kontakt aufzunehmen. Von einigen Dominas wurde ich zu einem Gespräch eingeladen und bekam bei dieser Gelegenheit auch die Studios gezeigt. Die meisten dieser Besuche fanden während der Öffnungszeiten statt, so dass ich auch ein wenig den Besucherverkehr beobachten konnte. Manche Kunden waren auch bereit, Interviews zu geben. Durch die Beobachtungen war es möglich, einen authentischen Eindruck vom Dominagewerbe zu gewinnen, 33 der mir auch bei der späteren Interpretation der Ergebnisse weiterhalf. Manchen Studios waren Bordelle angegliedert, so dass ich auch den normalen Freierverkehr beobachten konnte. Auch hier machte ich die Erfahrung, dass der Forscher zum eher teilnehmenden Beobachter werden kann bzw. man ihn als Teilnehmer antizipiert. Ich saß um die Mittagszeit zusammen mit drei Prostituierten im Empfangsraum eines Bordells und beobachtete den Besucher- bzw. Freierverkehr. An der Rezeption erkundigten sich die Männer nach den unterschiedlichen Preisen für verschiedene Leistungen und auch für unterschiedliche ‘Modelle’. Einer der Männer fragte schließlich: ‘Was kostet die da?’ - und deutete auf mich. Szene-Lokale und Clubräume Beobachtungseinheiten ließen sich in den verschiedensten Räumen durchführen. Zu nennen sind z.B. schwule SM-Lederbars, stadtbekannte Hooligan-Kneipen oder Vereinsräume der Paintball-Spieler. So war ich bei einem Ledermänner-Treffen aus verschiedenen europäischen Ländern anwesend und konnte mir auf diese Weise einen nachhaltigen Eindruck von den verschiedenen Interaktionsritualen machen. An zwei Wochenenden war ich jeweils im Anschluss an Fußballspiele und anschließende Schlägereien mit einigen Hooligans in deren Lieblingskneipen unterwegs. Hier fand eine Mischung aus Beobachtungs- und Interviewsituation statt, wobei ich die Gespräche selbstredend nicht systematisch und per Tonband aufzeichnen konnte. Die Paintball-Spieler habe ich mehrfach in Clubräumen besucht, konnte mir so einen guten Eindruck über Aktivitäten, Organisation des Clubs bzw. Vereins u.ä. verschaffen. Spezialgeschäfte Die in fast jeder größeren Stadt vor zu findenden Spezialgeschäfte bilden wichtige Kristallisationspunkte der SM- oder auch der Paintballszene. In Sexshops, Leder-, SM- und Fetischboutiquen treffen sich - vorzugsweise am Wochenende - die Insider. Diese Treffen bieten Gelegenheit, unter seinesgleichen über SM-Probleme und -Faszinationen zu sprechen, neue Moden anzuprobieren usw. Paintball-Spieler tauschen sich in den entsprechenden Läden über innovative Ausrüstungsgegenstände (Markierer/Drucksysteme), Schutzmasken, Turnierpläne oder Mitfahrgelegenheiten zur nächsten Meisterschaft aus. Manche dieser Treffpunkte sind regelrecht institutionalisiert, so dass es schon längst nicht mehr nur um SM oder Paintball geht. Auch Kinder und Familie, Sport und Auto, Urlaub und Arbeit sind Themen, über die gesprochen wird. Diese Treffpunkte waren, neben ihrer Funktion als Beobachtungsort, vor allem für das Knüpfen von Kontakten und die Durchführung von Interviews von Bedeutung. Zudem konnte ich mir einen Eindruck von der typischen SM-Kleidung und den SM- 34 Werkzeugen sowie dem Paintballzubehör verschaffen. Nicht zuletzt konnte ich hier Zeitschriften sammeln und lesen. Szene- und Privattreffen Der Zugang zu Szene- und Privattreffen war nicht einfach. Ohne persönliche Empfehlungen bestand kaum eine Chance, Einlass zu finden. Mit Blick auf die SM-Szene fällt der Forscher selbst bei mehr oder weniger öffentlichen Großveranstaltungen zumeist schon deswegen auf, weil er anders gekleidet ist. Der Kostümierungszwang (‚strictly dresscode’) ist gleichsam der Minimalbeitrag für den Eintritt. Es war nicht nötig, selbst im ‚hippesten’ SM-Dress anwesend zu sein, aber das bunte Kleid habe ich schließlich gegen die schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt ausgetauscht. Mit der Hilfe von Szene-Insidern konnte ich an solchen Treffen teilnehmen, wobei ich allerdings als Nichtteilnehmer - bildlich gesprochen - zumeist im ‚Foyer’ verbleiben oder zu bestimmten Zeitpunkten die Party verlassen musste bzw. wollte. Aber selbst der ‚Beobachterposten im Vorzimmer’ bietet neben dem unverzichtbaren Vorteil, Eindrücke im Feld zu sammeln, Möglichkeiten, Kontakte mit möglichen Untersuchungspersonen anzubahnen und bei ihnen die Bereitschaft zu wecken, sich im weiteren Verlauf des Forschungsprozesses zu engagieren. Beobachtungen im Rahmen von Paintballturnieren gestalteten sich unkomplizierter. Dies liegt darin begründet, dass zu größeren Veranstaltungen ohnehin meist Gäste (Freunde, Bekannte, Familienmitglieder) eingeladen sind und ich unter einer Vielzahl von Besuchern eigentlich nicht weiter aufgefallen bin. Schwieriger war es dann wieder bei den Hooligans. Die wenigen Frauen, die an Treffen teilnehmen, sind meist als Freundin oder Frau ‘von’ bekannt. Als ‘Neue’ musste ich also schnell auffallen. Deshalb war es wichtig, dass mir meine Kontaktperson mehr oder weniger dauernd zur Seite stand; zumindest während des ersten gemeinsamen Wochenendes. Beim zweiten Mal war die Situation wesentlich entspannter. 3.2.3 Gruppendiskussionen Ihre starke Affinität zu alltagstypischen Situationen und Gruppen ließ die Gruppendiskussion auch für meine Untersuchung bedeutsam werden. Insbesondere im Hinblick auf den ständig umfangreicher werdenden Anteil von organisierten Gruppen stand hier ein Instrumentarium zur Verfügung, das eine tiefergehende Explorierung von kommunikativen Prozessen und Verhaltensstilen erlaubte. Zum Thema SM erschien mir die Gruppendiskussion zunächst problematisch, weil ich davon ausging, dass das Gespräch über derart intime Themen in der 35 Gruppe nicht möglich und auch nicht fruchtbar sei. Diese Einschätzung war falsch. Verschiedene Szene-Insider bevorzugten diese Form des Austauschs. Bei einer Gruppendiskussion mit heterosexuellen Personen in einem Lederstudio überraschte mich beispielsweise die offene Art, wie die anwesenden Personen über ihre sexuellen Praktiken und Neigungen sprachen. Auf meine Rückfrage erklärten die Befragten, dass dies in der Szene üblich ist; man wisse schließlich alles voneinander. Eine ähnlich offene und lockere Atmosphäre habe ich bei einer Gruppendiskussion mit schwulen Sadomasochisten erlebt. Mein Erkenntnisinteresse richtete sich dabei auf die Art der Thematisierung von SM in der Gruppe. Damit die Diskussionssituation möglichst authentisch war, fanden die Gespräche allesamt in Szene-Treffpunkten statt. Besonders rege haben sich auch die Paintball-Spieler an den Gruppendiskussionen beteiligt. Hier fand ich gleichsam optimale Bedingungen zur Anwendung dieses Instrumentes. Eine Vielzahl von Themen wurde von den Befragten selbst aufgegriffen und führte zu heftigsten Debatten, die zum Teil sehr sachlich, zum Teil sehr emotional geführt wurden. Sehr schön deutlich wurden die unterschiedlichen Rollen der Szene-Mitglieder im Sinne von Ansehen und Hierarchie. Trotz der insgesamt immens zeitaufwendigen Datenerhebung in der Hooligan-Szene (NonStop-24-Stunden-Begleitung, mehrfache Stadionbesuche etc.) konnte ich keine Gruppendiskussionen im strengen methodischen Sinne durchführen. Dies liegt an der Besonderheit der Szene bzw. Gruppe: sie aktualisiert sich nur anlässlich der entsprechenden Fußballspiele mit anschließender ‚Randale’. Die Begegnungen fanden deshalb in erster Linie während und nach der ‘dritten Halbzeit’ statt. Von einer ‘geordneten’ Diskussionssituation kann angesichts des hohen Alkoholkonsums und Schlägereien deshalb keine Rede sein. 4. Auswertungsstrategien Zur Auswertung des umfangreichen Befragungsmaterials mussten die verbalen Äußerungen zunächst, wie schon erwähnt, verschriftlicht werden. Um die Informationseinbuße bei der Transkription möglichst gering zu halten, wurden die verschriftlichten Aufzeichnungen durch den Vergleich mit den Tonbandprotokollen kontrolliert. Für die Auswertung und Dokumentation der verbalen Daten wurden diese aus Gründen der Anonymisierung und der verständlicheren Darstellbarkeit behutsam in die Hochsprache ‚übersetzt’ und weitestgehend den Regeln der Schriftsprache angepasst. Im Anschluss daran begann die eigentliche Auswertungsarbeit. Dabei wurde eine Analyse und Interpretation angestrebt, die sowohl der originären 36 Sichtweise der Befragten, als auch einer vergleichenden Systematisierung Rechnung trug. Ich habe unterschiedliche Auswertungs- und Darstellungsformen berücksichtigt. Im ersten Fall zielte die Rekonstruktion auf individuelle Handlungs- und Sinnprofile. Sie kann als Einzelfallanalyse bezeichnet werden. Die Grundlage für diese Auswertungsform bildeten die problemzentrierten Interviews in Verbindung mit Telefonaten, ständigen Briefwechseln und Wiederholungsinterviews, die ich zu biographisch orientierten Falldarstellungen ausgearbeitet habe. Diese sehr zeitintensive Auswertungsform habe ich aber nicht generell eingesetzt. Aus noch zu erläuternden Gründen habe ich sie nur für die Beschreibung der spezifischen SM-Partizipationsformen von Frauen verwendet. Datenerhebungs- und Auswertungsprozess standen hier in einem Wechselverhältnis, weil die beschriebenen Frauen ihre Sicht immer wieder in die Fallrekonstruktion in Form von Ergänzungen und Korrekturen einbrachten (vgl. Kap. III. 1.9.2.5). Bei der anderen Auswertungsform wurde eine ‚typologisierende Interpretation’ angestrebt, d.h. aus den Einzeläußerungen wurden fallübergreifend Strukturen und Zusammenhänge, Typisches und Wiederkehrendes herausgearbeitet. Ich fragte hier in erster Linie nach bestimmten vorherrschenden Mustern, die dann in Form eines Textextraktes oder einer themenbezogenen Synopse, welche die Einheit der Transkripte auflöste, in die Auswertung und Datenpräsentation mit einbezogen wurden. Diese Vorgehensweise erlaubt die hinter singulären Aussagen sichtbar werdenden Strukturmerkmale und -relationen der Szenen und ihrer spezialisierten Teilnehmer offen zu legen. Gleichzeitig erlaubt diese vergleichende Strategie die Offenlegung bestimmter Inszenierungs- und Selbstdarstellungsformen der Befragten gegenüber dem Forscher. Dadurch kann die Gefahr, dass der Forscher nur speziell für die Interviewsituation konstituierte Selbstdarstellungen und Täuschungsmanöver wiedergibt, systematisch gemindert werden. So zeigte sich z.B. während der Datenerhebung, dass einige Befragte ihre Verhaltensformen zu verharmlosen oder Selbstzweifel und Probleme zu verheimlichen suchten. Insbesondere Problembereiche, wie z.B. das Vorkommen unfreiwilliger Handlungen wurden immer wieder negiert, obwohl sie in den ‚Randzonen’ des SM und insbesondere auch bei den Hooligans doch des Öfteren vorkommen. Einige weitere Hinweise sind noch anzuschließen: Die vielfältigen Feldnotizen (vgl. Lofland 1979) sind ebenfalls unter Verwendung dieser Auswertungsstrategien in die Analyse eingeflossen. Die ausgewerteten Daten und Begriffe aus der Szene sind im Fließtext generell kursiv gedruckt. Interviewpassagen sind entweder kursiv in den laufenden Text integriert oder in Synopsen (eingerückt) herausgestellt. 37 II. Die empirische Analyse - Zur Phänomenologie gewaltaffiner Spezialkulturen In dem nun folgenden empirischen Teil der Arbeit soll die Faszination von Gewalt als Mittel zur Generierung außeralltäglicher Erfahrungen am Beispiel der Sadomasochisten, der Paintballer und der Hooligans dargestellt werden. Besonderes Augenmerk liegt demnach auf der emotionalen Komponente eines exklusiven, zeitlich eingegrenzten Erlebens, das als Thrill, Kick oder Grenzerfahrung bezeichnet werden kann. Zum besseren Verständnis der sich dahinter verbergenden Motivationsstrukturen, insbesondere jedoch der Einordnung innerhalb einer Gewaltdiskussion, genügt es nicht, dieses Moment isoliert zu betrachten. Vielmehr muss auch nach den Rahmenbedingungen gefragt werden: Biographien und Zugangsmuster sind ebenso zu berücksichtigen wie eine exakte Beschreibung der Phänomene sowie ihrer organisatorischen und sub- bzw. spezialkulturellen Einbettung. Die Daten der vorliegenden Arbeit wurden im Rahmen unterschiedlicher, groß angelegter Forschungsprojekte, in denen ich zwischen 1990 und 1996 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Trier und danach als freie Mitarbeiterin für die Arbeitsgemeinschaft sozialwissenschaftliche Forschung und Weiterbildung e.V. an der Universität Trier (ASW) gearbeitet habe, erhoben. Vor diesem Hintergrund ist die Struktur der Analyse uneinheitlich. Wie bereits erwähnt, nimmt das Phänomen des Sadomasochismus als außeralltägliche Erfahrung (inhaltlich) den größten Teil der folgenden Analyse ein. Mit diesem Thema habe ich mich über mehrere Jahre beschäftigt und entsprechend umfangreiches theoretisches wie auch empirisches Material zusammengestellt. Dies war der Ausgangspunkt meiner Überlegungen zum Thema Außeralltäglichkeit und Gewalt. Im Laufe meiner weiteren empirischen Arbeit im Rahmen anderer Forschungsprojekte zum Thema Jugendkultur und Gewalt haben sich dann Parallelen gezeigt, die ich mit den Paintball-Spielern und den Hooligans aufgreife bzw. thematisiere. Die empirische Analyse zum Sadomasochismus nimmt ihren Ausgangspunkt bei typischen Zugangsmustern und Beziehungsformen. Im Anschluss daran werden Codes und Symbole sowie das sadomasochistische Szenario bzw. die Praktiken dargestellt. Schließlich geht es um Faszinationen, Gefühle und Erlebnismuster und ihre Trennung vom Alltagsrahmen. Zudem wird auf das Problem der Gewalt eingegangen. Besonderes Augenmerk liegt dann noch einmal auf der Analyse des weiblichen Sadomasochismus - dies mit Blick auf die Diskussion zum Masochismus der Frau Anfang der neunziger Jahre; aber auch vor dem Hintergrund, dass 38 andere gewaltaffine Spezialkulturen überwiegend durch männliche Mitglieder gekennzeichnet sind. Hooligans und Paintballer werden anhand einzelner Gruppen innerhalb der Szenen betrachtet. In Anlehnung an die Konzeption des Forschungsprojektes ‘„Ich will halt anders sein wie die anderen“ - Abgrenzung Gewalt und Kreativität bei Gruppen Jugendlicher’ (vgl. Eckert u.a. 1998; 2000) folgt die Darstellung einem Analyseraster, das eine Rekonstruktion der jeweiligen Gruppenwirklichkeiten ermöglicht und die Vergleichbarkeit der Gruppen erlaubt (hier im ‘Teilprojekt’: Paintballer und Hooligans, im Gesamtprojekt auch: Punks, rechte Gruppierungen, multiethnische Gruppen, Bosnier oder Breakbeater). 1) Herkunft und aktuelle Lebenssituation: Hier geht es um den Einfluss lebensweltlicher Hintergründe (Eltern, Wohnung, Bildung) auf die Zugehörigkeit zur jeweiligen Spezialkultur. 2) Gruppenwirklichkeit: Die ‘Entstehungsbedingungen’ der Gruppe geben Auskunft über die Umstände der Gruppenbildung, den Bestehungszeitraum etc. Das ‘Selbstverständnis’ zeigt (jugend)kulturelle bzw. weltanschauliche Bezugsszenen und deren Interpretation in der Gruppe. 3) Wahrgenommene Gruppenperipherie: Hier ist beschrieben, wie die Gruppe/Szene durch die Umwelt wahrgenommen und bewertet wird, und wie sich die Gruppe demgegenüber selbst sieht. 4) Intergruppenbeziehungen: ‘Allianz’ umfasst die akzeptierenden und freundschaftlichen Beziehungsformen. ‘Ambivalenz’ bezeichnet jene Beziehungsmuster, die sich durch uneindeutige und wechselnde Bewertungen auszeichnen. Besonders wichtig ist die ‘Abgrenzung’ von „anderen“, die negativ bewertet werden. 5) Gruppenverlauf: Die Rekonstruktion des Gruppenverlaufs soll Aussagen über die ‘Eigendynamik’ von Gruppenprozessen und vor allem auch über deren Stabilität und typische Auflösungsmuster ermöglichen. 39 1. Sadomasochismus: Szenen und Rituale Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre wurde der deutsche Buch- und Zeitschriftenmarkt von Selbstbekenntnissen vor allem masochistischer Frauen nahezu überflutet. Mit teilweise missionarischem Charakter traten Männer und Frauen mit ihrem ‘Sadomasochismus’ aus der Anonymität, und fast schon schämen mussten sich diejenigen, die immer noch eine langweilige, weil ‘normale’ Sexualität praktizierten. Es gab kaum eine Talkshow, kaum ein Magazin (ob Stern, Focus, Spiegel, Lifestyle- oder Frauenzeitschrift), das sich nicht dieser besonderen Thematik mehr oder weniger sachlich, mehr oder weniger ‘sensationsgeil’ angenommen hat. International und auch in Deutschland hat sich bereits seit vielen Jahren eine gut funktionierende Szene etabliert, in der Menschen ihre Obsessionen von Dominanz, Submission und Gewalt - sadomasochistische Neigungen - ausleben können. Diese Szene ist in sich stark ausdifferenziert entsprechend grundsätzlicher sexueller Orientierung (heterosexuell/homosexuell) und der Vorliebe für spezifische Praktiken (vgl. Grimme 2000; Hitzler 1993; Spengler 1979; Steinmetz 1990). Die Etablierung der Thematik in den Medien sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass diesem Phänomen in der breiten Öffentlichkeit nach wie vor das Stigma des Kranken, Perversen, ja sogar Kriminellen anhaftet. Vor diesem Hintergrund wurde von 1991 bis 1993 unter der Leitung von Prof. Dr. Roland Eckert eine von der DFG geförderte Studie durchgeführt, die sich der Thematik aus soziologisch-ethnographischer Perspektive angenommen hat. Sowohl der heterosexuelle als auch homosexuelle (Schwule und Lesben) Sadomasochismus wurden untersucht. Es wurden Zugangsmuster, Praktiken und Motivstrukturen analysiert sowie die Bedeutung der Phantasien und der Pornographie herausgearbeitet (vgl. Wetzstein u.a. 1993). Die hier vorliegende Analyse spiegelt meine Arbeit im Rahmen dieser Studie wider.26 26 Zu den Themen ‘Die Bedeutung der Phantasien’, ‘Die Rolle der Pornographie’, ‚AIDS und SM’, ‚Abweichende Karrieren’ sowie zur ausführlichen und differenzierten Darstellung des ‘homosexuellen Sadomasochismus’ vgl. Wetzstein u.a. (1993). 40 Empirie Von der Forschergruppe wurden insgesamt 65 auf Tonband aufgezeichnete Interviews mit einer Dauer von 40 bis 180 Minuten durchgeführt. Hinzu kamen Gruppendiskussionen und Beobachtungen sowie schriftliche Befragungsunterlagen, deren Länge zwischen drei und 50 Seiten variiert. Insgesamt haben wir 143 Personen befragt. Dass die Zahl der interviewten Personen höher ist als die Zahl der Interviews, erklärt sich aus dem Umstand, dass in manchen Interviews zwei oder drei - resp. in den Gruppendiskussionen noch mehr - Personen befragt wurden. Die Soziodemographie und sexuellen Präferenzen der Befragten wurden zudem standardisiert erfasst und ausgewertet. Zur Überprüfung der Validität der Daten und zur Aktualisierung habe ich diesen Datenpool durch ein weiteres Interview im August 2000 mit zwei Szenemitgliedern, Beobachtungen und Recherchen im Internet sowie in Szeneläden (Frankfurt , Hamburg und Leipzig) ergänzt. Ausgewählte Merkmale unter den Befragten An dieser Stelle möchte ich auf die soziodemographischen Merkmale sowie die Rollenverteilungen im quantitativen Sinne eingehen. Die hier dargestellten Ergebnisse sind auf Grund stichprobentheoretischer Voraussetzungen und Bedingungen jedoch nicht verallgemeinerbar, sondern können nur lediglich zur Hypothesenbildung herangezogen werden. Soziodemographie: Sadomasochistische Verhaltensformen und Interessen kommen in allen Altersbereichen vor, wobei die meisten Befragten bis 40 Jahre alt waren. Der Jüngste war 18 Jahre und der Älteste 78 Jahre alt. 41 Hinsichtlich der einzelnen Variablen ergaben sich folgende Verteilungen: Tab.: Die Altersstruktur der Befragten Altersklasse Prozent 18-30 Jahre 38,8% 31-40 Jahre 34,5% 41-50 Jahre 10,1% 51-60 Jahre 10,8% über 60 Jahre 5,8% Gesamt: 100,0% Auch bei unseren Beobachtungen in Studios und Sexshops haben wir festgestellt, dass offenbar alle Altersklassen von Erwachsenen in der Szene repräsentiert (und aktiv) sind. Bezüglich der geschlechtlichen Verteilung hat Spengler (1979, S. 57f) in seiner Studie darauf hingewiesen, dass sich nur wenige Frauen in der SM-Szene bewegen: „Das Zahlenverhältnis von Männern und Frauen kann anhand der Zahlen aus den heterosexuellen Teilgruppen der Organisationen, die wir kennen, ungefähr abgeschätzt werden. (...) In der regionalen Teilgruppe dieser Organisation, die wir genauer kennengelernt haben, gibt es etwa 50 feste und weitere 100 locker assoziierte Mitglieder, aber nur etwa 20 Frauen. (...) Der Kontakt zu einer Organisation kann die Tatsache nicht überbrücken, daß nur extrem selten einmal nichtprostituierte Frauen zu einem sadomasochistischen Erlebnis bereit sind.“ Dieses Bild wird von einigen älteren Studien27 bestätigt. Für unsere Untersuchung ergibt sich folgende geschlechtsspezifische Verteilung: 27 Vgl. z.B. Gebhard (1969); Hunt (1974); Litman/Swearingen (1972) 42 Tab.: Die Verteilung der Geschlechter Geschlecht Prozent Weiblich 38,0% Männlich 62,0% Gesamt: 100,0% Insgesamt haben wir mehr Männer als Frauen befragt.28 Von diesen Daten kann zwar noch nicht auf den Frauenanteil in der SM-Szene geschlossen werden, es scheint aber zutreffend zu sein, dass es mehr Männer als Frauen in der SM-Szene gibt. Um diese Hypothese weiter zu prüfen, haben wir einige andere Analysen durchgeführt, so z.B. die Auswertung von Kontaktanzeigen. Sie bestätigen dieses Bild: Von 143 Partnergesuchen in einem SM-Magazin wurden 104 von Männern aufgegeben und 39 von Frauen, wobei bei letzteren in 23 Fällen finanzielle Interessen eine Rolle spielten. Schließlich haben wir selbst mehrere Annoncen in szenetypischen Magazinen aufgegeben. Es meldeten sich fast ausschließlich Männer. Dieses Phänomen ist aber kein Charakteristikum des SM-Bereichs, denn bei anderen Sexualitäten sind Männer in der Anzeigenszene und den entsprechenden Realisierungsformen ebenfalls aktiver. Auch hierzu haben wir Auszählungen durchgeführt. In einem Kontaktmagazin, das auf verschiedene sexuelle Interessen (z.B. Gruppensex, Fetischismus) abzielt, ergab sich folgende Geschlechterverteilung: Gegenüber 425 Männern, die eine Partnerin suchten, annoncierten nur 46 Frauen. Daneben suchten noch 72 Paare überwiegend eine weibliche Ergänzung. Eine von uns geschaltete Annonce in einer überregionalen Tageszeitung bestätigt dieses Ergebnis. Aus dem Anzeigentext war weder zu erkennen, ob ein Mann oder eine Frau gesucht wird, noch waren Rückschlüsse auf sexuelle Präferenzen möglich.29 Das Resultat spricht für sich: Innerhalb von zwei Tagen haben wir über 200 Anrufe erhalten, ausnahmslos von Männern, die eine Partnerin für die unterschiedlichsten Sexualpraktiken gesucht haben. Auch wenn solche Einzelergebnisse nicht generalisierbar sind, können sie als Indikator für den chronischen Männerüberschuss in der Szene gewertet werden. 28 In der SM-Szene spielen mitunter auch Transsexuelle und Transvestiten eine Rolle. Sie sind gelegentlich in den Studios oder auf privaten Treffen zu finden. Allerdings konnten wir - trotz umfangreicher Bemühungen niemanden aus diesem Kreis interviewen und sind deshalb auch nicht weiter auf diese Frage eingegangen. 29 Mit dieser Annonce sollten wir einem Paar, das uns angeschrieben hatte, unser Interesse an einem Interviewgespräch bestätigen. In der Samstagsausgabe einer bestimmten Zeitung haben wir daraufhin folgenden - mit diesem Paar vereinbarten - Text veröffentlicht: Möchten Euch Kennen Lernen. 43 Es wird deutlich, dass Männer beim Ausleben ihrer Sexualität eher in eine Öffentlichkeit gehen, z.B. indem sie Annoncen aufgeben oder Gruppensex-Veranstaltungen besuchen. Aber nicht nur wegen dieses offensiveren Verhaltens sind sie in den verschiedenen Szenen überrepräsentiert, sondern auch deshalb, weil Frauen ihre Sexualität offensichtlich eher privat inszenieren. So hat z.B. unsere Studie zur Nutzung von Videopornographie (vgl. Eckert u.a. 1990) gezeigt, dass Frauen durchaus solche Filme anschauen, gleichzeitig aber den Weg in die Videothek eher meiden. Ausleihen ist eine Männerdomäne. Ein ähnlicher Effekt könnte in der SM-Szene wirksam werden, wenn es darum geht, an Gruppentreffen und Partys teilzunehmen. Daraus nun zu folgern, Frauen interessierten sich weniger für SM, wäre problematisch. Denn bisher ist eher unzureichend untersucht, was sich in den privaten Räumen abspielt. Trotz der unergiebigen Datenlage in Bezug auf die Quantifizierung der Geschlechteranteile in der SM-Szene, scheint sich der Frauenanteil aber in den letzten Jahren - und darin stimmen alle von uns kontaktierten Szenemitglieder und -insider überein - kontinuierlich erhöht zu haben.30 Die Differenzierung nach bestimmten sozio-ökonomischen Merkmalen kann anhand der Variablen ‚Bildungsabschluss’ und ‚beruflicher Status’ dargestellt werden: Tab.: Der Bildungsabschluss der Befragten Bildungsabschluss Prozent Niedrig 10,0% Mittel 26,9% Hoch 63,1% Gesamt: 100,0% Die hohen Bildungsabschlüsse überwiegen mit einem Anteil von fast zwei Dritteln deutlich. Die Aufschlüsselung nach dem beruflichen Status zeigt folgende Verteilung: 30 Aus Untersuchungen in den USA geht hervor, dass Frauen in der sadomasochistischen Spezialkultur zunehmend repräsentiert sind (vgl. Moser 1988; Breslow u.a. 1985). 44 Tab.: Beruflicher Status Berufsgruppe Prozent Selbständige/Freiberufler(in) 21,9% Leitende Angestellte 14,5% Angestellte 39,5% Beamter/in 5,6% Arbeiter(in) 2,4% Student(in) 8,9% Sonstige 7,2% Gesamt: 100,0% Statushöhere Berufsgruppen sind mit einem recht hohen Anteil repräsentiert. Hier schließt sich die Frage an, inwieweit sadomasochistische Sexualität vorzugsweise bei höheren Schichtsegmenten zu finden ist. Wir haben eine Reihe von Einzeldaten erhoben, die diese Hypothese stützen. Auf privaten Treffen, Partys, Feten, Großveranstaltungen oder DominaStudios sind hauptsächlich Akademiker, leitende Angestellte etc. anzutreffen. Personen, die aufgrund ihres Berufes oder ihrer Tätigkeit viel mit Sadomasochisten zu tun haben (z.B. Dominas, Zuhälter, Therapeuten, Ärzte), berichten übereinstimmend, dass die Klientel aus den oberen Schichten in der Mehrheit ist. Trotz dieser Einzelergebnisse stehen repräsentative Daten für diese Hypothese noch aus, so dass verallgemeinerbare Schlüsse gegenwärtig nicht möglich sind. Neben den sozio-demographischen Variablen interessierte uns auch die Verteilung von Sexualitätsmerkmalen. Bezogen auf die Unterscheidung homo-, bi- und heterosexuell ergab sich für unsere Studie folgendes Bild: 65% der von uns befragten Personen waren heterosexuell, ca. 8% bisexuell und etwa 25% homosexuell. Ein weiteres Merkmal ist die eingenommene SM-Rolle. Die Bezeichnungen in der Szene für die einzelnen Rollen variieren. Manche Personen benutzen die Begriffe passiv/aktiv für die Typisierung milderer, sadis- tisch/masochistisch hingegen für die Kennzeichnung härterer SM-Ausprägungen. Diese Begrifflichkeiten sind in ihrer Verwendung aber sehr uneinheitlich, weswegen sie in dieser Arbeit synonym gebraucht wird. Im Einzelnen sind die Rollenmuster folgendermaßen verteilt: 45 Tab.: Präferierte SM-Rolle Präferierte SM-Rolle Prozent Aktiv 31,7% Wechselnd 23,9% Passiv 44,4% Gesamt: 100,0% Etwas weniger als die Häfte der Befragten ist passiv, rund ein Drittel ist aktiv orientiert, und ein Fünftel der Befragten gab an, beide Rollen einzunehmen. Die quantitative Auswertung unserer Befragungsdaten in Bezug auf den Zusammenhang von Geschlecht und präferierter SM-Rolle erbrachte im Einzelnen folgende Verteilung: Tab.: Geschlechtszugehörigkeit und SM-Präferenz Präferierte SM-Rolle Männer Frauen Aktiv 28,7% 37,0% Wechselnd 17,3% 35,2% Passiv 54,0% 27,8% 100,0% 100,0% Gesamt: Zunächst einmal ist darauf hinzuweisen, dass das sogenannte ‚role switching’, also die wechselnde Einnahme der S- und der M-Rolle, bei Männern und Frauen vorkommt, wobei Frauen die Rolle im SM-Arrangement deutlich häufiger wechseln. Noch markanter sind die Unterschiede allerdings im Hinblick auf die passive Rolle: Fast doppelt so viele Männer als Frauen geben an, passiv orientiert zu sein. Masochismus ist also, etwas drastisch gewendet, zuallererst ein typisch männliches und weniger ein weibliches Phänomen. Die Rollenpräferenz bei den Frauen ist fast gleichmäßig über alle Rollenoptionen verteilt, allerdings sind sadistische Frauen leicht in der Überzahl.31 Die Frage nach der Bedeutung und der Verbreitung des Masochismus von Frauen müsste auf dieser Basis also neu gestellt werden, denn weder ein natürlicher noch ein zwanghaft kulturell codierter spezifischer weiblicher Masochismus kann angenommen werden (vgl. Kap. III. 1.9.1). Erwähnt werden soll noch, dass in manchen SzeneTeilen Geschlechtszugehörigkeit und SM-Rolle als Ausdruck einer Prestige-Hierarchie begriffen werden. Von oben nach unten rangiert ergibt sich dabei folgende Reihenfolge: S- 31 Professionelle Dominas sind in dieser Analyse nicht berücksichtigt. 46 Mann - S-Frau - M-Frau - M-Mann. Diese Wertung ist uns aber nur selten begegnet und keineswegs generell üblich, so dass ich im Folgenden nicht weiter auf diesen Aspekt eingehe. 1.1 Exkurs: Sadomasochismus im Spiegel öffentlicher Diskussion und wissenschaftlicher Theorien 1.1.1 Sadomasochismus und öffentliche Meinung Individuen, die Vorlieben für sadomasochistische Praktiken zeigen, haftet das Stigma des Pathologischen, Triebhaften und Unberechenbaren an (vgl. Schorsch 1979; Walter 1985). Es ist unbestritten, dass es Problemfälle gibt, in denen Menschen ihre sadistischen Neigungen in Verbindung mit sexueller Befriedigung nicht kontrollieren können und dass als kriminell oder krankhaft zu bewertende Handlungen begangen werden. Die Tatsache, dass es solche gestörten Persönlichkeiten gibt, besagt aber noch nicht, dass alle Individuen, die sadomasochistische Sexualpraktiken bevorzugen, potentielle Lustmörder oder Triebtäter sind - also eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellen und deshalb therapeutischer Hilfe bedürfen oder ‘eingesperrt’ werden müssen. Diese Vorurteile innerhalb der öffentlichen Meinung gegenüber dem Sadomasochismus sind nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass sich innerhalb der wissenschaftlichen Diskussion bisher keine einheitliche Bewertung herauskristallisieren konnte. Die Forschung in diesem Bereich hat vielmehr heterogene Ergebnisse hervorgebracht, und man hat sich weitestgehend mit den möglichen Ursachen und Therapieformen beschäftigt (vgl. Kap. III. 1.1.3). Daneben werden häufig Fragen aufgeworfen, ob und inwiefern sich die verschiedenen Formen von Sadismus und Masochismus einander bedingen; es werden also mögliche gesellschaftliche und soziale Ursachen des sexuellen Sadomasochismus diskutiert.32 Die Uneinheitlichkeit der wissenschaftlichen Datenlage im Bereich ‘abweichenden’ Sexualverhaltens hängt mit dem Phänomen der menschlichen Sexualität insgesamt zusammen. Sie hat ihren Ursprung darin, dass es keine normierte Sexualität im Sinne eines instinktgesicherten Verhaltens gibt. Deshalb will ich im Folgenden - bevor ich auf die aktuellen Manifestationen des Sadomasochismus eingehe - neben biologischen Bedingungen die Transformationen menschlicher Sexualität aus historischer, ethnologischer und soziologischer Perspektive auf- 32 Vgl. Barry (1983); Burgard/Rommelspacher (1989); LeSoldat (1989); Schorsch/Becker (1977); ferner Lawrenz/Orzegowski (1988) oder Valverde (1989) 47 zeigen. Denn ohne die Einbeziehung der sozialen und kulturellen Transformationen kann nur eine bloße Momentaufnahme gelingen, die in ihrer A-Historizität wenig aussagekräftig ist. Menschliche Affekte im Allgemeinen und die Sexualität im Besonderen resp. ihre verschiedenen ‘abweichenden’ Varianten sind - so eine im zivilisationstheoretischen Kontext formulierte Schlüsselthese - nur dann zu bewerten, wenn sie in eine historisch-rekonstruierende Analyse eingebettet sind. Eine solche Perspektive zeigt nämlich, dass die Sexualität des Menschen vielfältigen sozio-kulturellen Formungen unterliegt. 1.1.2 1.1.2.1 Konstitutive Merkmale menschlicher Sexualität Der Sexualtrieb Lange Zeit wurde angenommen, dass es sich bei der menschlichen Sexualität um ein instinktives Verhalten, gleichsam um einen festgelegten Verhaltenskomplex handelt. Der Mensch unterscheidet sich aber gerade vom Tier durch das Fehlen artspezifischer Instinkte. Allenfalls lassen sich Instinktresiduen feststellen. Auf die Instinktentbundenheit weist nicht zuletzt die Unterschiedlichkeit der Verhaltensformen in verschiedenen Gesellschaften hin. Zweifellos ist menschliche Sexualität - wie andere Primärtriebe auch - durch endogen erzeugte Antriebe bedingt. Dennoch wird das konkrete Sexualverhalten nicht von diesen ‘Trieben’ geregelt, sondern ist die Folge sozial-kultureller Definitionen von Befriedigung. (Sexual)Kultur stellt für den Menschen gleichsam einen Instinktersatz dar (vgl. Hahn 1972). Den Ergebnissen des Verhaltensforschers Konrad Lorenz zufolge unterscheidet sich menschliche Sexualität durch zwei Merkmale vom instinktgesicherten Fortpflanzungsverhalten der Tiere: 1) Eine weitergehende Instinktreduktion geht einher mit einem sexuellen Antriebsüberschuss. Das menschliche Geschlechtsleben zeichnet sich durch das Fehlen eines jahreszeitlichen Rhythmus der sexuellen Antriebe (Brunstzeiten) aus, und die sexuellen Bedürfnisse von Mann und Frau sind weitaus größer als ihre Fortpflanzungsfähigkeit. Der Mensch verfügt weder im Einsatz noch im Ablauf seines Sexualverhaltens über angeborene Schemata und eindeutige Instinktmechanismen. Sein Verhalten beruht nicht auf angeborenen Handlungsketten mit dazugehörigen Endhandlungen (vgl. Lorenz 1937). 2) Das sinnliche Lustgefühl ist vom Gattungszweck ablösbar. Gehlen (1974) spricht in diesem Zusammenhang von einer fast universalen Plastizität menschlichen Sexualverhaltens. Die Vertreter der modernen Anthropologie (z.B. R. Benedict, B. Malinowski, 48 M. Mead) sehen in der Sexualität - wie auch in anderen biologisch bedingten Antrieben des Menschen - weitgehend unspezialisierte Bedürfnisse, die gerade in ihrer biologischen Ungesichertheit der Formung und Führung durch soziale Normierung und der Stabilisierung in einem kulturellen Überbau von Interessen bedürfen. Ähnlich argumentiert auch der Soziologe Schelsky (1971, S. 135): „Dabei erweist sich die instinktschematisch ungesicherte Plastizität menschlicher Sexualbedürfnisse gerade als eine Chance zur Ausbildung einer höheren Selektivität der Sexualziele, die über den bloßen Gattungszweck hinausführt und die Einfügung von seelischen, kulturellen oder sozialen Differenzierungen in die sexuelle Antriebssphäre zuläßt.“ Von einer ausschließlich biologischen Determination menschlicher Sexualität kann also nicht gesprochen werden, sondern neben endogenen Antrieben sind kulturelle Bedingungen, Normen und Werte der jeweiligen Gesellschaft für das konkrete Sexualverhalten verantwortlich. Sie bestimmen das Bild der Sexualität, wie im Folgenden gezeigt werden soll. 1.1.2.2 Sozio-kulturelle Formung sexueller Verhaltensweisen Beschäftigt man sich mit der Frage der ‘Normalität’ resp. ‘Abweichung’ sexueller Verhaltensweisen, so zeigt ein Blick auf fremde Kulturen und die unterschiedlichen historischen Epochen, dass Sexualität resp. abweichendes Sexualverhalten auch sozio-historisch bedingt ist. Jede Gesellschaft entwickelt für das Sexualverhalten ihrer Mitglieder Maßstäbe, Regeln und Normen, die zwischen den verschiedenen Gesellschaften und historischen Epochen variieren. In dem Ausmaß, in dem eine Gesellschaft ihre eigenen Normen und Werte dogmatisiert, stempelt sie gleichzeitig Individuen mit anderen Vorstellungen zu Außenstehenden und Abweichenden, was sich in extremen Fällen in der strafrechtlichen Verfolgung oder Pathologisierung spezifischer Verhaltensmuster äußert. Dies weist schon darauf hin, dass sexuelle Normen immer relativ sind, ihr konkreter Inhalt hängt von gesellschaftlichen Bedingungen ab. Kultur konstituiert demnach ein moralisch-ethisches Wertesystem, das Triebäußerungen, Phantasien und Verhaltensweisen gleichsam ‘formt’ (vgl. Gindorf/Haeberle 1986; Kentler 1973). Deshalb soll im Folgenden die Bedeutung sexueller Normen aus ethnologischer und historischer Perspektive dargestellt und im Anschluss daran die zivilisationstheoretische Genese des Perversionsbegriffs erläutert werden. 49 Die ethnologische Perspektive Bereits die Untersuchungen der frühen Ethnologie zeigen, dass die abendländische Zivilisation nicht an der Absolutheit eigener Normen und Wertvorstellungen festhalten kann, ohne sie zu hinterfragen: Ein Blick auf fremde Kulturen macht deutlich, dass die Begriffe ‘Abweichung’ und ‘Normalität’ jeweils anders gewichtet werden. Dass das ‘Normale’ im Bereich der Sexualität interkulturellen Varianzen unterliegt, beschreibt beispielsweise Mead (1965) in ‘Kindheit und Jugend auf Samoa’ sehr anschaulich. In dieser Kultur sind Onanie, Homosexualität oder auch ungewöhnliche Formen der Heterosexualität weder verboten noch werden sie gefördert. Die Varianten heterosexuellen Verkehrs, die als ‘normal’ angesehen werden, sind zahlreich. Die Etikettierung ‘Abweichler’ in diesem Bereich ist eher selten. Demgegenüber konstatiert Malinowski (1979) für die Eingeborenen der Trobriand-Inseln, dass ‘Verirrungen’ des Geschlechtstriebes (Sexualverhalten wie Sodomie, Homosexualität, Fetischismus und Masturbation) verpönt sind. Inwieweit Sadismus und Masochismus in dieser primitiven Kultur vorkommen, kann Malinowski im Rahmen seiner Feldstudien nicht eindeutig beurteilen. Er stellt aber fest, dass Formen sexueller Praktiken wie Kratzen, Beißen und Spucken, die vor allem der Mann über sich ergehen lassen muss, als Element der Erotik im Sexualleben der Trobriander bekannt sind. Am Beispiel einiger Papua-Stämme in Neu-Guinea zeigt BleibtreuEhrenberg (1979), dass das Phänomen der Pädophilie dort ein Mittel zur Herstellung sozialer Integration darstellt und homosexuelle Kontakte problemlos gehandhabt werden. Bei den Siwahl in Nordafrika war es bis zu Beginn dieses Jahrhunderts selbstverständlich, dass alle ‘normalen’ Männer homosexuellen Geschlechtsverkehr hatten (vgl. Haeberle 1983). Mit solchen Ergebnissen haben Anthropologie und Ethnologie wesentlich zu der Erkenntnis beigetragen, dass die abendländischen Sexualnormen keineswegs Universalien sind, wie z.B. von konservativen Moraltheoretikern der katholischen Kirche noch heute angenommen wird. Sie sind vielmehr sowohl in der Handlungs- als auch in der Wertdimension Produkt kultureller Erfahrung und Sinnsetzung. Diese Auffassung zählt mittlerweile zu den Basisannahmen soziologischer und ethnologischer Theorien, was aus der folgenden Einschätzung von Berger/Luckmann (1972, S. 52) deutlich wird: „Wenn der Begriff ‘normal’ irgend etwas anthropologisch Fundamentales oder kulturell Universales bezeichnen soll, so kann weder dieser Begriff selbst noch sein Gegenteil auf die zahllosen Formen menschlicher Sexualität rechtens angewendet werden. (...) Jede Kultur hat eine für sie bezeichnende Auffassung von Sexualität, mit eigenen Spielregeln für sexuelles Verhalten und eigenen ‘anthropologischen’ Voraussetzungen. Die Relativität dieser Auffassungen, ihre große Vielfalt und ihr Reichtum an Erfindungen verweisen darauf, daß sie eher Produkte sozio-kultureller Schöpfungen als einer biologisch fixierten Natur sind.“ 50 Gerade für das Sexualverhalten im Abendland lassen sich bei sozio-historischer Betrachtungsweise Differenzen zwischen den einzelnen historischen Epochen nachzeichnen. Diese Perspektive macht deutlich, dass die menschlichen Affekte und ‘Triebe’ primär ‘soziogenetischen’ und nicht ‘bio-genetischen’ Ursprungs sind. Die Disziplinierung der Sexualität Dass Sexualität und die damit verbundenen Normen nicht schon immer so waren, wie sie heute sind, zeigt nicht zuletzt ein Blick in die Antike. Im alten Griechenland beispielsweise wird Sexualität als eine elementare Lebenskraft angesehen und alle sexuellen Gefühle werden von daher als grundsätzlich gut bewertet. Sexualität ist Bestandteil der Alltagskultur und wird in zahlreichen Schriften thematisiert. Man spricht zwanglos von Sexualität und die griechische Vasenmalerei gibt hinreichend Zeugnis für das breite Spektrum sexueller Praktiken (vgl. Reinsberg 1989). Das gilt z.B. für die Päderastie. Sie bedeutete für die Griechen die Liebe eines Mannes zu einem Knaben, wobei ethische und sinnliche Momente nebeneinander existierten: Die Unterrichtung des jüngeren durch den älteren Mann spielte ebenso eine Rolle wie die körperliche Liebe zwischen beiden. Homosexuelle Praktiken sind sowohl bei Männern als auch bei Frauen anzutreffen. Neben der Homosexualität gibt es aber auch zahlreiche andere sexuelle Verhaltensvarianten: Begriffe wie Nymphomanie, Päderastie, androgyn, Zoophilie etc. sind auf Betätigungen bezogen, die schon bei Homer erwähnt werden (vgl. Tannahill 1982). Die zwanglose Handhabung der Sexualität stellt die sittliche und moralische Kontrolle in die Zuständigkeit des Individuums. Die Griechen haben in dieser Zeit keinen religiösen Glauben oder Institutionen, die mit der Autorität ausgestattet sind, sexuelle Verbote auszusprechen und deren Befolgung zu erzwingen. Lediglich der Glaube an den jungen Gott Eros, Sinnbild der Liebe und des sexuellen Verlangens, der je nach Laune von den Menschen Besitz ergreifen konnte, ist von Bedeutung. Sich seinem Lenken zu widersetzen, wäre frevelhaft und sinnlos. Nahezu alles ist erlaubt, was im Sinne der ‘enkrateia’ (maßvoller Genuss) realisiert wird, wie es Foucault (1989, S. 237) beschreibt: „Der Gegensatz zwischen einem Mann, der sich zu mäßigen und beherrschen weiß, und einem, der sich den Lüsten hingibt, war vom Gesichtspunkt der Moral aus viel wichtiger als der zwischen verschiedenen Kategorien von Lüsten, denen man sich am liebsten widmen mochte.“ Auch in der römischen Gesellschaft ist ein breites Spektrum sexueller Verhaltensmuster erlaubt und toleriert. Im Unterschied zur hellenistischen Sexualität gewinnen in Rom brutale und sadistische Elemente an Bedeutung (Hyde 1964). Die Rute (fasces) als Instrument der häuslichen Züchtigung und als Zeichen der Herrschaft spielt eine wichtige Rolle. Ihr Einsatz variiert dabei von milden Riemen (scutica), dem Rohrstab (ferula) und der Gerte (virga) bis 51 hin zu schweren Arten von Peitschen (flaggelum). Die Rute ist aber nicht nur Züchtigungsund Machtwerkzeug, sondern dient auch zur sexuellen Stimulanz. Krafft-Ebing (1886/1984) verweist auf die Dichtungen Juvenals, aus denen hervorgeht, dass nicht nur Männer ‘auf diese Weise zu Lüsternheit erregt und entflammt wurden’, sondern auch römische Frauen sich um des Vergnügens Willen peitschen ließen. Auch im ‘Satyricon’ des Gaius Petronicus finden sich Hinweise auf flagellantische Sexualpraktiken. Flagellantismus war aber nicht die alleinige ‘Spielart’; im Gegenteil, „jede Art sexueller Perversion, von der oralen Kopulation (fellatio) bis zur Sodomie (paedicatio) und der Defloration kleiner Mädchen“ (Hyde 1964, S. 71) ist in zahlreichen Zeugnissen dokumentiert. Unter dem Einfluss des Christentum beginnen sich die moralischen und ethischen Maßstäbe in Europa grundlegend zu ändern. Askese und Keuschheit werden in einem bisher nicht gekannten Ausmaß idealisiert und für alle verbindlich erklärt. Foucault (1983, S. 31) zufolge ist nicht nur die unmittelbare körperliche Äußerung von dieser Entwicklung betroffen, sondern auch der geheime Wunsch, das innere Begehren: „Es ist ein Imperativ errichtet worden, nicht nur die gesetzeswidrigen Handlungen zu beichten, sondern aus seinem Begehren, aus seinem gesamten Begehren einen Diskurs zu machen.“ Die Verinnerlichung vor allem kirchlicher Regeln und die damit beginnende ‘Produktion des disziplinierten Menschen’ (Felhofer 1987) war jedoch ein allmählicher Prozess, bei dem zunächst äußere Zwänge zur Durchsetzung der neuen moralischen Ordnung von zentraler Bedeutung sind. Wo ihre normierende Wirkung entfällt, kümmert man sich recht wenig um die moralischen Prämissen. Erst ganz allmählich - und dies nicht nur im Bereich der Sexualität schlagen die ‘Fremdzwänge’ in ‘Selbstzwänge’ um (vgl. Elias 1976). Die zivilisatorischen Transformationen führen so auch zu tiefgreifenden psycho-genetischen Veränderungen. Affekte und körperliche Reaktionen werden mehr und mehr kontrolliert. Selbstbeherrschung und ‘gutes’ Benehmen (erkennbar z.B. am verstärkten Aufkommen von Benimm-Fibeln) werden zu markanten Charakteristika des ‘zivilisierten’ Menschen. Entscheidend für diese Entwicklung ist die Verfeinerung der Selbstbeobachtungs- und Selbstthematisierungstechniken, als deren materielle Basis Hahn (1982, S. 409) „das Aufblühen der Städte, die größere lokale Mobilität, die Überregionalität des Handels, die stärker werdende berufliche Differenzierung, das Entstehen ausgedehnter Spielräume für persönliche Initiativen, die Entfaltung des geistigen Lebens (Universitäten)“ beschreibt. Elias (1976) zeigt diese Entwicklung am Beispiel der höfischen Gesellschaft, Weber (1972) für den puritanischen Unternehmer und Hahn (1982) für die Katholiken insbesondere seit der Gegenreformation. Nach und nach etabliert sich auf diese Weise eine Selbstkontrollapparatur, 52 die zunehmend als Automatismus funktioniert, und das aus ihr folgende Verhalten wird als ‘natürliches’ Verhalten gewertet - so, wie es immer schon war. Von diesem Prozess ist auch die Sexualität nicht ausgeschlossen. So kann sich schließlich die bürgerliche Sexualordnung des 17. Jahrhunderts nicht nur in öffentlichen Räumen etablieren, sondern dringt auch in das Intim- und Privatleben ein. Es errichtet sich - um mit Foucault (1977, S. 230) zu sprechen, „eine Mikrojustiz der Zeit (Verspätungen, Abwesenheiten, Unterbrechungen), des Körpers (falsche Körperhaltungen und Gesten, Unsauberkeit), der Sexualität (Unanständigkeit, Schamlosigkeit).“ Die damit verbundene Verdrängung der Sexualität aus dem öffentlichen Alltag führt zur Schaffung von Ausweichräumen, in denen Tabuverletzungen mehr oder minder toleriert werden, wie Eckert u.a. (1990, S. 101) für die Pornographie festhalten: „Die Ausgrenzung der Sexualität aus dem Alltag evoziert sozusagen die Schaffung medialer Bildwelten, die zur Konstitution von Ausweichräumen oder Nischen beitragen und in denen man die strengen Alltagsnormen umgehen kann.“ Dies zeigt sich gerade am Beispiel des puritanischen Englands, das gekennzeichnet ist durch den Widerspruch zwischen öffentlicher Sittenstrenge und ihrer gleichzeitigen Überschreitung im Verborgenen (vgl. Kleinspehn 1989). In diesem Zusammenhang entstand hier eine wahre Flut pornographischer Schriften. Im 20. Jahrhundert haben sich die zivilisatorischen Standards verändert; sie werden sichtbar gelockert, aber keineswegs aufgehoben. Mittlerweile ist die Psycho-Genese so weit fortgeschritten, dass in den verschiedensten Bereichen externe Kontrollmechanismen überflüssig geworden sind. Sie werden durch situatives Verhalten ersetzt (vgl. Kap. III. 1.8). Dies gilt auch für den Bereich der Sexualität und Körperlichkeit. Zivilisationstheoretische Aspekte der Perversionen Von der Transformation der Sexualität sind auch die Formen sexuellen Verhaltens betroffen, die heute vor allem in ‘zivilisierten’ Gesellschaften im ‘Kanon der Perversionen’ zu finden sind. In der Antike durchaus zum ‘normalen’ Sexualverhalten gehörend - „as an ordinary part of the range of human eroticism“ (Boswell 1980, S. 333) - werden sie seit Beginn der Neuzeit gerade unter dem Einfluss der Kirche zunehmend verpönt. Das Erlaubte und Verbotene wird nicht mehr - wie im hellinistischen Griechenland - in großen Teilen vom Individuum selbst geregelt, sondern durch Sittenvorschriften und Zwänge, die in engem Zusammenhang mit kanonischem Recht, christlicher Pastoraltheologie und Zivilrecht stehen. Walter (1985) weist darauf hin, dass vor allem seit dem Aufstieg des Christentums zur Staatsreligion das ganze 53 Mittelalter hindurch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts religiöser Fanatismus und inquisitorische Verfolgung dieses Feld beherrscht. Im Mittelalter, als die christliche Kirche den größten Einfluss genießt, war der Unterschied zwischen normalem und abweichendem Sexualverhalten der zwischen Rechtschaffenheit und Sünde. Seit dem Beginn der Moderne reduziert sich der Einfluss der Kirche zugunsten weltlicher Mächte. Der Unterschied zwischen normalem und abweichendem Sexualverhalten ist nun vergleichbar dem zwischen Gesetzestreue und Verbrechen (vgl. Haeberle 1983). Die moralischen Richtlinien der Kirche und die gesetzlichen Bestimmungen der bürgerlichen Gesellschaft werden aber vom ‘normalen’ Individuum nicht als ‘Oktroyierung einer sexuellen Zwangsdiktatur’ empfunden, sondern gehören mit zum selbstverständlichen und ‘gesunden’ Sexualempfinden. Wer ‘es mit Tieren treibt’, wer die sexuelle Erfüllung durch Schmerz erlangt oder wer sein eigenes Geschlecht liebt, wird von der ‘normalen Mehrheit’ als krank, degeneriert oder gar als Verbrecher etikettiert. Gerade die aufkommende Sexualwissenschaft im 19. Jahrhundert etabliert die Medikalisierung der Sexualität im Allgemeinen und die Pathologisierung ihrer Spielarten im Besonderen. Die Justiz tritt eine Vielzahl von Fällen ‘abweichenden’ Verhaltens an die Medizin ab. Theologen und Juristen werden durch Psychiater als die neuen Experten für abweichendes Sexualverhalten abgelöst. Perverse werden zu Kranken, die man nicht für ihr Verhalten verantwortlich machen kann, und die einzig vernünftige Reaktion auf ihr Verhalten ist nicht die moralische Verurteilung oder die gesetzliche Bestrafung, sondern die psychiatrische Therapie. Unter dem wachsenden Einfluss der Psychiatrie werden immer mehr Menschen als ‘Psychopathen’ klassifiziert. Mit der Diskursivierung der Sexualität im Allgemeinen ‘entstehen’ gleichsam neue Formen der Perversion. Hierzu schreibt Foucault (1983, S. 50): „Durch eine Unzahl von Diskursen hat man die juristischen Verurteilungen der kleinen Perversionen vermehrt, hat man die sexuelle Abweichung mit der Geisteskrankheit verkettet, hat man eine Norm der sexuellen Entwicklung der Kindheit bis ins Alter aufgestellt und sorgfältig alle möglichen Abweichungen charakterisiert, hat man pädagogische Kontrollen und medizinische Heilverfahren organisiert, und um der geringsten Phantasien willen haben die Moralisten, aber auch vor allem die Mediziner ein empathisches Greuelvokabular aufgewärmt.“ Die Sexualwissenschaftler dieser Zeit (Psychiater) entwickeln immer spezifischere Verzeichnisse sexueller Abnormitäten und Perversionen. Auffälligkeiten werden erst einmal katalogisiert und mit Namen versehen (z.B. Fetischismus, Koprolagnie, Sadismus, Masochismus): „Der erste Akt der Sexualwissenschaft war also, Ordnung zu schaffen, vergleichbar der Ordnung, die die systematische Botanik im Pflanzenwirrwar schuf, allerdings folgenreicher“ (Schmidt 1988, S. 12). Die Pathologisierung durch die Wissenschaften hat die ungewöhnliche, perverse Sexualität zwar aus der moralischen Betrachtung und strafrechtlichen Verfolgung herausgelöst, jedoch auch gleichzeitig eine neue Zwangs- und Diskriminierungsappara54 tur eingerichtet. Denn mit dem Katalog sexueller Krankheiten steht nun ein Instrumentarium bereit, mit dem alle Menschen, die den sexuellen Konventionen nicht entsprechen, klassifiziert und zu potentiellen Patienten psychiatrischer Behandlung gemacht werden können. Genau so vielfältig wie die Perversionen ist auch das therapeutische Arsenal. Im 19. Jahrhundert werden beispielsweise Geschlechtsorgane verätzt oder verbrüht oder sonstige Verstümmelungen der Geschlechtsorgane zum Zwecke der Heilung sexueller Perversionen vorgenommen. Denn es steht einzig die Norm des ‘richtigen Geschlechtsverkehrs’ mit der ‘richtigen Person’ im Mittelpunkt. So wird das, was nicht der familiären Fortpflanzung dient, regelrecht deviant; von der ‘Sexual-Philosophie’ des antiken Griechenlands ist nichts mehr übrig geblieben. Augenscheinlichstes Beispiel für den Prozess der sexuellen Normierung sind die zahlreichen ‘Aufklärungs- und Verhütungskampagnen’, die sich gegen die Masturbation richteten (vgl. Rutschky 1977; Glantschnig 1987). Zusammenfassend gilt festzuhalten, dass sich das Verhältnis des Menschen zu seinem Körper, zu seiner Sexualität im Laufe der Zeit geändert hat. Die verschiedenen Epochen sind geprägt durch unterschiedliche Normen, die das Sexualverhalten der Individuen bestimmen. Darüber hinaus verweisen die Ergebnisse der Anthropologie und Ethnologie auf normative Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen. Vor allem Verhaltensweisen, die heute in zivilisierten Gesellschaften als ‘Perversionen’ bezeichnet werden, unterliegen intra- und interkulturellen Varianzen. In der Antike gewünscht und geduldet, zeugten sie im Mittelalter von Sünde und galten zu Beginn der Neuzeit als Verbrechen. Und mit der Entstehung der modernen Sexualwissenschaft im 19. Jahrhundert (innerhalb der Psychiatrie als Sexualpathologie) werden sie als Krankheit bewertet. Die Entwicklung der modernen Sexualwissenschaft sowie die Theorien ihrer wichtigsten Vertreter sollen im folgenden Kapitel im Hinblick auf das Phänomen des Sadomasochismus dargestellt werden. Dabei soll auch - unter besonderer Berücksichtigung der Frau - gezeigt werden, wie sich der Begriff des Sadomasochismus in der sexualwissenschaftlichen, psychoanalytischen und soziologischen Auseinandersetzung geändert hat. 1.1.3 1.1.3.1 Sadomasochismus im Spiegel bisheriger Forschung Etymologie des Begriffs Der Begriff ‘Sadomasochismus’ wurde von dem Sexualforscher Richard v. Krafft-Ebing (1840-1902) geprägt und setzt sich aus den Bezeichnungen ‘Sadismus’ und ‘Masochismus’ 55 zusammen. Krafft-Ebing zufolge stellen Sadismus und Masochismus zwei Formen sexueller Perversionen dar, die insbesondere durch violente Elemente gekennzeichnet sind. Den Begriff des Sadismus verwendet Krafft-Ebing in Anlehnung an das Werk des Marquis de Sade (1740-1814), in dessen Romanen ‘Wollust’ und ‘Grausamkeit’ zentrale Topoi bilden (vgl. Kap. III. 1.4.1). Als Sadismus definiert Krafft-Ebing (1886/1984, S. 69) „die Empfindung von sexuellen Lustgefühlen bis zum Orgasmus beim Sehen und Erfahren von Züchtigungen u.a. Grausamkeiten, verübt an einem Mitmenschen oder selbst an einem Tier, sowie der eigene Drang, um der Hervorrufung solcher Gefühle willen anderen lebendigen Wesen Demütigung, Leid, ja selbst Schmerz und Wunden widerfahren zu lassen (...).“ Auch den Begriff des Masochismus leitet Krafft-Ebing (ebd., S. 104) aus literarischen Vorlagen ab nämlich dem Werk von Leopold v. Sacher-Masoch33 - und verwendet ihn wie folgt: „Unter Masochismus verstehe ich eine eigentümliche Perversion der psychischen Vita sexualis, welche darin besteht, dass das von derselben ergriffene Individuum in seinem geschlechtlichen Fühlen und Denken von der Vorstellung beherrscht wird, dem Willen einer Person des anderen Geschlechtes vollkommen und unbedingt unterworfen zu sein, von dieser Person herrisch behandelt, gedemütigt und selbst mißhandelt zu werden.“ Masochismus ist also das Pendant zum Sadismus. Während der Sadist darauf ausgerichtet ist, Schmerzen zuzufügen, kommt es dem Masochisten darauf an, sich der Gewalt unterworfen zu fühlen. Ganz zentral bei der frühen Sexualforschung - wie auch später bei der Psychoanalyse - ist die Annahme, dass es zwischen den Geschlechtern bedeutsame Unterschiede im sexuellen Habitus gibt. Der Mann - so eine Schlüsselthese - nehme naturgemäß eine aktive, die Frau hingegen eine passive Rolle ein. Dies zeigt sich im ‘normalen’ sexuellen Verhalten, insbesondere aber beim Phänomen des Sadomasochismus. Diese geschlechtsspezifischen Differenzen werden hier zum zentralen Erklärungsprinzip für die Richtung (sadistisch/masochistisch) der sadomasochistischen Perversion (vgl. Kap. III.1.9.1) Im Folgenden soll nun gezeigt werden, wie sich in den sexualwissenschaftlichen Diskursen die Vorstellungen zum Phänomen des Sadomasochismus geändert haben. Die Erklärungsversuche der frühen Sexualforscher und der Psychoanalyse werden neueren, soziologischen Ansätzen gegenübergestellt. 33 Der Roman ‘Venus im Pelz’ thematisiert die Geschichte einer Liebesbeziehung zwischen einer dominanten Frau und einem masochistischen Mann, der immer mehr in den Bann seiner Herrin gerät. Zur Schilderung dieses Arrangements bedient sich Sacher-Masoch einer sehr zurückhaltenden und metaphorisch beschreibenden Sprache; Stilmittel also, die weitab vom Metier der heutigen Mainstream-Pornographie liegen. Die Bedeutung dieses Romans ist mehr literarischer Natur; längst schon hat er seine pornographische Verruchtheit abgestreift und zählt zu den literarischen Klassikern. Gleichwohl gilt er als Kultroman in der SM-Szene. 56 1.1.3.2 Die frühe Sexualwissenschaft Der Frage, unter welchen Umständen die sogenannten Perversionen entstehen, ist in der wissenschaftlichen Diskussion bisher besondere Beachtung geschenkt worden. Dies gilt vor allem für die frühe Sexualwissenschaft,34 mit der die ‚Psychiatrisierung der perversen Lust’ (vgl. Foucault 1983) ihren Anfang nahm. Als pervers galten Abweichungen „in der Richtung des Geschlechtstriebes (in obiecto) und in seiner regelrechten Ausübung“ (Imielinski 1967, S. 6). Damit sind alle sexuellen Handlungen gemeint, die nicht dem Geschlechtsakt zwischen Mann und Frau sowie der Fortpflanzung dienen: Homosexualität, Fetischismus, Sadomasochismus, Sodomie, Nekrophilie, Exhibitionismus, Voyeurismus und Pädophilie sind hier ebenso zu nennen wie die Masturbation. Auch wenn die Auffassungen und Theorien über die Ursachen der ‚psychopathia sexualis’ sehr unterschiedlich waren, lassen sich „die vielen Verfasser in zwei große gegensätzliche Lager einteilen, d.h. einerseits die Anhänger der Psychogenie von Geschlechtsperversionen, andererseits in diejenigen, welche in den Geschlechtsperversionen ein Ergebnis erblich-konstitutioneller und angeborener Einflüsse erblicken“ (ebd. S. 13). Ein Beispiel für letztere Auffassung ist die Arbeit von Krafft-Ebing (1886/1984). Seiner Entartungstheorie zufolge sind Perversionen hauptsächlich durch eine fortschreitende Verschlechterung des Erbmaterials bedingt, was zu Erkrankungen von Gehirn und Zentralnervensystem führt. Diese verursachen ihrerseits geschlechtliche Verirrungen. Hirschfeld (1920) vertritt eine ähnliche Position, indem er Perversionen als Störungen des Sexualchemismus versteht. Freud misst hingegen genetischen und endokrinologischen Störungen bei der Genese von Perversionen keine Schlüsselbedeutung zu. Für ihn gehören Sexualabweichungen zur allgemeinen Anlage des Geschlechtstriebes und entstammen der infantilen, prägenitalen Sexualität - der polymorphen Perversität - des Kindes. Sie zerfällt in verschiedene Partialtriebe (z.B. der anale Partialtrieb), die zunächst unabhängig voneinander nach Befriedigung streben, im Laufe der Entwicklung aber immer mehr in einer umfassenden sexuellen Organisation integriert werden. Im Gegensatz zur normalen Sexualität kommt es bei der Perversion zu einer „Triebentmischung, [bei der] isolierte Partialtriebe ausschließlich und fast zwanghaft zur Erlangung der Befriedigung dienen sollen“ (Kurth 1976, S. 513). Aus dieser Perspektive erscheinen die 34 Aus der Vielzahl der damaligen Arbeiten seien beispielhaft folgende genannt: Bloch (1909); Eulenburg (1902); Freud (1905/1972); Hirschfeld (1917); Kaan (1844); Kraepelin (1899); von Krafft-Ebing (1886/1984); Kronfeld (1923); von Schrenck-Notzing (1902); Stekel (1925). Steinmetz (1990) liefert dazu eine ausführliche Darstellung. 57 Perversionen von Erwachsenen als die Persistenz oder das Wiederauftreten eines partiellen Elementes der kindlichen Sexualität. Vereinfacht ausgedrückt könnte man auch formulieren: Man wird nicht pervers, sondern man bleibt es. Auch Sadismus und Masochismus werden von Freud als Perversionen begriffen. Ohne im Weiteren auf das komplexe Theoriegebäude der Psychoanalyse detailliert einzugehen,35 sei die grundlegende Idee Freuds zur Entstehung sexueller Perversionen mit Becker/Schorsch (1980, S. 159) nochmals kurz zusammengefasst: „In dieser frühen Phase [der Freudschen Theorieentwicklung] wurden die perversen Triebäußerungen zu den Formen der kindlichen Sexualentwicklung in Beziehung gesetzt und die wesentlichen Grundelemente der psychoanalytischen Lehre gelegt, die auch in der späteren Weiterentwicklung relativ unverändert wiederkehren: vor allem die Lehre von den kindlichen Partialtrieben, die in den sexuellen Perversionen wieder aufleben, ferner die Bedeutung des Kastrationskomplexes, der die Dynamik der Regression auf die Partialtriebe in Gang setzt. Der Hauptakzent liegt in dieser Phase auf den triebdynamischen Mechanismen der Entstehung sexueller Perversionen.“ Damit wird deutlich, dass sich Freud und später seine Anhänger weit von den Ansätzen Krafft-Ebings oder Hirschfelds entfernen. Trotz aller Gegensätzlichkeit ist den Erklärungsmustern der frühen Sexualforschung wie auch der Psychoanalyse gemein, dass sie eine ‚normale’ Sexualität definieren und für die Perversionen bzw. ihre Persistenz bestimmte Ursachenkomplexe ausmachen. Gelten die Ätiologien der frühen Sexualwissenschaft schon lange als obsolet und überholt (vgl. Bräutigam 1962), so wird sadomasochistisches Sexualverhalten auch heute noch mit der Psychoanalyse als Folge von Störungen innerhalb frühkindlicher Entwicklungsphasen erklärt.36 1.1.3.3 Neuere Untersuchungen Die umfangreichen empirischen Studien Kinseys (1948; 1953) haben deutlich gemacht, dass bei der Untersuchung des Sexualverhaltens der Menschen nicht nur biologische und psychische Faktoren, sondern auch die soziale Rahmung des individuellen Sexualverhaltens eine Rolle spielt. So lässt sich als einer der grundlegenden Paradigmenwechsel in der Erforschung der menschlichen Sexualität die Einbeziehung sozialer Variablen sehen, Gindorf/Haeberle (1986) sprechen in diesem Zusammenhang sogar von der ‘Sexualität als sozialem Tatbestand’. Vor dem Hintergrund der sozialpsychologischen und soziologischen Wende in der 35 Hier sei auf die bereits zitierte Arbeit von Walter (1985) verwiesen. 36 In diesem Zusammenhang seien folgende Arbeiten genannt: Blum (1978); Socarides (1974); Stolorow (1975). 58 Sexualforschung nun aber anzunehmen, medizinische, psychologische und psychoanalytische Ansätze seien in den Hintergrund gedrängt worden, wäre sicherlich falsch. Im Folgenden sollen deshalb die wichtigsten Studien, die in jüngerer Zeit zum Themenbereich ‘Perversionen’ (und hier insbesondere sadomasochistische Orientierungen) durchgeführt wurden, kurz rezensiert werden. Medizinisch-psychiatrisch und psychoanalytische Untersuchungen Medizinisch-psychiatrische Untersuchungen beschäftigen sich hauptsächlich mit der individuellen Genese sowie den pathologischen, klinischen und therapeutischen Aspekten des ‘Triebschicksals’. Dabei ist auffällig, dass - trotz sehr unterschiedlicher Fragestellungen - vor allem immer psychoanalystische Erklärungsansätze herangezogen werden. Schorch (1985, S. 259) beispielsweise interpretiert sexuelle Perversionen unter klinischem und neurosenpschychologischem Aspekt als psychische Abwehrformen, die eine Stabilisierungsfunktion für das psychische Gleichgewicht übernehmen und daher unter einem ‘reparativen’ Aspekt zu verstehen sind: „Im psychodynamischen Ausdrucksgehalt (der sadomasochistischen Perversion) geht es um Wünsche nach Selbstaufgabe, Verschmelzung einerseits, um die Abwehr damit verbundener Ängste vor Selbstverlust und Selbstauflösung andererseits. In der sadomasochistischen Aktion gelingt punktuell der Kompromiß (...).“ Auch Walter (1985) beschäftigt sich im Rahmen seiner Arbeit mit Genese, Psychodynamik und der funktionalen Bedeutung sexueller Perversionen aus der Sicht der Psychoanalyse. Er sieht - unter Berücksichtigung neuerer Forschungen auf dem Gebiet der Entwicklungspsychologie, der Narzissmus-Theorie sowie der detaillierten Untersuchung der Objektbeziehungen - sexuelle Perversionen mit Problemen und Störungen in Entwicklungsprozessen verbunden. Blum (1978) hingegen versteht sadomasochistische Perversionen nicht nur aufgrund frühkindlicher Erfahrungen, sondern als Wirkung schrecklicher Kriegserfahrungen und des ‘survivor syndroms’. Karol (1981) und Wilson (1981) gehen unter psychoanalytischer Perspektive dem Zusammhang zwischen sadomasochistischen Phantasien und Asthmakrankheit nach. Es ließe sich noch eine Vielzahl weiterer psychoanalytisch orientierter Arbeiten nennen, die sich mit den Ursachen und therapeutischen Möglichkeiten der Perversionen respektive des Sadomasochismus beschäftigen.37 Es geht aber weniger darum, die einzelnen Abhandlungen vorzustellen, als vielmehr zu zeigen, dass die Forschung auf diesem Gebiet durch heterogene 37 Vgl. dazu z.B. Arlow (1967); Avery (1977); Schorsch/Becker (1977); Socarides (1974); Sigusch (1980); Stolorow (1975) 59 Fragestellungen und divergierende methodische Vorgehensweisen gekennzeichnet ist. Sie lassen eine Verallgemeinerbarkeit der Aussagen über den gewählten Forschungsrahmen hinaus kaum zu. So beschäftigen sich etwa laborexperimentell ausgerichtete Untersuchungen mit den Auswirkungen von medialen Inszenierungen mit sadomasochistischen Inhalten auf das Verhalten der Versuchspersonen: Zillman/Bryant (1981) lassen im Rahmen eines Versuchs männliche Studenten von gleichgeschlechtlichen Personen provozieren und setzen sie anschließend Erotika verschiedener Art aus. Sie kommen dabei zu dem Ergebnis, dass bei der Darstellung sadomasochistischer Erotika die Neigung, ‘Vergeltung zu üben’, zunimmt. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen Feshbach/Malamuth (1979). In ihrer Untersuchung gehen sie der Frage nach, ob und inwiefern sich Sadomasochismus in erotisch-pornographischen Darstellungen auf die Reaktionen und Einstellungen zur Vergewaltigung und ihrer MedienInszenierungen auswirkt. Aufgrund ihrer Laborversuche kommen sie zu dem Schluss, dass durch die Verbindung von Sex und Gewalt in sadomasochistischen Szenen beim Betrachter Hemmungen, mit denen normalerweise auf Schmerzsignale reagiert wird, gelöst und - vor allem bei Männern - Vergewaltigungswünsche geweckt werden. Neben den oben genannten medizinischen und psychoanalytischen Fragestellungen wird nicht zuletzt auch versucht, Sadomasochismus im Zusammenhang mit der Immunschwächekrankheit AIDS zu diskutieren. So beschäftigt sich Selg (1988) mit AIDS und den Schwierigkeiten, das Sexualverhalten zu ändern. Im Hinblick auf diese Krankheit werden Ratschläge gegeben, verletzungsträchtige sadomasochistische Praktiken zu unterlassen.38 Die synoptische Durchsicht der verschiedenen Studien und Experimente zu den (neurosen)psychologischen Aspekten von sadomasochistischem Sexualverhalten macht deutlich - und diese Aussage lässt sich für dieses Forschungsfeld generalisieren -, dass Fragestellungen und methodische Vorgehensweisen voneinander abweichen und man den Ergebnissen geringe externe Validität zusprechen kann. Hinzu kommt, dass die Perspektive des Subjekts (Gefühle, Erfahrungen, Beziehungs- und Deutungsmuster, Auswirkungen auf andere Lebensumstände etc.) und die Konsequenzen, die mit einer solchen Spezialisierung auf bestimmte Sexualpraktiken verbunden sind, nicht berücksichtigt werden. Dies erscheint gerade aus ethnologischer und soziologischer Perspektive ein entscheidender Mangel vor allem laborexperimenteller Designs zu sein. Im Folgenden ist deshalb untersucht, inwieweit die Forderung nach Berücksichtigung der ‘Lebensweltperspektive’ in soziologischen und sozialpsychologischen Studien eingelöst wurde. 38 Eckert u.a. (1993) beschäftigen sich ausführlich mit dem Thema AIDS und SM unter besonderer Berücksichtigung der Perspektive der Betroffenen resp. der Handhabung innerhalb der SM-Szene. 60 Soziologische Studien Innerhalb der Soziologie hat man sich bisher auch eher unzureichend mit dem Phänomen des Sadomasochismus beschäftigt. Die vorhandenen empirischen Untersuchungen konzentrieren sich vor allem auf die USA. Hier ist insbesondere die Langzeitstudie von Weinberg u.a. (1984) zu nennen. Sie untersuchten über einen Zeitraum von acht Jahren sadomasochistische Gruppen (sowohl hetero- als auch homosexuelle Männer und Frauen) und entwickelten ein soziologisches Modell des Sadomasochismus. Dabei haben sie versucht, die begrenzte Reichweite traditioneller Konzepte zu überwinden und kritisieren die bisherige Vorgehensund Denkweise vor allem hinsichtlich der folgenden Aspekte: a) Erfahrungen, die im Zusammenhang mit kriminellen Personen oder solchen, die klinische Problemfälle darstellen, gemacht wurden, werden ohne Bedenken auf alle Sadomasochisten übertragen. D.h., es wird häufig vom Verhalten eines Vergewaltigers oder Lustmörders beispielsweise auf das einer Person geschlossen, die sadomasochistische Sexualpraktiken bevorzugt. b) Der Begriff Sadomasochismus sollte nicht verwendet werden, um eine Person in ihrer Gesamtheit zu beschreiben, sondern nur um bestimmte Aktivitäten zu definieren. Nicht Personen, sondern Rollen sind sadomasochistisch. c) Traditionelle Modelle betonen individuelle Motive und ignorieren die Existenz einer SMSubkultur, die ein Set von Bedeutungs- und Verhaltensmustern bereitstellt, das von jedem ‘benutzt’ werden kann, um seine eigene Sexualität zu definieren, zu variieren und zu erweitern. Aufgrund ihrer Ergebnisse verstehen Weinberg u.a. Sadomasochismus als ein Spiel von Dominanz und Unterwerfung (z.B. Herr und Sklave) mit einem vorher festgelegten ‘Drehbuch’. Zwischen den Interaktionspartnern besteht Konsens darüber, wer welche Rolle einnimmt und welche Grenzen nicht überschritten werden dürfen. Ihren Ergebnissen zufolge sind SMPraktiken also eher ein ‘Bühnenspiel’ mit festen Regeln (die auf gegenseitigem Einvernehmen beruhen) und keineswegs - wie viele Vorurteile vermuten lassen - eine pathologische Zwangshandlung. Damit kommen sie zu einem ähnlichen Ergebnis wie Patrias (1978).39 Ähnlich ist auch der Tenor der in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführten Studie von Spengler (1979). Angelehnt an die Subkulturforschung wurde hier versucht, die ‘fremde 39 Vgl. hierzu auch die Zusammenfassung von Weinberg (1994) zu zwei Jahrzehnten Forschung über Sadomasochismus aus der soziologischen Perspektive. 61 Welt’ der Sadomasochisten auszuleuchten. Allerdings beschreibt diese Studie nur sadomasochistisches Verhalten bei Männern. Ausgehend von der These, dass diejenigen Individuen, die aufgrund ihrer sadomasochistischen Neigungen delinquent geworden sind und sich von daher in gesetzlicher Verwahrung oder medizinisch-psychologischer Betreuung befinden, nur einen geringen Teil der Sadomasochisten insgesamt darstellen, führte er eine „deskriptive Studie mit explorativem Charakter über die soziale Situation und das sexuelle Verhalten von heterosexuellen, bisexuellen und homosexuellen Männern mit manifest sadomasochistischer Orientierung“ (Spengler 1979, S. 17) durch. Dabei stand der soziale Bezug des ‘devianten’ Verhaltens im Mittelpunkt des Interesses. Es ging darum, die sozialen Organisationsformen von Sadomasochisten, die subkulturellen Gruppen, zu eruieren. Dargestellt wird beispielsweise, wie sich Sadomasochisten mit ihren sexuellen Wünschen auseinandersetzen und sie realisieren (Partnersuche, Partizipation an Subkulturen), welche Präferenzen für sadomasochistische Rollen und Praktiken gelten und welche sozialen und psychischen Konsequenzen mit dieser sexuellen Orientierung verbunden sind. Nicht zuletzt wurde auch die Frage der Selbstakzeptanz untersucht. Neben den subkulturellen Vergesellschaftungsformen, individuellen Präferenzen und Distinktionen, spielt in der soziologischen SM-Forschung vor allem auch die Frage nach dem Stellenwert Frauen im Bereich dieser sexuellen Orientierung eine Rolle. Auch hiermit hat sich Spengler beschäftigt, ebenso wie die Autoren Bornemann (1974), Gebhard (1969), Gosselin/Wilson (1980), Hunt (1974), Levitt (1994), Litmann/Swearingen (1972) und Weinberg (1984). An dieser Stelle soll nicht weiter auf die Ergebnisse eingegangen werden, da sie bereits einleitend sowie im weiteren in Kap. III.1.9.1 und 1.9.2 dargestellt sind. Konstatieren möchte ich jedoch, dass diese Studien darauf verweisen, dass der Anteil der Frauen im SMBereich wesentlich höher ist als bisher angenommen wurde. Einen weiteren Untersuchungsschwerpunkt stellt neben dem Interesse von Frauen an sadomasochistischen Sexualpraktiken die Rollenverteilung dar. Welche Partizipationsformen lassen sich nun für SM-interessierte Frauen nachzeichnen? Ist die These von der weiblichen Prädisposition für masochistische Rollen, wie sie z.B. von den Anhängern der Psychoanalyse vertreten wird, aufrecht zu erhalten? Die Ergebnisse polarisieren, zumindestens hinsichtlich realem Verhalten und Phantasien. Bei realem Verhalten scheint es keine signifikante Neigung der Frauen in die eine oder andere Richtung zu geben (vgl. Breslow u.a. 1985; Janus u.a. 1977). Zwar wird eingeräumt, dass weibliche Sexualphantasien durch eine Vielzahl von Inhalten (Submission wie auch Dominanz) geprägt sind (vgl. Crepault 1977; Lohs 1983; Talbot 1980; Trukenmüller 1982), alles in allem aber - und hierauf verweisen die Textsammlungen von weiblichen Sexualphantasien (vgl. Friday 1989; Lawrenz/Orzegowski 1988) - scheinen masochistische Imaginationen zu überwiegen. Auch die zahlreichen Veröffentlichungen von 62 Frauen, z.B. im Jahrbuch der Erotik ‘Mein heimliches Auge’ (vgl. Gehrke/Schmitt 1988-90), zeigen den Stellenwert der submissiven Vorstellungsinhalte. Versucht man die verschiedenen Forschungsanstrengungen zum Phänomen des Sadomasochismus in einem kurzen Fazit zu bewerten, dann ist festzuhalten, dass unterschiedliche Fragestellungen und methodische Vorgehensweisen zu ambivalenten und widersprüchlichen Ergebnissen geführt haben. Die individuelle Perspektive wurde vorrangig vor dem Hintergrund medizinischer Ursachen und möglicher Therapieformen diskutiert. Therapie wird dabei von vielen Autoren in einer Beseitigung dieser sexuellen Spezialisierung und nicht in einer Versöhnung mit den eigenen sadomasochistischen Wünschen und Praktiken gesehen. Nur wenige versuchen, sich der ‘SMKultur’ alltagsnah und subjektbezogen zu nähern (vgl. auch Pertiller 1999, Pokroppa 1999). 1.2 Erste Berührungspunkte und Entdeckung der sadomasochistischen Neigung Die ätiologische Frage ist, wenn überhaupt, mit dem vorliegenden empirischen Material nicht zu lösen. Gleichwohl lassen sich aus der subjektiven Biographie-Rekonstruktion unterschiedliche Zugangswege beschreiben. Erotische Literatur und Pornographie Gefragt nach der Entdeckung ihrer sadomasochistischen Neigungen geben manche Befragte an, dass die Pornographie dabei eine wichtige Rolle gespielt hat. Auffallend ist, dass beinahe das ganze Spektrum pornographischer Produkte - also Bücher, Magazine und Filme (und mittlerweile auch das Internet) - genannt wird, wobei die einzelnen Medien je nach Person unterschiedlich wichtig sind. In den Hardcore-Szenarien werden Wünsche und Bilder entdeckt, die schon lange in den inneren und zumeist vorbewussten Drehbüchern der Phantasien eine Rolle spielen. Die latenten Phantasie-Inhalte bekommen durch die Pornographie erstmals visualisierte Konturen. Die Affinität von Pornographie und Tagträumen - beide sind auf ihre Weise ein Spiel mit den ‚Rahmen’ (vgl. Goffman 1980), und in beiden kommen Bedürfnisse ans Licht, „die vom ‚öffentlichen Leben’ durch soziale Tabus ferngehalten werden“ (Lewin 1951/1982, S. 418) begünstigt solche Effekte. Gleichzeitig wird damit deutlich, dass es irrig wäre, Pornographienutzung und sadomasochistische Verhaltensformen in einen kausalen Zusammenhang zu stellen. Die Befragten, die die Entdeckung ihres Interesses am Sadomasochismus auf mediale 63 Ereignisse zurückführen, rekonstruieren vermutlich das erste lustvolle Zulassen oder Empfinden ihrer Neigungen: Holger: Ich habe einmal einen Porno gesehen, der spielte im Militärmilieu. Da hatten sie einen Mann in der Mangel, dem sie eine Zigarette auf dem Schwanz ausdrückten und eine Frau, die sie mit einem Gewehrlauf festgehalten und gevögelt haben. Das hat mich angemacht. So richtig hat mich aber so ein japanisches Bondage-Magazin angemacht. Die Japaner machen ziemlich heftige BondageSachen. Viel mit verrenkten Stellungen und Aufhängen an den Beinen. Die Frauen, die hängen halt nicht mehr oder weniger genüsslich in ihren Seilen, sondern man merkt, dass sie Schmerz empfinden. Das hat mich dann nicht mehr losgelassen (38 Jahre, S, heterosexuell). Marion: Mit fünfzehn habe ich die ‚Geschichte der O’ gelesen. Ich weiß bis heute noch die Situation, in der ich das gelesen habe. Es war bei einer Busfahrt und ich weiß noch, wie mir der Atem gestockt hat. Es war, als ob sich eine unbekannte Welt öffnet, und ich habe gewusst, ‚Das ist, was du willst’. Noch nie vorher hat mich etwas so erregt und fasziniert. Und in Büchern und Zeitschriften habe ich das weiterverfolgt (36 Jahre, M, heterosexuell). Bei den lesbischen Sadomasochistinnen haben wir diese Form des Medien-Erlebens nicht nachzeichnen können. Zum einen spiegelt diese Lücke den Umstand wider, dass für lesbische Sadomasochistinnen nur wenige pornographische Produkte hergestellt werden, zum anderen ist dieses Ergebnis auch Ausdruck der feministischen Ablehnung des Umgangs mit Pornographie. Auch wenn es einige pornographische Produkte für lesbische Frauen gibt, ist das Verhältnis der Lesben zu den Hardcores noch immer ambivalent. Für einen nicht unbeträchtlichen Teil der Frauen, die sich im feministischen Weltanschauungsspektrum bewegen, ist die Ablehnung der Pornographie - als Symbol männlicher Allmachtswünsche und unterdrückter Frauen - immer noch Ehrensache.40 Die Lust auf das Besondere War der Zweck der Ehe bis in unser Jahrhundert hinein die Fortpflanzung, so ist sie heute ein Ort erotischer Experimente und Ausschweifung (vgl. Hahn 1988; Bruckner/Finkielkraut 1981). Diesen erotischen Ansprüchen steht das Problem der Gewöhnung entgegen, wenn die Partnerschaft über einen längeren Zeitraum besteht. Hierauf verweisen jedenfalls einige Stu- 40 Zur Pornographie-Debatte unter Frauen sei hier exemplarisch auf den von Claudia Gehrke (1988) herausgegebenen Sammelband Frauen und Pornographie verwiesen. 64 dien, die zu dieser Frage durchgeführt wurden.41 Eine zurückgehende Koitusfrequenz, geringere Attraktivitätsbewertungen des Partners oder auch die Suche nach anderen Sexualbeziehungen können Indikatoren eines solchen Prozesses sein. Um dieser Entwicklung gegenzusteuern, suchen manche Paare ihre Sexualität durch neue und exotische Erfahrungsmuster zu bereichern und so der Routinierung zu begegnen. Der Einsatz pornographischer Medien kann einer dieser Wege sein. Nicht selten wird die Paarsexualität aber auch durch die Hinwendung zu anderen Praktiken, im vorliegenden Falle dem Sadomasochismus, modifiziert und attraktiver gemacht. Die Lust auf außeralltäglichen Sex und die Flucht vor der ‚Hasennummer einmal im Monat’ kann so der Anstoß für die Hinwendung zum Sadomasochismus sein: Tamara: Es verschafft Abwechslung, die mir unheimlich gut tut. Ich möchte es auch nicht mehr missen. Wenn wir SM jetzt aus irgendeinem Grunde abhaken würden, dann würde mir was fehlen, eben die ganzen Spezialitäten, die wir bis jetzt entwickelt haben. Es ist eine Erweiterung der Erlebensmöglichkeit. Paul: Ich denke auch, dass sich Gefühle und Praktiken abnutzen. Wenn ich mal so zurückdenke, wie es mit 15 war, da hatte ich einen Orgasmus, wenn mich eine Frau nur berührte. Das läuft heute nicht mehr. Wenn man lange mit einer Frau zusammen ist, dann kann die Sexualität z.B. auf der SM-Schiene wieder bereichert werden, interessanter gestaltet werden (Tamara, 30 Jahre, M; Paul, 36 Jahre, S, beide heterosexuell). August: Für mich ist einfach alles, was über das Normale hinausgeht, etwas Besonderes. Das ist eine Variante, eine Facette, die einem viel mehr Möglichkeiten bietet - ich bin mit meiner Frau jetzt 14 Jahre zusammen und kann eigentlich nur sagen, dass das sicherlich dazu beigetragen hat, dass wir ein harmonisches Eheleben führen. (...) Es ist genauso eine Bereicherung, wie ich einmal zuhause koche und einmal in das beste Lokal essen gehe. Ich fahre Auto, ich fahre Eisenbahn, und ich gehe zu Fuß (51 Jahre, M, heterosexuell). Carla: Irgendwann hatten wir eine schwere Krise und im Bett ist nichts mehr gelaufen. Ich habe dann für mich so festgestellt, ‚Bei den SM-Lesbierinnen, da gibt es doch ganz andere Sachen’. Die fand ich spannend und prickelnd und wirklich auch geil. Nicht dieser langweilige Blümchen-Sex. Und zaghaft, mit viel Nervösität haben wir dann allmählich mit SM angefangen. Und im Laufe der Zeit wurde es immer schöner (37 Jahre, S/M, lesbisch). 41 Schon Kinsey u.a. (1948/1967) konnten zeigen, dass mit zunehmender Dauer einer (ehelichen) Partnerschaft die sexuellen Aktivitäten zurückgehen. Dies liegt zum einen an dem biologischen und altersbedingten Rückgang sexueller Aktivitäten, zum anderen an Gewöhnungsprozessen in Partnerschaften. Pakesch (1977) zufolge nimmt die Zufriedenheit mit dem Partner im Laufe einer Ehe auch im sexuellen Bereich ab. Nach Giger (1981) wünschen sich 44 % der befragten Ehemänner qualitative und quantitative Veränderungen in Bezug auf die Sexualität mit dem Partner. 65 Franz: Noch während des Studiums bin ich mit meinem Freund zusammengezogen. Wir haben uns wirklich gemocht. War eine tolle Zeit. Wir sind dann beide irgendwann berufstätig geworden. Seitdem ging es nur noch bergab. Wir haben uns zu sehr aneinander gewöhnt, die Spannung war weg. Ich hatte viele Beziehungen nebenbei laufen, flüchtige Erlebnisse. Dann bin ich - wie es genau dazu kam weiß ich nicht mehr - in die Lederszene reingekommen und habe SM kennengelernt. Das habe ich dann mit meinem Freund auch mal gemacht, und da hat es wieder so richtig gefunkt. Nicht, dass wir uns nochmal verliebt haben, aber es war ein wirklich wahrhaftiger geiler Sex, und das machen wir auch heute noch (35 Jahre, S/M, schwul). Der Markt kommt diesen Bedürfnissen nach Abwechslung und exotischer Sexualität, nach neuen Varianten und Praktiken durch ein breites Angebot an Sexartikeln entgegen: Kleidung aus Lack, Leder und Gummi, Werkzeuge aller Art, mediale Gebrauchsanleitungen und Animationen können in fast jedem Sexshop oder Lederstudio gekauft werden. Hinzu kommen die beständigen Ermunterungen aus einigen Gazetten, doch einmal eine andere Erotik zu versuchen. Die sexuellen Varianten werden - ganz zugeschnitten auf die Bedürfnisse sexuell frustrierter Personen - als Ekstase- und Lustparadiese bejubelt. Solche Medienbotschaften können den Sadomasochismus auch denjenigen näherbringen, die sich bis dato von solchen Praktiken distanziert haben. Partner- und Szenekontakte Der Zugang zum Sadomasochismus kann sich auch über den Lebenspartner oder sonstige persönliche Beziehungen vollziehen. Hier fällt das Erkennen der Neigungen gelegentlich mit dem ersten Praktizieren zusammen. In Bezug auf dieses Herangehen lässt sich ein selbst- und ein fremdinitiierter Weg nachzeichnen. Bei Ersterem liegt möglicherweise schon länger ein latentes Interesse am Sadomasochismus vor. Durch gezieltes Suchen und Finden eines entsprechenden Partners (z.B. über Kontaktannoncen oder dem Besuch von Szenetreffen) können die persönlichen Voraussetzungen für das Ausleben der Interessen geschaffen werden. Diese Personen nehmen also von sich selbst aus wahr, dass sie solche Wünsche haben und beginnen selbsttätig mit dem Aufbau von dementsprechenden Erlebensräumen: Rita: Als mir dann irgendwann alles klar war und ich gesagt habe ‚Das ist es [SM], was ich will’, habe ich zunächst einmal Kontaktanzeigen aufgegeben. Ich habe dann einige Männer kennen gelernt. Die meisten waren Schrott, aber einige haben mir auch gefallen. Ich habe mich so richtig in die ganze Sache eingearbeitet, bin mit zu Partys gegangen usw. (...) Heute bin ich in der Szene bekannt und werde sowieso eingeladen (36 Jahre, M, heterosexuell). 66 Anders verhält es sich beim fremdinitiierten Weg zum Sadomasochismus. Hier versuchen der Lebenspartner oder andere Personen, bei den Betreffenden ein persönliches Interesse aufzubauen. So kann beispielsweise die Ehefrau vom bereits sadomasochistisch erfahrenen Mann für diese sexuelle Spezialisierung gewonnen werden. Nicht selten geht diesem Ansinnen eine lange Phase der Geheimhaltung voraus. Kommt es dann - motiviert durch den Wunsch, die Partnerin oder den Partner in die Neigung einzubeziehen - zur Offenlegung, polarisieren die Reaktionen. In manchen Fällen kann ein solcher Schritt die Beziehung stark belasten oder sogar zur Trennung führen. Bei anderen ist die Reaktion hingegen nicht so ablehnend. Der umworbene Novize willigt dem Partner zuliebe in ein Arrangement ein. Aus diesem anfangs zögerlichen Mitmachen kann mitunter ein eigenes, stabiles Interesse werden: Maria: Ich bin durch eine Partnerschaft dazu gekommen und habe damit ziemlich spät angefangen. Ich bin schon siebenundfünfzig und habe etwa mit vierzig Jahren damit angefangen. Ich bin verheiratet, wir leben aber getrennt. Nach der Trennung habe ich mich nach einem Partner umgesehen. Da habe ich dann per Zufall jemanden kennen gelernt, der beides tut, der sowohl aktiv, als auch passiv ist. Mit dem war ich sehr eng befreundet. Der hat mir das nahegebracht, und das hat mir gefallen. Inzwischen habe ich mich von ihm getrennt. Das ist jetzt auch schon zehn Jahre her, und ich mache es weiter, weil es mir Freude macht und mich befriedigt (57 Jahre, S, heterosexuell). Margit: Ich hatte lange Jahre eine ganz intensive Beziehung zu einer Freundin. Die hat mich so allmählich da eingeführt, sehr behutsam, aber auch intensiv. (...) Ich habe mir früher nie Gedanken darüber gemacht, dass mir das Spaß machen könnte (30 Jahre, S/M, lesbisch). Erste Berührungen mit dem Sadomasochismus können auch durch Kontakte zu SzeneInsidern entstehen. Diese Personen übernehmen die Rolle des Mentors und führen den Novizen in die Szene ein.42 Sie vermitteln Kontakte, führen in Gruppenveranstaltungen ein und machen mit den Regeln, Codes und spezifischen Bedeutungen der Szene vertraut. Die Szene bietet ein Netzwerk, das zur Aufnahme vielfältiger persönlicher Beziehungen genutzt werden kann. Die Nähe zu ihr kann damit für die Beschäftigung mit sadomasochistischen Sexualpraktiken ausschlaggebend sein. In Anlehnung an die Theorie der differentiellen Assoziation resp. Gelegenheiten könnte man auch von einer spezifischen Lernstruktur und einer Struktur von Zugangschancen sprechen.43 Diese Feststellung muss allerdings hinsicht- 42 Diesen Zusammenhang beschreibt auch Patrias (1978, S. 152): "Once's socialization into sexual sadomasochism almost always begins as a result of some kind of contact with a participant. (...) Such contact leads to the novice's first sexual sado-masochistic scene." 43 Vgl. hierzu: Sutherland/Cressey (1939/1955) und Cloward/Ohlin (1960). 67 lich der Einfachheit des Zugangs differenziert werden. In den letzten Jahren hat die SM-Szene aus verschiedenen anderen Szenen Zulauf bekommen, so etwa aus links-alternativen oder aus Yuppie-Kreisen. Diese Newcomer inszenieren ihren Sadomasochismus zu Beginn der neunziger Jahre als bislang nicht da gewesenes, halböffentliches Experimentierfeld und Happening mit Flugblättern, Hobby-Zeitschriften, Plakaten, Manifesten, Partys, Selbsterfahrungsgruppen und emanzipatorischen Ansprüchen. Mittlerweile hat sich eine neue - oder zumindest andere Szene etablieren können. Ihre Mitglieder machen, ganz wie die Schwulen in den sechziger und siebziger Jahren, ihre Neigung öffentlich und treten für eine breitere Akzeptanz ein. So konnte ich bei einem Besuch der Reeperbahn im August 2000 mehrere SM-Paare in entsprechendem Outfit und provokativer Gestik beobachten: Ein Mann (S) beispielsweise führte seine Freundin (M), die ein Lederhalsband trug, an der Leine ‘aus’. Es machte den beiden sichtlich Spaß, vom ‘Spießbürger’ beobachtet bzw. taxiert zu werden. Ziel ist eine ähnlich ausdifferenzierte sadomasochistische Szene-Infrastruktur, wie sie bei den Schwulen schon zu finden ist. Insbesondere die Hamburger Gruppe ‚Sündikat’, welche die Szenezeitschrift ‚Schlagzeilen - SM aus der Szene für die Szene’ herausgibt, ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Inzwischen haben sich nach ihrem Vorbild in der Bundesrepublik Deutschland eine Reihe weiterer Gruppen etabliert, die alle miteinander in Verbindung stehen. Waren es 1993 noch ca. 25 regionale und überregionale Zusammenschlüsse (vgl. Wetzstein u.a. 1993), so haben sich Ende der neunziger Jahre bereits ca. 78 regionale und 13 überregionale Gesprächsgruppen und Arbeitskreise etablieren können (vgl. Grimme 2000), und es dürften mittlerweile schon wieder mehr geworden sein. Schon längst zur Selbstverständlichkeit sind schließlich die vor allem in der Hamburger Szene stattfindenden ‚Newcomer Partys’ geworden, ein ‚SM & Fetisch Café’ oder auch die ‚After Work Flag Party’. Dadurch ergeben sich neue Zugangsmöglichkeiten. Die Szene ist durch die öffentlichen und öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten auch für den Novizen leicht ausfindig zu machen. Er findet in der Regel hier ohne Probleme Zugang. Diese alltagskulturelle Verbreitung und Rahmung des Sadomasochismus geht den Personen, die um die Exklusivität ihrer Neigung besorgt sind, zu weit. Sie befürchten, dass der spezifische Reiz von SM, nämlich die von vielen gesuchte Außeralltäglichkeit, verloren gehen könnte. In ihren Augen setzt durch den Aktivismus der Szene-Neulinge ein Normalisierungsprozess in Bezug auf den Sadomasochismus ein, welcher der schwarzen Sexualität das Flair des ‚Perversen’ und ‚Anrüchigen’ entzieht und ihr damit einen wesentlichen Faszinationsquell raubt. Sie wenden sich deshalb ebenso gegen das Herantreten an die Öffent- 68 lichkeit, wie gegen das Bemühen um Toleranz und Akzeptanz. Dementsprechend schwierig ist der Zugang zu ihnen. Biographisierung und Selbstthematisierung Wiederum andere Personen können ihre ersten Berührungen mit dem Sadomasochismus nicht an einem spezifischen Ereignis festmachen. Für sie ist ihr spezialisiertes Sexualinteresse in die gesamte lebensgeschichtliche Entwicklung eingebunden. Dies erklärt sicherlich auch die zum Teil sehr langen Ausführungen dieser Befragten, wenn wir sie auf die Entdeckung ihrer Neigung angesprochen haben.44 Generell ist für biographische Erzählungen vorab zu bemerken, dass sie ein Konstrukt darstellen: „Denn jedes Konzept kann nur beschreiben, was ihm nach seiner Logik in den Blick kommt; es wählt aus der Totalität des Ereignisstroms ‚Lebenslauf’ aus und fügt die ausgewählten Momente nach seiner Logik zu einem Bild auch wieder zusammen, so daß der Lebenslauf stets nur als das erscheint, als was er beschrieben wird: Mit anderen Worten, eine ‚Rekonstruktion’ des Lebenslaufs in diesem Sinne erzählt den Lebenslauf, konstruiert ihn als Biographie und identifiziert darin das Subjekt. Kein solches Konzept kann die Totalität des Lebenslaufs insgesamt erfassen. Die paradigmatische Rekonstruktion ist nicht mehr nur Beschreibung, sondern Darstellung, im genauen Sinn des Wortes ein Bild des beschriebenen Lebens und damit des Individuums“ (Leitner 1982, S. 16). Dies gilt auch für die Sadomasochisten. Sie richten den Blick aus ihrer SM-Rolle in die Vergangenheit und erzählen den Werdegang vermutlich nicht so sehr als Ablauf des tatsächlich Erlebten; vielmehr bestimmen „strukturierte Selbstbilder“ (Fischer 1978, S. 319) des Gegenwärtigen das Kompositionsprinzip. Im Einzelnen lassen sich drei verschiedene Muster biographischer Rekonstruktion beschreiben, die sich hinsichtlich Inhalt und Selektion unterscheiden. Beim ersten Typ ist auffallend, dass sich Kristallisationspunkte mit fallübergreifenden inhaltlichen Ähnlichkeiten feststellen lassen. Bestimmten Lebensphasen (z.B. Kindheit, Pubertät), Ereignissen oder besonderen Lebensumständen (z.B. das Aufwachsen im Bordell) wird eine zentrale Bedeutung für die Herausbildung von sadomasochistischen Neigungen zugewiesen. SM ist für diese Befragten kein ‚Tatbestand’, sondern Resultat einer Entwicklung: 44 Die Antworten können ohne die Gefahr von Sinnverzerrungen nicht gekürzt werden, so dass sie hier in voller Länge wiedergegeben sind. 69 Rena: Der rote Faden dabei ist mein Vater. Er war eine sehr, sehr dominante Person, die mich wirklich unterdrückt hat. Konsequent und sehr brutal. Meine Erziehung basierte überwiegend auf Brachialgewalt. Das Ganze unterlag einer stringent katholischen Erziehung. Wirklich nach dem Motto, ‚Du darfst keine anderen Götter haben außer mir’. Die Schizophrenie in dieser Erziehung war, dass er mir auf der anderen Seite, wenn alles so lief, wie er es wollte, ein ungeheures Selbstvertrauen vermittelt hat. Die Tendenz war, ‚Lass’ dir von niemanden etwas gefallen. Und wenn irgendjemand was von dir will, überlege gut, ob es o.k. ist oder nicht; und wenn du der Meinung bist, dass du keinen Fehler gemacht hast, dann wehre dich’. Ich kriegte ungeheuere Rückenstärkung dadurch. Nur wenn es dann gegen Daddy ging, und das ging irgendwann als ich zehn, elf wurde, so los, wurden die Praktiken, die er Erziehung nannte, sehr kriminell. Im Nachhinein betrachtet waren es klar sadistische Muster. Er hat mich fünf Stunden auf Erbsen liegen lassen, mich in seinen Hobbykeller genommen und mir gedroht, die Hand abzuhacken, weil ich auf dem Vorplatz der Kirche zehn Pfennig gefunden hatte und mir einen Kaugummi kaufte. Ich denke, dass da eine Prägung stattgefunden hat. Ich habe meinen Vater gehasst und ich habe ihn geliebt, beides gleichzeitig. (...) Ich bin dann aber mit 16 von zuhause abgehauen. (...) Der letzte Schritt dazu, den ich wirklich sehr bewusst erlebt habe, war dieses Einsteigen in das, was ich als meinen persönlichen Masochismus definiert habe. (...) Ich habe mir immer Männer gesucht, die irgendwo in einer Richtung dem Bild meines Vaters entsprachen. (...) Die ersten Versuche, meinen Vater für mich erneut in mein Leben zu holen, waren wohl diese Beziehungen. Dann bin ich umgeschlagen in das krasse Gegenteil. Ich habe mich eingelassen auf jemanden, der wirklich sehr sanft und sehr verständnisvoll war, und das war es auch nicht. Da habe ich mich zum ersten Mal gefragt, ‚Warum fragt er mich, ob wir bumsen sollen, warum macht er es nicht einfach?’ (40 Jahre, M, heterosexuell). Joseph: Die Geschichte stellt sich so dar: Ich bin 1936 geboren und im Alter von neun Jahren war der Krieg aus. Wir hatten eine Sechs-Zimmer-Wohnung. Mein Vater war noch in Gefangenschaft. Ich war das einzige Kind und lebte mit meiner Mutter in dieser Sechs-Zimmer-Wohnung. Also die Kindheit war ja abgebrochen durch diese Kriegssituation. Und da war man etwas reifer als vielleicht so ein Neunjähriger im Allgemeinen. Ich kam mir jedenfalls so vor. Und dann Einzelkind, das spielt ja auch eine Rolle. Immer eigenes Zimmer und alles. Dann, mit einem Mal, hat mir meine Mutter eröffnet ‚Wir müssen hier ein bisschen enger zusammenrücken, hier werden Damen zu uns kommen, und du wirst auch nicht mehr dein eigenes Zimmer haben, du bist nach Möglichkeit bei mir in der Küche.’ (...) Und dann hat meine Mutter zu mir gesagt ‚Hier kommen also mehrere Soldaten, die sind befreundet mit den Damen, die wir hier haben’. Um es kurz zu machen: Die Wohnung wurde unten als Bordell angeschlagen. Und dann bin ich also praktisch da hineingewachsen, das heißt also, die [Name], die war meine Liebste, und die hat mich sehr viel in ihr Zimmer mitgenommen. Ich habe also den ganzen Tag alles mitbekommen (...). Und die [Name], die hat mich eben, wenn man so will, in der Zeit zur Brust genommen und hat mich eingeweiht in alles, was überhaupt einzuweihen war. Wenn Besuch da war, wurde ich unter das Bett geschoben. Dann habe ich also praktisch die ganze Sache miterlebt, wie sie sich da abgespielt hat. Ich habe also manchmal stundenlang weiter nichts zu Gesicht bekommen als Beine, Schuhe, Strümpfe und alles, was sich da noch abgespielt hat. Ich 70 bin der Meinung, dass das in der Zeitspanne wesentlich dazu beigetragen hat, dass ich gewissermaßen so einen Fetisch entwickelt habe. Meine Mutter, die hat mir zwar Vorträge gehalten, aber ich habe sie die ganze Zeit lang kaum zu Gesicht bekommen. Und der war das wahrscheinlich auch egal, wo ich nun gerade war. Schule und so weiter gab es in der Zeit noch nicht. Es war ein Zeitraum, von 1945-1948, drei Jahre, die mich doch sehr geprägt haben. Und [Name] war, was das Äußere anbelangt, sehr sinnlich. Brünettes Haar, volle Lippen, also sehr, sehr sinnlich. Und dementsprechend hat die mich so fasziniert. Alles, was sie geschenkt gekriegt hat, was damals so in Mode kam, die Nylons und Schuhe und Schmuck und Kosmetika, das hat die natürlich alles an sich verarbeitet. Dementsprechend habe ich das auch mitbekommen. Dann hat sie mich mal geschminkt und dies und das und ihre Scherze mit mir gemacht. Wenn sie wütend war, dann hat sie mich mit Handschellen ans Bett angefesselt. Das hat sich bis zum Exzess gesteigert bei der Frau. Sie selbst war feminin, sehr stark, diese Frau. Bloß war die Sache eben bizarrer. Fangen wir mal vom Kopf an: Die Haare mussten wilder, toupierter sein, meinetwegen wie heute Tina Turner. Das Gesicht: ganz dick aufgetragene Schminke. Es musste ja alles irgendwie wirken. Ob nun die Nägel, ob dies und das, jedenfalls alles superbetont, bizarr würde man heute dazu sagen. Gewisse dominante Frauen rennen ja in ihrem Studio auch so rum. (...) Wenn es um das Essen ging, hat sie mich mitessen lassen. Oder sie hat mir das vorgekaut und hat es mir gegeben. (...) Im Zimmer war ein Waschbecken, ich musste oft neben dem Waschbecken hocken, dann hat sie teils ins Waschbecken hineinuriniert und teils zu mir ins Gesicht. Wenn ich mich also in irgendeiner Form abgewendet hätte oder dagegen demonstriert hätte, hätte sie mich geschlagen. (...) In den Lebensjahren später ging das alles wie ein Film an mir vorbei. Und dann habe ich eben gemerkt, dass das in irgendeiner Form zur Sucht wurde. Ich habe also praktisch immer danach getrachtet, wenn ich dann später auf der Straße war: Welche Frau geht so und so angezogen? Wie läuft die? Was hat die für Schuhe? Aus welchem Blickwinkel kann ich mir das genauer ansehen? Also richtig voyeuristisch und ein bisschen zum Fetischismus, das heißt ja dann beim Fetischismus, dass man das auch berühren will in irgendeiner Form. (...) Schuhe, Strümpfe und alles, was dieses Superweib, wenn ich das mal so ausdrücken darf, an sich hatte. Ob das ein Parfum war, ob das die Schminke war, ob das war, wie die sich die Nägel lackiert hat und dies und das. Und wie sie sich gebärdet hat. Wenn sie schlecht gelaunt war, hat sie mich angespuckt. Wie ein Tier hat die mich behandelt. Ich habe zu Anfang dagegen rebelliert, aber nachher nicht mehr. Nachher war ich daran gewöhnt wie so ein Hund. Und das muss einen gewissen Knacks gegeben haben (55 Jahre, M, heterosexuell). Manfred: Gewisse Phantasien hatte ich schon in vorpubertären Zeiten. Und wie es halt so im zarten Kindesalter ist, wo man Banden gründet und auch so härtere Spiele macht, Mutproben zum Beispiel. Ich komme aus [Ort], das war da gang und gäbe in dieser Bande. Das war auf jeden Fall noch vor der Konfirmation. (...) Dann gab es Pfadfinderspiele, Geländespiele und so. Ja, und dann war halt lange Schluss, aber die Phantasien blieben. Da kam dann auch das Sexuelle langsam auf, dass ich das damit verbunden habe, phantasiemäßig. Ich dachte ‚Das ist doch eigentlich ganz geil’. Aber es tat sich nichts, bis ich in eine andere Stadt kam. (...) Und bin dann also noch als Tourist nach [Stadt] gekommen. Da habe ich vor dreieinhalb oder vor vier Jahren das erste Mal bewusst aus sexuellen Motiven Flagel- 71 lantismus praktiziert. Ja, so war mein Einstieg in die Szene. (...) Also dazu muss ich sagen, was bei manchen der Fall ist, dass sie irgendwie von den Eltern geschlagen worden sind oder so, war bei mir nie der Fall. Ich bin absolut ohne Schläge erzogen worden. Das ist nicht der Einstieg gewesen. So was wird ja oft angenommen (25 Jahre, M, schwul). Diese Zugangsmuster verweisen am ehesten auf bestimmte entwicklungspsychologische Ursachen resp. Störungen für die Entstehung sadomasochistischer Neigungen. So ließe sich beispielsweise ‚Renas’ Masochismus als Konsequenz der Auseinandersetzungen in Kindheit und Jugend mit dem autoritären Vater begreifen. Im Fall von ‚Manfred’ zeigt sich hingegen das Gegenteil. Er ist offenbar ohne ‚exzessive’ Zwangsmethoden erzogen worden. Auffallend an den Interviewausschnitten ist des Weiteren, dass sich bei der Ausbildung von fetischistischen Interessen eindeutiger bestimmte ‚Schlüsselszenen’ feststellen lassen. So zeigt das Beispiel ‚Joseph’, dass neben der SM-Neigung auch vermutlich eine ‚Prägung’ auf bestimmte Formen des Schuhfetischismus stattgefunden hat. Explizit wird ein ähnlicher Zusammenhang von einem weiteren Interviewpartner herausgestellt: Das sind dann so Krankenhaus- Schlüsselszenen. Das ist noch in den fünfziger Jahren gewesen. Ich glaube, da war ich sechs, als ich wegen einer Blinddarmoperation ins Krankenhaus musste. Da wurde ich dem Arzt noch auf den Schoß gesetzt. Der hatte eine Gummischürze und man kriegte noch eine Maske auf den Kopf, wo Äther drauf geträufelt wurde. Ich würde behaupten, dass da was passiert ist, dass da was kanalisiert wurde. Dann trat das wieder mit dreizehn Jahren auf. Seitdem ist das bei mir so mit diesen fetischistischen, ich habe Tick gesagt, aber es sind Neigungen, Veranlagungen. Diese Befunde verweisen auf bestimmte Erklärungsansätze. So wird im Rahmen von Lerntheorien „gewöhnlich irgendeine Form des klassischen Konditionierens in der soziosexuellen Lerngeschichte [angenommen]. So kann zum Beispiel ein Junge während seiner ersten sexuellen Erfahrungen vor Bildern von Frauen, die in schwarzes Leder gekleidet sind, masturbieren“ (vgl. Davison 1979, S. 287). Andere Autoren (z.B. Winnicott 1969) vermuten eine bestimmte Urszene, in der eine Fixierung auf einen fetischistischen Gegenstand erfolgt, etwa die Gummiunterlage des Kinderbettes oder bestimmte Erfahrungen im Krankenhaus. Bei dem zweiten Typ liegen der biographischen Strukturierung explizite Theorien zugrunde, die mehr oder weniger eigenwillig auf die individuelle Situation übertragen werden. In diesen Fällen überlagert der Erklärungsversuch die tatsächlich erlebten Ereignisse. Die Kindheit wird nicht anhand von biographischen Fakten, sondern beispielsweise als ‚Hospitalismusschock’ oder ‚repressive Erziehungsmethode’ rekonstruiert. Dementsprechend erfährt der Leser oder der Forscher nur wenig über die Lebensgeschichte an sich und wird stattdessen mit einer theoretisch abstrahierten Fassung der Lebensgeschichte konfrontiert. Viele der von uns befragten Personen erwähnten in Vorgesprächen oder Interviews, dass sie wissenschaftliche Theorien, die sich mit der Genese des Sadomasochismus beschäftigen, auch selbstexplorativ anwenden, 72 um Aufschlüsse über ihr individuelles - und von der Normalität abweichendes - Triebschicksal zu gewinnen: Nikolaus: Jahrzehntelang habe ich mich mit Verhaltensforschung beschäftigt und mich dabei gefragt, ob dies nicht im Instinktverhalten nachzuweisen ist. Und die Antwort musste zunächst einmal ganz klar zwischen Männern und Frauen trennen. SM wird von beiden völlig gegensätzlich empfunden. Der Mensch ist ein Herdentier, das stärkste Männchen leitet das Rudel, die Weibchen gehören alle ihm, denn der Nachwuchs muss stark und überlebensfähig sein. Die anderen Männchen bestreiten dem Stärksten das Recht und kämpfen um die Weibchen. Sie verlieren dabei immer wieder und ziehen die Verachtung der Weibchen auf sich. Der Stärkste wird für die Weibchen dadurch immer bewunderungswürdiger, anbetungswürdiger. Ihm gegenüber - und nur ihm - entwickelt sich ein glückseliges Abhängigkeitsgefühl der Geborgenheit, Hörigkeit (Zugehörigkeit). Wenn man so will: Sklavinnen. Irgendwann hört der Stärkste auf, Stärkster zu sein, wird besiegt und vertrieben und er erlebt nun die Verachtung der Weibchen wie viele andere vor ihm. Die Verlierer müssen mit dieser Verachtung leben. Sie haben überhaupt keinen Sex, obwohl sie von Natur aus reichlich dafür ausgestattet sind. Der Mann muss zehn Frauen versorgen können, die Frau aber kommt nur jedes zehnte Mal dran. Beide Geschlechter sind dafür programmiert. Die Frauen brauchen es nicht, die Männer brauchen es oder die Frauen brauchen es nur jedes zehnte Mal. Die Verlierer wären ja schon froh, wenn es eine Frau gäbe, die, wenn sie sie auch verachtet, immerhin akzeptieren würde. (...) Daraus ergibt sich: Junge Frauen neigen leicht dazu, Sklavin eines einzigen Herrn zu sein. Ist der ‚weg vom Fenster’, hört die Hörigkeit auf. Er wird verachtet und in die Wüste geschickt. (...). Der älter werdende Mann wird daher je länger, je mehr masochistisch, wenn er seinem Instinkt folgt. Folgt er aber seiner Erziehung, so wird er weiter ‚des Weibes Haupt’ sein wollen, macht sich lächerlich und schafft Probleme. Somit ergibt sich: Junge Frauen und alte Männer sind (möglicherweise) Masochisten, während junge Männer und ältere Frauen zur Herrschaft neigen, was sich bei masochistischen Partnern zum Sadismus ausweiten kann. Der Sadismus als solcher ist niemand auf den Leib geschrieben. Er wird lediglich vom masochistischen Partner erbeten: Die Verachtung des Verlierers. (...) In diesen Rahmen muss ich mein Leben stellen (64 Jahre, M, heterosexuell). Ferdinand: Vergewaltigung durch Hospitalismus im ersten Lebensjahr und autoritäre, repressive Erziehungsmethoden trugen das ihre dazu bei. Logisch, dass aufoktroyiertes Schuldbewusstsein durch Religion und Kirche nebst sublimierter Sexualität in der Kleinfamilie eine Rolle gespielt haben (43 Jahre, S/M, bisexuell). Miriam: Als preußisch und protestantisch Erzogene und damit als kulturfrommes Subjekt mit entsprechend ‚gutem Benehmen’ hatte ich S/M als Freiraum entdeckt, der eine quasi kompensatorische Funktion zu den inzwischen internalisierten Zwängen erfüllt (27 Jahre, S, lesbisch). Diese Selbstanalysen sind Ausdruck einer umfassenden Diffusion von Modellen aus Psychoanalyse und Psychologie oder Sozialisationsforschung und Pädagogik in das Deutungswissen 73 von Sadomasochisten.45 Insbesondere in akademischen Kreisen kann die Darstellung der Lebensgeschichte auch als Ausdruck theoriegestützter Deutungsmuster begriffen werden (vgl. Klausa 1981; Kohli 1981). Und diese Gruppe der höher gebildeten und besser verdienenden Personen ist in der Szene - wie bereits beschrieben - vermutlicherweise überdurchschnittlich repräsentiert. So ist es wahrscheinlich, dass Sadomasochisten häufig über eine Vorbildung verfügen, die es ihnen ermöglicht, sich solche Theorien anzueignen. Nicht selten waren sie ohnehin Bestandteil ihrer Ausbildung, etwa bei den Pädagogen, Psychologen oder Ärzten, die wir befragt haben. Diese Personen prägen - gleichsam als Meinungsführer - die Diskussionen in der Szene. Ihre Meinungen und Auffassungen über den Sadomasochismus erreichen auch diejenigen, die von sich selbst aus vielleicht nicht mit diesem Wissen in Berührung gekommen wären. Wissenschaftliche Erklärungsmodelle diffundieren aber nicht nur über interpersonale Kommunikationswege. Diejenigen, die in Ausbildung oder Beruf nicht mit Theorien und Paradigmen zur Genese des Sadomasochismus in Berührung gekommen sind, suchen aus eigenem Antrieb nach Erklärungsansätzen. Die vielen Sachbücher und halbpornographischen Werke, die in der Szene kursieren, können dabei ein erster Anknüpfungs- und Orientierungspunkt sein. Der dritte Biographie-Typ lässt sich am ehesten als ‚Lebenslauf nach Maß’ charakterisieren, den Berger (1973, S. 203/204) folgendermaßen beschreibt: „Nun gibt es allerdings Fälle, in denen eine Uminterpretation der Vergangenheit absichtlich und voll bewusst vorgenommen wird und ein integrierter Bestandteil eines umfassenderen Vorganges ist - wenn es sich nämlich um die Konversion zu einer anderen religiösen oder politischen Weltanschauung handelt, das heißt zu einem neuen Sinnsystem, in dessen übergreifendes Ganzes sich die eigene Biographie einbeziehen lässt. Der Konvertit kann sein ganzes bisheriges Leben als von der Vorsehung gewollten Weg ansehen - bis hin zu dem Augenblick, da der Nebel vor seinen Augen sich lichtete. (...) Etwas derartiges trifft erwiesenermaßen auf religiöse Konversionen und mysthische Verwandlungserlebnisse zu. Aber auch säkularisierte Glaubenskomplexe der Neuzeit bieten ihren Anhängern ähnliche Erlebnisse. (...) In der amerikanischen Gesellschaft sowie einigen westeuropäischen Ländern verhilft auch die Psychoanalyse vielen Menschen zu einer sinnvollen Neu- und Umordnung biographischer Fragmente. (...) Väter und Mütter, Brüder und Schwestern, Ehefrauen und Kinder werden der Reihe nach in den brodelnden Kessel der Theorie geworfen und kommen als metaphorische Wesen im psychoanalytischen Pantheon wieder heraus.“ Auch bei einem Teil der von uns befragten Sadomasochisten könnte 45 Die Autobiographie von Marcus (1987) ist ein bekannt gewordenes Beispiel, in dem sie ausführlich beschreibt, wie sie bei der Suche nach den Ursachen ihres Masochismus auch wissenschaftliche Erklärungsmodelle herangezogen hat. 74 die lebensgeschichtliche Verankerung des neuen Sinnsystems möglicherweise Ausdruck der Suche nach Stabilität für dieses abweichende Verhaltensmuster sein. Ähnlich wie etwa bei neuen Mitgliedern in Sekten wird der bisherige Lebenslauf als Weg begriffen, der zwangsläufig in die neue Sinnwelt führt: Franz-Joseph: Ich weiß nicht, was ich vorher gemacht habe. Erst seit ich SM gefunden habe, bin ich wirklich ein Mensch. Eigentlich müsste man allen Menschen vermitteln, welches Glück im Sadomasochismus zu finden ist (36 Jahre, M, heterosexuell). Die ‚Bekehrung’ öffnet den Blick für die eigentliche ‚Berufung’. Nicht selten wird das, was vorher war, als Irrweg begriffen. Die Entdeckung der Neigung wird zu einem ‚Vom-Sauluszum Paulus-Erlebnis’. Bei diesen Personen gewinnt der Sadomasochismus mitunter den Charakter einer Weltanschauung: Franz-Joseph: Sadomasochismus ist die bessere Sexualität. Das ist nicht nur das stupide Herumgebumse wie die anderen das machen. SM ist etwas höheres, etwas besseres. Das ist ein Weg (36 Jahre, M, heterosexuell). Aus diesen ‚Überzeugungen’ kann ein elitärer Anspruch resultieren. Für diese Menschen steht fest, dass sie den ‚Königsweg’ zu der richtigen und besten Sexualität gefunden haben. Zweifel und negative Bewertungen in Bezug auf die neue Sinnwelt werden nicht geäußert. Die Stabilität solcher ‚Erleuchtungen’ wäre aber zu prüfen. Erste Eindrücke, die wir in diesem Kontext gewonnen haben, weisen daraufhin, dass - um diese Metapher noch einmal aufzugreifen - aus dem Paulus wieder sehr schnell ein Saulus werden kann. Ungeachtet der inhaltlichen bzw. funktionalen Bedeutung der Lebensgeschichte ist festzuhalten: Die Antwort auf die Frage nach der Herkunft der SM-Neigung erbringt für den Forscher in einigen Fällen nur wenig Aufschlüsse über ätiologische Zusammenhänge. Ihm wird nicht das Material für eine Erklärung angeboten, sondern der bereits erfolgte Versuch einer Erklärung. Der Sadomasochist, der sich beispielsweise mit Freud und der Psychoanalyse beschäftigt hat, wird entsprechend bestimmte biographische Selektionen präsentieren, die in diese Denktradition hineinpassen. Gleichwohl sind diese Zusammenhänge interessant. Sadomasochismus ist nicht ohnmächtiges Triebschicksal, sondern auch Focus von Selbstreflexion, Selbstthematisierung und Selbststilisierung. In Anlehnung an Hahn (1987) könnte man von einem Biographie-Generator sprechen. Wesentlicher Antrieb für die Suche nach dem roten Faden ist die Wahrnehmung der Differenz von der Normalität der anderen und die eigene Abweichung. Die Frage ‚Warum bin ich so?’ forciert so die Suche nach Sinn. Die biographischen Selektionen geben Aufschluss 75 darüber, wie Identitäten in den jeweiligen Spezialkulturen generiert und stabilisiert werden. Sie sind Ausdruck eines beständigen Aushandelns der subjektiven Identität. Dementsprechend haben die Personen, die ihren Zugang zu SM in der Lebensgeschichte verankert sehen, nicht nur bestimmte ‚objektive’ Lebensumstände rekapituliert, sondern auch ihr Bestreben dokumentiert, ein beständiges Selbstbild zu entwickeln. 1.3 Persönliche Beziehungen Personen, die sadomasochistische Neigungen bei sich entdeckt haben, wollen ihre diesbezüglichen Wünsche und Bedürfnisse zumeist auch realisieren. Die Möglichkeiten dafür sind unterschiedlich: „Dazu kann die unmittelbare Bereitstellung von Pornographie gehören, von Lederbekleidung; damit kann der Raum gemeint sein, in dem die sadomasochistischen Interessen nicht verheimlicht werden müssen. Meist ist auch ein Bedürfnis gemeint, einfach mit anderen Menschen reden zu können. Im Vordergrund steht die Realisierung in einer partnerschaftlichen sadomasochistischen Beziehung, die Suche nach einem ‚passenden’ Partner“ (Spengler 1979, S. 38). Das Ausleben der ‚Obsessionen’ in den Medien-Welten der Pornographie oder durch die Nutzung kommerzieller Angebote von Dominas und Prostituierten ist für den Einzelnen - sofern die finanziellen Ressourcen ausreichen - ohne größere Probleme zu verwirklichen. Zumeist werden aber feste Beziehungen angestrebt. Wie die Chancen bei der Suche nach einem entsprechenden Partner verteilt sind und welche typischen Beziehungsmuster nachgezeichnet werden können, ist im Folgenden untersucht. 1.3.1 Chancen bei der Partnerwahl Wie bereits dargestellt, sind Frauen in der SM-Szene gegenüber den Männern in der Minderzahl. Dementsprechend ist schon die statistische Wahrscheinlichkeit, dass Männer eine Partnerin finden, geringer als im umgekehrten Fall. Bei einigen gestaltet sich die SM-Neigung als permanenter und erfolgloser Versuch, eine Partnerin zu finden. Der Weg über die Kontaktanzeige führt häufig zu einer professionellen Domina und überhaupt bietet das Dominastudio mitunter die einzige Chance, die SM-Interessen auszuleben: Alfred: Partnerinnen finde ich auf privater Ebene überhaupt keine, trotz etlicher Versuche. Zwei Partnerinnen haben am Anfang, als wir uns neu kennen lernten und die Begeisterung noch groß war, mitgespielt. Ich glaube, dass sie auch selber Spaß daran hatten. Mit der ersten Partnerin ging das dann aber schnell auseinander. Und mit meiner jetzigen Partnerin, mit der ich schon acht Jahre zusammen bin, war es so, dass ich mich am Anfang nicht getraut habe, was zu sagen. Nach etwa einem Jahr bin ich damit rausgerückt, und dann hat sie auch anfangs mitge76 macht. (...) Das wurde dann immer weniger und seit drei Jahren haben wir nichts mehr praktiziert. Wenn ich jetzt SM praktizieren will, bin ich auf professionelle Angebote angewiesen (37 Jahre, M, heterosexuell). Willi: Dominante Frauen ohne finanzielle Interessen sind über Kontaktanzeigen kaum zu finden. Ich schätze, dass die Mehrzahl der Frauen auf Wunsch ihres Partners diese Rolle ergriffen hat und darum nicht auf der Suche nach einem Partner ist. Auf eigene Inserate habe ich eine einzige Antwort erhalten, doch hat sich die betreffende Frau auch nicht zu einem näheren Kennenlernen entschließen können. Bezahlte Dominas gibt es viele und einzelne davon (die teuersten) sind auch sehr fair und mit Talent gesegnet. Der alleinstehende Masochist ohne Geld hat wohl den schwierigsten Stand in der ganzen Szene (32 Jahre, M, heterosexuell). In den Domina-Studios findet sich aber nur die professionelle Partnerin, und in ‚normalen’ Kneipen ist die Suche nach einem ‚Pendant aus Leidenschaft’ durch Konventionen beschnitten: Ralf: Ich kann ja schlecht eine Frau in einem Lokal ansprechen, ob sie vielleicht sadomasochistisch veranlagt ist. Ich habe das einmal gemacht und ich hätte geschworen, es wäre eine dominante Frau. Sie hatte Stiefel und ein Lederkostüm an. Normalerweise mache ich das nicht, aber ich war es einfach leid, immer Partnerinnen zu finden, die nachher doch nicht passen. (...) Sie war aber keine, und durch meine direkte Frage habe ich mir eine gepfefferte Ohrfeige eingefangen. Außerdem war es sehr peinlich (53 Jahre, M., heterosexuell). Weil Sadomasochismus mit negativen Attributen wie z.B. pervers oder ekelhaft assoziiert wird, löst die Frage danach empörte Reaktionen aus. Nur in den Rahmen, die von vornherein als SM-Räume definiert sind, wird ein gezieltes Werbungsverhalten nicht als Affront aufgefasst. Hier ist das Stigma etwas Normales und Selbstverständliches, denn die „sympathisierenden anderen“ wissen „aus eigener Erfahrung (...), was es bedeutet, dieses bestimmte Stigma zu haben“ (Goffman 1967, S. 31). Sie betrachten ihresgleichen nicht als „diskreditierte Person“ (ebd., S. 26). Sadomasochisten begegnen dieser Unvoreingenommenheit - welche die Kontaktanbahnung erst ermöglicht - meist nur in ihren Sonderwelten. Gerade bei Partys und ähnlichen Veranstaltungen ist dem alleinstehenden Mann der Zutritt versagt, damit das Zahlenverhältnis von Männern und Frauen nicht noch ungleichgewichtiger wird. Für heterosexuelle Frauen mit SM-Neigungen ist die Situation anders: Theresa: Dann fing die Suche wieder an und ich habe selbst eine Anzeige aufgegeben. Ich hatte ein überwältigendes Resultat, und zwar 78 Briefe. Es war toll. Ich war auch ganz überrascht, wie poetisch Männer sein können. Es waren wirklich nur drei Briefe dabei, die ich wirklich abstoßend fand. Ich habe die Leute angerufen und mich mit einigen getroffen, wobei mir einer sehr gut gefallen hatte (22 Jahre, M, heterosexuell). 77 Klara: Als Frau kriegst du Hunderte von Zuschriften. Dadurch, dass es in die Richtung auch sehr viele Spielarten gibt, musst du halt auch gucken, wen du anrufst, mit wem du dich triffst und wie das alles abläuft. Einen Kontakt herzustellen, ist überhaupt kein Problem, als Frau fressen einem die Männer in der SMSzene aus der Hand (34 Jahre, M, heterosexuell). Die Knappheitsbedingungen auf dem Beziehungsmarkt für Männer schaffen ein ‚Überangebot’ für Frauen. Ihre Chancen, einen geeigneten Gefährten zu finden, sind ungleich günstiger als umgekehrt. In den Spezialkulturen der SM-Schwulen haben wir dagegen keine Probleme und Schwierigkeiten mit der Partnersuche nachzeichnen können: Albert: Durch die Subkultur hat ein Schwuler sowieso mehr Freunde, sozusagen mehr Eisen im Feuer. Wenn da eine Partnerschaft auseinander geht, findet man normalerweise wieder schnell einen Partner. Das ist kein Problem. Auch bei SM nicht (...). (27 Jahre, M, schwul). Im Gegenteil, der Tenor der von uns erfassten Äußerungen macht deutlich, dass es auf dem Beziehungsmarkt der SM-Schwulen offensichtlich keine Knappheitsphänomene gibt. Etwas anders verhält es sich bei den SM-Lesben. Sie bilden unter personeller Perspektive eine kleine Szene, die zudem nur in größeren Städten zu finden ist. Demnach ist die Partnerinnensuche durch wenige Beziehungsalternativen und geographische Bedingungen erschwert. Viktoria: Es ist so, dass unser Kreis sehr klein ist. (...) Ich habe immer sehr lange suchen müssen, ehe ich eine Partnerin gefunden habe. Bis vor acht Jahren habe ich in [Großstadt] gewohnt, da habe ich schon mal eher was gefunden. Seit ich hier in der Provinz bin, ist es sehr schwer. Wenn es irgend ging, habe ich meinen Urlaub in der Großstadt gemacht. Da war ich wenigstens ein bisschen aus dem Ghetto heraus (28 Jahre, S/M, lesbisch). Damit die Suche nach Partnerinnen nicht aussichtslos ist, haben die SM-Lesben eine eigene Form der Partnerinnenvermittlung etabliert (vgl. Wetzstein u.a. 1993). Welche Struktur die hetero- und homosexuellen Partnerschaften haben, wenn sie sich erst einmal konstituieren konnten, ist Gegenstand des nächsten Kapitels. 1.3.2 Monogame Beziehungen Feste Partnerschaften oder gar die Ehe sind Begriffe, die in den landläufigen Vorstellungen von sexuellen Abweichungen keinen Platz haben. Ausschweifungen und ein ‚zügelloses Geschlechtsleben’ sind eher Attribute, die den „sexuellen Außenseitern“ (Simon/Gagnon 1970) zugeschrieben werden. Auch in der Wissenschaft sind solche Bedenken nicht selten, so etwa, wenn Kaunitz (1977, S. 80) die Ehe eines sadomasochistischen Paares als „living hell for 78 both“ bezeichnet. Damit wird unterschwellig die Vorstellung artikuliert, SM sei mit Lebensformen wie einer festen Partnerbeziehung nicht in Einklang zu bringen. Wie beurteilen Akteure ihre Beziehung? Dazu zunächst die Lesben: Vanna: Ja, also ich selber fahre mehr auf Monogamie ab. Ich habe das mal versucht, so mit Nicht-Monogamie, so aus einem feministischen Ideal heraus, also nach dem Motto ‚Monogamie ist die Stütze des Patriarchats’. Aber ich bin einfach zu eifersüchtig und zu besitzergreifend. Das kriege ich nicht hin (22 Jahre, S/M, lesbisch). Brigitte: Ich habe mir schon vor dieser Beziehung Gedanken darüber gemacht, ob eine Zweierbeziehung Bedingung ist. Und ich dachte: ‚Was anderes, das kannst du dir nicht vorstellen.’ Für mich muss ich sagen, dass ich damit gut klarkomme. Es ist das, was ich im Grunde genommen will: in einer monogamen Zweierbeziehung leben (27 Jahre, S/M, lesbisch). Einige lesbische Frauen können sich Sexualität und Sadomasochismus nur in dyadischen Beziehungen vorstellen. Die Vorstellung einiger Feministinnen, wonach Monogamie als patriarchale Ideologie abzulehnen sei, ist in der Szene umstritten. Bei Schwulen ist dieses monogame Muster hingegen seltener (vgl. Dannecker/Reiche 1974). Wie noch gezeigt wird, gibt es bei ihnen promiskuitive Angebote, die gleichsam selbstverständlich in den Alltag der Sub eingebunden sind. So sind etwa die Verhaltensformen in den Darkrooms ein Indikator dafür, dass Monogamie nicht unbedingt ein zentraler Wert in der schwulen Subkultur ist. Gleichwohl gibt es auch in dieser Szene feste Paarbeziehungen, wie die zahlreichen Heiratsanträge von schwulen Paaren in der jüngsten Vergangenheit belegen. Möglicherweise ist bei diesen Schwulen die sexuelle Treue von zentraler Bedeutung. Auch bei heterosexuellen Paaren kann die ausschließliche Beziehung zu einem Partner typisch sein: Marlene: Ich denke, Grenzen verändern sich. Aber ein paar Dinge sind für uns fest. Die haben aber auch nicht unbedingt was mit SM zu tun. Zum Beispiel, dass man nichts mit anderen Partnern macht, sondern nur in der Beziehung. Vielleicht könnte ich es mir noch innerhalb unserer Gruppe vorstellen, also auf ganz niedrigem Niveau, z.B. so ein Kostümball, aber ohne anfassen. Also bei Sachen, die mit Treue zu tun haben, da hört der Spaß einfach auf. Das ist eine grundsätzliche Beziehungsfrage, die eine Grenze setzt (27 Jahre, S, heterosexuell). Alice: Ich erlebe SM ausschließlich in der Zweierbeziehung. Wir sind seit 30 Jahren verheiratet und haben einen zwanzigjährigen gemeinsamen SM-Weg hinter uns. Gruppenangebote und Partys mit Gruppensex spielen für mich keine Rolle. Toni: Ich erlebe SM nur in der Beziehung mit meiner Gattin. Wir sind bald 30 Jahre lang verheiratet und freuen uns immer noch am SM-Spiel, das wir durch die Jahre hindurch aufgebaut und verfeinert haben (Alice, 51 Jahre, S; Toni, 52 Jahre, M, beide heterosexuell). 79 Für einen Teil der heterosexuellen Sadomasochisten ist die Suche nach anderen Partnern tabu. Sie leben ihre Spezialisierung ausschließlich in der Zweierbeziehung aus. Nicht selten handelt es sich dabei um (Ehe)Paare, die ihre Neigung nur in den vier Wänden des eigenen Schlafzimmers zelebrieren. Dem Außenstehenden wird die Fassade eines bürgerlichen Lebens geboten, das keinen Anlass zu Vermutungen in Bezug auf bestimmte Sexualpraktiken gibt. Sadomasochismus ist bei diesen Personen Teil des familiären Privatismus, ohne dass es Berührungen mit der ‚Szene’ gibt. Solche ‚secret lives’ können mitunter sehr stabil und in eine lebenslange Partnerschaft eingebettet sein. Es gibt also Frauen, die genau wie Männer, ihren Sadismus oder Masochismus im Verborgenen ausleben. Sie sind bislang aber kaum untersucht und dementsprechend in den einzelnen Studien nicht berücksichtigt worden. Gerade vor dem Hintergrund der möglicherweise privateren weiblichen Sexualität sind die Verhaltensformen und der erotische Habitus dieser Frauen noch ein ‚weißer Fleck’ auf der sexualwissenschaftlichen Karte. Ihre Erkundung ist aber gleichwohl eine wichtige Aufgabe. Sie könnte mit dazu beitragen, ein genaueres Bild von der weiblichen Sexualität und damit auch des Sadomasochismus bei Frauen zu zeichnen. Gleichsam eine Subform der Monogamie sind Beziehungen, in denen nur einer der Partner eine Vorliebe für solche Neigungen entwickelt und sie nicht mit dem Partner ausleben kann. Als Ersatz wird deshalb der sexuelle Kontakt zu einer dritten Person hergestellt. Auffallenderweise haben wir diese spezifische triadische Struktur nur bei heterosexuellen Männern feststellen können: Felix: Ich lebe meinen Masochismus mit einer anderen Frau aus. Ich passe nur auf, dass meine Ehefrau nicht darunter leidet. Der habe ich das andeutungsweise gesagt, dass ich diese Veranlagung habe und auch geschildert, dass ich zeitweilig mit Dominas befreundet war. Da ich eine sehr intelligente und sehr kluge Frau habe, die wesentlich mehr denkt und weiß, als sie kundtut, gehe ich davon aus, dass sie die Zusammenhänge weiß und zufrieden ist, dass wir miteinander eine sehr, sehr glückliche Ehe haben. Denn sie hat mir ganz klar signalisiert, das ginge bei ihr unter gar keinen Umständen. Damit war das Thema passé (55 Jahre, M, heterosexuell). Die außerpartnerschaftliche SM-Beziehung und die SM-Neigung generell werden vor der Lebenspartnerin verheimlicht. Der Sadomasochismus wird gezielt aus der Dauerbeziehung fern gehalten und der Versuch einer Integration wird nicht unternommen. Die Fassade des ‚Normalen’ wird auch gegenüber der Lebenspartnerin aufrechterhalten. Nur die sadomasochistische Geliebte hat als Komplizin Zutritt hinter die Kulissen. Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, dass einige Dominas ihre Kunden in mancherlei Hinsicht besser kennen als die Ehefrau. 80 Wie schon angedeutet, treffen manche Paare auch ein Übereinkommen, wonach sich einer der Partner dazu bereit erklärt, die sadomasochistischen Vorstellungen des anderen mitzuspielen.46 Dies aber weniger aufgrund eigener Bedürfnisse, sondern aus dem Gefühl heraus, dem Partner einen Gefallen tun zu müssen oder auch aus der Angst, ihn zu verlieren. Die Erlebnisqualität, die durch solche Zugeständnisse hergestellt wird, ist für beide Seiten vermutlich unbefriedigend und kann Konflikte schaffen. Ähnliche Spannungsfelder tauchen zwar auch im Bereich der ‚normalen’ Beziehungen auf, dort gibt es in der Regel aber keine Unverträglichkeiten hinsichtlich der sexuellen Praktiken. Zudem ist der Partnermarkt zahlenmäßig nicht so drastisch limitiert. 1.3.3 Promiskuitive Beziehungen Seit den fünfziger Jahren hat die Bereitschaft zur Variation der sexuellen Praktiken und der Beziehung zu anderen Partnern zugenommen. Jedenfalls deuten die Ergebnisse der wichtigsten empirischen Studien darauf hin. In ihrer Untersuchung zum Sexualverhalten des Mannes gehen Kinsey u.a. (1948/1967) davon aus, dass etwa die Hälfte der Männer außereheliche Beziehungen unterhalten. Für Frauen stellen Kinsey u.a. (1953/1967) fest, dass etwa 17% im Alter von 29-40 Jahren außereheliche Partnerschaften eingehen. L.v. Friedeburg (1953) zufolge unterhalten 23% der Männer und 10% der Frauen sexuelle Beziehungen neben der Ehe. Wottawa (1979) zufolge haben 28% der Ehefrauen schon einmal außerehelichen Verkehr gehabt, bei den Männern betrug der Anteil 53%. Hite (1988) konstatiert, dass 70% der Frauen, die mehr als fünf Jahre und 72% der Männer, die mehr als zwei Jahre verheiratet sind, schon außerpartnerschaftliche Beziehungen hatten. Schnabl (1988, S. 522) schreibt aufgrund seiner empirischen Daten: „In mindestens jeder zweiten Ehe hatte mindestens ein Partner mindestens einmal außereheliche Beziehungen. Damit sollen gemeint sein: erotische und/oder sexuelle Beziehungen zwischen Partnern, von denen mindestens einer mit einer anderen Person verheiratet ist oder in eheähnlicher Gemeinschaft lebt.“ Promiskuitive Sexualkontakte scheinen 46 Weil insbesondere Männer wissen, dass sie alleine auf der Suche nach neuen Partnerinnen möglicherweise chancenlos sind, nehmen sie mit ihrer Gefährtin vorlieb. Man könnte hier - ganz im Sinne Eckert u.a. (1989) - von Konsensfiktionen sprechen, die auch in ‚normalen’ Ehen zur Herstellung eines bestimmten Ausmaßes an Konsens benötigt werden. Diese Konstruktionen sind für die Kontinuität der Partnerschaft wichtig: "Die Beziehungen leben von jenem Vertrauen in vorhandenen Konsens und wären ohne es nicht denkbar. Tatsächlich überzieht die Konsensunterstellung nicht nur den faktisch gegebenen, sondern auch den je möglichen. Aber gerade dieser Kredit - der sich als solcher nicht durchschaut - hält die Beziehungen aufrecht." (ebd., S. 53). Unter Knappheitsbedingungen ist aber sogar die durchschaute Fiktionalität des Konsens noch tragfähig, denn nicht wenigen der Befragten ist die Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Anspruch im Verlaufe der Beziehung durchaus bewusst geworden. Insofern ist das Modell der Konsensfiktionen nur bedingt anwendbar. 81 mittlerweile also ein verbreitetes Phänomen zu sein.47 Auch ein Teil der hetero- und homosexuellen Sadomasochisten mit und ohne festen Partner unterhält Intimbeziehungen zu verschiedenen Personen. Für die partnerlosen Personen ist dies oft der einzige Weg, mehr oder weniger regelmäßig sexuelle Kontakte zu haben. Bei denjenigen, die in einer festen Beziehung leben, impliziert die Entscheidung für einen Lebenspartner aber nicht - wie im Falle monogamer Beziehungen - die Festlegung auf einen Sexualpartner. Beide sind sich darüber einig, dass der Kontakt zu anderen Sexualpartnern wichtig und legitim ist. Oft spielen dabei Tauscharrangements im weitesten Sinn eine Rolle, so dass auch die auf dem Beziehungsmarkt weniger erfolgreichen Männer Partnerinnen finden können. Die besonderen Bedingungen auf den ‚Liebesmärkten’ in der sadomasochistischen Spezialkultur schaffen so Gelegenheiten für das Einüben promiskuitiver Verhaltensformen, ähnlich, wie sie bei den Schwulen zu finden sind: Lisa: Mein Traum war immer, mit zwei Männern zu schlafen, und ich habe das dann irgendwann vor ein paar Jahren erlebt. Da war es ein Fiasko. Heute ist es anders. Heute treffen mein Freund und ich uns regelmäßig mit noch einem Mann. Und wir machen uns einen richtig schönen sexuellen Abend mit SM. Und ich kriege wirklich alles als Frau. Ich genieße das (38 Jahre, M, heterosexuell). Albert: Mein Partner hat noch andere Freunde, mit denen ist er auch schon in Urlaub gefahren und nicht mit mir. Was nicht weiter schlimm ist, ich bin dann mit einem anderen schwulen Freund in Urlaub gefahren. Wenn ich mir das recht überlege, ist das schon erstaunlich, dass da keine Eifersucht aufkommt. Aber wir kennen uns alle kreuz und quer. Wir schätzen uns menschlich und finden uns sympathisch. Deswegen ist das vielleicht so. Vielleicht wäre es was anderes, wenn ich seine Freunde unsympathisch fände (25 Jahre, M, schwul). Lina: Heute habe ich keine feste Zweierkiste mehr, weil ich nicht monogam bin und so etwas nicht vertrage. Ich habe viele Liebesbeziehungen nebeneinander, und habe immer wieder die Tendenz, ‚Symbiose und Beziehung, bis dass der Tod uns scheidet’. Und dann irgendwann, manchmal mit großen Schmerzen, manchmal ohne Schmerzen, ist die Kiste aus (33 Jahre, S/M, lesbisch). Sexuelle Kontakte zu anderen werden deshalb bei diesen Sadomasochisten keineswegs zu einem Vabanque-Spiel, in dem die Beziehung zum Lebenspartner jedes mal riskiert wird. Im Gegenteil, das promiskuitive Sexualverhalten kann die Lebensgemeinschaft stabilisieren, denn die ‚amourösen Abenteuer’ werden als aus der Beziehung ausgelagerte Formen der indi- 47 Die dargestellten Forschungsergebnisse bestärken zwar die Vermutung, wonach promiskuitives Sexualverhalten zugenommen hat, ihre Generalisierbarkeit ist aber eingeschränkt: Erstens gibt es keine zuverlässigen und kontinuierlich erhobenen Zahlen und zweitens sind die Stichproben der einzelnen Studien zumeist nicht repräsentativ. 82 viduellen Bedürfnisbefriedigung und keineswegs als Attacke auf die Partnerschaft interpretiert. Dementsprechend können die Optionen für die Befriedigung sexueller Wünsche in promiskuitiven Partnerschaften gewählt werden. Sie werden in verschiedenen personellen Konstellationen (z.B. mit dem eigenen Partner und anderen gleichzeitig oder voneinander unabhängig) realisiert und zumeist nicht verheimlicht.48 Die sexuellen Vorstellungen werden in diesen Paarbeziehungen nach dem Motto ‚Erlaubt ist, was gefällt’ verwirklicht. Promiskuität wird aber nicht - wie in den sechziger Jahren - als das Ende repressiver Strukturen (vgl. Schrader-Klebert 1969) oder als das Ideal einer erotischen Partnerschaftskultur ideologisiert und stilisiert. Der Umgang mit der sexuellen Treue ist pragmatisch, ganz im Sinne einer Abwägung von persönlichen Vor- und Nachteilen.49 Promiskuität ist hier die beidseitige Einlösung eines Individualitätsanspruches. Das Paar begreift sich nicht als ‚Wir’, sondern als ‚Ich’ und ‚Ich’. Es gilt nicht mehr - wie im romantischen Liebesideal50 - eine paarzentrierte eigene Welt zu erschaffen. Vielmehr ist die Paarbeziehung in einen Partialisierungsprozess eingebunden, der die Rolle der Eheleute in immer mehr Teilrollen zerlegt, die wiederum mit der Partizipation an je spezifischen Sinnwelten verbunden sind. Sicherlich gibt es gemeinsame Interessen und emotionale Bindungen, es herrscht aber kein Gemeinsamkeitszwang. Die in diesen Beispielen offenkundig werdende Individualisierung von Interessen und Lebenslagen ist ein charakteristisches Merkmal der Moderne.51 Sie dringt auch in Räume wie die der Sexualität vor. Waren vormals traditionelle Moral, Fortpflanzungspflicht respektive gefahr oder auch die Paar-Verpflichtung zentrale Regulative für das sexuelle Verhalten, so ist es heute für einen bestimmten Personenkreis das individuelle Bedürfnis. Sexuelle Treue erscheint als ein Wert, der sowohl mit Individualismus wie auch mit Selbstverwirklichung inkompatibel ist. Einige Paare praktizieren dementsprechend eine Partnerschaft, in der andere 48 Im weitesten Sinne erinnern diese Figurationen persönlicher Beziehungen an das Konzept der 'Open Marriage' (vgl. O'Neill/O'Neill 1972). 49 Die Besonderheit dieser promiskuitiven Verhaltensformen wird vor dem Hintergrund von solchen monogamen Orientierungen deutlich, wo schon der Blick zu einem anderen Sexualpartner aus einem 'Beziehungszwang' und nicht aus einem 'Beziehungsbedürfnis' heraus tabu ist: In diesen 'zwanghaften' Beziehungen bleiben solche Wünsche in der 'wirklichen Welt' verboten und auf die 'Phantasie-Welt' des Einzelnen beschränkt. Beide Partner leben in solchen Fällen von der gegenseitig bekräftigten Vorstellung, dass ihnen ihr praktiziertes Sexualleben gefällt. Der "nomische Apparat" (Berger/Kellner 1965, S. 221) dieser Beziehungen lässt die Realisierung darüber hinausgehender sexueller Wünsche nicht zu, weil sie nicht in die gemeinsam konstruierte Wirklichkeit passen. Die Personen bleiben in diesen Fällen letztendlich 'intimate strangers' (vgl. Rubin 1983), denen die tatsächlichen Bedürfnisse des Gegenübers fremd sind. Die Gemeinsamkeiten dieser Paare basieren zu einem beträchtlichen Teil auf Verstehensunterstellungen und fiktiven Verständnissen (vgl. Hahn 1989). 50 Vgl. Dischner (1979); Luhmann (1982); Tyrell (1987) 51 Vgl. Beck/Beck-Gernsheim (1990); Heitmeyer/Olk (1990); Winter/Eckert (1990) 83 sexuelle Beziehungen durchaus ein mehr an Gemeinsamkeit bedeuten können, und die Monogamie ihre normative Kraft als Glücksideal verliert. Die ausschließliche moralische Legitimation bloß dyadischer Beziehungsmuster ist für diesen Personenkreis nur das Überbleibsel klerikalen Denkens. Festzuhalten ist, dass Promiskuität und Monogamie als ‚gleichberechtigte’ Beziehungsmuster im SM-Bereich zu finden sind. Diejenigen, die das Bedürfnis haben, monogam zu leben, erfüllen sich diesen Wunsch genauso selbstverständlich wie diejenigen, die über den Lebenspartner hinaus noch weitere Sexualkontakte haben wollen. Während Erstere die Partnerschaft als gemeinsames und exklusives Projekt definieren, gehen Letztere eine solche generelle Verpflichtung nicht ein. Ob die Etablierung dieser Beziehungsmuster an bestimmte Spezialkulturen gebunden ist, oder ob sie in ähnlicher Weise für andere Teile der Gesellschaft nachzuzeichnen sind, kann mit dem vorliegenden Datenmaterial nicht entschieden werden.52 1.3.4 Gruppenveranstaltungen und Feten Seit den fünfziger und verstärkt seit den sechziger Jahren ist der Gruppensex einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden: „Manche Paare sagten, sie betrieben das Swingen schon seit zwanzig Jahren, aber alle schienen darin überein zu stimmen, dass der Partnertausch seinen großen Aufschwung 1963 und 1964 erlebte, etwa zu der Zeit, als die Antibabypille populär wurde“ (Bartell 1972, S. 14). Nachdem sich die Antibabypille als zuverlässiges Verhütungsmittel durchgesetzt hatte und die gesetzlichen Bestimmungen liberalisiert wurden (Unzucht, Kuppelei), nahm die Zahl der Gruppensex-Anhänger beträchtlich zu (vgl. ebd.). Schon bald konstituierte sich eine regelrechte Szene mit eigenen Zeitschriften, Kontaktmagazinen und Treffpunkten. Die sexuelle Aktivität in der Gruppe ist aber nicht auf ‚normale’ heterosexuelle Kreise beschränkt. Sie kommt auch im Bereich anderer Sexualitäten vor. 52 Burkart (1991) hat eine qualitative Studie zum Zusammenhang von gesellschaftlicher Individualisierung und der Bedeutung von Treue durchgeführt. Im Ergebnis zeigte sich, dass die Promiskuität trotz Partnerschaft in den einzelnen Milieus (Alternativ-, Akademiker- und Arbeitermilieu sowie technisch-innovatives und ländliches Milieu) eine unterschiedliche Akzeptanz erfährt. Insbesondere im Arbeitermilieu wurde Untreue entschieden abgelehnt. In den anderen Milieus - im ländlichen etwas abgeschwächt - gehen die Personen hingegen eher bedürfnisorientiert und 'individualisiert' mit diesem Problem um. Burkart (1991, S. 506) bemerkt zusammenfassend: "Individualisierung (ist) kein gradliniger, reibungsloser und universeller Trend. Er läuft in verschiedenen Milieus mit unterschiedlicher Geschwindigkeit ab, und daher ist eher eine Polarisierung zwischen Familialismus und Individualismus zu erwarten (...) und damit zwischen einem rigiden und einem flexiblen Treue-Prinzip. Selbst wenn der Individualisierungsprozeß zu einem Bedeutungsverlust von Treue führen würde, müßte man davon ausgehen, daß dies nur für spezifische Milieus gilt" (ebd., S. 506). 84 So inszenieren auch homo- und heterosexuelle Sadomasochisten ihre Sexualität als GruppenHappening. Die Rahmen für solche Veranstaltungen können sehr unterschiedlich sein. Die private Party ist genauso zu nennen wie der Abend in einem Club, einem Dominastudio oder die Großveranstaltung. Manche Anbieter organisieren Veranstaltungen, an denen bis zu 1000 Personen teilnehmen. Sie werden hauptsächlich von Kleidungs- und Materialfetischisten besucht. Aber auch Sadomasochisten, die sich dort gerne im bizarren Outfit zeigen oder andere sehen wollen, kommen dort hin. Diese bizarren Bälle finden allerdings nur ein- bis zweimal jährlich statt. Daneben haben sich kommerzielle und private Agenturen gebildet, die GruppenSM-Abende organisieren. Sie bieten den Teilnehmern die entsprechenden Räumlichkeiten und Geräte bis hin zur Übernachtung mit Frühstück an. Beinahe alle Formen der privaten und kommerziellen Gesellungsorganisation sind also vertreten. Im Folgenden soll aber nicht weiter auf die Organisationsaspekte eingegangen werden. Die Analyse fokussiert auf die Offenbeziehungsweise Geschlossenheit der Gruppen sowie ihre spezifischen Erfahrungsmöglichkeiten. Unter dieser Fragestellung werden themenzentrierte SM-Inszenierungen dargestellt; des Weiteren Regeln, die in diesen Settings eine Rolle spielen. Offenheit und Abschottung bei Gruppenveranstaltungen Die sexuelle Betätigung in der Gruppe spielt in den erotischen Phantasien eine wichtige Rolle.53 Einige Menschen wollen diese Bedürfnisse auch ausleben und suchen Aufnahme in einen erotischen Zirkel. Kann aber jeder ohne Weiteres an erotisch gebundenen Gruppen teilnehmen, oder sind nicht gerade hier besondere Zugangshemmnisse zu überwinden? Die Beantwortung dieser Frage ist von der jeweiligen Veranstaltungsform abhängig. Fetisch-Bälle, SMDiscos oder ‚Painballs’ sind mehr oder weniger öffentliche Veranstaltungen. In der Regel kann jeder mit entsprechendem Outfit und einer Eintrittskarte teilnehmen. In den kleineren, überwiegend privat organisierten Zirkeln, gibt es hingegen Zugangsbeschränkungen. Nur die persönliche Empfehlung öffnet die Türen zu diesen Gruppen: René: Es gibt die allgemein bekannten großen Partys, zu denen im Prinzip jeder gehen kann. Dann gibt es aber auch noch die andere Seite. Das sind dann andere Kreise. Das spielt sich in kleinen Zirkeln ab, meistens in einem Privathaus. Da kommen dann so zwanzig Leute. (...) Das ist eigentlich am schönsten. 53 Hartmann (1989, S. 37) hat die Inhalte sexueller Phantasien untersucht und bildet dabei drei größere Kategorien (Intimität und Romantik, Ausprobieren und Vielfalt sowie sadomasochistische Themen). Zur zweiten bemerkt der Autor: "Eine zweite, häufig vorfindbare Dimension ist diejenige vom Typ 'Ausprobieren' bzw. 'Vielfalt', deren Vorstellungsinhalte am ehesten in die Richtung Promiskuität oder Gruppensex gehen (...)." 85 F: Wie findet man den Zugang zu solchen Privatzirkeln? René: Man muss die Leute kennen, die in so einer Gruppe integriert sind. Wenn man Glück hat, wird man dahin empfohlen. So kommen auch hin und wieder Neulinge. Die werden aber sehr sorgsam ausgesucht. In den USA bin ich in mehreren solcher Zirkel. Aber nur weil ich persönlich dorthin empfohlen wurde. Sonst hat man keine Chance, in den Kreis aufgenommen zu werden, das muss ich betonen (42 Jahre, S, heterosexuell). Franziska: Die Leute in meinem Zirkel sind gesiebt. (...) Wenn mich jemand anruft, dann entscheide ich oft schon beim Anruf, ob ich das Gespräch überhaupt fortführe. Das offenbart sich mir schon sehr bald. Das merkt man an der Art zu sprechen, am Tonfall, am Gebrauch der Worte usw. Da treffe ich schon eine Auswahl. Die zweite Auswahl findet dann statt, wenn ich den Betreffenden sehe (55 Jahre, S, heterosexuell). Ähnliches gilt für die SM-Lesben. Sie inszenieren ihren Sadomasochismus als ‚invisible lives’ (vgl. Unruh 1983) ausgesprochen öffentlichkeitsfern. Der Zugang zu und die Integration in ihre Gruppen ist selbst für Lesben problematisch: Janine: Adressen und Kontakte sind bei uns so eine Sache. Da kommt noch lange nicht jede dran. Eine, die sich eingeschlichen hat und nichts mit SM am Hut hat, die fällt sofort auf. Du musst quasi empfohlen werden, sonst läuft nichts (33 Jahre, S/M, lesbisch). Allerdings sind es insbesondere feministisch orientierte Lesben, die sich rigoros abkapseln. Andere lesbische Sadomasochistinnen sind hingegen gelegentlich auf Hetero-Veranstaltungen zu finden und beschäftigen sich dort auch im Rahmen ihrer SM-Neigung mit Männern. Bei den Schwulen ist insbesondere die Aufnahme in einen Club keineswegs selbstverständlich. Ihre Darkrooms und Lederbars sind dagegen recht einfach zugänglich und bilden einen halböffentlichen Raum, der eigentlich nur Frauen verschlossen ist (vgl. Wetzstein u.a. 1993). Mit der Organisationsform hängt auch der Grad der Intimität zusammen. Auf den größeren Veranstaltungen ist der sexuelle Aktionsradius eindeutig begrenzt. Erlaubt ist das bizarre Outfit oder auch die gekonnt umrahmte Nacktheit. Plaudern, das obligatorische Büffet, Vorführungen, Shows sowie Tanz und Spiele bilden die Aktivitäts-Schwerpunkte. SM-Handlungen kommen, je nach Gruppe, angedeutet im Rollenspiel oder als Sklavenvorführungen, die auch etwas härter sein dürfen, vor. Wer diesen Rahmen überschreiten und selbst sadomasochistische Aktionen durchführen will, muss in die dazu vorgesehenen ‚chambres separées’ ausweichen oder auf die oftmals anschließend stattfindenden Privattreffen warten. Von ihrer sozialen Konstruktion erinnern die Bälle und Tanzfeste damit am ehesten an Karnevalsveranstaltungen. Einige Regeln des Alltags und bestimmte Konventionen werden temporär außer Kraft 86 gesetzt:54 Frivolitäten sind erlaubt, in der Regel sogar erwünscht. Die Kleidung ist reduziert auf ihre erotische Signalwirkung. Wie beim Karneval kann jeder in eine beliebige Rolle schlüpfen: die grausame Domina oder der hündische Sklave, der Mann wird zur Frau und umgekehrt. Doch auch hier werden „vereinbarte Grenzen etabliert, eine Definition des zu geringen und zu starken Engagements“ (Goffman 1980, S. 376) vorgenommen. Ein zu geringes Engagement könnte z.B. dann vorliegen, wenn jemand nicht den geforderten Kleidungskonventionen bei einer Party entspricht. Der Ausschluss von der Veranstaltung kann die Folge sein. Wird trotzdem Zutritt gewährt, wartet zumeist die Rolle des Außenseiters - etwa so, wie der unverkleidete Besucher eines Masken- oder Kostümballs - mit dem keiner so recht etwas anfangen kann. Umgekehrt kann auch das zu starke Engagement die Rahmenvorgaben verletzen, können etwa bestimmte SM-Darbietungen in unerlaubten Situationen stattfinden. Je vertrauter der Teilnehmerkreis aber ist, desto intimer wird die Atmosphäre. In diesem Ambiente sind auch drastische Aktionen erlaubt. So erinnert sich eine 43jährige heterosexuelle Sadistin: Auf der letzten Fete ging ziemlich was ab. Die dauerte zwei Tage lang. Da hatten sie eine Frau zugenäht. Das war eine Sache. Das war nicht der Geschmack von vielen. Aber es ist komischerweise keiner weggegangen. Geguckt hat jeder, denn es war einfach interessant. Allerdings wurde es von jemandem gemacht, der Ahnung hat. Es sah sehr schön aus. (...) Andere Paare machen was zusammen, mal kommen dritte und vierte dazu. Aber nicht so, wie beim Rudelbumsen. Es geht um SM. Manchmal behandeln auch mehrere Frauen einen Typen, z.B. die Hoden an die Oberschenkel oder den Schwanz an den Bauch annähen, wenn es etwas Hartes sein soll. Oder eben Hoden und Penis so abbinden, dass er um die doppelte Länge länger wird. Oder Bondage, dass sie sich absolut nicht mehr bewegen können. So in die Richtung, das sind eben harte Sachen. Die können sie normalerweise in einer großen Gruppe nicht so machen, weil das nicht jeder mag. Das haben wir halt öfters in einer kleineren Gruppe gemacht. Die Personen in einer Kleingruppe sind sich meistens schon länger bekannt. Dementsprechend weiß jeder um die Unverträglichkeiten bei den anderen Teilnehmern. So ist normalerweise sichergestellt, dass Geschmäcker und Toleranzgrenzen das gleiche Niveau haben. Trotz der weit gefassten Grenzen gibt es einen kleinsten gemeinsamen Nenner, der nicht verletzt werden soll. Insbesondere dann, wenn Ekelbarrieren überschritten werden, entstehen häufig negative Stimmungen, die das Ende der Veranstaltung bedeuten. Auf Dauer kann eine sexuel- 54 So bemerkt Runkel (1986, S. 101): "Im Karneval artikuliert sich in spielerischer Form das Unterdrückte und Verdrängte. Es treten freiere Formen der Sexualität und die alte Sehnsucht der Frauen nach Abschaffung der Männerherrschaft auf, z.B. am Schwerdonnerstag (Altweiberfastnacht), an dem im Rheinland noch immer die Frauen (Möhnen) umherziehen, um den Männern den Schlips, ein Phallussymbol, abzuschneiden." 87 le Gruppe nur dann bestehen, wenn es ihren Mitgliedern gelingt, die Aversionen von Einzelnen gegenüber bestimmten Negativ-Stimuli nicht zu provozieren und die jeweiligen Bedürfnisse zu versöhnen. Wohl auch deshalb sind Gruppeninitiativen, die versuchen, alle sexuelle Orientierungen in gemeinsamen Veranstaltungen zu integrieren, häufig zum Scheitern verurteilt. Die Funktionen der Gruppe Das Interesse an Aktivitäten in der Gruppe ist recht stabil. Die einzelnen Personen sind teilweise mehrere Jahre in eine Gruppe involviert und dort sexuell aktiv. An dieser Stelle stellt sich die Frage nach den Motiven für die Gruppenzugehörigkeit. Was macht die Faszination des Gruppenerlebnisses aus, und was treibt den Einzelnen mitunter über einen sehr langen Zeitraum immer wieder zu diesen Veranstaltungen? Maßgebliche Bedeutung kommt dem „Sehen und Gesehenwerden“ zu. Die Präsentation des eigenen (nackten, halbnackten oder verkleideten) Körpers oder das Anschauen von anderen Teilnehmern wird zu einer wichtigen Faszinationsquelle. Die Gruppe konstituiert so eine Situation, in der die Schaulust bisweilen sogar erwünscht ist. Damit unterscheiden sich die gruppengebundenen von einigen anderen Ausprägungen des Exhibitionismus und Voyeurismus, die durch Anonymität und Heimlichkeit charakterisierbar sind und auf einer „vorpersonalen Ebene“ (Schorsch 1980b, S. 124) verbleiben. Roman: SM in der Gruppe ist ein sehr interessanter Aspekt. (...) Das ist sicherlich so eine Art von Vorführeffekt. Dass da noch jemand ist. Das ist nicht nur so eine ganz enge Beziehung zwischen ihr und mir, sondern da ist noch eine andere Person oder zwei. Das ist so eine Quasi-Öffentlichkeit. Also ich würde es sicherlich nie in der Öffentlichkeit tun, aber in diesem Rahmen ist es mir möglich, sehr intim zu werden (40 Jahre, S/M, heterosexuell) Christa: Also, was ich eben gerne mache, das ist in Verbindung mit Öffentlichkeit. Also ich gucke gerne zu, ich mache auch gerne was. Das ist das, was mich dann daran reizt und eben, ja, dieses hautnahe Mitkriegen von dem, was andere machen. Das kenne ich eben nur aus der SM-Szene. Sonst läuft das Vögeln heimlich zu zweit ab. Und wie es andere machen, wie sie überhaupt da rangehen, keine Ahnung. Nur in der SM-Szene habe ich wirklich was von anderen mitbekommen. Es gibt da keine falsche Scham, aber auch keinen Zwang. Und das mag ich eigentlich so an der Gruppe (28 Jahre, M, heterosexuell). Christine: Ich mache auch gerne Gruppensex, aber die Gelegenheit ist natürlich äußerst selten. (...) Als ich das das erste Mal gemacht habe, da ging es mir Tage danach völlig gut. Dann habe ich gemerkt, das ist schon was, was mir völlig Spaß 88 macht, was mir am meisten bringt. Ich habe das sehr gerne, wenn ich anderen zuschauen kann oder auch von ihnen lernen kann (26 Jahre, S/M, lesbisch). Eine weitere Funktion kommt der Gruppe als Partnersuch- und Tauschbörse zu. Befreit vom Zwang des Verbergens der Neigung spielen sich Flirt und Anmachen genauso ab, wie es bei Nicht-Sadomasochisten der Fall ist. Die Partner in der Gruppe können beständig wechseln, etwa durch den Austausch der Sklaven. Dadurch wird die Gruppe auch zu einem Lern- und Experimentierfeld, wo Praktiken und Variationen hautnah erlebt und ausprobiert werden können. Lisa: Die Treffen sind einfach schön. Da lernst du mal wieder jemand kennen und machst vielleicht mal was mit dem und so weiter. Das ist das Gute an der Gruppe, du lernst eben immer Leute kennen, kannst Kontakte aufbauen (38 Jahre, M, heterosexuell). Oliver: Mit der Zeit findet sich eine Gruppe, die sich schon länger kennt. Das ist auch wichtig wegen der Kontakte. Da sagt der eine: ‚Guck mal, den und den, und der würde mal gern mit dir.’ Und da macht man die Connection und geht mal zusammen in die Kammer rein. Durch ein Gespräch weißt du auch, was derjenige von dir will, oder was ich von dem will. Auf jeden Fall ist es eine Möglichkeit, Sexpartner zu finden (29 Jahre, S/M, schwul) Auch eine therapeutische Funktion der Gruppe darf nicht übersehen werden. Sie konstituiert einen Raum, wo ohne Scheu und Ängste über die eigene Neigung geredet und diskutiert werden kann. Nicht selten ist der Eintritt in eine Gruppe für den Einzelnen ein befreiendes Erlebnis. Übereinstimmend berichten viele Befragte, dass das Kennenlernen von Gleichgesinnten den Leidensdruck ihrer Neigung erheblich reduziert oder gar gänzlich eliminiert hat: „Die positive Bewertung der devianten Interessen innerhalb des subkulturellen Raums ist mehr als eine Voraussetzung der partnerschaftlichen Beziehung. Sie ist für viele Betroffene bereits Teil-Erfüllung ihrer Wünsche, dann nämlich, wenn direkte Begegnungen unmöglich oder selten sind. (...) Die Entlastung, die in einer indirekten oder direkten Verbindung zu Gleichgesinnten besteht, die Befreiung von Schuldgefühlen und das Aufkommen manchmal kämpferischen Selbstbewußtseins, die ‚Selbstakzeptation’ sind Möglichkeiten der subkulturellen Organisation“ (Spengler 1979, S. 39). Inszenierungen und Theaterstücke Eine besondere Erlebnisform wird durch die Inszenierung des Gruppenerlebnisses mit einem bestimmten Handlungshintergrund erzeugt. Wie bei einem Theaterstück werden Rollen an die Teilnehmer vergeben. Es gibt einen oder mehrere Regisseure (zumeist die Vertreter der S- 89 Position), die das Drehbuch und die Dramaturgie festlegen. Solche Gruppen-Happenings bedürfen einer längeren Vorbereitung, damit die entsprechenden Räumlichkeiten, Requisiten etc. beschafft werden können. Die Mitspieler werden zumeist lange vorher eingeladen und in die Rolle eingewiesen. Solche Veranstaltungen werden von Domina-Studios für interessierte Kunden oder auch von privaten Zirkeln organisiert. Thematisch drehen sich alle Inszenierungen um das Spiel von Macht und Erniedrigung, von Folter und Schmerz oder Strafe und Gehorsam. Die gesamte Themenvielfalt der populären Kultur oder auch der üppige historische Fundus werden als Vorlagen bemüht. Dabei handelt es sich z.B. um mittelalterliche KerkerSzenarien, Zofenspiele oder Gerichtsverhandlungen mit anschließenden Verurteilungen. Daneben können auch Bücher, wie z.B. die ‚Geschichte der O’, die Vorlage für ein Theaterspiel liefern. Eine besondere Variante des Strafthemas ist die Schulerziehung. Der passive Teil schlüpft in die Rolle des Schülers, während der aktive Part den Lehrer spielt. Die Strafe, die der Schüler für Falschlösungen oder Fehlverhalten erhält, wird in Form von Stockschlägen erteilt. Nicht zuletzt werden auch religiöse Themen verwendet, beispielsweise Kreuzigungen oder die Umgestaltung eines Passionsspiels. Bei den Schwulen gibt es als Sonderform das Drill-Lager, das paramilitärische Rahmen adaptiert. Ferdinand: Mir war die Teilnahme an einer recht genau inszenierten Jesus-Kreuzigung mit verteilten Rollen (Pilatus, Schergen, Schächer...) vergönnt. In verteilten Rollen standen die Texte und Handlungen von vornherein fest. Der zu Kreuzigende hatte alles genau vorbereitet. Ca. acht Personen waren verkleidet und mit dem notwendigen Instrumentarium versehen. Solche Inszenierungen werden aber eher selten geplant und durchgeführt (43 Jahre, S/M, bisexuell). Ralf: Ich habe Inszenierungen im Stile des Mittelalters erlebt. Ich war ein Lakai. Es nahmen ca. dreißig Personen teil. Dabei sind natürlich Requisiten erforderlich. Ca. zwei- bis dreimal im Jahr findet so etwas auf einer Burg mit Folterkammer statt (39 Jahre, M, bisexuell) Lina: Ich hatte mal eine Freundin auf der Bühne getopt. Die musste zu der Zeit gerade Diät leben, weil sie sich auf einen Kickbox-Kampf vorbereitet hat, und ich habe sie dann vor den ganzen Zuschauerinnen gezwungen, so richtig viel zu essen. Auch das Publikum habe ich mitgetopt. Meine Freundin musste zu denen hinkriechen und sich füttern lassen. (...) Ich habe sie dann auch gefickt auf der Bühne, mit der Hand. Sie ist völlig abgefahren darauf, es vor Publikum zu machen. Natürlich habe ich dann auch zwischendurch Dinge gemacht, von denen ich wusste, die macht sie überhaupt nicht gerne, z.B., sie hasst Ketten. Wenn ich sie dann in Ketten gelegt habe, hat sie immer das Gesicht verzogen und ist wütend geworden und hat mich angespuckt, und dann konnte ich sie wieder bestrafen dafür (33 Jahre, S/M, lesbisch). Thomas: Ich mache gerne Uniformspiele und wir versuchen, solche Sessions so perfekt wie möglich in einem ‚Military Camp’ zu inszenieren. Da gibt es dann 90 Rekruten und einen oder manchmal auch mehrere Ausbilder. Wenn ich jetzt z.B. Rekrut bin, dann werde ich da durch Wald und Wiesen gejagt, ich muss mich in den Schlamm fallen lassen und so weiter. Natürlich finden die Ausbilder immer einen Grund, um einen zu bestrafen. (...) Manchmal wirst du dann für Stunden an einen Baum angebunden und keiner kümmert sich mehr um dich (29 Jahre, S/M, schwul). Die besonderen Reize bei diesen Inszenierungen sind die vielfältigen Möglichkeiten, den sadomasochistischen Arrangements ihre Beliebigkeit und Willkürlichkeit zu nehmen. Eingebettet in einen entsprechenden Handlungsrahmen werden Strafe und Schmerz zu einer dramaturgischen Notwendigkeit: Marko: Ich finde es absurd, ‚grundlos’ gedemütigt und bestraft zu werden. Ich möchte, dass dies im Rahmen einer ausgedachten ‚realen’ Situation geschieht. So ist es viel leichter möglich, zu vergessen, dass man ja aufgrund des eigenen Wunsches dominiert wird - und eventuell sogar dafür bezahlt hat. Wenn eine Geschichte mit Requisiten etc. inszeniert wird, kann man sich leichter der Illusion hingeben, dass das Ganze einem aufgezwungen wird, dass man hilflos und ausgeliefert ist (43 Jahre, M., heterosexuell). Nicht die Anonymität der ‚Perversion’, die ‚Triebsituation’ oder das Gutdünken des dominanten Teils fordern den Schmerz, die Erniedrigung und Demütigung, sondern das Skript des Spiels. Manche Akteure, die ihr Tun als krankhaft und regressiv empfinden, können sich für den Zeitraum der Inszenierung vom Leidensdruck befreien. Sie verschmelzen in der Phantasie und im Tun mit dem Spielrahmen. Die Theateraufführungen sind deshalb auch ein Versuch, die Phantasie wirklich werden zu lassen. Die Grenzen der Wirklichkeit sind es aber, die immer wieder für Brüche sorgen und die Fiktion auflösen: Reinhold: Ich finde, es kann leicht ins Lächerliche entgleiten, wenn eine Inszenierung zu dick aufgetragen wird. Reizvoller ist es fast immer, eine entsprechende Stimmung herzustellen. Ein Beispiel: Wollte man eine Lehrer/Schüler-Situation herstellen, ist es wichtig, die verbal-psychologische Stimmung zwischen Lehrer und Schüler(in) herzustellen und darauf zu achten, dass die vorhandenen Accessoires dem nicht widersprechen. Also, in diesem Fall nicht unbedingt eine Schülerin mit Straps und High-Heels. Das ist auf jeden Fall unglaubwürdig. (...) Das Faszinierende ist zum einen die Lust am Spiel schlechthin und zum anderen der Versuch, sich möglichst dicht der Realität zu nähern, die ja die Vorbilder für SMInszenierungen liefert, aber eben nicht erreicht werden kann und soll (57 Jahre, M., heterosexuell). Einige Sadomasochisten nehmen wegen den desillusioniernden Realitätseinbrüchen nicht an diesen Spielen teil. Sie fürchten, dass die Umsetzungsversuche ihrer Phantasie die Vollkommenheit raubt. 91 Regeln und Bestimmungen in der Gruppe Weinberg (1973) hat den Umgang mit sexueller Schamhaftigkeit in FKK-Lagern untersucht. Schamhaftigkeit und Nacktheit - so gängige Vorstellungen - passen nicht zusammen: „Die Vorstellung, daß diese Kleidungsschranke plötzlich nicht mehr existiert, lässt sofort Bilder von zügellosen sexuellen Wünschen, Promiskuität, Verlegenheit, Eifersucht und Schamgefühl entstehen“ (ebd., S. 244). Dieser Einschätzung ist Weinberg empirisch nachgegangen. Er hat festgestellt, dass FKK-Anhänger Nacktheit neu definieren. Nacktheit hat keinen Bezug zur Sexualität, denn in den Lagern gibt es einen strengen Regelkanon, der die Situation entsexualisiert: Witze mit sexuellem Inhalt, Gespräche über Sex, Körperhaltungen, die als sexuelles Signal interpretiert werden können, etwa das Spreizen der Beine bei Frauen oder auch das Anstarren von Personen werden nicht geduldet.55 Alle Anwesenden überwachen die Einhaltung dieser Regeln und obwohl sich in einem FKK-Lager nur nackte Menschen begegnen, benehmen sie sich so, als seien sie bekleidet. Bei der SM-Gruppenveranstaltung handelt es sich per se um eine sexuell orientierte Situation. Aber auch hier bilden sich verschiedene Regeln heraus. 1) Um Neulingen den Zugang zu den Gruppenevents zu erleichtern, gibt es im weitesten Sinne Initiationsregeln: Das ist natürlich alles neu, ist doch ganz klar. Da guckst du erstmal. Mir war auch nicht danach, irgendwas zu machen. Aber das Angenehme in dieser Gruppe ist, die machen dir den Einstieg eben sehr einfach. Die kriegen das auch schon mit und lassen dich erstmal da sitzen und gucken. (...) Wenn sich der erste Eindruck gesetzt hat, helfen die einem schon weiter. Wenn sich die Novizen für den Verbleib in Gruppe entschieden haben, werden sie in die Regeln und Gepflogenheiten eingewiesen. Sie werden gleichsam in das Gruppenleben hineinsozialisiert. Erst dann sind sie akzeptierte Mitglieder. 2) Für den Umgang innerhalb der Gruppe ist die Freiwilligkeit die wichtigste Regel. Niemand darf zu etwas gezwungen werden: Wichtig ist, dass alles freiwillig ist. Ich meine, wenn ich da zu etwas gezwungen werde, dann würde ich ausrasten. Aber ich kann mich nicht entsinnen, dass das schon einmal vorgekommen ist. Gerade im Bereich der Gruppenveranstaltungen ist Einhaltung der Freiwilligkeitsbestimmungen unverzichtbar und wer gegen diesen Grundsatz verstößt, wird normalerweise sofort ausgeschlossen. 3) Eng mit der vorhergehenden Regel ist die Bestimmung verbunden, wonach die individuellen Geschmacks- und Ekelgrenzen akzeptiert werden müssen: Wenn jemand einer Frau die 55 Weinberg (1973, S. 247) bemerkt, dass scheinbar niemand von der Nacktheit der anderen Anwesenden Notiz nimmt: "Alle gucken in den Himmel, nicht einer guckt nach unten." 92 Schamlippen zunähen will, dann soll er es bitte in einem Eckchen oder einem anderen Raum machen und sagen: ‚Da drüben wird das gemacht, wen es interessiert, der soll zugucken’. Die Verletzung von Ekelgrenzen kann mitunter die ganze Stimmung verderben und das Ende der Veranstaltung bedeuten. 4) Eine weitere Regel besagt, dass bestehende persönliche Beziehungen respektiert werden müssen: Es ist üblich bei solchen Treffen, dass man immer die Domina fragt ‚Darf ich das? Darf ich Deinen Sklaven haben? Darf ich das machen?’ Das ist eigentlich üblich, dass man da höflich fragt. Die Vorstellung, wonach Gruppenveranstaltungen ein regelloses ‚Rudelbumsen’ sind, kann nicht aufrecht gehalten werden. Aufgrund der spezifischen Machtsituation im SM-Arrangement ist es üblich, dass der dominante Partner in die Behandlung seines Sklaven einwilligen muss. Das umgekehrte Einverständnis ist allerdings nicht erforderlich, wenngleich vor der Veranstaltung des Öfteren zwischen aktivem und passivem Partner entsprechende Übereinkünfte getroffen werden. 5) Neben diesen allgemeinen Regeln gibt es zahlreiche gruppenspezifische Übereinkünfte. So ist z.B. in einigen Gruppen der Geschlechtsverkehr untersagt: Sie müssen eines verstehen. Bei diesen Partys gibt es keinen Geschlechtsverkehr, wenn es eine richtige Sache ist. Höchstens Ersatzhandlungen am Mann oder an der Frau sind zugelassen. Hinzu kommt, dass das Spektrum der erlaubten Praktiken variiert. Was in der einen Gruppe als zu hart abgelehnt wird, ist in einer anderen völlig normal. Auch die Handhabung von homosexuellen Aktivitäten ist uneinheitlich; bei manchen Gruppen sind sie erlaubt, bei anderen werden sie toleriert, und wiederum bei anderen sind sie untersagt. 6) Schließlich gelten in der Gruppe noch verschiedene weitere Regeln, die auch in der Zweierbeziehung gelten, etwa Grenzen, Stopcodes etc. Sie sollen ein mehr oder weniger sicheres sadomasochistisches Arrangement gewährleisten (vgl. Kap. III.1.5). Dieser Verhaltenscodex findet sich sowohl bei homo- als auch heterosexuellen Sadomasochisten. Selbst in der scheinbar anarchischen Situation des Darkrooms gibt es Basisregeln, die den Radius des Einzelnen begrenzen. 1.3.5 Exkurs: Die professionelle Domina-Szene Hinter der Kellertür öffnet sich der purpurrote Samtvorhang und der Blick fällt in einen kleinen, mit rotem Teppichboden ausgelegten Raum. In der Ecke stehen eine schwarze Ledercouch und ein Glastisch. Es ist ziemlich dunkel, und nur das schwache Rotlicht lässt die Umgebung erkennen. An den weißen Wänden hängen gerahmte Zeichnungen, die verschiedene SM-Praktiken zeigen. Ein langer Gang 93 mit vielen Türen führt zu verschiedenen Zimmern. Der nächste Raum ist mit dunklem Holz verkleidet und teilweise mit Balken und Verstrebungen versehen. Der Fußboden ist mit schwarzem PVC ausgelegt. An den Wänden hängen schmiedeeiserne Werkzeuge und Lederkleidung: Peitschen in unterschiedlichen Ausführungen, Rohrstöcke, Zaumzeug, Handschellen, Fesseln, High-HeelOberschenkelstiefel aus Leder, Pranger, Flaschenzug, Andreaskreuz, Sling, Streckbank, diverse Dildos u.v.m. In einer Ecke steht ein Käfig und mitten im Raum eine Streckbank. Der nächste Raum ist mit schwarz-roter Lackfolie verkleidet und mit schwarzem PVC ausgelegt. An einer Wand steht ein Bett, das mit Gummibettwäsche bezogen ist: ein Laken und ein Kopfkissenbezug aus rotem Latex. An Haken und Kleiderständern hängt Gummikleidung in allen Variationen und Farben: schwarz, rot, lila, Gummisäcke, Ganzanzüge, Gummimasken, Gummistrümpfe. Gummi und schwarzer PVC bestimmen auch das Ambiente des nächsten Raumes. Über einem großen roten Gummibett ist an der Decke ein Spiegel installiert. An einer Wand steht eine ca. 2,50 m lange Wanne und ein Stuhl, der aussieht, wie der beim Gynäkologen. Dann wieder ein langer Flur mit verschiedenen Türen. Weißer PVC-Boden, weiße Wände, an denen breite Aluminiumleisten befestigt sind, auf denen ‚Station A3’, ‚Zum OP’ und ‚Zu den Krankenzimmern’ geschrieben steht. An der Seite steht eine Bahre auf Rollen. Am Ende des Ganges befindet sich ein Empfangschalter: Werbegeschenke von Pharmakonzernen, Kugelschreiber, Terminkalender, Neonröhren an der Decke, Telefon. Dahinter steht ein Schreibtisch mit einer Schreibmaschine. Im nächsten Raum: In der Mitte eine riesige OP-Lampe, darunter ein Operationstisch, an den Wänden Schränke aus Chrom. Eine Schublade ist geöffnet. Verschiedenes chirurgisches Besteck ist dort einsortiert. Auf den Schränken liegen Spritzen in verschiedenen Größen, Mullbinden, OP-Handschuhe; große, dicke, bis zum Oberarm reichende Gummihandschuhe, Geburtszangen, eine Gasmaske, verschiedene Katheter mit Urinbeutel, Vibratoren, Klistierbecher und -schläuche, Schüsseln, Wäscheklammern, Desinfektionsmittel, Alkohol, Milchpumpen, Wattetupfer. In einer abgetrennten Ecke steht ein gynäkologischer Stuhl. Von hier aus führt ein Flur zu den Krankenzimmern. Ihre Einrichtung besteht aus einem Krankenbett, einem Nachttisch, einem Wäscheschrank, einem Fernseher und - einem Kreuz an der Wand. In dieser Beobachtungssequenz werden die verschiedenen Räume eines professionellen Domina-Studios beschrieben.56 Für einen Stundensatz zwischen 200 und 600 DM können sich hier die Besucher von der Domina ‚behandeln’ lassen. 56 Die großen und bekannten Domina-Studios sind ähnlich ausgestattet. Manche Studios haben zusätzlich für Windelsex eine Babyecke mit Bausteinen, Schnullern und Rasseln oder für die Schulerziehung ein Klassenzimmer mit Schulbänken, Tafel und Rohrstock eingerichtet. Entsprechend der jeweiligen Preisklasse variiert die Ausstattung der Studios beträchtlich. 94 Abb.: „Behandlungsraum“ mit Werkzeugen und Foltergeräten (Quelle: www.avalon-berlin.de) Wie ein Kunde den Weg zu einem Domina-Studio findet, welches Selbstverständnis für die Frauen typisch ist und wie deren Bild aussieht, das sie von ihren Kunden haben, ist im Folgenden dargestellt; ebenso die Verflechtung von Domina- und Prostitutions-Szene. Der Weg in das Studio Dominas stellen ihr Studio in Form von Annoncen in den einschlägigen Magazinen vor. Immer mehr sind solche Angebote in der Tagespresse und vereinzelt auch in Wochenzeitungen wie der ‘Zeit’ zu finden. Dann sind die Texte allerdings codiert. Der Anzeigentext, der häufig mit Photos versehen ist, beschreibt das Repertoire der einzelnen Praktiken und die Ansprechmöglichkeiten für den Kunden. Hier einige Beispiele: Einfühlsame Dominanz durch die ungewöhnliche Madame X. Leder, Gummi, Lack in separaten, stimulierenden Räumen mit technischen Überraschungen. Heiße u. stimmungsvolle Behandlungen, auch mit attraktiver Zofe. Das Studio der Exclusivität. Diskret, Perfekt, Gekonnt. Immer eine Peitschenlänge voraus! Salon X. Besonderheiten: Neuer Soft-Erziehungsraum mit raffinierter Ausstattung. Jetzt auch: Gummi-, Klinikstation und TV-Umkleidekabinett. Blutjunge Sex-Sklavin X (s. Bild). Aufstellung verschiedener Programmangebote für den S/M-Neuling. Gräfin X. Höre - Du unterwürfige Seele! Endlich bin ich für Dich da! Agil, weiblich und sehr vollbusig. Eine Herrscherin mit Format. Ich werde Dich, auf meine 95 subtile Art, in die Welt Deiner gewagten Träume führen. Kein Wunsch bleibt ungehört, keine Neigung ungeachtet. Auch mit körperlichem Kontakt mit mir. Softstreng, auch medizinisch (Safer-Sex). Ich weiß, Du wirst mir hörig sein! Ruf an! Rassige Domina, sehr sauber und erfahren, erfüllt alle Wünsche. In meinem voll eingerichteten Kabinett können wir die tollsten Unterwerfungsspiele treiben (Anal, NS, Doktorspiele, Klistier, TV-Erziehung usw.). Anfänger führe ich gerne ein. Nach der Lektüre der Anzeigentexte und der Entscheidung für ein bestimmtes Angebot stellt der Kunde den ersten Kontakt üblicherweise über das Telefon her.57 Dadurch kann er in einem ersten Gespräch unverbindlich prüfen, ob ihm das Angebot zusagt. Gegebenenfalls wird ein Termin vereinbart und - soweit im Kontaktführer nicht aufgeführt - die Adresse bekannt gegeben. Kommt es dann zu einem Studiobesuch, ist zu klären, welche konkreten Wünsche an die Domina herangetragen werden, welches die bevorzugten Praktiken sind, aber auch welche Grenzen von der Domina akzeptiert werden sollen. Für diese Aushandlungsphase gibt es unterschiedliche Möglichkeiten: Hanna: Es gibt Gäste, die kommen hierher und wissen genau, was sie wollen. Das ist eigentlich recht gut. Ich will zwar nicht alles konkret wissen, aber ich brauche drei, vier Anhaltspunkte, und daraus mache ich dann irgendein Programm. Dann gibt es wiederum die anderen, die alles bis in das kleinste Detail ausgeklügelt aufgeschrieben mitbringen. Das ist mir schon wieder viel zu sehr festgelegt, denn als Domina will man noch einen gewissen Freiraum haben. Und dann gibt es die, die sich so schämen, dass sie überhaupt nicht damit herüberkommen, was los ist. Da fängt dann eigentlich die richtige Arbeit an. Die meisten genieren sich so, dass sie sich mir im Gespräch nicht offenbaren und herumdrucksen. Für diese Fälle habe ich dann einen Fragebogen, wo sie diverse Dinge ankreuzen können, damit ich weiß, in welche Richtung die Tendenz geht. Dann kann ich wenigstens einen Ansatzpunkt für ein Gespräch finden, denn es ist ja schwer, an so jemanden ranzukommen, und irgendwo ist die Zeit begrenzt. (...) Oftmals weiß ich aber auch einfach so aus der Erfahrung heraus, was einer will, wenn er mein Studio betritt. Man erkennt auch am Verhalten mancher Leute bereits, wie sie veranlagt sind (38 Jahre, Domina, Studioinhaberin). Schambarrieren und Hemmschwellen machen es vielen Kunden schwer, über ihre Neigung zu sprechen. Deshalb hängt es wesentlich vom Geschick der Domina ab, ob der Kunde zufriedengestellt werden kann. Manche Dominas sind dazu übergegangen, einfach aufschreiben zu lassen, was der Einzelne bevorzugt. Andere Kunden formulieren ihre Phantasien und Wün- 57 Manche der Studios wollen keine Laufkundschaft, weshalb sie nur unter Angabe der Telefonnummer inserieren. Um zu vermeiden, dass ein Kunde aus Zeitmangel abgewiesen werden muss, arbeiten aber auch diejenigen, die unter Angabe ihrer Anschrift inserieren, in der Regel nach festen Terminen. 96 sche in Form pornographischer Erzählungen bereits zuhause oder im Büro. Einige der Dominas haben im Hinblick auf die knapp bemessene Zeit von ihren Stammkunden Karteikarten oder Register angelegt, so dass sie wissen, um welchen Kundentyp es sich handelt und nicht jedes mal erneut ausdiskutiert werden muss, was möglich ist und was nicht. Die Tätigkeit einer Domina Im Mittelpunkt der Dominatätigkeit steht die Behandlung des einzelnen Kunden, wobei häufig eine Sklavin oder Zofe assistiert. Bei den von uns befragten Dominas handelt es sich um Frauen im Alter zwischen 26 und 55 Jahren, die oftmals von ihrer Statur her eher korpulent sind. Anders verhält es sich bei den Sklavinnen und Zofen, die in den Studios beschäftigt sind. Sie sind in der Regel zwischen 20 und 30 Jahren alt und entsprechen eher einem allgemeinen Schönheitsideal. Nach Aussagen der Studioinhaberinnen kommen die Sklavinnen und Zofen aus dem Prostitutionsmilieu und kehren oftmals in diesen Bereich zurück. Abb.: Dominas mit Sklave im Studio (Quelle: www.avalon-berlin.de) Der Erfolg eines Studios hängt davon ab, wie die Domina die sehr disparaten Ansinnen der einzelnen Kunden befriedigen kann. Ohne ein entsprechendes Equipment ist dies kaum möglich, was wieder zum Anfang dieses Kapitels zurückführt, nämlich zur Gestaltung eines Studios. Die verschiedenen Abteilungen und Räume sind Ausdruck einer sehr spezifischen Nach- 97 frage durch die Kunden. Neben den verschiedenen Praktiken in der Einzelbehandlung58 bieten die Studios auch Sonderveranstaltungen an. Partys, Motto-Abende oder die Vorführung von Transvestiten und Transsexuellen zu bestimmten Terminen gelten als besondere Attraktion. Zu diesen Veranstaltungen werden verschiedene Privatpersonen eingeladen, die einen Unkostenbeitrag von 200 bis 500 DM pro Person und Abend entrichten und damit am GruppenEvent teilnehmen können. Manche Dominas haben einen speziellen Raum eingerichtet, den sie an verschiedene Clubs oder Zirkel vermieten: Kassandra: In meinem Studio gibt es einmal die normalen Öffnungstage. Da stehe ich mit meiner Sklavin und vielleicht noch die eine oder andere Gastdomina oder -sklavin zur Verfügung. Ich habe oft irgendwelche Frauen, die dann eben zusätzlich da sind. Und dann gibt es die großen Partys, die vorher unter verschiedenen Gesichtspunkten festgelegt sind, zum Beispiel ‚Paarabend’ oder ‚Anfängerparty’ oder ‚Insidertreff’, das ist eigentlich die Fortführung von diesem Damenzirkel, wo es darum geht, dass ich alle möglichen Frauen, die ich kenne, dominante Frauen in erster Linie, einlade. Die kommen dann mit Partner und dann gibt es hier sozusagen ‚Action’. Dann gibt es noch den ‚Sklavinnenabend’, das ist also die umgekehrte Situation, da kommen M-Frauen mit ihren Partnern und werden von ihnen vorgeführt. Es sind auch aktive Männer dabei, die schauen sich das Ganze an. Dann gibt es das ‚Café TV/TS’ für Transvestiten, Transsexuelle und so weiter. Und ‚Rubber Event’, also Gummiabend - ich glaube, das ist so in etwa alles. Und diese großen Partys werden dann in regelmäßigen Abständen wiederholt und absichtlich immer unter dieses große Motto gestellt, weil man da viel besser aussortieren kann. (...) Und dann gibt es mitunter kleine Geschichten, die ich auch immer wieder mache. Zum Beispiel ruft mich der R. an und sagt zu mir, er würde gern mal wieder mit der H. vorbeikommen, ob ich nicht irgendwas hätte in nächster Zeit. Und dann rufen auch die R. und der G. aus dem Ausland an - sie ist auch maso -, sie würden auch gern mal wieder vorbeikommen. Und dann fängt es bei mir wieder zu rattern an und ich denke: ‚Aha, ja, genau, das könnte ich doch wieder verbinden’ (35 Jahre, Domina, Studioinhaberin). An solchen Veranstaltungen nehmen nicht nur Männer, sondern auch Frauen teil, von denen einige ein privates Interesse mit dem SM-Erlebnis im Studio verbinden. Die sogenannten Damenzirkel sind ein Beispiel für das Engagement der privaten Dominas. Ähnlich wie andere am Wochenende die Tanzparty bei Freunden besuchen, kommen (Ehe)Paare zu einer vorher angekündigten Veranstaltung in das Domina-Studio. Es kommt auch vor, dass Gastgeber (Clubs und Privatpersonen) von Veranstaltungen für ihre Zwecke professionelle Dominas engagieren, die dann als Höhepunkt des Abends beispielsweise ein Programm (Sklavenvorführung oder -behandlung) anbieten. Ein Grund für das Zurückgreifen auf kommerzielle An- 58 Zu den einzelnen Praktiken vgl.: Kap. III.1.5.1 98 gebote ist sicherlich der Mangel an Frauen in der SM-Szene. Gleichzeitig bilden diese verschiedenen Angebote eine Schnittmenge zwischen kommerzieller und privater SM-Szene. Auch wenn eine Domina flexibel auf die unterschiedlichen Wünsche und Phantasien der Kunden eingehen kann, so bedeutet das noch lange nicht, dass der Kunde in einem professionellen Domina-Studio für Geld alles kaufen kann. Für die Domina ist der Geschlechtsverkehr, oft auch schon die Berührung der nackten Haut durch den Kunden, ausgeschlossen. (Es gibt nur wenige Ausnahmen.) Wünscht der Kunde dies dennoch, so kommt hierfür die Sklavin oder Zofe in Frage. Aber auch nicht jede Domina ist hiermit einverstanden, und nicht jede Sklavin ist hierzu bereit. Auch sadistische Wünsche können im Domina-Studio nicht immer erfüllt werden. Je nachdem werden die Kunden entweder gleich von der Domina abgewiesen, oder von der Sklavin befriedigt: Kassandra: Was wir überhaupt nicht machen, ist Geschlechtsverkehr. Also wenn jemand Geschlechtsverkehr will, schicke ich ihn weg. Auch mit der Sklavin nicht. (...) Nein. Das ist für mich einfach nicht okay, das von ihr zu verlangen. Da würde ich mir vorkommen wie eine Zuhälterin oder sonst irgendwas. Kann ich nicht. Wenn sie das wollte, dann könnte sie es natürlich tun. Angenommen, sie hat da richtig Lust drauf, und der gefällt ihr. Aber bei ihr ist da wenig Gefahr, weil sie einfach nicht auf Männer abfährt. Deswegen würde ich das noch weniger von ihr verlangen, das würde ihr ja psychisch schaden. (...) Was ich auch nicht mache, sind Dinge, die mich körperlich betreffen. Viele wollen die Domina mit der Zunge befriedigen. Das mache ich auch nicht, aber die Sklavin muss das schon machen. Das kann man den Leuten nicht verdenken. Aber wenn einer das bei mir will, den würde ich wegschicken, dann würde ich sagen: ‚Es tut mir leid, das mache ich nicht’ (35 Jahre, Domina, Studioinhaberin). Erklärt sich eine Sklavin bereit, sadistische Handlungen über sich ergehen zu lassen,59 ist es üblich, dass die Domina die Situation durch häufiges Betreten des Raumes kontrolliert und prüft, ob der Kunde nicht zu weit geht. Oftmals können durch die extremen Wünsche man- 59 Girtler (1990, S. 243f) bemerkt dazu, dass nur wenig Prostituierte, mit denen er sprach, damit einverstanden waren, "selbst geschlagen oder gemartert zu werden. Ich hörte allerdings auch von Frauen, die gegen entsprechende Bezahlung Auspeitschungen über sich ergehen lassen. So hätte eine Dirne in einer Nacht 40.000 Schilling von einem Herrn verdient, der für jeden Peitschenhieb auf ihr Gesäß 1000 Schilling gezahlt habe. Sadistische Neigungen anderer Art werden allerdings häufig an Dirnen herangetragen. Auf solche Neigungen deutet ein interessantes makabres Inventar in mancher 'strengen Kammer' hin, nämlich ein dunkler Sarg mit Guckloch. Über einen Gast, für den der Sarg wichtig ist, wurde mir erzählt: 'In den Sarg legt sich das Weib und der Beste steht neben dem Sarg und spritzt neben dem Sarg ab. Im Sarg kann er sie auch pudern.' Von einer Dirne, die nach eigenen Aussagen die besteingerichtete 'strenge Kammer' Wiens hat, weiß ich, daß ein regelmäßig sie aufsuchender Kunde es wünschte, eine mit einem Brautkleid angetane Dirne in den Sarg zu zwingen. Diese Frau spielt dabei dem Mann vor, sie würde dies nicht wollen, und wehrt sich. Den Gast erfüllt es mit Befriedigung, wenn er die 'Braut' schließlich überwältigt und im Sarg liegen hat, auf den er dann den Sargdeckel nagelt. (...) Der Kunde erhält so seine sexuelle Erlösung." 99 cher Kunden auch Probleme entstehen, denn Domina-Studios werden auch zu einer Art Auffangbecken für Personen mit extremen und bizarren Vorstellungen: Hanna: Ich hatte einen Fall, der ist jedes mal gekommen, hat sich auf extremste Art und Weise quälen lassen, d.h. brennende Zigaretten ausdrücken, Rheumasalbe auf die Fußsohlen, Stockschläge auf die Fußsohlen, also richtig so wie man gehört hat, dass Kriegsgefangene in den letzten Kriegen gefoltert wurden. Bis er mir dann erzählt hat, dass er in der Nähe einer Schule wohnt und immer Mädchen belästigt. Ich habe es anfangs nicht geglaubt, habe das Ganze nachgeprüft. Es war wirklich eine Schule in der Nähe. Und dann kam mir der Gedanke, ob ich mich nicht an die Polizei wende, weil das für mich schon ein Psychopath war. Der hat gemeint, wenn er sich dann auf gemeinste Art und Weise quälen lässt, dass das für ihn eine Art Absolution ist. So wie ein Katholik bei der Beichte. Der kam mir dann aber leider nicht mehr unter die Finger. Ich finde, bei so einem Menschen sollte man sich doch überlegen, ob das nicht doch eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt. So jemand müsste man in Behandlung geben. Zumindestens in eine Therapie (38 Jahre, Domina, Studioinhaberin). Danuta: Da habe ich jetzt am Dienstag eine Behandlung, das verkrafte ich psychisch nicht. Und zwar bin ich gegen Tiersex und gegen Kindersex. Da habe ich also einen Gast, der immer auf kleine Mädchen angesprochen hat. Er sagt, er treibt es mit kleinen Mädchen. Er lockt die in sein Landhaus, streichelt ihre Brüste, ihre Muschi und so. Das ist ein schwieriger Fall für mich, weil ich nicht einschätzen kann, ob er nur phantasiert oder es wirklich macht. Diese Kleine, die hier als Sklavin arbeitet, auf die ist er jetzt ganz heiß, weil die so kindlich ist. Und da habe ich Schwierigkeiten. Mit allen Dingen, die ich selber hasse, habe ich Schwierigkeiten. Ich könnte mir vorstellen, dass er sowas tatsächlich macht. Man kann sich doch nicht einfach in so eine Rolle hineinversetzen. Und der strengt mich an. Wenn ich mit dem Mann drei Stunden arbeite, dann bin ich geschafft. Dann sind wir alle geschafft hier. F: Mir ist nicht ganz klar, was jemand, der eine Neigung für Kindersex hat, in einem Domina-Studio sucht? Danuta: Das ist seine Wunschvorstellung und das möchte er sich bei uns austreiben lassen. Er kommt in die Klinik, dass man ihm das austreibt, dass er sowas wieder gemacht hat. Dann sage ich zu ihm: ‚Na, hast Du es wieder mit Mädchen getrieben? Wie alt war die Kleine denn, die du wieder in das Landhaus gelockt hast? Sage mir mal, was du mit ihr gemacht hast!’ Dann holt er seinen Penis raus, streichelt den. Ich sage: ‚Findest du das nicht schweinisch, sowas? Hast du sie auch geküsst? Dann musst du heute wieder bestraft werden!’ (48 Jahre, Domina, Studioinhaberin). Neben dem Umstand, dass bei solchen Kunden die Toleranzgrenzen der Domina und ihrer Sklavin auf die Probe gestellt werden, ist mitunter auch nicht klar, ob die Kunden nicht wirklich in verschiedene Sexualdelikte verwickelt sind. Aufgrund der anonymen Studiosituation 100 können manche Besucher ihren persönlichen Hintergrund leicht verbergen, auch wenn dies nicht die Regel ist. Verflechtung mit der Prostitutions-Szene Die Prostitution in der ‚strengen Kammer’ (vgl. Girtler 1990) ist eine besondere Form der Wohnungsprostitution, wo im Gegensatz zu den sonst üblichen Praktiken auch Spezialbehandlungen von normalen Prostituierten angeboten werden.60 Daneben spielen perverse Praktiken auch bei der Straßenprostitution eine Rolle: „Nicht untypisch für die Prostitution auf der Straße scheint auch folgende Erzählung eines Zuhälters zu sein: ‚Von einem Gogl allein hat meine Alte nur für das Hineinscheißen in sein Auto dreieinhalbtausend Schilling kassiert. Der Mann ist alle zwei, drei Monate gekommen und meist dann, wenn er einen neuen Wagen hatte“ (ebd. S. 233). Daneben berichtet Girtler von Prostituierten, die auf dem Straßenstrich arbeiten und sich ein „perverses Kisterl“ (ebd. S. 243) angeschafft haben, um dem Kunden eine strenge Behandlung zu ermöglichen. Hierbei handelt es sich um einen kleinen Kasten oder Koffer, der mit den unterschiedlichsten SM-Werkzeugen ausgestattet ist. Viele Prostituierte lehnen sadomasochistische Praktiken aber mit dem Hinweis ab, so etwas Perverses nicht mitzumachen.61 Wenn aber beispielsweise Straßen-Prostituierte bereit sind, auf diese Sonderwünsche einzugehen, so zu einem weit höheren Preis, als sie für normalen Geschlechtsverkehr erhalten. Im Bereich der Straßen- und Wohnungsprostitution arbeiten die meisten Frauen für einen Zuhälter: „Der Zuhälter ist es, der in gewisser Weise den Strich bzw. die Prostitution überhaupt möglich macht. Er ist es, der nicht nur darauf achtet, daß der Strich funktioniert, sondern er ist für die Prostituierte so etwas wie eine Bezugsperson, die sie vor diversen Problemen schützt und mit der menschlich-intime Kontakte möglich sind. Das heißt jedoch nicht, daß die Bezie- 60 Auf eine ähnliche Situation verweisen Janus u.a. (1979, S. 11), wenn sie die Bedeutung sadomasochistischer Sexualpraktiken für eine "höhere Ebene" der Prostitution unterstreichen, nämlich für den Kreis der "EliteCallgirls". Es handelt sich dabei um Prostituierte, die "nicht der landläufigen Vorstellung von einer 'Hure'" entsprechen und deren Klientel sich ausschließlich aus "Vertretern der Macht" (ebd. S. 14) - beispielsweise Rechtsanwälte, Gesetzgeber und Richter - zusammensetzt. Auch Stein (1974) fand in ihrer Call-Girl-Studie heraus, dass Sadomasochismus im Bereich der Prostitution praktiziert wird. 61 Auch Girtler (1990, S. 232) bemerkt, dass "nicht jede Prostituierte daran interessiert (ist), daran mitzutun." Unter Zuhältern werden Freier mit sadomasochistischen oder bizarren Neigungen oftmals als Perverse belächelt: Die Domina ist nur für das Perverse. Zum Anketten, Auspeitschen und so. Ich habe mich schon oft gefragt, wie so eine Domina überhaupt auf den Kunden eingehen kann. Z.B. einen Einlauf machen oder so was, das ist doch ekelhaft. Ich kann die Typen auch nicht verstehen. Ich lasse mich doch auch nicht anpissen oder anscheißen auf gut Deutsch gesagt und lege dafür auch noch Geld hin. Die müssen doch alle irgendwie eine Macke haben. 101 hungen zwischen Prostituierter und Zuhälter immer partnerschaftliche sind, (...) sondern daß auch Gewalt die Kommunikation bestimmt“ (Girtler 1990, S. 83). Zu Beginn unserer Studie sprachen wir mit einem Zuhälter, der angab, dass auch Dominas nicht ohne Zuhälter arbeiten können. Er erklärte dies wie folgt: Wenn z.B. eine Domina ein Studio aufmacht, dann frisst die unser Geld weg mit ihrer ganzen Stammkundschaft. Das geht nicht. Das können wir [die führenden Zuhälter der Stadt] nicht zulassen. Dann wird der Rat einberufen, und wir sitzen dann am Stammtisch, und dann wird beredet, was zu tun ist. Da wird abgestimmt. Wenn wir beschlossen haben, dass ein Club geschlossen wird, dann wird z.B. in einer Nacht- und Nebelaktion das Studio demoliert. Es gibt auch noch andere Methoden: Man schickt z.B. einen getarnten Freier hoch, der klingelt ganz normal und geht rein und haut alles kurz und klein. Die Dominas bewerten das anders. Sie berichten, dass Zuhälterei nicht zwangsläufig mit dem Dominagewerbe verbunden sein muss. Sicherlich gibt es einige Studios, die durch Zuhälter kontrolliert werden und dies insbesondere dann, wenn die Domina vorher als Prostituierte gearbeitet und sich im gleichen Ort ‘auf pervers’ spezialisiert hat. Häufig sind die Studios aber ganz aus den ‚Sperrbezirken’ ausgelagert. Die Domina arbeitet als eigenständige Geschäftsfrau oder zumindest als Leiterin des Etablissements: Hanna: Der Bereich der Zuhälterei, der war schon immer in diesem Milieu gegeben. Dass irgendwelche Frauen mit irgendwelchen Leuten aus dieser Szene Kontakt kriegen, notgedrungen oder gewollt, das ist auch gegeben. Aber ich sage mir immer: Wer sich in die Gefahr begibt, kommt darin um. Es kommt immer darauf an, wo man sich hinbegibt. Wenn man als Domina meint, man muss in die Stammdiskotheken oder in die Milieukneipen gehen und sich da publik machen, ist natürlich die Gefahr da, dass man solche Leute auf sich aufmerksam macht, die da vielleicht Geld riechen. Wenn man sich aber nur auf seinen Job konzentriert und ein normal geregeltes Privatleben hat, ist die Gefahr so gut wie nicht gegeben. Die Repressalien von früher sind immer mehr am nachlassen, die Frauen sind emanzipierter geworden. Mittlerweile gibt es sehr viele Vereinigungen, wie die ‚HWG’ in Frankfurt, dann gibt es ‚Straps und Grips’ oben in Münster u.s.w. Ich habe da mit einigen Leuten Kontakt. Es ist so, dass schon ein gewisser Schutz da ist. Zwar nicht von den Behörden selbst, aber dadurch, dass die ganze Grauzone etwas lockerer geworden ist. Es gibt zwar die Sperrgebiete und gewisse Auflagen für die Frauen, die der normalen Prostitution oder dem Studiobereich nachgehen. Aber dadurch, dass da eine andere Zusammenarbeit stattfindet, und dass das Ganze ein bisschen mehr an die Öffentlichkeit kommt, und nicht mehr so der verruchte Touch da ist, kann man sich halt zu gewissen Dingen offizieller äußern. Dadurch ist auch die Zuhälterei sehr ins Hintertreffen geraten (38 Jahre, Domina, Studioinhaberin). Aber nicht nur durch eigenständige Organisation und ‚Unternehmensführung’ unterscheidet sich das Dominagewerbe von der Prostitution. Sie distanzieren sich von den ‘Nutten’ und 102 verstehen sich nicht als Prostituierte, sondern eher als ‚Therapeutinnen’, die Erziehungsfehler kompensieren, gesellschaftlich stigmatisierte Wünsche erfüllen und Bedürfnisse von Menschen befriedigen, die sonst nirgends ausgelebt werden können. 1.4 Codes und Symbole Auch in den sadomasochistischen Spezialkulturen bilden sich - genau wie in anderen Bereichen62 - typische Wissensvorräte aus. Die sozialen Regeln bei Gruppeninszenierungen oder bestimmte Fertigkeiten (z.B. bei Bondage-Praktiken) sind Beispiele für dieses Szenewissen. Daneben gibt es zahlreiche Symbole und Codes als Elemente dieser spezialkultur-typischen Relevanzsysteme, die der Außenseiter nicht ohne Weiteres decodieren kann. Ihre Funktionen sind im Folgenden dargestellt. Dabei sind zwei größere Bereiche zu unterscheiden: 1) Die spezifischen verbalen Sprachcodes aus den Kontaktanzeigen und 2) die symbolvermittelten non-verbalen Bedeutungsträger (Kleidung, Schmuck etc.). Letztere haben auch fetischistische Funktionen, die im Anschluss dargestellt werden. 1.4.1 Kontaktanzeigen Medien spielen in den sadomasochistischen Spezialkulturen eine wichtige Rolle (vgl. Wetzstein u.a. 1993). Ein großer Teil der Print- und der elektronischen Medien dient dabei Animationszwecken. Es gibt aber auch zahlreiche Kontaktzeitschriften, in denen Interessierte nach persönlichen Beziehungen suchen oder sie anbieten. In jedem Szenegeschäft sind solche Kontaktführer zu finden. Dies war nicht immer so. Bis in die siebziger Jahre hinein gab es keine ausgeprägte subkulturelle Organisation und kaum Medien für solche spezialisierten Interessen. Was aber nicht heißen soll, dass keine Kontakte über Medien geknüpft wurden: Dorothea: Anzeigen gibt es eigentlich schon sehr lange. Die waren früher allerdings ziemlich verschlüsselt. Also nicht so offen, wie man das heute formuliert. Heute gibt es ja Hefte, in denen stehen Anzeigen drin, die sind ja nun wirklich deftig, so dass ich mich manchmal wundere, was für Worte da gebraucht werden. Aber früher hat man ja diese Anzeigen verschlüsselt abgefasst. Die Zeitungen hätten das ja auch gar nicht aufgenommen, wenn man das anders formuliert hätte. Sogar heute gibt es Zeitungen, in denen man sehr vorsichtig formulieren muss (50 Jahre, S., heterosexuell). 62 Als Beispiele können hier etwa die Welten der Videofans (vgl. Eckert u.a. 1990; Vogelgesang 1991), der Computerfreaks (vgl. Eckert u.a. 1991), die Bodybuilding-Kultur (vgl. Honer 1985) oder auch die Do-ityourself-Bastler (vgl. Hitzler/Honer 1988) genannt werden. 103 Die normalen, und überall erhältlichen Tages- und Wochenzeitungen sowie Stadtmagazine wurden (und werden auch noch heute) dazu genutzt, Such-Annoncen aufzugeben oder SMDienste anzubieten. Um aber in einer Tageszeitung überhaupt gedruckt zu werden, muss der sadomasochistische Kontext der Annonce verschleiert werden. Für die Praktiken und Neigungen werden deshalb entsprechende sprachliche Codes verwendet. Wo werden Sprösslinge, Ehefrauen, Freundinnen, Freunde noch mit dem Rohrstock erzogen? Gepflegter Pädagoge möchte mit Rat und Tat zur Seite stehen. Erzieher, mit komplett eingerichtetem Erziehungsraum, erteilt solventen Damen, Herrn und Paaren einfühlsame Erziehungshilfe. Wochenend- und Langzeitbehandlung möglich. Engländerin. Erfahrene Internatslady und zudem examinierte Krankenschwester mit speziellen Erziehungsmethoden erteilt englischen Unterricht - eigenes Privathaus, zweckmäßige Räume, herrisch, einfühlsam, konsequent mit Sinn für Individualität. Straflos ungezogen sein kannst Du - kleiner großer Bub - bei mir nicht. Du siehst ein, dass nur die strenge Hand Deiner erfahrenen Erzieherin Dich zu einem wirklich nützlichen Glied der Gesellschaft formt. Erziehungsbedürftige Knaben bewerben sich unter (...). Die Schönheit und die gleichzeitige Strenge Deiner jungen Erzieherin werden Dich zunächst verwirren. Ihr Niveau und ihr ausgezeichnetes Benehmen lassen Dir Deine fehlende Kinderstube bewusst werden. Du siehst ein, dass bei Dir nur die gute alte englische Erziehung fruchtet (...). In den Anzeigentexten wird die nichtsexuelle Kontextierung des sexuell motivierten Anliegens deutlich. Das Wechselspiel von Beherrschung und Erniedrigung wird beispielsweise hinter der Metapher der ‘Erziehung’ verborgen, wobei der Erziehungsbegriff für verschiedene flagellantische Praktiken steht, etwa die ‘englische Erziehung’ mit dem Rohrstock. In vielen Anzeigen ist das Spektrum an Erziehungsmitteln aber weiter gefasst. Gerade wenn in den SM-Annoncen der Begriff des ‘toleranten Paares’ oder der ‘tabulosen Beziehung’ verwendet wird, ist damit eine ganze Palette verschiedener sadomasochistischer und ‘bizarrer’ Praktiken angesprochen: Fesselungen, anale Praktiken, Klistiere, Nadeln etc. werden in diesem Zusammenhang eingesetzt. Diese begrifflich neutrale Thematisierung sexueller Wünsche wird insbesondere in vielen Szene-Magazinen und Hardcore-Heften durch eine direktere Begriffswahl ersetzt. Hier besteht kein umfassender Codierzwang und dementsprechend werden die sexuellen Verhaltensformen mit einem umgangssprachlichen oder szenegebräuchlichen Vokabular beschrieben. Schwanger? Williges Ficktier sucht Leute, die Lust auf einen dicken Bauch und pralle Titten haben. Wer hat Erfahrung im Umgang mit einer solchen Deckstute? 104 Keine finanziellen Interessen. Aber genaue Angaben, was man bei der Dressur berücksichtigen muss. Echter Erfahrungsaustausch gesucht. Wie kann man z.B. die Milchproduktion der Stute steigern etc.? Kontakt zu SM-Arzt/Hebamme für Hausgeburt gesucht. Eine scharfe, tabulose Wichserin bin ich, 26 Jahre jung, schlank und ständig feucht in meiner Möse. Für frivole Spielchen suche ich geile Herrn mit außergewöhnlicher Sexneigung (z.B. NS, Kaviar, Wichser, Fußanbeter, Achselschweißund Mösensaftlecker etc.). Gerade ganz ausgefallene Erotik macht mich an, also nur keine Hemmungen! Er (26, 170cm, schlank) sucht Paar oder Sie (auch mehrere Freundinnen, ...) für zärtliches Ficken, Französisch, Sperma spenden und lecken, Bi-Sex, Anal, NS, Klistier, Schoko, extremster Toilettensex, bepissen und bekacken in der Natur, spende und schlucke restlos alles. Paar, Mitte Dreißig, sie dominant, attraktiv, durchsetzungswillig, er devot, abgerichtet, sucht Kontakt zu Kastrationswilligen, Semi-Kastrierten, Kastraten, Sklaven mit übermäßigem Geschlechtstrieb und allen Interessenten, die dieses Thema interessiert, erregt und fasziniert. Äußerste Diskretion. Es fällt auf, dass für besonders tabuisierte Bereiche nach wie vor Codes verwendet werden. Ein gutes Beispiel sind die Begriffe ‘Kaviar’ und ‘Natursekt’, die für die Bezeichnung von Exkrementen verwendet werden. Weil diese Praktiken von vielen Sadomasochisten als besonders ekelhaft abgelehnt werden, soll die positive Attribuierung im Begriff die negative Bedeutung abmildern. Die Verwendung dieses spezifischen Vokabulars beschränkt sich aber nicht auf die Schriftsprache. Auch in der gesprochenen Sprache werden diese Metaphern verwendet, wie wir bei unseren Exkursionen in das Untersuchungsfeld feststellen konnten. ‘Schoko’ und ‘Dirty’ sind dabei weitere Begriffe für Fäkalpraktiken, ‘Nektar’ ist eine Umschreibung für die verschiedensten Körperflüssigkeiten (z.B. Urin, Scheidenflüssigkeit, Sperma), ‘Nursing’ steht für bizarren Kliniksex, ‘Reitunterricht’ ist eine spezielle Form der ‘Sklavenerziehung’. Die Liste solcher Codes ließe sich beinahe beliebig erweitern. Häufig stammen diese Begriffe aus anderen Sinnsystemen (z.B. die zahlreichen Erziehungsmetaphern) und werden im SM-Bereich verfremdet eingesetzt. Damit soll zum einen die Harmlosigkeit des Tuns suggeriert, zum anderen sollen Fremde aus der Kommunikation ausgeschlossen werden. Die Neubesetzung sprachlichen Sinns wird auf diese Weise zu einem Mittel der sozialen Ausgrenzung und zur Geheimhaltungsstrategie. 105 1.4.2 Kleidung und Schmuck Typischerweise differenzieren sich in Subkulturen spezifische Stilmuster aus. Die allgemeine Funktion von Stilen beschreibt Soeffner (1986, S. 319) folgendermaßen: „Es ist eine sichtbare, einheitsstiftende Präsentation, in die jede Einzelhandlung und jedes Detail mit dem Ziel eingearbeitet ist, eine homogene Figuration oder Gestalt - den Stil - zu bilden und darzustellen. Stil zu haben - in diesem Sinne - bedeutet fähig zu sein, bewusst für andere und auch für das eigene Selbstbild eine einheitliche Interpretation anzubieten und zu inszenieren.“ Illustrative Beispiele hierfür sind beispielsweise die Punks (vgl. ebd.) oder die Motorrad-Rocker (vgl. Willis 1981). Letztere zielen bei ihren Inszenierungsformen darauf ab, einen betont männlichen Habitus nach außen zu demonstrieren: Lederkleidung, Abzeichen, Bart und nicht zu vergessen - das Motorrad sind Kernstücke dieser Macho-Emblematik. Daneben hat Stil eine wichtige ästhetische Funktion, ist gleichsam „eine ästhetisierende Überhöhung des Alltäglichen“ (Soeffner 1986, S. 319), im Falle der Rocker etwa das chromblitzende Motorrad, dessen Tank mit der Darstellung einer nackten Frau oder einem Fantasy-Motiv bemalt ist. Auch im Bereich der sadomasochistischen Szenen gibt es ähnliche Ästhetizismen. Die spezifische Bekleidung - von Leder über Latex und Seide bis Gummi - ist für ihre Träger immer auch ästhetischer Ausdruck. Wie wichtig gerade im SM-Bereich das ‚Dressing for pleasure’ geworden ist, zeigten uns die Besuche in Lederstudios und SM-Läden. Die Auswahl eines Gummikleides und der entsprechenden Accessoires oder einer Lederkombination unterscheidet sich in nichts von dem Kauf eines Abendkleides oder eines Fracks. Modezeitschriften, Beratung durch die Verkäufer und unzählige Modellvarianten sind auch in den SM-Boutiquen mittlerweile Alltag.63 Die führenden Hersteller kreieren jährlich neue Kollektionen, die zum Teil Ideen und Anregungen aus der Haute Couture aufgreifen. Umgekehrt erhält auch die Mainstream-Mode entscheidende Impulse aus der SM-Szene. Ästhetik, Mode und Design sind also Bereiche, die für die Kleidungsstile in der sadomasochistischen Spezialkultur immer wichtiger werden. Die Kleidung und - nicht zu vergessen - der Schmuck sind aber nicht nur ästhetischer Ausdruck. Schmuck und Kleidung haben verschiedene Bedeutungsebenen. Sie 63 Dies war nicht immer so. Früher stand sehr oft nur das Material an sich im Vordergrund. Einer der Befragten, der schon seit über 25 Jahren zur Szene gehört, zeigte uns seine Katalogsammlung aus diesem Zeitraum mit der Bemerkung: Gummikleider beispielsweise waren gegen Ende der sechziger Jahre in der Regel formlose Säcke und erinnerten mitunter stark an Mülltüten. Heute ist - bis auf den Unterschied im Material - kaum noch ein Unterschied zur Alltagsmode zu bemerken. Viele dieser Kleidungsstücke werden im Übrigen aus Großbritannien importiert. 106 sind z.B. heimliche Erkennungs- oder Aufforderungszeichen für eine eventuelle Beziehungsaufnahme:64 Andreas: Letztendlich signalisierst und dokumentierst du mit der Kleidung was zu irgendwelchen Leuten, die gegebenenfalls zukünftig Partner sein könnten. Wenn ich in so einem Hawaiihemd dasitze, denkst du nicht, dass ich vielleicht ein Sadomann bin. Wenn ich in Leder dasitze, assoziierst du ganz einfach: ‚Halt, stopp mal, der könnte was mit der Geschichte zu tun haben’ (30 Jahre, S, heterosexuell). Kleidung und Schmuck können aber zur Verstärkung des rollenspezifischen Habitus genutzt werden. Ein Ring oder ein Halsreif sind z.B. Ikonen der Unterwerfung. Der dominante Teil trägt vorzugsweise Lederkleidung, Stiefel und als Herrschaftsrequisit die Peitsche. Auffallend ist auch, dass der Körper fast ganz bedeckt ist. Dadurch soll die Unnahbarkeit und Überlegenheit, z.B. der Domina, symbolisiert werden. Masochisten und Sklaven tragen hingegen wenig Kleidung. Oft handelt es sich um ein einfaches Riemengeschirr (Harness) und ein ledernes, mit Nieten und Ringen versehenes Halsband. Abb.: Sklaven-Halsreif aus Stahl und Sklaven-Lederhalsband (Quellen: www.puls-drugstore.de und www.suleika.de) Ein weiteres Requisit ist die Maske. Sie hilft sowohl dem Masochisten als auch dem Sadisten dabei, bestimmte Veranstaltungen anonym besuchen zu können; sichert also Diskretion. Gleichzeitig kann sie dazu genutzt werden, den Träger am Sprechen, Sehen und Hören zu hindern und dadurch noch manipulierbarer zu machen. Auch die Maske ist eine Möglichkeit, die passive Rolle zu akzentuieren. 64 Die schwulen Sadomasochisten haben - trotz einiger Übereinstimmungen (z.B. dass eine Uniform als Zeichen für Dominanz interpretiert wird) - ein eigenes Code-System entwickelt, das die sexuellen Nuancen und Interessen wesentlich differenzierter wiedergibt (vgl. Wetzstein u.a. 1993). 107 Abb.: Sklaven-Masken aus Leder (Quelle: www.puls-drugstore.de) F: Was ist das denn für ein Ring, den sie um den Hals tragen? Maja: Das ist Edelstahl. Da gibt es zwei Schlüsselchen dazu, mit so einem kleinen Draht. Die zwei Schlüsselchen hat jetzt halt mein Freund. Also ich muss, wenn ich das Ding mal abnehmen will, ihn fragen, ob ich es abnehmen kann. (...) Es zeigt, dass ich seine Sklavin bin. F: Und dieser Ring am Finger? Maja: Kennen Sie die Geschichte der O? Ich meine den Film. Da trägt sie halt am Zeigefinger einen ziemlichen breiten großen Ring. Die Bedeutung ist, wenn man den rechts trägt, dann ist man Masochistin und links ist man Sadistin (20 Jahre, M, heterosexuell). Kurt: Ich trage z.B. gerne Gummikleidung. Ich trage auch Damenwäsche, Korsetts und dergleichen, aber keine Uniformen. Die Kleidung erhöht meine Erregung und verstärkt meine SM-Rolle. Stiefel sind das Symbol für Herrschaft, eine Halskette oder eine Maske sind dagegen Symbole für Unterwerfung (28 Jahre, S/M, heterosexuell). Arnold: Lederstiefel und selbstverständlich die Peitsche sind für mich ein Symbol der Herrschaft. Nackte Füße als Gegensatz dazu ein Zeichen der Unterwerfung. Ach, wollte man alle aufzählen, man käme an kein Ende (64 Jahre, M, bisexuell). Durch diese Codifizierung werden Kleidung und Schmuck auch zu Mitteln der Kommunikation. Dies soll anhand des Luhmannschen Kommunikationsbegriffs erläutert werden. 108 Luhmann versteht Kommunikation als dreiteiligen Selektionsprozess,65 wobei der Absender in einer ersten Selektion eine Information aus der Gesamtheit der Möglichkeiten auswählt. In der zweiten entscheidet er, wie die Information mitgeteilt werden soll. Die dritte Selektion erfolgt durch den Empfänger, indem er Information und Mitteilung trennt, was wiederum die Grundlage des Verstehens ist. Das Verstehen wird durch Feedbacks an den Sender zurückgemeldet. Kommunikation ist also als gemeinsame Aktualisierung von Sinn zu begreifen, als die Synthese von Information, Mitteilung und Verstehen. Dabei ist Kommunikation nicht notwendigerweise an verbale oder schriftliche Formen gebunden.66 Im Falle der nonverbalen SM-Kommunikation hat der Absender eine zweifache Selektion getroffen, nämlich die Selektion der Information (z.B. Ich bin Masochist) und die der Mitteilung (z.B. der Ring am rechten Finger), also die Entscheidung darüber ob und wie die Information mitgeteilt werden soll. Aber erst wenn auch auf der Seite des Empfangs eine Selektion getroffen werden kann, z.B. ‚Da ist ein Masochist, der vielleicht einen Partner sucht’ oder ‚Sie ist die Herrin und ich der Diener’ und das Verstehen dem Sender bestätigt wird, entsteht Kommunikation. Die Gelegenheiten für diese Kommunikationen sind zum Beispiel in der Gruppe (etwa eine Kontaktofferte) oder in der sexuellen Interaktion (etwa die Betonung der Rollenpräferenz als nonverbales Dialogelement) gegeben. Weil die mitgeteilten Informationen im Falle des Sadomasochismus zu einem sehr spezifischen ‚Sinnprozessieren’ gehören, ist die Zahl der potentiell Verstehenden recht gering. Außerhalb der Sinn- und Sozialwelt ‚Sadomasochismus’ gibt es ohnehin - von Einzelfällen abgesehen - niemanden, der den mitgeteilten Sinn entschlüsseln kann. Allerdings ist bei diesen Codes ein generalisiertes Verstehen überhaupt nicht intendiert. Das Gegenteil ist der Fall. Die Transformation allgemeiner Bedeutungen in spezifische Kontexte verändert ihren Sinn und verhindert so das Verstehen durch Außenstehende. Das gilt nicht nur für die symbolver- 65 "Geht man vom Sinnbegriff aus, ist als erstes klar, daß Kommunikation immer eine selektives Schema ist. Sinn läßt keine andere Wahl als zu wählen. Kommunikation greift aus dem je aktuellen Verweisungshorizont, den sie selbst erst konstituiert, etwas heraus und läßt anderes beiseite. Kommunikation ist Prozessieren von Selektion. Sie selektiert freilich nicht so, wie man aus einem Vorrat das ein oder andere herausgreift. (...) Die Selektion, die in der Kommunikation aktualisiert wird, konstituiert ihren eigenen Horizont; sie konstituiert das, was sie wählt, schon als Selektion, nämlich als Information. Das, was sie mitteilt, wird nicht nur ausgewählt, es ist selbst schon Auswahl und wird deshalb mitgeteilt. Kommunikation muß deshalb nicht als zweistelliger, sondern als dreistelliger Selektionsprozeß gesehen werden. Es geht nicht nur um Absendung und Empfang mit jeweils selektiver Aufmerksamkeit, vielmehr ist die Selektivität der Information selbst ein Moment des Kommunikationsprozesses, weil nur im Hinblick auf sie selektive Aufmerksamkeit aktiviert werden kann" (Luhmann 1984, S. 194f). 66 "Kommunikation ist unter der gleichen Bedingung auch ohne Sprache möglich, etwa durch ein Lächeln, durch fragende Blicke, durch Kleidung, durch Abwesenheit und ganz allgemein und typisch durch Abweichen von Erwartungen, deren Bekanntheit man unterstellen kann" (Luhmann 1984, S. 208). 109 mittelte Kommunikation, sondern auch - wie gezeigt - für die sprachlichen Codes in den Kontaktanzeigen von Sadomasochisten. In Bezug auf die Kleidung spielen neben der Mitteilungsfunktion auch fetischistische Bedeutungen eine Rolle. Fetische sind mitunter ein wichtiger Teil von SM-Inszenierungen. 1.4.3 Fetischismus und Sadomasochismus Der Begriff des Fetischismus wurde 1887 von Binet eingeführt und bedeutet im weitesten Sinne die Fixierung sexueller Interessen auf bestimmte Gegenstände oder Körperteile. Dabei gibt es kaum etwas, was nicht schon einmal irgendwo zum Fetisch gemacht wurde. Auch im SM-Bereich spielen Fetische eine wichtige Rolle. So hat schon Spengler (1979, S. 98f) in seiner Studie festgestellt: „Fetischismus und Sadomasochismus sind in dieser Gruppe untrennbar miteinander verbunden. Ausgesprochene Fetischisten, bei denen sadomasochistische Elemente stark in den Hintergrund getreten sind, werden offenbar in die Subkultur integriert.“ Insgesamt ist die SM-Szene zugleich auch Auffangbecken für die fetischistisch orientierten Personen. Der wichtigste Fetisch im SM-Bereich ist das schwarze Leder. Es spielt bei hetero- und homosexuellen Personen eine zentrale Rolle. Insbesondere bei den Schwulen ist das Leder ein Kultobjekt wie kaum ein anderes (vgl. Wetzstein u.a. 1993). Schon der spezifische Geruch ist ein Grund für die Anziehungskraft dieses Materials. Beim enganliegenden Leder kommt eine weitere Funktion hinzu, es „ist eine blanke, spiegelnde Oberfläche mit einer Neigung dazu, die natürlichen Körperformen zu betonen. Es verstärkt die Wirkung jeder einzelnen Bewegung und daher auch die Ausstrahlung all dessen, was schon von Natur aus für den Träger spricht. Es arbeitet das Offensichtliche klarer heraus und gibt ihm eine zusätzliche Dimension“ (Farren 1987, S. 110). Entscheidend für die Verwendung von schwarzem Leder ist aber seine Machtsymbolik. Wie Uniformen steht es für eine polarisierte Machtstruktur, in welcher der Träger die dominante Rolle ausübt. Gummi und Latex sind weitere Materialien, die in der SM-Szene eine wichtige Rolle spielen. Sie sind im Vergleich zum Leder noch körperbetonter (der Szenebegriff ‘skin two’ bringt dies zum Ausdruck). Bei beiden kommt hinzu, dass sie die Transpiration verstärken. Das Schwitzen in diesen Materialien wird als besonders angenehm empfunden. Auch im Zusammenhang mit bestimmten Fäkalpraktiken spielen diese Materialien eine Rolle: Zum einen, weil sich die Träger bei der symbolischen Erniedrigung durch Exkremente nicht tatsächlich verunreinigen, zum anderen sind sie abwaschbar, was ein wichtiger Hygiene-Aspekt ist. Neben diesen Formen des ‚Materialfetischismus’ sind auch Uniformen und Arbeitskleidungen, bei Schwulen 110 noch die Jeans, von Bedeutung. Einer der Befragten war Wäschefetischist und sammelte die getragene Wäsche von Prostituierten. Andere wiederum sind fasziniert von High-Heels oder Militärstiefeln. Auch Körperteile können fetischistische Funktionen übernehmen, wobei insbesondere bei der masochistischen Orientierung der Fußfetischismus des Öfteren genannt wird. Bei den Schwulen kann der Bart als Ausdruck von Maskulinität Fetischcharakter gewinnen. Das gleiche gilt für Tätowierungen. Aber auch aus dem engeren sadomasochistischen Bereich kommen zahlreiche Fetische, etwa die Werkzeuge, Peitschen und Fesseln.67 Sie übernehmen eine dominanz- bzw. submissionsverstärkende Funktion, ähnlich der Kommunikationsfunktion des Outfits. Dies trifft insbesondere bei denjenigen Personen zu, die primär sadomasochistisch orientiert sind. Bei ihnen hat der Fetisch mehr den Charakter einer Beigabe. Von ihnen müssen diejenigen unterschieden werden, die ausschließlich auf einen bestimmten Körperteil oder Gegenstand fixiert sind. Weil manche Fetischismen aber zur SM-Situation passen, etwa das devote Verhalten eines Fußfetischisten, können sie auch ohne größere Probleme in die SM-Situation integriert werden: Ernst: Ich kann mir alle sadomasochistischen Praktiken vorstellen, von ihr als Teppich, als Fußabstreifer benutzt, getreten zu werden, ihr die Füße küssen oder lecken zu müssen. Aber das kann natürlich auch mehr sein: Mein Brustkorb wird von ihr aufgeschlitzt und sie wühlt ihre Füße in das Innnere hinein. Die Phantasie ist von mir nicht persönlich, sie ist in einem ganz normalen Film vorgekommen, wo eine Frau dem Mann nachgebrüllt hat, dass sie ihn ihn so sehr hasst, dass sie am liebsten seinen Brustkorb aufschneiden würde und mit ihren Füßen in seine offene Brust reintreten würde. Und da habe ich mir das erregend vorgestellt. Ich stelle mir sehr gerne vor, dass meine Haut z.B. abgezogen wird und ewig z.B. als Schuh, als Sohle, als Matratze oder als Fußmatte dient (18 Jahre, M, heterosexuell). Marlene: Mein Freund steht ja unheimlich auf diese Gummisachen. Irgendwann hatte er sich dann so einen Gummisack gekauft, in den ich ihn einpacken musste. Das ging so weit, dass ich irgendwann das Gefühl hatte, völlig überflüssig zu sein. Ich war nur noch eine Puppe, die ihn in diesen Gummisack hinein manövriert, und dann war meine Aufgabe erfüllt. Er hat sich im Endeffekt nur noch um seinen Fetisch gekümmert. Mittlerweile hat sich das Ganze aber wieder gebessert (27 Jahre, S, heterosexuell). 67 Larose (1989, S. 121ff) teilt sexuelle Fetische in zwei größere Bereiche ein: a) die Körperfetische, die nochmal in Körperteile sowie Gerüche und Ausscheidungen unterschieden werden; b) die Objekte, die in Kleidung und Gegenstände aufgeteilt werden. Als Fetische beschreibt Steele (1998) in ihrer Publikation ‚Fetisch, Mode Sex und Macht’ das Korsett, Schuhe, Fetischstiefel, Catsuits, Unterwäsche, Satin, Gummi, Leder sowie Tatoos und Piercing. 111 Barbara: Leder mag ich einfach, weil es ein absolut anschmiegsames Material ist. Ich trage es gerne auf der Haut, weil, es hat so etwas von - ich kann es schwer beschreiben -, anschmiegsam trifft es nicht, es ist irgendwie noch was anderes (...). Ich mag auch zum Beispiel den Lederduft. Also wenn ich im Laden ein Paket mit Ledersachen frisch aufmache, dann könnte ich mich jedes mal reinlegen, das ist wundervoll, wie das nach Leder duftet, das ist toll. Und was mich an Gummi fasziniert, ist dieses Total-an-die-Haut-anlehnen und dieses Schwitzen unter Gummi, so dass es sich noch mehr anlehnt und man im Prinzip so ein Gefühl hat, wie: ‚Eigentlich habe ich nichts an und trotzdem habe ich was an’. Das muss ein bisschen glitschig sein. (...) Ich für mich habe verschiedene Fetische und einer davon ist Leder, der andere ist Gummi (31 Jahre, S/M lesbisch). Frank: Also was mich schon immer fasziniert hat, sind Männer mit Bärten, die auch sonst ziemlich stark behaart waren. Manchmal, wenn ich im Schwimmbad bin, und ich sehe so einen breiten, total behaarten Oberkörper, dann muss ich mir einen wichsen gehen (37 Jahre, S/M, schwul). Fetische haben im SM-Bereich also eher den Charakter eines Accessoires und sind weniger ein Gegenstand, auf den die jeweilige Person fixiert ist. Dies zeigt sich auch daran, dass Fetische häufig in die Partnersexualität integriert sind und nur sehr selten den Partner im sexuellen Szenario in den Hintergrund drängen. Diese unterschiedlichen Grade der Partnerbezogenheit betonen auch Bräutigam/Clement (1989, S. 151): „Unterschiedlich ist der Grad, in dem der Fetisch in die partnerschaftliche Sexualität integriert ist. Dies kann bei einer fetischistischen Besetzung von Körperteilen (Busen, Gesäß, Fuß, Haare) so weitgehend sein, dass der Fetischcharakter kaum auffällt. Er kann zur sexuellen Stimulation des Partners bewusst eingesetzt oder toleriert werden, wenn der Geschlechtsverkehr in bestimmter Kleidung (z.B. Strapse, Unterwäsche, Strümpfe, Stiefel), aus bestimmtem Material (Samt, Leder, Seide) präferiert wird oder ausschließlich möglich ist. Schließlich kann der Fetisch ganz losgelöst von der partnerschaftlichen Sexualität und seinerseits ein Partneräquivalent sein, z.B. wenn in einen Schuh oder ein Stück Unterwäsche masturbiert wird.“ 1.5 Das sadomasochistische Szenario „Über meinen Sklavengurt erhalte ich nun ein starkes, breites Gummikorsett um die Hüften verpaßt, das Herrin Elisabeth mit aller Macht anzieht, so daß ich jeweils nur noch flach atmen kann. Nun werde ich, bäuchlings über die Rücklehne unseres Fauteuils gebeugt, mit allen Vieren an Beinen und Armlehnen festgezurrt. Zum Schluß knebelt mich meine Herrin mit einem aufblasbaren Gummiknebel, will sie doch von meinem mit Sicherheit zu erwartenden schmerzvollem Gestöhn auf keinen Fall belästigt werden. Genußvoll sucht sich Herrin Elisabeth nun unter den verschiedenen Dildos in ihrem Schrank das Passende aus, um mich anal zu ficken. Denn sie weiß, daß dies für mich der letzte, extremste Akt der Unterwerfung ist, der mir tief innerlich widersteht und den ich doch immer wieder herbeisehne. 112 Dabei ist der Kunstschwanz, den meine Herrin nun vor meinen Augen genüßlich umschnallt desto größer, je schwerwiegender die Verfehlungen und Unterlassungen sind, die sie mir vorhalten kann“ (aus: Sadanas Nr. 61, S. 42). Die Vorstellungen über das, was sadomasochistische Praktiken sind, variieren individuell. Das gilt für die Auffassungen in Wissenschaft und Öffentlichkeit, aber auch für die Protagonisten selbst. Wie weit das Spektrum sadomasochistischer Praktiken reicht, ist im Folgenden dargestellt. Anschließend ist untersucht, welche sozialen Mechanismen dem SM-Arrangement zugrunde liegen. 1.5.1 Die Praktiken Die Praktiken konstitutieren den äußeren Handlungsrahmen des SM-Szenarios. Aufgrund der Variationsvielfalt und dem damit verbundenen Problem der Darstellbarkeit ist es sinnvoll, eine Kategorisierung vorzunehmen. Entsprechend des ethnographischen Forschungsansatzes orientiert sich die folgende Klassifikation an den Einteilungen, wie sie häufig in der Szene vorzufinden sind. Im einzelnen: a) Verbale Mittel, b) Flagellantismus, c) Bondage und d) bizarre Praktiken. Diese Darstellung68 beschränkt sich auf die wichtigsten Praktiken und vernachlässigt eine ganze Reihe weiterer exotischer und extremer Arrangements. Szeneneulinge oder Interessierte erhalten in den aktuellen (Szene)Publikationen ‘Das SM-Handbuch’ (Grimme 2000), das ‘Lexikon des Sadomasochismus’ (Hoffmann 2001) sowie ‘Die Wahl der Qual’ (Passig/Strübel 2000) einen Überblick über die Ausdifferenzierung der Spielarten des Sadomasochismus. a) Verbale Mittel Die nonverbale Kommunikation durch Kleidung, Erkennungszeichen und Körperhaltung spielt - wie bereits gezeigt - in der sadomasochistischen Interaktion eine wichtige Rolle. Die Sprache ist typischerweise - gerade dann, wenn es Berührungen mit einer größeren Öffentlichkeit gibt - codiert. Sie entzieht sich dadurch dem allgemeinen Verständnis. Im Schutz der SM-Enklave wird die sprachliche Metaphorik und Umschreibung aber hinfällig. Sie wird des 68 Die Einteilungsversuche in der wissenschaftlichen Literatur sind unterschiedlich. Weinberg u.a. (1984) beispielsweise unterscheiden zwischen physiologischer und psychologischer Stimulation sowie BondagePraktiken. Greene/Greene (1974) trennen Bondage-, Schmerz- und Unterdrückungspraktiken sowie Fäkalvariationen. Janus u.a. (1979) unterscheiden zwischen Flagellation, sprachlicher und psychischer Demütigung sowie Fesselungen. Weitere Kategorisierungen finden sich in: Moser (1988); Schiller (1987). 113 Öfteren durch die Drastik pornographischer Direktheit ersetzt. Die Sprache hat dabei eine doppelte Funktion. Zunächst einmal werden die sprachlichen Ausgestaltungen rollenspezifisch als Elemente von Herrschaft und Demut eingesetzt. Die dominante Person kommandiert, befiehlt, duldet keinen Widerspruch. Der passive Teil bittet und fleht. Neben diesen generellen Merkmalen lassen sich weitere rollengebundene Nuancen feststellen, die sich in verschiedenen Sprachkonventionen dokumentieren. Es handelt sich dabei nicht um verbindliche Szeneregeln, sondern um individuell ausgehandelte Absprachen. So darf der devote Partner oft nur dann reden, wenn er gefragt wird. Auch seine Demut muss durch das sprachliche Verhalten unter Beweis gestellt werden. Ferdinand: Ich muss meine Frau dann auch devot ansprechen. Ich bin eben ihr Sklave und muss mich vorsehen. In der Regel darf ich erst dann sprechen, wenn die Herrin es wünscht. Das gilt erst recht bei Veranstaltungen, wenn ich da vorgezeigt werde. Da kann ein Wort zuviel schon eine schwere Strafe bedeuten (36 Jahre, S/M, heterosexuell). Roswitha: Den Herrn, den ich mir ausgesucht habe oder umgekehrt, der mich dann erwählt hat, spreche ich als Herr und als Meister an. Totalen Respekt vor diesem Menschen heißt, ihm in jeder Beziehung meine Unterwerfung darzulegen. Sei es, dass ich zurückhaltend bin, etwas sage, wenn ich gefragt werde, aber nicht zu viel spreche und in gewissen Situationen garnichts sage, höflich bleibe, ihm zu Diensten stehe (35 Jahre, M, bisexuell). Neben der Aufgabe als Verstärker der Rollenasymmetrie ist eine weitere Bedeutung festzuhalten. Durch ein bewusst ‚ordinäres’ Vokabular wird die Tabulosigkeit der Handlung und ihre Ausklammerung aus dem Alltag symbolisiert. Die Sprache ist somit zugleich ein Distinktionselement, um die Exklusivität der SM-Situation zu betonen. Genau wie die Lederkleidung ist sie zugleich Signum und Konstituens der Normalitätsabweichung. Die Übertretung der konventionellen Geschmacksgrenzen durch die spezifische Sprache verfeinert als stilistisches Surplus die SM-Situation. Sie ist ein Utensil wie das raffinierte Accessoire, die Peitsche oder die Handschellen. Joseph: Verbal-Erotik ist für mich sehr stimulierend. Je ordinärer die Domina spricht, mit Ausdrücken wie Schwein, Sau, dreckiger Arschlecker, Sohn einer pisswütigen Zuchthaushure, geiler Bock, Ficksau, Leck mir die Fotze sauber, du impotenter Jammerlappen, jetzt wichse dich, du Hurensohn usw., sind Ausdrücke, welche in unterschiedlichen Nuancen den Reiz einer Erziehung erhöhen können (55 Jahre, M, heterosexuell). Karin: Das Verbale spielt zur Stimulation eine unglaubliche Rolle. Wenn er vor mir winselt und bettelt, kann ich ihn durch meine Wortwahl noch zusätzlich erniedrigen und demütigen, wenn ich zum Beispiel sage, ‚Na, was ist denn mit meinem kleinen Schlappschwanz heute, kriegt er wieder keinen hoch’ oder ‚Wage es 114 nicht, dich zu befriedigen, du kleiner Toilettenwichser’ (28 Jahre, S, heterosexuell). Stefan: Ich kann Männer nur ertragen, wenn sie mit Flegelsworten mit mir reden. Das ist die einzige Form von Liebe, die für mich annehmbar ist. (...) Ich war mal bei so einem Erotik-Workshop. Da haben mich vier Leute gleichzeitig massiert, ganz liebevoll und haben gefragt: Wie geht es dir jetzt? Da bekomm ich einen Alptraum oder Migräneanfälle. Mir war so schlecht, dass ich kurz vor dem Erbrechen stand (40 Jahre, M, schwul). Anastasia: Als Aktive ist es manchmal auch schön, wenn ich mich einen Dreck um eine feine Sprache bemühen muss und einfach sagen kann, was ich denke. Ich sage manchmal bei Tisch: ‚Unter den Tisch mit dir, du geile Wildkatze, und lecke mir die Muschi’ (35 Jahre, S, lesbisch). Diese Stilmittel finden sich in entsprechender Form auch in den Medien-Welten der Pornographie.69 Häufig werden pornographische Darstellungen (nicht nur aus dem SM-Bereich) in Wissenschaft und Öffentlichkeit oder in feministischen Kreisen vorzugsweise als die Darstellung einer reduktionistisch-mechanistischen Sexualität oder als die symbolischen Codes für eine spezifische Grammatik der Geschlechter (etwa im Sinne einer Entweihung bzw. Entwürdigung der Frau) interpretiert. Das ist zumindest eine stark verkürzte Sichtweise. Alltags- und Mediensexualität sind auch durch ästhetische resp. semantische Strukturen (wie die Machtsemantik im Falle der sadomasochistischen Sprache oder die distinktive Funktion dieses abwei- 69 Der Blick auf typische Dialoge aus verschiedenen SM-Pornofilmen verdeutlicht die Parallelen auf der sprachlichen Ebene: Sklave: Oh, Herrin, Sie sind so gut zu mir. Domina: Jetzt aber nicht mehr, Du hast mir die Stiefel vollgewichst. Komm, leck mir die Stiefel ab. Leck deine Sauerei auf. Ja, leck. Schmeckt das gut? S.: Ja, Herrin. D.: Ja, deine eigene Schweinerei, die Du veranstaltet hast. Magst Du das? S.: Ja, Herrin. D.: Wenn ich sage, dass Du wichsen sollst, dann heißt das noch nicht, dass Du auf meine Stiefel wichsen sollst. Ja, leck weiter. Immer weiter. Die Stiefel sind noch nicht sauber, das reicht mir noch nicht. S.: Jawohl Herrin. D.: Die müssen richtig blinken und blitzen wie eine Luxuslimusine. Ja, mach weiter. So ist brav. Sklave, das hast Du gut gemacht. Zur Belohnung darfst Du in den Käfig und dann werde ich dich anpissen. Sag mir, dass ich Dir in den Mund pissen soll! S.: Bitte piss mir in den Mund. Du bist so gut zu mir Herrin. D.: Das hast Du auch verdient (aus dem Film: Die pissende Domina). Los, worauf wartest du, auf die Knie, du Sklavensau. Leck ihn und schieb ihn dir in den Mund und saug dabei. Ja, so, (...) dass mir die Arschbacken zusammenfallen. Ja weißt du was, du bist eine dreckige läufige Hündin, wenn du nicht alles machst, was ich dir sage, dann kriegst du die Peitsche (aus dem Film: Schwarzes Leder). Herrin: Küß' meine Füße. Richtig, so ist es gut. Komm du Hurensohn. (...) Gleich werde ich dich auspeitschen du Sklave. Sklave: Ich freu' mich drauf. Herrin: Halt's Maul Sklave, du hast gar nichts zu melden.(aus dem Film: Peitschen-Exzesse). 115 chenden Sprachgebrauchs generell) miteinander verwoben. So ist z.B. das Sprachverhalten in der Pornographie ein spezifisches ästhetisches Ritual, das - genau wie die tatsächliche Inszenierung mancher Sexualitätsformen auch - die Geschmackskonventionen des Alltags zu zerschlagen versucht. Wer die pornographische Sprache als bloßen Vulgarismus oder als Folge der Männerlastigkeit der Gesellschaft abtut, der verkennt, dass in der Sexualität eigene Ästhetiken und Bedeutungen etabliert worden sind. Sie werden auch über die Szenegrenzen hinweg kultiviert. Die Negativ-Ästhetik dient als Distinktionsmittel gegenüber der mehrheitlichen Kultur der ‚Anständigkeit’.70 Diese abweichenden Formsprachen sind aber kein Spezifikum der Pornographie. Sie sind vielmehr in eine lange Tradition ‚abweichender Ästhetik’ eingebettet. Gerade der Marquis de Sade verwendet für die Beschreibung seiner fiktiven Orgien eine Sprache, die jenseits aller Normen steht. Die stilistischen Mittel - etwa die pornographische Direktheit der Szenen oder die Akribie der Beschreibung von ‚Perversionen’, Sexualität und Gewalt - sind eine provokante Abweichung von den Geschmacksnormen der Mehrheit.71 b) Flagellation Die religiöse, kultische und juristische Bedeutung des Flagellantismus ist vielfach dokumentiert72 und zu erklären versucht worden.73 Auf diese Aspekte soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Vielmehr möchte ich mich auf die sexuelle Seite der Flagellation be- 70 Zur Ikonographie und Semantik des pornographischen Genres vgl. Eckert (u.a. 1990). 71 Die etymologische Rückführung des Begriffs Sadismus auf den umstrittenen Marquis de Sade verweist auf seine Bedeutung für die Auseinandersetzung mit diesem Bereich der Sexualität. Sein Werk umfasst neben Romanen auch Geschichten, Reden, Traktate, Theaterstücke, Fragmente und Briefe. Er beschreibt dort sämtliche Formen abweichender Sexualität, von inzestuösen Praktiken bis hin zu ritualisierten Menschenopfern. Seine Hauptpersonen (männliche und weibliche Libertins) lehnen alle moralischen und kulturellen Gebote ab. Und diese Negierung von Normen und Normbefolgung hebt de Sade aus dem pornographischen Einerlei hervor. Böhme (1984, S. 185) schreibt dazu: „Sades Romane sind eher philosophische als pornographische. Unendlich, wie das Sperma der Libertins, strömt auch deren philosophischer Diskurs.“ 72 Vgl. Dalarun (1986); Hyde (1964); Leibbrand/Leibbrand (1972) 73 Sehr oft wird dabei ein Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Restriktion und individueller Obsession hergestellt: "Als man aber das Triebleben durch ein ausgeklügeltes System von Schlägen, durch die obere und untere Disziplin, scheinbar wirksam unterdrückt und die sexuellen Anfechtungen augenscheinlich niedergekämpft hatte, möchte man die Schläge nicht mehr missen. Der Trieb, nun pervertiert, brach sich wieder Bahn: die Flagellation ersetzte die nicht erlaubte Sexualität, wenigstens teilweise, wurde Selbstzweck, zum Akt an sich" (Farin 1991, S. 12). Systematisch ist der englische Kulturhistoriker Steven Marcus (1979) diesen Fragen nachgegangen. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf Brown (1991) und Ussel (1977). 116 schränken, wie sie seit dem 17. Jahrhundert in zahlreichen literarischen Beispielen - insbesondere aus England - beschrieben ist. Welche Rolle das Auspeitschen und Schlagen heute in den entsprechenden Szenen spielt, verdeutlichen die folgenden Interviewausschnitte: Alice: Ich übe die aktive Rolle einer Eheherrin aus. Am meisten spricht mich das Auspeitschen meines Ehesklaven an, was ich auch praktiziere. Das SM-Spiel liefert den Rahmen für Erotik und sexuelle Erfüllung. Speziell freue ich mich, den zum Auspeitschen bereit gemachten Sklaven zu betrachten, ihn unter den Peitschenschlägen zucken zu sehen und ihn stöhnen zu hören. Ich genieße die roten Striemen auf den gepeitschten Körperflächen. Lust bereitet es mir auch, den Arsch des Ehesklaven mit Gummischwänzen zu ficken (51 Jahre, S, heterosexuell). Hans-Jörg: Eine Striemenhose ist sehr ansprechend (...). Da hat man einen nackten Hintern und Schenkel. Dann werden auf den linken Po drei vier Striemen senkrecht und auf den rechten Po drei vier Striemen senkrecht und dann wagerecht verpasst. Am Schluss ist es so, als hätte er eine Karohose an, in Form von roten Striemen. Das kann man mit der Reitpeitsche sehr gut. Wenn man sie nur halb durchzieht, gibt es schon Striemen, die aufgehen und bluten. Das ist sehr schmerzhaft (57 Jahre, M, heterosexuell). Christine: Ich peitsche ganz gerne. (...) Also weil ich mir die kommerziell hergestellten Peitschen nicht leisten kann und will, bin ich zum Selberbasteln übergegangen, vorwiegend mit Lederriemen. Je dünner und härter das Leder, desto härter ist dann auch die Peitsche. Aus weichem Leder und etwas breiteren Streifen, das macht eigentlich nur noch Krach und kribbelt ein bisschen, aber es tut nicht weh (26 Jahre, S/M, lesbisch). Entsprechend der jeweiligen Rollenverteilung hat der Flagellantismus eine aktive und eine passive Ausprägung.74 Mit Hilfe der verschiedensten Schlagwerkzeuge (Peitschen, Rohrstöcke, Gerten etc.) wird der masochistische Teil vom aktiven Partner behandelt. Die Wirkung der verschiedenen Schlaginstrumente ist unterschiedlich. Manche erzeugen nur eine gerötete Haut, andere blutige Striemen, Platzwunden oder blaue Flecken. In dem bereits erwähnten SM-Handbuch unterscheidet Grimme (2000, S. 56ff) in seinem Kapitel ‘Über das Schlagen’ folgende Utensilien: „Riemenpeitsche: Unterschiede in Größe, Länge, Dicke, Anzahl und Elastizität der Peitschenriemen. (...) Die Riemen sind üblicherweise aus Leder, können aber 74 Janus u.a. (1979, S. 122) bemerken, dass vor allem Männer die passive Flagellation nachfragen: "Die Anzahl der Männer, die sexuelle Befriedigung nur empfinden, wenn sie Flagellation erleiden, steigt ständig an und ein unverhältnismäßig hoher Prozentsatz davon sind Politiker. Es trifft sich gut für die Mädchen, daß das Verhältnis zwischen Empfängern und Verabreichen von Flagellation unter ihren Kunden etwa acht zu eins beträgt." 117 auch aus anderen Materialien sein. (...) Mit Samtschnüren versehen, sind diese Peitschen so weich, daß man sie als Effektpeitschen bezeichnet. (...) Die Enden der Riemen können ein enormes Tempo und damit eine sehr große Kraft entwickeln. (...) Geißel: Ähnlich der Riemenpeitsche, doch sind es hier meistens weniger Stränge, die außerdem geflochten oder geknotet sind. Hierdurch hat ein Schlag mit der Geißel mehr Masse und kann je nach Schlagstärke schnell zu blauen Striemen führen. (...) Tawse: Auch Riemen genannt. Unterschiede in Länge, Dicke, einfach oder doppelt gespalten. Kurze leichte Tawsen fühlen sich ähnlich wie eine Hand oder ein Gürtel an. Schwere Tawsen erzeugen rasch blaue Flecken (...) Reitgerte: Lang und dünn, am Ende mit einem elastischen Bändchen. (...) Macht mehr oder weniger deutliche Doppelstriemen, die bei günstiger Disposition von mehreren Stunden bis zu Wochen sichtbar sein können. (...) Springstock: Kürzer als die Gerte, oft mit Leder überzogen (...). Gut für zielgenaue Schlagübungen, weil die Lasche auch sehr wirkungsvoll alleine auftrifft. (...) Rohrstock: (Geeignet sind spanisches Rohr, Rattan oder Thairohr, ungeeignet ist Bambus wegen seiner scharfen Splitter...). Beim Kauf sollte man darauf achten, daß das Rohr gerade schwingt und nicht unkontrolliert zur Seite wegrutscht. (...) Bullenpeitsche: Sehr eindrucksvoll, teilweise mehrere Meter lang, je nach Qualität aus mindestens 8 bis zu 32 Lederriemen geflochten. (...) Da sie wegen ihrer Länge sehr schwer zu kontrollieren ist, besteht Verletzungsgefahr; trifft das Ende mit erheblich mehr Wucht auf, ist gleich die Haut durch. (...) Hundepeitsche: Teilweise aus mehreren Lagen Leder genäht oder geflochten. Kann sowohl als Leine (hat am dickeren Ende einen Karabiner) als auch als Schlaginstrument eingesetzt werden (...). Paddel: Unterschiedliche Modelle, vom Lederpaddel über abgewandelte Tischtennis- und Jokarischläger bis zu extra aus gutem Holz hergestellten Geräten mit Löchern (geringerer Luftwiderstand, dafür größerer Schmerz). (...) Zu erwähnen sind noch Haushaltsgegenstände wie Kochlöffel, Pantoffel, die aus viktorianischen Erzählungen bekannte Haarbürste, Teppichklopfer und Gürtel. Diese Geräte eignen sich natürlich genauso wie die eigene Hand. Sie sind preiswert und können unauffällig in der Wohnung herumliegen, ohne daß andere Leute oder die eigenen Kinder auf dumme Gedanken kommen, aber den meisten fehlt das Flair des ‘echten’ SM-Spielzeugs.“ 118 Abb: Flaggelationswerkzeuge (Quellen: www.puls-drugstore.de und www.kastleys.de) Diese Übersicht zeigt noch einmal die Bedeutung der Flagellationspraktiken. Die Hilfsmittel sind stark ausdifferenziert mit jeweils unterschiedlichen Wirkungsgraden. Was die geschlagene Person ertragen kann, ist starken individuellen Schwankungen unterworfen. Einige berichteten, dass fünfzig Schläge mit dem Rohrstock die absolute Grenze sei, andere ertragen das Zehn- bis Zwanzigfache. Bevorzugtes - aber nicht ausschließliches - Ziel der ‘Geißel-Lust’ ist das Gesäß. Damit solcherlei Malträtierungen nicht zu ernsthaften Verletzungen führen, muss der Flagellierende eine gewisse Geschicklichkeit erlangen. Er darf keinesfalls blindwütig losschlagen. Die Flagellation ist des Öfteren in besondere thematische Rahmen eingebettet: ‘Die strenge Lehrerin züchtigt das ungehorsame Kind’ oder ‘Der Sklave soll für seine Verfehlungen bestraft werden’. Nicht umsonst werden diese Praktiken von vielen Szenemitgliedern auch als ‘Erziehung’ bezeichnet. c) Bondage Fesselungspraktiken (Bondage) haben nicht selten fetischistische Ursprünge. Seile, Schnüre, Korsetts, Gürtel etc. spielen in der Vorstellungswelt mancher Bondage-Anhänger eine wichtige Rolle. Die ‚Fesselungs-Manie’ existiert in fetischisierter Form als eigenständige Neigung unabhängig vom Sadomasochismus. Sie kann aber auch Bestandteil sadomasochistischer Handlungen sein, weil Fesseln wehrlos macht. Fesselungen erfolgen in unterschiedlichen Formen und mit unterschiedlichen Materialien. Grundsätzlich unterscheiden sich Teilfesselungen von Ganzkörperfesselungen. Für beides sind Stricke, Ketten, Hand- und Fußschellen oder Lederbänder und Ledermanschetten, Elastikbinden, Pferdebandagen, Schals und Halstücher oder auch Bettlaken gebräuchlich. 119 Abb.: Faustfessel und Hand-/Fußfessel mit Ketten (Quelle: www.suleika.de) Soll der passive Teil nur bewegungsunfähig gemacht werden, wird er nicht selten an ein Andreaskreuz oder an andere Vorrichtungen (etwa Wand- und Deckenhaken, Streckbank, Fesselrahmen, Fesselbank) gebunden und dann unter Umständen auch ausgepeitscht oder mit anderen Werkzeugen ‚behandelt’. Schließlich stellt auch das Einsperren in einen Käfig eine Form des Bondage dar. Abb.: Sklavenkäfig (Quelle: www.puls-drugstore.de) Fesselungen können aber auch dazu dienen, bestimmte Körperhaltungen und ästhetische Effekte zu erzeugen. Sonderformen sind noch die Verwendung von Haushaltsplastikfolie (Einwickeln des ganzen Körpers), das Fesselgeschirr aus Leder, Stahl oder Ketten (Harness), Corsagen, Zwangsjacken, der Bondage-Sack für Kopf, Arme, Beine oder den ganzen Körper. Die diversen Fesselungsutensilien haben allerdings nicht selten Fetischcharakter. 120 Abb.: Ganzkörper-Bondage im Gummianzug (Quelle: www.avalon-berlin.de) Helmut: Mit Fesselungen kannst du auch bestimmte Dinge betonen. Z.B., wenn du die Arme auf den Rücken bindest und die Ellenbogen zusammenbindest, dann wird der ganze Brustkorb herausgehoben und betont. Dann kannst du zum Fesseln auch eine alte Gardinenschnurr nehmen, ein schönes weiches Band, und du machst das sorgfältig, so dass die Knoten nicht sichtbar sind. Du kannst das von der Art der Ausführung schön machen oder lausig. Der Effekt ist für das Opfer unter Umständen der gleiche, weil es das sowieso nicht sieht und sich nicht befreien kann. (...) Um das Ideal hinzubekommen, gehört Ästhetik dazu. Da gehören im weiteren Sinne noch bestimmte Ledergeschichten dazu, die ich einfach schön finde. Ledermanschetten kann man auch auf verschiedene Art herstellen. Hier so was, das würde ich noch nicht einmal einem Hund anlegen. Es gibt aber auch Sachen, da merkt man, da war jemand wirklich mit Hingabe dabei und der weiß genau, worauf es ankommt (28 Jahre, S/M, heterosexuell). Carola: Das Festbinden gehört dazu, es unterstreicht es noch. Ein einfacher Hanfstrick oder eben Ketten, dann kann der stärkste Typ nichts mehr machen. Du kannst mit ihm machen, was du willst, er ist ausgeliefert (26 Jahre, S, heterosexuell). Vanna: Was ich schön finde, ist Bondage. Sich festbinden und fesseln zu lassen, finde ich unheimlich geil. Das Gefühl, sich dabei nicht bewegen zu können und warten zu müssen, auf das was passiert, das ist sehr spannend. Da ist auch Geborgenheit mit dabei. Du kannst auch Bondage machen und Kuschelsex praktizieren, da musst du nicht immer nur harten SM mit verbinden, das ist in so einer Grauzone, so dazwischen (22 Jahre, S/M, lesbisch). Angesichts manch waghalsiger, akrobatischer Figuration ist es beinahe schon unerlässlich, dass der Gefesselte sehr gelenkig sein muss. Vorbildcharakter haben hier die japanische Bondage Art und die vielen Zeichnungen aus den Comics. Gerade Comics sind gleichsam die 121 idealtypische Vorgabe, denen manche nachzueifern versuchen und doch immer wieder an den physiologischen Wirklichkeiten scheitern: ‘Ich bin nunmal keine Gwendoline aus diesen Heften und deswegen kann er mich da nicht so drehen und zusammenbinden, wie es ihm vielleicht vorschwebt.’ Eine Bondage-Sonderform ist das Abbinden von Geschlechtsteilen. Dazu werden sehr dünne Schnüre verwendet. Gerade bei solchen extremen Fesselungen ist die Gefahr von Durchblutungsstörungen gegeben und deswegen ist es unter Sadomasochisten guter Rat, sich nicht von Anfängern derartig fesseln zu lassen.75 d) Bizarre Praktiken Bizarre Praktiken dienen der gezielten Betonung von bestimmten Effekten, etwa dem Schmerzerlebnis. Die verwendeten Hilfsmittel sind vielfältig: Klistier, Nadeln, Klammern, Gummi, Fäkalien, Strom, Rasierklingen, Rasur, Keuschheitsgürtel, Intimschmuck, Gewichte, Handschellen, Ketten, Dornenkränze, Katheter, usw. Auch seltene Praktiken wie das Wickeln mit Windeln (bei denen sich gemäß psychoanalytischer Vorstellungen Konflikte mit der Reinlichkeitserziehung manifestieren) werden in der Szene nachgefragt. Gelegentlich werden sie auch mit bestimmten Strafritualen kombiniert. Abb.: Brustwarzenklemmen, Gewichte und Reizstromgerät (Quellen: www.puls-drugstore.de und www.cosmic-ware.de) 75 Einen Überblick zu den verschiedenen Formen des Bondage gibt das Bondage-Handbuch von Grimme (1999). Es enthält Anleitungen, Gesundheits- und Sicherheitstipps. Zum Thema Bondage in der Literatur vgl. Wetzstein u.a. (1993). 122 Abb.: Keuschheitsgürtel für Mann und Frau (Quelle: www.kastleys.de) Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang der ‚Kliniksex’, wo krankenhausähnliche Arrangements zur Stimulation eingesetzt werden. Sie finden zumeist in nachgestellten OPoder Praxisräumen statt und die Akteure sind entsprechend gekleidet (etwa die Domina als Krankenschwester). Abb.: Klinikraum im Domina-Studio (Quelle: www.avalon-berlin.de) 123 Abb. Domina als Krankenschwester bei der „Katheterbehandlung“ eines Sklaven in Gummimaske und Haushaltsfolie (Quelle: www.avalon-berlin.de) Auch die Durchbohrung von Brustwarzen und Schamlippen, Hoden, Eichel und Vorhaut ist keineswegs selten. Ähnlich wie bei den Intimschmuckträgern werden an diesen Körperteilen Ringe und Haken angebracht. Während der Intimschmuck dort hauptsächlich ein ästhetisches Surplus oder ein fetischistischer Gegenstand ist, dienen diese Vorrichtungen bei den Sadomasochisten häufig dem Anhängen von Ketten und Gewichten.76 Die Analpenetration mit übergroßen Dildos oder mit der Hand (nicht nur bei Homosexuellen), Beträufeln mit heißem Wachs, das nach dem Erkalten mit einer Gerte wieder weggeschlagen wird, das ‚Streicheln’ mit Brennnesseln oder das Trinken von Urin und das Verspeisen von Fäkalien sind weitere Beispiele für diese Bizarr-Praktiken. Sven: Was für mich bis jetzt am schwersten erträglich war, das waren Brennnesseln. Da hat sie mich mal dazwischen gehabt, mit Brennnesseln. Das war also mehr als ein Streuselkuchen. Wobei das Peitschen damit noch erträglich ist, aber das Streicheln damit ist unerträglich. Vor allen Dingen im Genitalbereich. Das war am härtesten an der Grenze von dem, was ich bisher erlebt habe. Und da habe ich noch 24 Stunden später noch daran zu denken gehabt (50 Jahre, M, heterosexuell). 76 Die Gewichte für die Brustwarzen und die Geschlechtsteile können oftmals mehrere Kilo wiegen und werden mitunter während der ganzen Inszenierung getragen. Damit kontinuierliche Steigerungsmöglichkeiten gegeben sind, besitzen manche Sadomasochisten ein ganzes Set an Gewichten, die dann nach und nach angehängt werden. 124 Fritz: Meine Vorlieben in den Praktiken liegen im Gefesselt Sein, wehrlos und fixiert zu sein sowie im Flagellantismus. Wenn aber ein guter Meister (unter erzieherischem Druck bin ich auch bisexuell) oder eine gute Meisterin da ist, dann ist es in dessen Entscheidungsbereich, was die Strafmaße sind. Da habe ich schon einiges erlebt und praktiziert und tue es noch: z.B. Nadeln, Nähen, Wachs, Elektro, Gewichte, Klammern, Klistiere, NS, Vorführungen, Analbehandlungen etc. etc. (...) Es steigert das Lustgefühl, gezwungen zu sein, sein Intimstes demütigend preiszugeben (34 Jahre, M, heterosexuell). Ralf: Ich habe keine speziellen Wünsche an Praktiken. Alles, was von mir verlangt wird, mache ich mit oder lasse ich mit mir machen. Aufgeilen tun mich nur wenige Praktiken, z.B. Dehnung meines Poloches bis zum Faustfick, Klistiere und Bondage. Erdulden muss ich allerdings alle erdenklichen Praktiken, die es gibt. Als echter Sklave ist es für mich selbstverständlich, alle Wünsche und Befehle meiner Herrschaft zu erfüllen und zu erdulden, auch wenn ich sexuell nichts davon habe. Meine Erfüllung ist es, wenn meine Herrschaft befriedigt und glücklich ist (39 Jahre, M, bisexuell). Sandra: SM funktioniert nur, wenn ich Vertrauen habe. Ein gutes Beispiel: Fisten. Ich muss eigentlich rein körperlich schon ein total offenes Vertrauen haben, wenn ich das mache, sonst klappt das einfach nicht. Was du in dem Moment machst, ist dein Leben in das von einer anderen Frau zu legen. Wenn die durchdreht, oder eine falsche Bewegung macht, dann war es das (27 Jahre, S/M, lesbisch). Martin: Und die Gummistiefel kannst du dir bis obenhin vollpissen lassen und kannst da drin rumwatscheln und du hast natürlich ein unheimlich angenehmes Gefühl auf der Haut. Ja also, wenn du jetzt da mal so 4-5 Stunden in Gummi rumgelaufen bist, das ist unheimlich geil. Du schwitzt da drunter und das ist schon ein gutes Gefühl (54 Jahre, S, schwul). Der Sadomasochismus ist also ein Erlebnisfeld, das die Ausgestaltungsformen relativ offen lässt. Die angewendeten Praktiken werden individuell ausgehandelt und dementsprechend 125 groß ist die Variationsbreite. Eine typische SM-Praktik gibt es nicht.77 Allenfalls von der Bedeutung, die ihnen die Sadomasochisten zumessen, genießen Flagellantismus und Bondage eine gewisse Sonderstellung, denn ihnen haftet das Flair der klassischen SM-Praktik an. Sie werden in der Szene als unzweifelhaft dazugehörig akzeptiert. Individuell ist die Anwendung der einzelnen Praktiken unterschiedlich. Manche Personen finden nur an einer bestimmten Form (z.B. Flagellation) sadomasochistischer Äußerung Gefallen und lehnen alles, was darüber hinausgeht, entschieden ab. Gegenüber manchen Praktiken bestehen unter Umständen sogar richtige Ekelbarrieren. Bei anderen wiederum ist die Anwendung von unterschiedlichen Praktiken zu beobachten, frei nach dem Motto eines Betroffenen: ‚Alles, was erniedrigt, wird ausgeführt’. Mit diesen unterschiedlichen Präferenzen ist auch die Konstitution von bestimmten Szene-internen Gruppierungen verbunden. Flagellanten bilden eine ‚Sub-Szene’, Bondage-Anhänger oder Fetischisten ebenso. Je stärker die Unverträglichkeiten zwischen den einzelnen Gruppen sind, desto ausgeprägter werden auch die Distinktionen zwischen ihnen. Gruppen, in denen sich Personen zusammenfinden, die eine Abneigung gegen Fäkalpraktiken haben, distanzieren sich z.B. auf das Entschiedenste von den ‚Perversen’, die solche Praktiken präferieren. 77 Auch Breslow u.a. (1985, S. 315) stellen fest, dass es keine spezifischen SM-Praktiken gibt, wie die folgende Tabelle verdeutlicht: Preferences of Sadomasochistic Sexual Interests ______________________________________ Interest Male (%) Female (%) ______________________________________ Spanking 79 80 Master-slave-realtionsship 79 76 Oral sex 77 90 Masturbation 70 73 Bondage 67 88 Humiliation 65 61 Erotic lingerie 63 88 Restraint 60 83 Anal sex 58 51 Pain 51 34 Whipping 47 39 Rubber/leather 42 42 Boots/Shoes 40 49 Verbal Abuse 40 51 Stringent Bondage 39 54 Enemas 33 22 Torture 32 32 Golden Showers 30 37 Transvestism 28 20 Petticoat punishment 25 20 Toilet activities 19 12 _____________________________________ 126 Mit der zunehmenden Szene-Einbindung verändert sich häufig das sexuelle Verhalten und die Bereitschaft, mehr zu riskieren. Das Gefühl für die harten und weichen Praktiken kann sich verschieben. Was am Anfang vielleicht als zu schmerzhaft oder zu abstoßend abgelehnt wurde, kann bei einem Teil der Befragten zu einer selbstverständlichen SM-Praktik werden. Sexuelle Verhaltensweisen werden so individuell erweitert. Von einem pathologischen Reizsteigerungszwang kann allerdings nicht gesprochen werden. 1.5.2 Die sozialen Mechanismen im SM-Arrangement Wie bereits gezeigt, ist die sadomasochistische Inszenierung gelegentlich mit bestimmten thematischen Fokussierungen verbunden, etwa die antike Sklavenversteigerung oder die Schulstunde. Aber auch wenn dieses dramaturgische Mittel nicht eingesetzt wird, zeichnen sich die Interaktionen durch einen bestimmten Aufbau aus. Was von außen wie eine sinnlose Aneinanderreihung von Praktiken erscheint, gehorcht tatsächlich der Logik von Dominanz und Submission. Der Szenebegriff ‘Abrichtung’ bezeichnet diese interne Dramaturgie treffend. Im Zentrum der Abrichtung stehen nicht selten flagellantische Praktiken oder Fesselungen. Sie werden je nach Präferenz durch die verschiedensten Maßnahmen ergänzt. Nicht selten werden für diese Handlungssequenzen genaue ‘Abstraf- und Sklavenerziehungspläne’ aufgestellt.78 Dadurch werden die devianten Praktiken inhaltlich, wie formal strukturiert und 78 Einige der von uns befragten Personen haben uns ihre privaten Abstrafpläne zugeschickt. Ein Auszug aus den Behandlungsmaßnahmen für eine Sklavin: Befestigung von Armen in Manschetten am obersten Punkt der Balken vom Spreizbalken, anschließend Beine ebenfalls gespreizt festmachen: Abrasur (nass) der Schamhaare und eincremen der Scham (kurzfristig Gewichte entfernen, dann wieder anhängen). Heißes Kerzenwachs auf Schamlippen, Kitzler und Umgebung auftropfen lassen, anschließend mit breitem Holzlineal (Gewichte entfernen) mit steigender Kraft einschlagen. Diese Maßnahmen sind aus der Stufe zwei eines insgesamt vierstufigen Strafplans entnommen. Ähnlich das ‘Handbuch für Sklaven’. Es enthält Tips, wie man einen Sklaven findet und wie man ihn ‘richtig’ behandelt. Daneben schildert es verschiedene Möglichkeiten, zu was der Sklave ‘ausgebildet’ werden kann: Der persönliche Körpersklave soll die Herrin mit der Zunge reinigen, der Toilettensklave dient für die Fäkalvariationen, andere sollen die Hausarbeit (natürlich in entsprechender Kleidung) übernehmen können und nicht zuletzt können Sklaven gegen Geld an andere ausgeliehen werden. Dieses Buch ist ohne Angabe eines Autors in einem niederländischen Verlag erschienen. Es wird nicht über den Buchhandel, sondern über die diversen Sex-Shops- und Läden vertrieben. Es wendet sich mit den folgenden einleitenden Worten an den interessierten Leser: "S/M-Anhänger sind gewöhnlich normal in jeder anderen Beziehung, sie sind einfach aufgeklärte Menschen, die den Genuß einer Herrin-Sklave-Beziehung erfahren haben, sei es als Zusatz oder Ersatz zu normalem Sex. Wenn zwei Partner sich bereit erklären, ein derartiges Übereinkommen zu treffen und innerhalb vorbestimmter Grenzen zu bleiben, dann besteht überhaupt keine Gefahr darin. Es gibt viele Stufen von S/M, die sich von der Unterrock-Dressur und einfachen Hausarbeiten bis zu grausamen Züchtigungen gefesselter Opfer erstrecken. Jeder Sklave ist anders, und die Herrin muss sich entsprechend verhalten. Viele Menschen haben Angst davor, sich auf eine derartige Beziehung einzulassen, denn sie sind dazu gebracht worden zu glauben, was sie in den Buchläden für Erwachsene gelesen haben, in Büchern wo der Sklave tagelang mit Peitschen geschlagen wird. Das ist Unsinn. Viele für beide Teile befriedigende Sitzungen werden ohne einen einzigen Peitschenhieb oder einem Schlagholz abgehalten. (...) Die Absicht dieses 127 gewinnen einen verbindlichen Charakter. Eine ähnliche Funktion kommt den in der Szene verbreiteten ‘Sklavenverträgen’ zu. Herrin und Sklave beispielsweise unterzeichnen beide einen Vertrag, der einen bestimmten Rahmen für die SM-Beziehung definiert. Dabei sind diese ‚Pläne’ z.T. sehr detailliert ausgestaltet, was sich auch in der folgenden Schilderung dokumentiert: Hartwig/Heidrun: Nachdem wir anfangs sehr wahllos praktiziert haben, haben wir seit einigen Jahren eine feste Regelung eingeführt. Jeweils wochenweise wechselt die Reihenfolge: Herrin/Sklave, Herr/Sklavin. Dafür muss jeder ein sogenanntes Strafbuch führen. Darin sind sämtliche Verfehlungen, die zur Zucht führen, aufzulisten. Das Strafmaß legt jeweils der oder die Dominierende fest. Widerspruch ist nicht erlaubt. Die Zuchtwoche beginnt jeweils um Mitternacht von Sonntag auf Montag und endet dann acht Tage später zur gleichen Zeit. Die Zucht kann sowohl nachts als auch tags erfolgen. Wir bevorzugen folgende Zuchtmittel: Ganzkörper-Auspeitschen, Genitalschmuck, Natursekt-Duschen, Klistier, Rasieren, Strafkleidung, Fesselung. (...) Unser Schlafzimmer haben wir als Zuchtraum ausgerüstet. Dort findet auch die Abstrafung statt, es sei denn, es ist Besuch da, und einer von uns beiden wird vorgeführt. In der Regel läuft die sexuelle Zucht so ab: • splitternackt ausziehen • Geschlechtsteile ausgiebig und intensiv präsentieren, • Beine breit spreizen und hinknien, • Hintern hoch recken, bis Pobacken stramm sind oder auf eines der Geräte fesseln • Geschlechtsteile feucht fummeln, knabbern und beißen, • auspeitschen: Striemen, blutige Knötchen, blaue Flecken, • Schmücken: Gewichte, Klammern, Ketten am ganzen Körper, • Natursekt zum Duschen ablassen, • Klistier vorbereiten: z.B. Pfeffer, Sekt, Urin-Gemisch, • Schamhaare rasieren, mit einer Flüssigkeit einreiben, die auf der Haut brennt, • und, wie schon geschrieben, Vorführung bei Besuch. So - dann noch zwei aktuelle Erlebnisse. Zuerst von mir. Ich kam nach Hause, meine Frau pfiff mich in das Zuchtzimmer. Sie lag nackt auf dem Bett und las mir meinen Strafkatalog vor. Ich musste mich ebenfalls völlig ausziehen. Das erste, was sie von mir verlangte, war, ihr einen Orgasmus zu lecken. Dann spannte sie mich über den Bock und verabreichte mir tausend Hiebe, bis mein Hintern wie Feuer brannte und blutige Knötchen sichtbar wurden. Dann musste ich mich in die Badewanne legen und sie verpasste mir von oben bis unten eine Natursektdusche. Abtrocknen durfte ich mich nicht. Sie hängte mir Gewichte an die Hoden und setzte Klammern auf meinen gestriemten Hintern. Und dann kam Besuch. Ich musste mich vor sie hinknien, den Kopf zwischen ihren Beinen, so dass ich mit dem Mund ihre nackte Scheide erreichen konnte. Sie unterhielt sich angeregt mit Buches ist es, ihnen zu sagen, wie es im wirklichen Leben vor sich geht (...). Eine neue Perspektive eröffnet sich vor ihren Augen; mißachten sie sich nicht und sie werden das äußerste an sexueller Lust finden." 128 ihrem Besuch und wenn ich es ihr genug tat, bekam ich einen Rohrstock in meiner Poritze zu spüren. Sie hatte mir die Penis-Manschette übergezogen und die Nägel stachen ins Fleisch. Alles tat mir weh. Anschließend wurde es dann noch ein sehr gemütlicher und intensiver Abend. Dann zu ihr: Nachdem ich ihr Strafbuch gelesen hatte, beschloss ich, sie sonntags früh zu züchtigen. Sie lag nackt bäuchlings schlafend im Bett. Ich zog ihr 100 mit der Hundepeitsche über die rosigen Pobacken. Ihr Hintern schwoll leicht an. Ich schnallte sie aufs Andreaskreuz, wobei ihre Fußspitzen den Boden nicht berühren konnten. Sie bekam fünfzig Schläge mit dem dünnen Rohrstock auf ihre Brüste und fünfzig mit der Fünfschwänzigen auf ihre Scheide. Ich hängte ihr Ketten und Gewichte an Brüste und Schamlippen. Nach zwei Stunden am Kreuz erlöste ich sie. Sie musste sich hin knien und wurde gefesselt. Mit dem Paddel, der Rute und dem Klopfer bearbeitete ich ihre Schenkel und die Pobacken, bis blaue Flecken sichtbar wurden. Dann musste sie meinen Penis auslutschen und bekam ein Drei-Liter-Klistier. Ihr Bauch wurde prall und rund. Ich stopfte einen Pfropfen in den Anus, damit sie sich nicht gleich entleeren konnte. Ich zog ihr noch zwanzig Schläge über die Fußsohlen (...) (aus einem Brief, ohne Altersangabe, beide S/M und heterosexuell). Solche Handlungen können nur in hierarchisierten Beziehungen verwirklicht werden. Dementsprechend polarisiert ist die Rollenverteilung. Ausgestattet mit einer virtuellen und situationsgebundenen Machtbefugnis, übt die aktive Person eine umfassende Kontrolle aus. Sie bestimmt den Ablauf und die Inhalte des Arrangements. Gleichzeitig baut sie um ihre Person eine Aura der Unnahbarkeit auf. Eine Domina beispielsweise lässt sich nur in Ausnahmefällen von ihren Kunden berühren oder hat gar Geschlechtsverkehr mit ihnen. Will der Kunde sexuelle Befriedigung, muss er masturbieren oder sich mit einer Sklavin begnügen. Aus der Perspektive des Kunden könnte man mit Simmel (1908/1968, S. 265) formulieren: „Dem ‚bedeutenden’ Menschen gegenüber besteht ein innerer Zwang zum Distanzhalten, der selbst im intimen Verhältnis mit ihm nicht verschwindet (...).“ Die soziale Distanz ist auch im SMBereich ein Mittel zur Kontrolle und Machtausübung. Ein masochistischer Mann beschreibt dieses Verhältnis folgendermaßen: Marius: Beim SM ist das anders. Ein Koitus mit der Herrin wird gar nicht erst angestrebt. Es würde im Widerspruch stehen zu der Rollenverteilung (Wobei ich unter ‚Rolle’ nicht eine Schauspielerrolle verstehe). Die Königin schläft normalerweise nicht mit ihrem Schuhputzer. Zumindestens kann es der Schuhputzer nicht anstreben. Die Königin könnte es befehlen. So hat es mir einmal eine Domina befohlen und während des Koitus, als es besonders schön zu werden anfing, brach sie ihn abrupt ab und peitschte mich wegen dieses Vergehens. Man kann also sagen, dass dies auch kein Koitus war (49 Jahre, M., heterosexuell). Die Wünsche und Befehle des dominanten Teils haben einen verpflichtenden Charakter und müssen - sofern sie nicht den Rahmen der vereinbarten Grenzen überschreiten (vgl. Kap. III.1.7 und 1.8) - vom masochistischen Part bedingungslos befolgt werden. Dieser liefert sich also Situation und Person regelrecht aus. Die Grade dieser Selbstauslieferung sind allerdings 129 variabel und richten sich nach den jeweils individuellen Grenzen. Während die passive Person sich in der Regel nur auf ‚einfache’ Variationen einlässt, fügt sich der ‚absolut hörige Sklave’ beinahe ohne Einschränkungen in sein submissives Los. Weil die passive Person aber fast immer bestimmte Grenzen vorgibt, sind manche Sadomasochisten der Meinung, dass die Handlung eigentlich durch die untergeordnete Person bestimmt wird. Dies trifft sicherlich im Hinblick auf die Aushandlung der Rahmenbedingungen zu (Wer als Passiver z.B. Handlungen mit Fäkalien ablehnt, kann dies auch in der Regel durchsetzen). Innerhalb dieser definierten Grenzen bestimmt und agiert aber der Sadist, und der ‚Masochist’ liefert sich - allerdings von ihm selbst initiiert - seinen Handlungen aus. Dabei werden nicht nur physiologische, sondern auch psychologische (Unterdrückungs-) Mechanismen aktiviert, wobei zwei grundlegende Aspekte herauszustellen sind. Erstens ist hier die Verletzung der Schamgefühle des ‚Opfers’ zu nennen. Um dies zu erreichen, ist die öffentliche Vorführung ein beliebtes Mittel, etwa den nackten Sklaven einfach nur unter bekleideten Menschen vorzuführen, seine körperlichen Makel oder bestimmte Verrichtungen eingehend zu präsentieren: Werner: Sehr unangenehm ist es für mich, wenn mich meine Herrin dann in den Raum hinausführt und ich bin vollkommen nackt, während alle anderen bekleidet sind. Da sind dann auch fremde Leute, und das ist schon sehr unangenehm. Schlimm ist es auch, wenn ich mich falsch benommen habe, und sie mich richtig zurechtweisen muss. Dann werde ich den Leuten vorgeführt, und ich muss auf den Tisch. Sie beschreibt und präsentiert den Gästen dann meinen Körper. Nach dem Motto ‚Hat er nicht eine besonders muskulöse Brust?’ oder ‚Ist das nicht ein richtiger Hengst?’. Dazu muss ich sagen, dass ich eine sehr schmächtige Figur habe und nur 1,60 m groß bin. Das Allerschlimmste war allerdings, als mich die Herrin einmal wegen einer anderen Frau bestrafte. Vor etwa zwanzig Leuten habe ich ein grauenhaftes Klistier bekommen und sie hat mich mit einem Tampon verschlossen. Unter der Androhung noch ein zweites Klistier zu bekommen, musste ich mich absolut zusammenreißen. Die Schmerzen und das Unbehagen waren schon nach wenigen Minuten beinahe unerträglich und alle haben mich beobachtet. Dann hat meine Herrin einen Eimer gebracht und ich durfte mich vor den ganzen Anwesenden entleeren. Das ist klar, dass das dann sehr laut und unangenehm ist. Noch nie habe ich mich mehr gedemütigt gefühlt. Andererseits war ich glücklich, dass ich auch diese Prüfung bestanden habe (43 Jahre, M., heterosexuell). Die Verletzung der Schamgefühle kann - das macht dieses Beispiel deutlich - zu einem sehr subtilen Entwürdigungsmechanismus ausgebaut werden. In der Terminologie von Goffman (1986) könnte man auch von rituellen Entweihungen sprechen. Der zweite Mechanismus zielt auf die Entpersonalisierung der passiven Person. Sie wird eingebettet in entsprechende Handlungszusammenhänge - als Gegenstand behandelt: 130 Helga: Mein Herr hatte einmal Besuch von einer anderen Frau, und ich musste dabei sein. Das war folgendermaßen: Die beiden haben sich auf dem Sofa vergnügt, und ich musste Getränke servieren. Ich musste sie aber nicht nur bringen, ich musste mich auch hinknien und als Tisch dienen. Wenn sie dann getrunken hatten, haben sie die Gläser auf meinem Rücken abgestellt und sie durften nicht umfallen. Dann hat mein Herr mit dieser Frau geschlafen. Als sie fertig waren, musste ich Aschenbecher und Zigaretten besorgen und dann wieder Tisch sein. Sie haben geraucht und die Füße auf meinen Rücken gelegt (34 Jahre, M., heterosexuell). Die Benutzung und Verdinglichung des Sklaven als Tisch oder als Fußabtreter ist eine der tiefgreifendsten Demütigungsformen.79 Mit ihr geht eine temporäre ‚Ent-Identifizierung’ (vgl. Strauss 1968) einher, die durch das Tragen von Masken noch zusätzlich akzentuiert werden kann. Goffman (1986) zeigt, dass alltägliche Umgangsformen durch ein beträchtliches Maß an ritualisierten Handlungen geprägt werden. So sind bestimmte ‚Zuvorkommensheitsrituale’ (z.B. Respektbezeugungen bei Begrüßungen) und ‚Vermeidungsrituale’ (z.B. das Ansprechen von Personen mit dem Nachnamen als Zeichen der Respektierung von sozialer Distanz) typisch für die Interaktion mit anderen Menschen. Die meisten dieser Rituale sind Handlungsorientierungen, die während des sozialen Kontakts mit anderen nicht reflektiert werden. Sie bleiben zumeist in einer Art halb-bewusstem Zustand und werden insbesondere bei Situationen verwendet, in denen Verhaltensunsicherheiten auftauchen können. Diese Rituale dienen also letztlich dazu, die Erwartbarkeit von Handlungen sicherzustellen und gleichzeitig die „ideelle Sphäre“ (Simmel 1908/1968, S. 265) vor dem ‚unbefugten’ Eindringen fremder oder unerwünschter Personen zu schützen. Zur Respektierung dieser Persönlichkeitssphäre zählt z.B. die Berücksichtigung und Achtung der individuellen Schamgrenzen oder auch bestimmte Formen der Ehrerbietung. 79 Die Vorstellung, Menschen als Gegenstände zu nutzen, taucht auch in einigen Werken de Sades auf. So etwa die Folgende aus dem Roman Juliette: "Sie sehen, daß dieser Tisch, diese Lüster, diese Sessel, nur aus Mädchengruppen bestehen, die kunstvoll arrangiert sind. Meine Gerichte werden ganz heiß auf die Hüften dieser Geschöpfe gestellt, meine Kerzen stecken in ihren Votzen, und mein Hintern wird, wenn er sich in den Sessel niederläßt, genauso wie der Ihre, von den weichen Gesichtern oder den weißen Brüsten dieser Mädchen gestützt werden. Deshalb bitte ich Sie, meine Damen, ihre Röcke hochzuheben und Sie, meine Herren, ihre Hosen herunterzuziehen, damit nach den Worten der Heiligen Schrift, das Fleisch auf dem Fleisch ruhen kann. (...) Zwölf Mädchen im Alter von zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren servierten und die Schüsseln auf den lebenden Tischen und da sie aus Silber und sehr heiß waren und die Hintern und Brüste der Geschöpfe, die diese Tische bildeten, verbrannten, entstand eine sehr lustige zuckende Bewegung, die dem Rollen der Meereswogen glich. Mehr als zwanzig Vorgerichte oder Fleischplatten garnierten den Tisch und auf Beistelltischchen, die jeweils aus vier Mädchen gebildet wurden und die sich auf das kleinste Zeichen hin näherten, wurden Weine jeder Art bereitgestellt" (de Sade, Die Geschichte der Juliette, zit. nach der Ausgabe hrsg. von M. Luckow: Marquis de Sade, Ausgewählte Werke (Bd. 5). Frankfurt/M. 1972, S. 122/123). 131 Auch in der SM-Interaktion werden Rituale80 eingesetzt. Sie sind hier keine impliziten, sondern explizite Handlungsregulative. Neben der Bewusstheit ihrer Verwendung gibt es weitere Unterschiede zu den Alltagsritualen. Zuvorkommenheits- und Vermeidungsrituale beispielsweise werden in den SM-Enklaven übersteigert verwendet. Es reicht nicht, wenn der Sklave zur Domina ‚Guten Tag, Frau Schmitt’ sagen würde, sondern er muss beispielsweise bei der Begrüßung auf die Knie fallen und seine Herrin durch Fußküsse und übergebührliche Huldigungen begrüßen. Auf Außenstehende wirkt das zumeist theatralisch übertrieben, in der SMSituation ist es gleichwohl ein wichtiges Element. Andere Rituale haben die Funktion der Entweihung. Sie reichen weit in die Persönlichkeitssphäre hinein und machen auch nicht vor den ‚wunden’ Punkten einer Person halt. Sie zielen im Gegenteil darauf ab, die betreffende Person erniedrigen und demütigen zu können. Die SM-Fähigkeit des Sklaven hängt wesentlich davon ab, dass er Image-Verletzungen - das ‚Gesicht verlieren’ - als Erwartung an sich akzeptiert. Je besser die jeweiligen Akteure sich dabei kennen, desto eher wissen sie um die besonders verletzbaren physischen und psychischen Punkte bei ihrem Gegenüber. Diese Kenntnisse werden für die Gestaltung des Szenarios ausgenutzt. Die ritualisierte Verletzung des Schamgefühls durch die öffentliche Vorführung oder bestimmte Formen der Entweihung sind Mittel dazu. Neben den bekräftigenden (die zumeist der Sklave erbringt), gibt es auch eine ganze Reihe von negativen Ritualen, die nicht nur als Reaktion auf unterbliebene Respektbezeugungen begriffen werden können. Diese Handlungen erfolgen auch dann, wenn der Sklave sich mustergültig verhält. So entsteht eine paradoxe Situation: Zum einen stellt die Ritualisierung Verhaltensschablonen zur Verfügung, um Handlung und Erwartung voraussehbar zu machen, zum anderen ist gerade die permanente Verletzung der Erwartung (durch die aktive Person) maßgeblicher Teil der SM-Rituale. Der Sklave kann, vereinfacht ausgedrückt, gemessen an der Reaktion (Bestätigung) des dominanten Teils, nie etwas richtig machen, weil fast immer negative Sanktionen erfolgen. Diese Willkürlichkeit des Verhaltens ist intendiert, denn so kann das Ritual unentwegt fortgeführt werden: Martin: 1985 habe ich den wahrscheinlich wahnsinnigsten Schmerz erlebt. Nachdem die Erziehungsstunde zu Ende war und ich vor der ganz jungen Herrin zu Ende onaniert hatte, erklärte sie mir, dass sie mich jetzt entschädigen werde, denn meine stark strapazierte Eichel müsse jetzt gepflegt werden, sie habe dafür einen Balsam. Sie rieb mir, dem voll Ernüchterten, die Eichel mit Rheumabalsam ein und versprach mir eine sehr lindernde Wirkung, ohne zu verraten, dass es Rheumabalsam ist. Ich kniete vor ihr, bedankte mich für alles, zog mich an und bat um Entlassung. Draußen auf der Straße begann der Balsam seine Wirkung zu zeigen. Es brannte immer schlimmer, ich war ganz ratlos. Was sollte ich hier auf der Stra- 80 Zum ‚Ritual’ als Mittel der Kommunikation und Orientierungshilfe in der sozialen Interaktion vgl. die Arbeiten von Douglas (1986) oder Soeffner (1992). 132 ße tun? Nach längerem Herumirren fand ich eine Gastwirtschaft, setzte mich in eine Ecke, legte den Mantel über meinen Schoß und nahm unter der Tischdecke und dem Mantel, ungesehen von allen mein Glied heraus, wischte es erst einmal ab, kühlte es dann mit meinem Bier. Ich litt einfach unsagbare Schmerzen, die Tränen liefen mir ungewollt aus den Augen, ich litt und litt und litt. Diese Schmerzen kann man nicht beschreiben. Nach einer halben Stunde etwa ließen die Schmerzen dann langsam nach. Ich zahlte und ging. Zu Hause angekommen nahm ich den Telefonhörer, rief die junge Herrin an und bedankte mich vielmals für die freundliche und rücksichtsvolle Behandlung. Ihre Reaktion lautete einfach ‚Idiot’ und der Hörer knallte in die Gabel. Wenige Tage später war ich wieder da. Ich wollte Buße tun, weil ich den köstlichen Balsam abgewischt hatte, den sie mir gegen meine Schmerzen gegeben hatte (58 Jahre, M. heterosexuell). Ein anderer Aspekt kommt noch hinzu. Im Bereich von totalen Institutionen beschreibt Goffman (1973) einen Prozess, den er als Diskulturation bezeichnet: „Der Neuling kommt mit einem bestimmten Bild von sich selbst in die Anstalt, welches durch bestimmte stabile soziale Bedingungen seiner heimischen Umgebung ermöglicht wurde. Beim Eintritt wird er sofort der Hilfe beraubt, die diese Bedingungen ihm boten“ (ebd., S. 25). Dazu werden verschiedene Maßnahmen eingeleitet. An erster Stelle steht der Entzug der Identitätsausrüstung: Der persönliche Besitz (wie Kleidung, Uhren, Schreibutensilien, Radios, Bücher etc.) wird eingezogen und gegen eine Anstaltsuniform eingetauscht. Der Name wird durch eine Nummer ersetzt, die selbstbestimmte Verfügbarkeit über den eigenen Körper wird z.B. durch bestimmte Nacktheitsrituale nicht mehr gewährleistet. Ein ähnlicher Prozess findet im SM-Arrangement statt. Durch den Verlust der alltäglichen Identitätsrequisiten und die Reduktion auf den Körper sind dem Sklaven die Möglichkeiten seiner alltäglichen Rollen nicht mehr gegeben. So ist auch der ‘Firmenboss im Studio keine Autoritätsperson mehr, sondern nur ein einfacher Sklave’. Im Unterschied zur totalen Institution sind diese Mechanismen im SM-Bereich aber freiwillig, gespielt und temporär. Die Akteure geben ihre Alltags-Identität an der Tür zum ehelichen Folterraum oder zum Dominastudio ab. Sie erhalten sie erst dann wieder zurück, wenn die Situation verlassen wird (vgl. Kap. III.1.8). Diese beiden Punkte markieren die Grenzen des SM-Rahmens, der durch verschiedene Modulationen vom Alltag abgetrennt ist. ‚Module’ sind dabei folgendermaßen definiert: „Darunter verstehe ich das System von Konventionen, wodurch eine bestimmte Tätigkeit, die bereits im Rahmen eines primären Rahmens sinnvoll ist, in etwas transformiert wird, das dieser Tätigkeit nachgebildet ist, von den Beteiligten aber als etwas ganz anderes gesehen wird“ (Goffman 1980, S. 55). Die Modulationen verschiedener Alltagsrituale durch Hyperritualisierungen, Verzerrungen des Wechselspiels von Erwartung und Bestätigung oder - nicht zu vergessen - der Verlust der alltäglichen Requisiten, machen die Eigenart des SM-Arrangements maßgeblich aus. 133 1.6 Faszination, Gefühle und Erlebnismuster Die Inszenierungsformen des Sadomasochismus und die zugrunde liegenden Mechanismen sagen noch nichts über die Gefühle und Erfahrungen aus, die die einzelnen Personen in diesem Bereich machen. Bei ihrer Darstellung ist zu berücksichtigen, dass manche Personen sich auf eine bestimmte Form sadomasochistischen Erlebens spezialisiert haben und z.B. nur Submissions- oder nur Dominanz-Erfahrungen suchen. Andere wiederum trachten sowohl nach bestimmten Unterwerfungs- als auch nach Ekel- oder Schmerzerlebnissen. Bei ihnen gründet die Faszination des Sadomasochismus in einem ganzen Ensemble von Gefühlszuständen, die die Kategorien ‘Dominanz’, ‘Submission’, ‘Schmerz und Ekel’ unterteilt werden können. Es ist davon auszugehen, dass sich in den spezifischen Gefühlslagen die jeweiligen individuellen Bedeutungsrahmen konstituieren. Die im Folgenden dargestellten Gefühlsmuster sind idealtypische Vereinfachungen, die im Alltag der Akteure noch wesentlich variantenreicher vorzufinden sind. Der analytische Zugang und die Darstellbarkeit haben diese Reduktionen notwendig gemacht. 1.6.1 Das erotisierte Herrschaftsverhältnis Abb. Dominas und Sklaven im Gummianzug bzw. mit Ledermaske und „Harness“ (Quellen: www.avalon.de und www.sin-limits.ch) 134 Typisch für das sadomasochistische Arrangement ist die bereits erwähnte Polarisierung der Akteure in zwei entgegengesetzte Rollenmuster: „Sadomasochism, then, is an activity in which participants place themselves in dominant or submissive roles. To some degree, the participants we observe were acting out sexual fantasies, which left room for a great deal of elaboration in these basic roles” (Weinberg u.a. 1984, S. 383). Ergänzend ist mit Schorsch (1980b, S. 128) zu bemerken: „Sadomasochistische Wünsche können sich nur in aktiver oder nur in passiver Form äußern oder alternierend aktiv und passiv.“ Aus der Differenz von Submission und Dominanz resultieren unterschiedliche Erfahrungen und Gefühle, die im Folgenden dargestellt sind. Dominanz Die Trennung von Macht und Sexualität ist als kulturelle Norm etabliert. Macht darf ihr zufolge nicht dazu verwendet werden, sexuelle Handlungen zu verlangen oder zu erzwingen. Demgegenüber erscheint das SM-Ritual normwidrig. Die Basis dieser Rituale ist aber die Freiwilligkeit. Das SM-Arrangements ist eine „private little Comedia dell’Arte“ (Greene/Greene 1974, S. 177), die auf gegenseitigem Einverständnis beruht und bei der „Macht (...) der Machtlosigkeit gleich (ist)“ (Ehrenreich u.a. 1988, S. 35). Dennoch finden sich hier die Rollenmuster des ‘Herrn’ oder der ‘Meisterin’, mithin deutliche Verweise auf explizite Machtansprüche. Im SM-Rahmen werden also in einem freiwilligen Arrangement intensive Machtzeremonielle inszeniert. Ihre Bedeutung und die Erfahrungen, die in diesem besonderen Raum möglich sind, erklären die Befragten folgendermaßen: Ferdinand: Meine Dominanz übe ich aus, um meinen Partner sich hilflos winden zu sehen, seine Unsicherheit zu riechen und seine Angst zu fühlen. Ich genieße es, wenn seine Scham ihn überwältigt, und wenn die Geilheit trotz aller Widerstände Besitz von ihm ergreift. Sicher auch, weil ich mich mit meinem Opfer identifiziere (43 Jahre, S/M, bisexuell). Carola: Also die Befriedigung einfach im Sinne dessen, dass ich die Macht habe, mit dem Mann oder auch mit der Frau machen zu können, was ich will. Und Befriedigung - das kann ich nicht erklären. Das ist ein Ding, was ich nicht erklären kann. Das ist jetzt nicht so dieser Orgasmus, den man wie beim Sex kriegt, sondern es hat mit Kopf und Seele zu tun. Die befreien sich dann einfach, und zwar auch wenn man das in dem Moment nicht auslebt (26 Jahre, S, heterosexuell). Bianca: Faszinierend an unseren Erziehungsstunden ist, dass mein Mann für mich was macht und zwar freiwillig, das ist wichtig. Ich binde ihn auch nie fest. Das können sehr viele Schläge sein, sehr hart. Und er sieht auch danach nicht immer sehr schön aus. Mir bringt es einfach Spaß und eine Befriedigung. (...) Mir macht es einfach Spaß, dass er was für mich tut (40 Jahre, S, heterosexuell). 135 Joachim: Die Illusion von Machtgefühl, der totalen Unterwerfung eines Menschen, die (theoretische) Möglichkeit, uneingeschränkt alles mit dem anderen machen zu können, was gerade in den Sinn kommt, turnt mich unheimlich an (40 Jahre, S/M, schwul). Katrin: Es hat einfach viel damit zu tun, die andere zu beherrschen, ja, richtige Macht über sie zu haben. Das Gefühl, sie macht alles für mich. Das gibt mir Ruhe und Lust, es befriedigt (32 Jahre, S/M, lesbisch). Mit dem subjektiven Gefühl des Herrschens können Lustgefühle entstehen resp. damit verbunden sein. Für diese Zustände scheint es vermutlich eine biophysiologische Basis zu geben: Dominante Individuen produzieren unter Anspannung (was im SM-Ritual zumeist der Fall ist) körpereigene Stoffe (Testosteron), die sexuell stimulierend sein können. Diese Reaktionen wurden allerdings erst bei Primaten untersucht. Die Übertragbarkeit in den Humanbereich wurde bislang nicht ausreichend geprüft. Ob es sich bei Dominanz und Submission um Grunddimensionen von Emotionen - genau wie beispielsweise Lust und Unlust - handelt, ist ebenfalls wenig erforscht (vgl. Birbaumer 1983). Über diesen Aspekt dominanten Verhaltens lassen sich deshalb zur Zeit nur Vermutungen anstellen. Über die Verbindung von Gewalt und Lust könnten auch die Experimente von Malamuth u.a.81 Aufschluss geben. Sie haben gezeigt, dass Versuchspersonen, die zuvor sexuell erregt wurden, sich anschließend in einer Versuchssituation eher aggressiv verhielten. Auch der umgekehrte Weg erbrachte ein ähnliches Ergebnis: Nachdem Versuchspersonen aggressiv stimuliert wurden, zeigten sie einer anschließenden Versuchssituation ein höheres sexuelles Erregungsniveau. Die enge Verbindung von Sexualität und Aggression wird dabei auf die spezifische Organisation des limbischen Systems und auf bestimmte hormonelle Einflüsse zurückgeführt. Dieser Ansatz könnte auch für die Erklärung des SM-Verhaltens herangezogen werden. Jemand, der in einer sexuellen Situation Macht (Aggression) ausübt, wird dadurch auch sexuell stärker stimuliert. Diese These ist allerdings bislang empirisch kaum belegt. Dominante Verhaltensmuster können auch ein Versuch sein, Nähe gegenüber dem Partner herzustellen. Die Befragten gebrauchen dafür Begriffe wie ‘aufbrechen’, ‘durchdringen’, ‘auflösen’ oder ‘verschmelzen’. Andere Personen erschließen sich durch die masochistischen ‘Opfer’ das Gefühl der Sicherheit vor dem Partnerverlust. Die Torturen, die der Masochist auf sich nimmt, werden zu einem symbolischem Treue-Eid für die aktive Person: ‘Sie zeigt mir dadurch, dass sie alles auf sich nimmt, dass sie mir gehört’. Hinter diesen unterschiedlichen 81 Im Einzelnen kann auf die folgenden Arbeiten hingewiesen werden: Malamuth u.a. (1977); (1980a); (1980b); (1980c) sowie Jaffe u.a. (1974). 136 Bedeutungen verbirgt sich vermutlich das gleiche Motiv, das von Reinelt (1989, S. 135/136) als generelles Merkmal von Perversionen beschrieben wird: „Im perversen Akt wird über die Sexualisierung die Distanz zwischen dem Devianten und dem Objekt seines Verlangens reduziert. (...) Außerdem können über eine derartige ‚Distanzreduktion durch Sexualisierung’ Handlungen vorgenommen werden, die ohne sexuelle Erregung als unangenehm oder ekelerregend empfunden werden. Das heißt, daß durch die Sexualisierung ängstigende, unangenehme, schmerzhafte Situationen vorübergehend verändert erlebt werden. Sie ermöglicht eine Form der Nähe und Intimität, die sonst nicht geleistet werden kann (...).“ Aber auch die umgekehrte Situation ist vorfindbar. SM wird als ein Schutz vor zu intimen persönlichen Beziehungen gesehen: ‘Es ist kein Mensch, zu dem ich eine gefühlsmäßige Beziehung habe, sondern ein Objekt. Dieser Mensch kann mich nicht verletzen. Das heißt, ich habe eigentlich eine Angst in mir, eine Unsicherheit, verletzt zu werden. Die ist in dem Moment, wo ich die Sadisten-Stellung einnehme, überwunden. Das ist für mich sicherlich der Kern der Sache, diese absolute Objektivierung des Gegenüber, wenn ich dominiere’. Empirisch fundierte Erklärungen für diese spezifische Funktion von Nähe und Distanz liegen allerdings nicht vor.82 Über diese psycho-physiologischen Aspekte hinaus könnten auch Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichem (beruflichem) Status und SM-Präferenzen, wie sie in einigen amerikanischen Studien thematisiert werden, eine Rolle spielen. Einige Autoren vertreten dabei die Auffassung, dass Personen, die im Beruf überdurchschnittlich hohe Entscheidungsbefugnisse haben, eher dazu neigen, sich in der SM-Rolle devot zu verhalten. Sadomasochismus wird im weitesten Sinne als die Kompensation beruflicher Erfahrung und Wirklichkeit verstanden. Janus u.a. (1979, S. 190) schreiben dazu: „Sie werden durch ein starkes Bedürfnis zu herrschen charakterisiert, das in einem prekären Gleichgewicht zu einem ebenso intensiven Bedürfnis nach Unterwerfung steht.“ Die statistische Auswertung der von uns befragten Personen hinsichtlich der Merkmale ‚Führungskräfte/Nicht-Führungskräfte’ und der Rollenpräferenz ergab folgende Verteilung: 82 Die Psychoanalyse beispielsweise begreift das sadistische und masochistische Handeln als Folge der Ablösungsproblematik von der Mutter in der ödipalen Phase. Einerseits manifestiert sich hier die Angst, sich von der Mutter lösen zu müssen, andererseits die Befürchtung, sich nicht lösen zu können: "In der sadomasochistischen Perversion wiederholt sich die ungelöste, präödipale Mutterbeziehung mit der Problematik von Ablösung und Verschmelzung" (Becker/Schorscch 1980, S. 179). 137 Tab.: Beruflicher Status und SM-Rolle Präferierte SM-Rolle Führungskräfte NichtFührungskräfte 37,8% 28,9% 8,9% 30,9% 53,3% 40,2% 100,0% 100,0% Aktiv Wechselnd Passiv Gesamt: Unter dem Vorbehalt der nur bedingten Generalisierbarkeit dieser Daten ist festzustellen, dass insgesamt mehr Personen, die im beruflichen Bereich als Führungskräfte einzustufen sind, der passiven Orientierung zugeordnet werden können. Umgekehrt finden sich unter den NichtFührungskräften sowohl passiv orientierte Personen wie auch solche, die den statusniederen und autoritätsarmen Berufsalltag mit der scheinbaren Allmacht des sadomasochistischen Arrangements verbinden. Auch wenn es also Verknüpfungen zwischen diesen beiden Variablen gibt, lässt sich auf der Grundlage bisheriger Forschungsergebnisse noch nichts über die Richtung dieser Zusammenhänge sagen. Unsere Ergebnisse weisen aber darauf hin, dass Verbindungen nicht nur, wie bisher vermutet, im Sinne einer Verknüpfung von beruflicher Macht und devoter Sexualität, sondern auch im umgekehrten Fall, nämlich der Allianz von sexueller All- und beruflicher Ohnmacht bestehen könnten. Das Bild des mächtigen Firmenchefs, der vor seiner Domina kriecht, müsste jedenfalls um das Bild der kleinen Angestellten, die ihren Partner knechtet, ergänzt werden: ‘Ein anderer Punkt ist, dass ich auf die Art meine Dominanz ausleben kann, als Gegensatz zu meinem normalen Leben. Da bin ich ja nur die Sekretärin. So wie der Direktor mal was machen möchte, was ihm gesagt wird, mache ich etwas, wo ich bestimmten kann. Das ist ja nicht nur gespielt. Wenn sich da ein Professor auf einmal nackt auszieht und sich bückt und sich den Po versohlen lässt, der spürt doch ganz gemischte Gefühle. Erotik, Scham und was das alles so ist. Und das spüre ich wiederum, dass der das spürt. Dann spüre ich schon eine gewisse Macht in mir und finde das schon toll, dass der das in meinem Beisein macht.’ Diese Antwort einer ‘Sadistin’ könnte ein Hinweis dafür sein, dass diese Effekte auch über die Geschlechtergrenzen verlaufen (vgl. Kap. III.1.9). Submission Eskapa (1988, S. 85f) beschreibt die masochistische Orientierung folgendermaßen: „Masochismus bedeutet Befriedigung durch Selbstverleugnung, Erniedrigung und Schmerzen (...), bedeutet sexuelle Befriedigung durch Unterwerfung unter geistigen und körperlichen Schmerz. Masochisten sind Menschen, die den Schmerz jeglicher anderer sexueller Aktivität 138 vorziehen.“ Ob das Phänomen des Masochismus auf diese einfache Aussage reduzierbar ist, scheint mehr als fraglich, denn die Interviews verweisen hier auf weitaus komplexere Erlebnisformen. Die Schlüsselfaszination für die passive Person resultiert maßgeblich aus dem Gefühl des ‘Sich-fallen-lassen-könnens’, indem die alltägliche Selbstkontrolle außer Kraft gesetzt wird. Der Masochist liefert sich einer Situation aus, die ihm sämtliche Gestaltungsoptionen entzieht. Er ist Teil des Regie-Spiels des aktiven Partners. Nicht die Alltagskonventionen, sondern das Gehorsamkeitsverlangen sind handlungsleitend. Wenn die dominante Frau den Sklaven vor einem Publikum zur Masturbation auffordert, gelten weder die Regeln des Alltags noch individuelle Schamgefühle, die solche Handlungen normalerweise in verborgene Bereiche abdrängen. Der Masochist wird dadurch - unabhängig davon, wie ‚pervers’ und ‚abweichend’ sein Verhalten auch sein mag - von Rechtfertigungszwängen entlastet. Er hat keine Schuld an dem, was er tut, und er muss auch keine Schamgefühle deswegen haben, schließlich ist alles vorgeschrieben und befohlen worden. Gudrun: Es ist diese Sehnsucht, mich fallen zu lassen oder kontrolliert zu werden. Oder aufzuhören, Selbstkontrolle über mich auszuüben. (...) Ich habe hinterher oft Gefühle von Erlösung und das ist, wie wenn alles von mir abgenommen wäre. (...) Das ist das Schöne daran. Es ist wie so eine Erlösung von dem, was man sonst immer macht. Oder von dem Leben, was ich unter meiner Kontrolle habe. Und Kontrolle zu haben, das ist ja immer auch sehr anstrengend. In dem Moment, wo ich gefesselt bin, da muss ich alles auf mich zukommen lassen und ich kann überhaupt keine Abwehr aufbauen (30 Jahre, M, heterosexuell). Alfred: Eine wesentliche Komponente ist die Verlagerung der Verantwortung für die eigene Person auf jemand anderes und dadurch die Auslösung eines Gefühls des Wohlbefindens, der Unbeschwertheit, die für mich fast Voraussetzung für das Erleben von Sexualität ist. Ich bin ansonsten immer einer, der sich nicht fallenlassen kann, ich kann nicht genug abschalten (37 Jahre, M, heterosexuell). Hans-Jörg: Wenn ich splitternackt oder gefesselt da vorgeführt werde oder unter vier Augen, das ist egal, dann ist das schrecklich aufregend. Wenn ich dann festgebunden bin, liegt die Befreiung eigentlich darin, dass ich nicht mehr verantwortlich bin für das, was ich da mache, ich werde ja gezwungen dazu. Und ich bin gänzlich frei, denn ich tue ja nichts böses, ich werde ja gezwungen das zu tun. Ich habe kein schlechtes Gewissen, im Gegenteil, ich bin befreit, losgelöst und ruhig (57 Jahre, M, heterosexuell). Anne: Wenn ich gefesselt bin und meine Augen verbunden sind, habe ich nur noch die Möglichkeit zu fühlen, zu hören, zu riechen, zu schmecken. Dadurch, dass ich nicht mit den Augen erleben oder vorhersehen kann was passiert, wirkt alles viel erregender. Ich bin dann der Partnerin vollkommen ausgeliefert und das gefällt mir. (...) SM erleichtert das Loslassen, spielt dem Kopf Streiche, indem es mir das Gefühl gibt, keine andere Chance zu haben, als mich hinzugeben (23 Jahre, S/M, lesbisch). 139 Thomas: Diese Praktiken machen mir Lust oder erzeugen bei mir ein Lustgefühl. In der passiven Rolle dieses Ausgeliefertsein, nichts tun können. Gleichzeitig fühle ich mich dadurch erleichtert, ich brauche nichts zu tun und ich brauche nichts zu denken (29 Jahre, S/M, schwul). Diese Entlastungsfunktion83 ist bei manchen - wie gezeigt - schon in der Phantasie als Wunsch angelegt, z.B. als Überwältigungsphantasie und findet ihre Fortsetzung im realen Verhalten. Masochismus ist also auch eine Form des Ausstiegs aus den normativen Zwängen wie auch der Selbstkontrolle der sozialen Wirklichkeit. Je weiter der Ausstieg vom Alltag wegführt, desto höher wird aber auch der Preis, den der Masochist zahlen muss. Sich schlagen und fesseln lassen, Exkremente verspeisen und Schmerzen erleiden (vgl. Kap. III.1.5.1) sind nur einige der Opfer, die ein solcher ‚Ausbruchsversuch’ (vgl. Cohen/Taylor 1977) fordert. Vielleicht ist gerade die größtmögliche Diskrepanz zwischen Alltag und Enklave das Faszinierende an dieser Rolle. Sie wäre dann bei Firmenchefs, Politikern oder Managern, wenn sie beispielsweise über den Boden eines Dominastudios rutschen oder Sklavendienste leisten, am größten. Dabei geht es vermutlich nicht um die Kompensation von Macht oder Ohnmacht oder bei Frauen auch nicht um eine spezifische Reaktionsform auf die Jahrtausende währende Knechtung im Patriarchat. Hier konstituieren sich vielmehr spezifische Formen von Grenzerfahrungen, die der Alltag nicht mehr erlaubt. An die masochistische Rolle sind neben den Gratifikationen, die der Masochist aus der Entlastungs- und Identitätsfunktion seiner Rolle zieht, noch weitere Entschädigungen geknüpft. Indem sich der Masochist ausliefert und damit dem Dominanzanspruch des aktiven Partners entgegenkommt, kann er sich der umfassenden Befriedigung der eigenen Bedürfnisse hingeben, während sich der aktive Partner um das - im weitesten Sinne - Wohlergehen des Dieners kümmern und das Szenario auch noch spannend inszenieren muss. Die aktiven Personen müssen hingegen viel stärker auf ihre Selbstkontrolle achten, um im Spiel mit den Grenzen keine Verletzungen zu riskieren. 83 Stein (1974, S. 263) hat im übrigen in ihrer Studie einen ähnlichen Zusammenhang herausgestellt: "The Slave scenes then appeared to function therapeutically by allowing clients to enjoy various sexual practices without guilt, to relieve anxieties by a symbolic retreat into childhood, to compensate for sadistic or domineering behavior in other areas of their life, to act impulses toward a pleasurable end. The sessions certainly enabled the men to relieve sexual tensions by acting our fairly strong desires they would otherwise have to suppress." 140 1.6.2 Schmerz und Ekel Die Darstellung der verschiedenen Praktiken hat deutlich gemacht, dass im sadomasochistischen Ritual auch das Schmerz-Zufügen resp. -Erleiden oder die Verletzung bestimmter Ekelgrenzen eine Rolle spielen. Ihre Bedeutung ist im Folgenden dargestellt. Der Schmerz Die Schmerzforschung ist ein verhältnismäßig junger Zweig der Neurophysiologie und der Biopsychologie. Dementsprechend gibt es nur wenig gesichertes Wissen über den Schmerz. Fest steht, dass Menschen ebenso wie tierische Organismen über spezielle Sensoren verfügen, die nur durch gewebsschädigende oder bedrohende Reize (Noxen) erregt werden. Die Rezeptoren bezeichnet man als Nociceptoren, die auf mechanische, thermische und chemische Einflüsse reagieren können. Manche Nociceptoren sind unimodal, d.h. sie antworten nur auf eine bestimmte Reizart; die meisten sind jedoch polymodal und können durch verschiedene Reizarten aktiviert werden. Die Aufnahme, Weiterleitung und zentralnervöse Verarbeitung noxischer Signale bezeichnet man als Nociception. Die Erregung der entsprechenden Sensoren löst die subjektive Empfindung ‚Schmerz’ aus. Dieser wiederum signalisiert, dass entweder von außen oder von innen kommende Reize dem Körper Schaden zuzufügen drohen.84 Das Schmerzerlebnis ist beim einzelnen Menschen zumeist mit Unlustgefühlen verbunden: „Der unseeligen Koppelung von körperlichem Schmerz und Angst können wir überall begegnen: in den Warte- und Behandlungszimmern von Zahnärzten, in den Kreißsälen der Krankenhäuser, am extremsten jedoch auf den onkologischen Stationen. Immer wieder treffen wir Menschen, die nicht die Krankheit ängstigt, sondern der Schmerz; Menschen, die nicht der Tod ängstigt, sondern das mit Schmerzen verbundene Sterben“ (Keeser 1990, S. 48). Damit wird deutlich, dass Schmerz sehr häufig Abwehr- und Fluchtreaktionen auslöst. Schmerzsituationen werden nach Möglichkeit gemieden und aus dem alltäglichen Erfahrungsrepertoire ferngehalten. Anders im sadomasochistischen Rahmen. Bereits die frühen Sexualwissenschaftler weisen auf die wichtige Rolle des Schmerzes für das sadomasochistische Erlebnis hin. Auch Weinberg u.a. (1984, S. 382) betonen diesen Sachverhalt: “Most lay and professional discussions of sadomasochitic emphasize the physical pain involved.” Im sadomasochistischen Arrangement kann der Schmerz Teil des Herrschafts- und Unterwerfungsrituals sein. Er wird zumeist nur von der passiven Person ertragen. Der aktive Teil versichert sich auf diese Weise der Unter- 84 Zur Schmerzforschung vgl.: Birbaumer/Schmidt(1990); Euler/Mandl(1983); Keeser u.a. (1982); Pöppel/Bullinger(1990); Schmidt/Thews(1987). 141 würfigkeit, Demut und Aufopferung seines masochistischen Partners. Die Erfahrungen des aktiven Teils lassen sich am ehesten mit Vergewisserung und Bestätigung der Macht beschreiben. Es ist aber auch denkbar, dass das Foltern und Quälen an sich Lustgefühle erzeugt. In der Phantasie - so berichten einige der Befragten - haben diese Vorstellungen durchaus eine stimulierende Funktion. Allerdings lehnen sie die Umsetzung aus moralischen Gründen oder wegen möglicher negativer Sanktionen ab. Dieser Umstand darf aber nicht dahingehend verstanden werden, als gäbe es diese ‚Folterpraktiken’ nicht. Sie werden in der Szene totgeschwiegen, weil sie nicht selten mit Verletzungen des Freiwilligkeitsgebotes einhergehen und die Sadomasochisten als Gesamtheit diskreditieren.85 Für einen Teil der passiv orientierten Personen ist der Schmerz während des SM-Rituals ein notwendiges Übel und keineswegs nur eine angenehme Erfahrung. Masochisten erleiden die Qual als den signifikantesten Ausdruck von Selbstaufgabe und Ohnmacht: Nikolaus: Schmerz fügt sie mir zu. Sie fragt nicht, ob sie darf oder ob ich es will, sie tut es, mit verschiedenen Schmerzgraden. Die geringen Grade empfinde ich unter Umständen direkt angenehm. Da spüre ich meine Herrin, die ich im Normalsex ja sonst ohnehin nie zu spüren bekomme. An den Geschlechtsteilen, am Anus und vor allem an den Brustwarzen habe ich diesen leichten Schmerz besonders gern. Aber dann kommen höhere Schmerzgrade, die schwer zu verkraften sind. Nur: wer fragt danach? Ich habe mich unterworfen, ich muss es erdulden. Ich beschimpfe mich dann selbst laut als Feigling und Schwächling, dass mir das weh tut. Ich bitte die Herrin aufzuhören, aber sie verhöhnt mich nur und lacht (wahnsinnig demütigend) und der Schmerz kann auch in das Unerträgliche gesteigert werden. (...) Ich schreie, bitte um Gnade, die nicht gewährt wird - aber hinterher bedanke ich mich, und dieser Dank ist trotzdem echt und nicht nur befohlen oder gespielt. Da ich meine Herrin oft wechsle, ist es nicht nötig, die Schmerzintensität zu steigern, um den ‚Spaß’, wie sie es nennen, zu erhöhen. Schmerzen machen natürlich keinen Spaß, aber eine Luststeigerung ist es schon. Würde ich einen Salon verlassen, ohne Schmerz empfunden zu haben, so hätte ich nichts erlebt. Der Schmerz, der mir zugefügt wird, also Strafe ohne Grund, da ich doch gar kein Verschulden auf mich gezogen habe, demütigt mich sehr stark und je größer der Schmerz war, um so tiefer die Demütigung (64 Jahre, M, heterosexuell). Neben dieser Personengruppe gibt es aber auch Masochisten, die aus dem unmittelbaren Schmerzerlebnis Lust gewinnen.86 Dabei geht es nicht nur um Unterwerfung, sondern um eine spezifische Steigerung des Lusterlebnisses durch Schmerz: 85 Auf diese Frage werde ich ausführlich in Kap. III.1.7 eingehen, wenn es um die Verletzung von Grenzen und Regeln im sadomasochistischen Arrangement geht. 86 Schrenck-Notzing(1902) hat für diesen Sachverhalt den Begriff der Algolagnie eingeführt. 142 Maria: Es kommt drauf an, ob man sich gegen den Schmerz wehrt oder ob man sich reinfallen lässt. Es gibt also die Momente, wo man Wut verspürt, über diese Schmerzen. Die Wut, im Endeffekt hilflos zu sein, zu sagen, was mache ich eigentlich hier? Ich bin hier gefesselt, lasse mich schlagen. Dann tut es auch weh. Wenn man sich dann aber wieder fallen lässt in den Schmerz und in seinen Körper reinhorcht, merkt man, dass dieser Schmerz einfach gut tut. Man wird eben feucht oder erregt, wenn man sich da reinfallen lässt. Dieser Schmerz ist dann einfach aufgeilend (25 Jahre, M, heterosexuell). Vanessa: Bei mir ist es eher so, dass es das Schmerzerlebnis an sich ist, um das es mir geht. Großen Schmerz zu empfinden, während du die Möglichkeit hast, dich reinfallen zu lassen, erzeugt erst mal Adrenalin im Blut und hinterlässt - wenn du durch bist - ein sehr sehr angenehmes gutes Gefühl. (...) Da ist es tatsächlich so eine ganz eigene Schmerzgeilheit, wo mich die Schläge geil machen. Nach jedem Schlag ist die Geilheit da. Und dann will ich noch mal und noch mal genau diesen Kick haben (30 Jahre, S/M, heterosexuell). Jonathan: Schmerz ist ein unerlässlicher Bestandteil der SM-Begegnung, ja der eigentliche Antrieb dafür. Bondage allein fände ich fad. Der Schmerz ist etwas, wovor ich mich fürchte, doch zugleich sehne ich ihn herbei. Natürlich ist er luststeigernd, denn ich will ihn ja dann immer noch (etwas) stärker spüren: noch mehr kräftigere Peitschenhiebe, gesteigerte Stromstärke und/oder Impulsfolge, schärfer zubeißende Brustklammern, wiewohl das zum Allerunangenehmsten gehört, dann lieber drei Kilo Gewicht an den Hoden. Im Laufe der Zeit tritt sicherlich eine gewisse Verminderung der Schmerzempfindlichkeit, eine Anhebung der Reizschwelle ein, die mich nach der Steigerung des Schmerzes rufen lässt. Das gilt aber, glaube ich, nicht für alle Körperteile gleichermaßen. An meinen Genitalien halte ich viel mehr aus als vor einigen Jahren, an den Brustwarzen hingegen beinahe weniger - und trotzdem will ich auch hier den stärkeren Reiz. Man lässt sich immer weiter hineingleiten in das Schattenreich der Tortur, wünscht sich immer noch ein bisschen mehr, riskiert auch immer noch ein Weniges mehr (62 Jahre, M, heterosexuell). Manfred: Die ersten 30 bis 50 Rohrstockhiebe tun mir immer noch genauso weh wie jedem anderen normalen Menschen auch. Bloß dann setzt so eine Art, wie soll man sagen, Schmerzwollust ein oder so, und dann nehmen auch die Schmerzen ab. Ich empfinde das nicht mehr als richtig körperlichen Schmerz. (...) In jedem Fall macht es geil (25 Jahre, M, schwul). Inge: Die Schmerzen empfindest du nach einer gewissen Zeit nicht mehr so sehr, du bist dann einfach nur angeturnt und genießt die Situation. Wenn ich nicht geschlagen werde und den Schmerz nicht spüre, sind meine Empfindungen viel geringer beim Sex (26 Jahre, S/M, lesbisch). Hier stellt sich die Frage, wie die Schmerzen überhaupt ertragen werden können, und wie diese Schmerzen mit dem Lusterlebnis zusammenhängen. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Schmerztoleranzschwelle (Bezeichnung für den Punkt in einem Experiment, an dem 143 die noxische Reizung so weit geht, dass der Schmerz nicht mehr ertragen werden kann) individuell unterschiedlich ist. Was dem einen weh tut, kann der andere noch gut verkraften. Möglicherweise liegt also bei einigen Sadomasochisten die Toleranzgrenze ohnehin schon höher als bei anderen Menschen.87 Zudem sind normale Reaktionen auf schmerzhafte Reize nicht angeboren, sondern müssen in einer frühen Entwicklungsphase erlernt werden.88 Entsprechend könnten vielleicht auch bestimmte Entwicklungsstörungen für eine drastische Desensibilisierung von Nociceptoren verantwortlich gemacht werden, so dass bei manchen Sadomasochisten die Noxen erst auf einem recht hohen Niveau Schmerzempfindungen auslösen. Jedoch liegen entsprechende experimentelle Untersuchungen nicht vor. Wichtig sind auch die endogenen Schmerzkontrollsysteme, die das Schmerzerlebnis blockieren können. Eines von ihnen wirkt in der Verbindung von Opiatrezeptoren und ihnen zugehörige körpereigenen Liganden (Endorphine, Enkephaline und Dynorphine). Aufgrund spezifischer Rezeptoren an den Neuronen des nociceptiven Systems können diese körpereigenen Opiate sehr gezielt wirken. Schmerzempfindungen können dadurch - analog zu der Wirkungsweise von körperfremden Schmerzmitteln - reduziert oder ganz unterdrückt werden. Eine andere Form endogener Schmerzkontrolle ist möglicherweise im Zusammenhang mit bestimmten elektrophysiologischen Prozessen im Gehirn zu sehen. Larbig u.a. (1982) weisen darauf hin, dass z.B. bei Fakiren oder Feuerläufern ein Zustand kortiko-subkortikaler Dissoziationen (Hirnschlaf-körperliche Aktivität) zu beobachten ist, der mit erhöhten Thetaaktivitäten verbunden ist: „Das ekstatische, hypermotorische Tanzen des Pyrovaten auf der Glut bei eingeschränkter Aufmerksamkeit auf Musik, Ikonen, religiöse Vorstellungen, kombiniert mit ‚schlafenden’ Hirnteilen (erhöhte Thetaaktivität, entsprechend Schlafstadium 3-4), ist vergleichbar mit somnambulen Reaktionen oder hysterischen ‚fugues’. Diese psychopathologischen Zustände sind ebenfalls charakterisiert durch motorische ‚automatisierte’ Aktivität bei gleichzeitigem Hirnschlaf“ (ebd. S. 108/109). Vergleichbare Zustände sind bei der sexuellen Erregung, insbesondere beim Orgasmus nachzuweisen: „Während des sexuellen Höhepunktes 87 Experimente haben gezeigt, dass die Schmerztoleranz im interkulturellen Vergleich unterschiedlich ist: "In einer Studie in den USA wurden beispielsweise jüdische, italienische und indianische Hausfrauen miteinander verglichen. Obwohl es bei den drei Bevölkerungsgruppen keine Unterschiede bei den Schmerzschwellen gab, zeigten die Italienerinnen eine erheblich geringere Schmerztoleranz als die Jüdinnen oder die Indianerinnen. Das entspricht dem durch die Karl-May-Tradition genährten Klischee, daß Indianer mehr Schmerz aushalten können" (Pöppel 1982, S. 240). 88 So bemerken Birbaumer/Schmidt(1990, S. 352): "Bleiben diese frühkindlichen Erfahrungen aus, so lassen sie sich später nur schwer erlernen: Junge Hunde, die in den ersten 8 Lebensmonaten vor allen schädigenden Reizen bewahrt wurden, waren unfähig, auf Schmerzen angemessen zu reagieren, und lernten dies nur langsam und unvollkommen. Sie schnupperten immer wieder an offenen Flammen und ließen sich Nadeln tief in die Haut stechen, ohne mehr als lokale reflektorische Zuckungen zu zeigen. Vergleichbare Beobachtungen wurden auch an jungen Rhesusaffen erhoben." 144 ist die Umgebungs- und Schmerzwahrnehmung reduziert bzw. ausgeschaltet. Simultane EEGBefunde zu diesem Zeitpunkt zeigen erhöhte Thetaaktivität (4Hz) über der rechten Hemisphäre“ (ebd. S. 109). Bestimmte chemische und elektrophysiologische Prozesse können - wenngleich hier noch weitere Forschungsergebnisse abzuwarten sind - also in einen Zusammenhang mit dem Schmerzempfinden gebracht werden. Auch bei Sadomasochisten spielen möglicherweise - so die Konsequenz aus diesen Hypothesen - solche Potentiale bei der Reduktion des Schmerzempfindens eine Rolle.89 Aber auch situationale Variablen könnten eine Rolle spielen. Wenn viele der Befragten berichten, dass der Schmerz in anderen Situationen nach wie vor als unangenehm erlebt wird, und dass sie dort auf Schmerz mit Angst reagieren, könnte dies ein Hinweis hierfür sein: Lisa: Also wenn ich mir den Fuß breche, dann ist das etwas anderes, oder wenn der Zahnarzt mit der Spritze kommt. Ich war vor kurzem noch da, da kriege ich Angst, da kriege ich feuchte Hände. Oder ich habe mir jetzt eine Rippe angeknackst, ich war drei Tage kein Mensch mehr, weil ich Schmerzen hatte. Ich hatte aber keine sexuelle Lust gehabt, das sind körperliche Schmerzen, die mir weh tun. Die Schmerzen, die ich lustvoll empfinde, gehen nur in Verbindung mit dem Sexuellen. Also normale Schmerzen empfinde ich genauso als Schmerz wie andere (38 Jahre, M, heterosexuell). Konrad: Der Schmerz, den man empfindet, bereitet gleichzeitig Lust, aber nur weil diese Situation so ist. Ich kann mir vorstellen, wenn ich genau die gleiche Handlung ohne eine Erektion zu haben an mir vollziehe, dann empfinde ich nur den Schmerz, dann habe ich eigentlich gar nicht den Gedanken dabei, dass mir genau dieses gut tut (38 Jahre, S, heterosexuell). Der Zusammenhang von Situationsbedingungen und den komplexen neurophysiologischen Vorgängen wird von Birbaumer/Schmidt (1990, S. 352) herausgestellt: „Außerdem ist für eine Schmerzbewertung oft entscheidend, unter welchen Umständen ein Schmerzereignis auftritt. So ist gut bekannt, dass bei Kriegsverwundungen der Bedarf an schmerzstillenden Mitteln weitaus geringer ist, als bei vergleichbaren Verletzungen im Zivilleben. Anscheinend vermindert die Aussicht auf die baldige Heimreise und das Glücksgefühl, die Schlacht überlebt zu haben, Schmerzwahrnehmung und -bewertung in einem erheblichen Ausmaß.“ In diesem Zusammenhang weist Bullinger (1990, S. 277) darauf hin, dass bestimmte imaginative Techniken die Schmerzhaftigkeit von noxischen Reizen reduzieren können: Neben Tagträumen und Phantasien erweisen sich auch „die Umdefinition des Schmerzreizes als willkomme- 89 Auf die Bedeutung dieser Schmerzkontrollsysteme im Zusammenhang mit dem Phänomen des Sadomasochismus hat z.B. Mass (1983, S. 53) hingewiesen: "Like heroin and morphin, the endorphins have recently been discovered to be addictive. Perhaps the incorporation of pain into sexual activity ist actually a mechanism for releasing or augmenting the release of this substances in the brain." 145 ne Erfahrung (z.B. als angenehm erlebter Kältereiz bei der Vorstellung sich in der Wüste zu befinden) oder die imaginative Transformation des Kontextes (z.B. sich in einer vorgestellten Szene befinden, in der der Schmerz eine andere Bedeutung gewinnt)“ als effektive Schmerzreduktionsstrategien. Die Aufladung des SM-Rituals durch sexuelle Reize könnte ein vergleichbarer Mechanismus sein. Schmerz wird dadurch nicht nur erträglich, sondern bekommt möglicherweise eine andere subjektive Bedeutung, nämlich die des Lustgefühls oder wird zu einer gänzlich anderen Gefühlsqualität, wie Pöppel (1982, S. 244) es formuliert: „Vielleicht ist die Ekstase, wie sie durch extreme Situationen ausgelöst wird, jener Zustand, in dem größte Lust und tiefster Schmerz sich vereinen und durch ihre Integration eine neue Erlebnisqualität entstehen lassen.“ Der Ekel Ganz allgemein formuliert ist der Ekel ein unlustbetontes Gefühl des Widerwillens, das gegenüber bestimmten Reizen aufgebaut wird. Ekel kann sich auf Objekte wie z.B. Speisen, Getränke oder Ausscheidungen oder aber auf Menschen, beziehungsweise auf bestimmte menschliche Verhaltensformen beziehen. In den Interviews, die wir mit Sadomasochisten geführt haben, wurde die Frage nach Ekelerlebnissen immer auf Praktiken bezogen, die sich um Exkremente drehen. Ihre Thematisierung löste zumeist Verlegenheit und Ausweichreaktionen aus. Während die einzelnen Personen sehr offen über ihre übrigen SM-Erfahrungen sprechen konnten, ließ die Gesprächsbereitschaft bei dieser Frage merklich nach. Die wenigen Antworten hierzu erreichten uns in der Mehrzahl auf schriftlichem Weg. Ohne darauf einzugehen, woher die einzelnen Aversionen stammen, und welche Ursachen für sie verantwortlich gemacht werden müssen, haben die Gesprächs- und Interviewpartner von ganz unterschiedlichen Ekelformen berichtet. Heterosexuelle Männer berichteten von Ekelgefühlen, wenn sie sich sexuelle Kontakte mit einem anderen Mann vorstellten. Sie gaben an, solche Handlungen nur unter dem entschiedensten Druck einer dominanten Frau ausüben zu können. Aber selbst dann wird z.B. der ‚Befehl’, einen anderen Mann zu stimulieren, nur mit Widerwillen oder überhaupt nicht ausgeübt. Franz-Joseph: Ich könnte mich schütteln vor Ekel, wenn ich mir vorstelle, es mit einem Mann machen zu müssen. Also ein Mann ist für mich absolut tabu. Das ist nur Ekel. Ich kann das nicht erklären. Ich kenne einige Homosexuelle und komme mit ihnen sehr gut aus. Wenn ich mir aber vorstelle, ich müsste einen Schwanz in den Mund nehmen oder jemandem die Eier ablecken oder einen Mann in den Arsch ficken, dann bin ich schon dicht am Kotzen. (...) Eine Domina hat das einmal von mir verlangt und da habe ich alle Kontakte zu ihr abgebrochen. Das ist 146 noch nicht einmal für eine ansonsten verehrungswürdige Frau möglich (56 Jahre, M, heterosexuell). Andere Personen vermeiden hingegen jegliche orale oder anale Praktiken. Manche Frauen haben einen unüberwindbaren Ekel vor Sperma. Gemeinsam ist diesen Aversionen, dass sie sofern sie dem dominanten Partner bekannt sind - als Anknüpfungspunkt für Unterwerfungsrituale genutzt werden. Die Reaktionen der Betroffenen auf diese Reize werden übereinstimmend als körperlicher Widerwille - unter Umständen mit Brechreiz verbunden - beschrieben, also ein Verhalten, wie es universell bei Ekelsituationen vorkommt.90 Ekelreaktionen zeigten sich bei den Befragten insgesamt am deutlichsten in Bezug auf Exkremente. Diese Form des Ekelerlebens ist vornehmlich auf die passive Rolle beschränkt. Zwar haben von uns befragte S-Personen auch vom Ekel gegenüber bestimmten Praktiken gesprochen, sie sind aber den entsprechenden Situationen nicht so direkt ausgesetzt, weil sie aufgrund ihres Status größere Entscheidungsfreiheiten haben. Sicherlich können auch die Masochisten Praktiken mit Exkrementen aus ihrem SM-Spektrum ausklammern, manche von ihnen suchen aber gerade entsprechend einem radikalen Rollenverständnis - die Überschreitung dieser Grenzen, die nachgerade als signifikantester Beleg für eine devote Haltung erbracht wird: Egmont: In der Phantasie werde ich gerne zu bestimmten Praktiken gezwungen. In der Wirklichkeit ist es aber die Hölle für mich. Natursekt, Kaviar und homosexuelle Handlungen sind mir zutiefst zuwider. Was an diesen Praktiken so abstoßend ist, kann ich nicht sagen, aber es ist eben abstoßend. (...) Genauso finde ich orale Praktiken ekelhaft. Ich würde einer Frau niemals freiwillig orale Dienste tun (52 Jahre, M, heterosexuell). Nikolaus: Dann verlangte sie von mir, in eine unausgewaschene Urinflasche zu urinieren, um dann mein eigenes Zeug zu trinken. Aber ich war kurz zuvor auf der Toilette gewesen, und außerdem verwehrte die Aussicht auf das Kommende schon rein psychisch den Harnstrahl. ‚Dann werde ich es dir halt mit dem Katheter holen!’ brüllte sie mich an. Da ich aber soeben eine Prostataoperation hinter mir hatte, bat ich sie, flehte sie an, zu hören, dass der Arzt gesagt hatte: ‚Katheter nur im Krankenhaus setzen lassen’. Sie akzeptierte diese wahrheitsgemäße Ausrede und brüllte mich an: ‚Ich habe auch noch andere Mittel du Schwein’. Und ich musste hinter ihr herkriechen durch den Flur, zu einem Raum, dessen Tür sie öff- 90 Ekelreize lösen in allen Kulturen die gleichen Reaktionsmuster aus. Die evolutionstheoretische Erklärung könnte hierfür eine Begründung liefern: "Wenn uns etwas anekelt, möchten wir es beseitigen oder in einer Weise verändern, daß es nicht länger ekelerregend ist. In der Evolution hat Ekel wahrscheinlich dabei geholfen, Organismen zu motivieren, die Umwelt ausreichend hygienisch zu erhalten und sie davon abzuhalten, verdorbene Nahrung zu essen und verschmutztes Wasser zu trinken. Ekel ist kein perfekter Detektor von gefährlicher Verunreinigung, aber er hilft. Ferner spielt Ekel wahrscheinlich eine Rolle bei der Erhaltung der körperlichen Hygiene" (Izard 1981, S. 376f). Die Auslöser für Ekelreaktionen sind aber kulturell codiert und variieren im interkulturellen Vergleich beträchtlich. 147 nete. Es war die Toilette. ‚Sauf sie aus, du Sau!’. Was sollte ich tun? Ich war verängstigt, ich fürchtete mich vor weiterer Strafe, nachdem ich schon zwei Befehle nicht ausgeführt hatte. (...) Ich soff. Es war wohl das Schlimmste meines Lebens. (...) Praktiken wie Kaviar, erzwungene homosexuelle Kontakte (anal und oral) sind fürchterlich, aber es macht devot, demütigt unter die Macht der Herrin. Erregend daran ist, dass ich ihnen unterworfen bin, nicht weiß, was sie heute für mich ausgedacht hat, welcher Laune ich unterworfen bin. Erregend ist, darum zu bitten, sie möge doch diese oder jene Praktik nicht an mir ausüben, was dann brüsk abgelehnt wird, und ich muss es dulden. Ja, ich würde sagen, das geilt auf. (...) Es fällt mir keine einzige Situation ein, die ich positiv empfinden würde. Alles ist negativ: von Schmerz, Ekel, Demut und Angst geprägt. Zumindest körperlich spielen sich nur negative Gefühle und Erlebnisse ab (64 Jahre, M, heterosexuell). Fäkale Praktiken kommen vergleichsweise häufig bei homosexuellen Sadomasochisten vor.91 In seinem Interview mit Hubert Fichte unterstreicht Hans Eppendorfer (1977, S. 107) die Bedeutung von Fäkalpraktiken in der schwulen Lederszene: „Natürlich spielt Kot eine Rolle. Natürlich sind Leute dabei, die Kot fressen, die sich mit dem Kot beschmieren lassen, die einen kotigen Hintern auslecken, wie Leute dreckige Stiefel ablecken. (...) Auch Kotorgien hat es gegeben, es hat im Park also mehrmals sehr heftig nach Scheiße gestunken. Daß man sich dann mit dieser kotigen Faust, diesem kotigen Arm, dieser kotigen Hand wieder den Körper, die Brustwarzen beschmieren ließ. Daß sie sich den Lederoverall aufmachten und sich den Körper einseifen ließen.“ Wichtiger noch als diese Kot- sind die Urin-Rituale. Sie sind unter den SM-Schwulen ein weit verbreitetes Phänomen. Kot wie auch Urin lösen nicht in allen Fällen Ekelreaktionen aus: Bernd: Für mich ist einfach die Faszination an Dirty-Sex, sich gehen zu lassen. Eben die gesellschaftlichen Konventionen völlig außer acht zu lassen. Es ist vielleicht so dieses derbere, männlichere, was damit als Wunsch ein Stückchen näher kommt. (...) Wenn man mit dem Motorrad rausfährt, kann man sich draußen auch anpissen und dann halt weiterfahren. Es ist die Faszination die Sau rauszulassen. Sich so geben zu dürfen, wie man es im Alltag nicht darf, wie man es zu Hause in der Wohnung nicht kann, wie man es in der Kindheit nicht gedurft hat. Ich finde es auch geil, sich anzuscheißen. Daran ist faszinierend, total Schwein sein zu können. Das ist, glaube ich, so die extremste Form, die möglich ist. Weil gerade der ganze Bereich Scheiße ist sehr mit Tabus belegt. Und so ein Tabu zu durchbrechen ist faszinierend. Es ist die extremste Form von Sex. Da ist man einfach nur Tier (37 Jahre, M, schwul). 91 "Il s'agit donc d'une variante de comportements sexuels où les déjetions jouent un rôle important, un peu mieux connu dans la sous-culture gay mai également pratiquée dans le monde hétérosexuel" (Holland 1989, S. 139). 148 SM-Lesben haben sich zu diesen Formen sexuellen Verhaltens nicht geäußert. Das Fehlen solcher Praktiken in den Schilderungen ihres SM-Verhaltens ist aber vermutlich mehr das Resultat der bei ihnen zu beobachtenden Unsicherheit im Umgang mit ihren Neigungen als ein Beleg für die Nichtexistenz fäkaler Handlungen in ihren Arrangements.92 Das Beschmieren mit und das Essen bzw. Trinken von Fäkalien stellt ein Demutsritual dar. Die zivilisatorisch entstandene „Ächtung der menschlichen Exkremente“ (Gleichmann 1982, S. 277) wird auf die eigene Rolle übertragen. Die ‚Selbstentweihung’ durch Fäkalien ist eine Grenzerfahrung, die sich jenseits der geltenden sozialen und kulturellen Regeln abspielt. Ob neben diesen soziogenetischen Ausformungen auch biogenetische Faktoren eine Rolle spielen, kann gegenwärtig nicht beurteilt werden. Über die physiologische Basis des Ekels ist so gut wie nichts bekannt, was aber auch für andere Gefühlsqualitäten (Trauer, Furcht, Freude etc.) gilt: „Alle Versuche, die verschiedenen Gefühlsqualitäten anhand der Aktivität bestimmter Hirnareale oder anhand von Reaktionen des autonomen oder hormonellen Systems zu unterscheiden, sind aber bisher gescheitert“ (Asendorf 1990, S. 108). Für den ganzen Bereich der Ekelforschung hat auch nach mehreren Jahrzehnten die Feststellung von Kolanai (1929, S. 122) noch ihre Gültigkeit: „Das Problem des Ekels ist, soweit unsere Kenntnis reicht, bisher arg vernachlässigt worden. Verglichen mit dem wissenschaftlich-psychologischen und metaphysischen Interesse, das sich dem Haß und der Angst, von der ‚Unlust’ gar zu schweigen, zugewandt hat, stellt der Ekel, obwohl ein gewöhnlicher und recht prägnanter Bestandteil des Gefühlslebens, ein unbearbeitetes, unerforschtes Gebiet dar.“ Auf eine wichtige Differenzierung muss noch hingewiesen werden. Manche Personen sind von diesen Fäkalpraktiken fasziniert und finden es erregend, sich beschmutzen zu lassen oder jemanden zu beschmutzen resp. Exkremente zu essen oder zu trinken. In diesen Fällen sind Koprophilie (Koprophagie) und Urolagnie nicht zwangsläufig mit Ekelreaktionen verbunden, wie Boss (1947/1984, S. 81) beschreibt: „Davon kann indessen bei unserem Rico Daterra schon deshalb nicht die Rede sein, weil derartige Ekelschranken gegenüber dem Kot überhaupt und zum vornherein bei ihm gar nie bestanden haben; er daher auch gar nicht gegen sie angehen konnte (...). Im Gegensatz zum Fetischisten Konrad Schwing haben nun, wenn wir die ganzen perversen Beziehungsmöglichkeiten unseres koprophilen Rico Daterra zusammenfassen wollen, die Schranken seines nur noch ‚wurmhaften’ Sich-Verhaltenkönnens das Er- 92 Auf die Möglichkeit, (Natur)Sekt und Kaviar in eine lesbische SM-Beziehung zu integrieren, weist Califia (1981b, S. 276f) hin: "Da Pisse und Scheiße mit Dreck gleichgesetzt werden, können sie auch symbolisch zur Erniedrigung eingesetzt werden. Die Intimität, die in der Kontrolle über jemands Ausscheidung liegt, kann bewirken, dass sich deine Partnerin hilflos, akzeptiert und geborgen fühlt. (...) Eine gute Investition für Sektund-Kaviar-Fans ist eine Gummiunterlage um den Boden oder dein Bett zu schonen." 149 scheinenlassen auch von bloß noch vergegenwärtigten Liebespartnerinnen innerhalb seiner ätherischen Phantasiewelt verunmöglicht. Die selben Schranken verschlossen ihm den erotischen Zugang zur weiblichen Leiblichkeit bis auf den einen Leihbezirk des Mastdarmes und des Kotes. Nur diese Leibregionen waren für ihn noch offen geblieben als die Eintrittspforten zum ‚zeitvergessenen Glück’ und zu einem ‚Zuhause’ des liebenden Miteinanderseins.“ Bei solchen Fällen handelt es sich um eine ausschließliche Neigung, die nur sehr bedingt mit sadomasochistischen Orientierungen in Verbindung gebracht werden kann und möglicherweise mit fetischistischen Verhaltensformen zusammenhängt. 1.6.3 Sadomasochismus als Außeralltäglichkeit und Grenzerfahrung Im Sadomasochismus werden sexuelle Erlebensformen durch Elemente aus anderen Emotionen (z.B. Angst, Ekel, Aggression, Furcht) angereichert. Dabei werden Intensitätsstufen angestrebt, die beim normalen Sex nicht erreicht werden können. Gleichwohl ist auch der normale Sex ein Spiel mit diesen Grenzen: „Die mit Schmerzen befundene Reizung des Sexualpartners durch Beißen, Kratzen oder Kneifen bei der Aufnahme und/oder Durchführung sexueller Beziehungen ist unter den verschiedensten ethnischen Gruppen außerordentlich verbreitet. Auch bei fast allen Tierarten, insbesondere den Säugerwildformen, wurden bisher ähnliche Erscheinungen beobachtet. Diese auffällige Parallelität zwischen ähnlichen Verhaltensweisen des Menschen und der unter ihm stehenden Säuger und die Häufigkeit des Auftretens auch in dem außerhalb des sadomasochistischen Formkreises sich abspielenden Sexualverhalten von menschlichen Individuen aller Gruppen, legt den begründeten Schluß nahe, daß im Zufügen und Erdulden von Schmerzen geringerer Intensitätsgrade für viele Lebewesen ein zusätzlicher sexueller Reiz liegen muß. Auch in der menschlichen Geschlechtsliebe außerhalb jeglicher perverser Fixierungen bewegt sich vieles, was zum Liebesspiel und koitalen Vollzug gehört, auf jenem schmalen Grat zwischen Lust und Qual. (...) Die Perversionsform des Sadomasochismus besteht wenigstens zum Teil lediglich in einer quantitativen Verzerrung von wahrscheinlich in den meisten Menschen angelegten Möglichkeiten, auf leichten Schmerz sexuell zu reagieren. Ein Großteil der häufigsten sadomasochistischen Reaktionsweisen stellt also lediglich eine Verstärkung und Vergröberung (dieser) Tendenzen dar (...)“ (Keupp 1971, S. 189). Was Keupp hier speziell für den Schmerz vermutet, ist bei den anderen Elementen des sadomasochistischen Verhaltens ähnlich gegeben: Gilda: SM ist ein viel intensiveres Beschäftigen mit dem Körper. Ich habe bei normaler Sexualität das Problem, zu sanft gestreichelt zu werden, es ist mir unangenehm. Ich habe ein sehr schönes Gefühl, wenn ich eben feste angepackt werde, wenn ich Kraft spüre. Dann ist es dieses Wandern, diese Gratwanderung auf der Schwelle zwischen Lust und Schmerz. (...) Es ist bei mir der Wunsch, einmal 150 ohnmächtig zu werden. Ich bin es noch nie gewesen. Ich treibe eigentlich meine Partner daraufhin. Ich möchte es einmal erleben, einfach ganz willenlos und hilflos zu sein. Ich glaube, es ist eine Art Todessehnsucht, diesen kleinen Tod einmal zu erleben (35 Jahre, M, heterosexuell). Horst: Alles was mit Gewalt, Schmerzen zufügen und Verletzungen zufügen zu tun hat, hat auch mit sich-außer-sich-fühlen oder mit grenzüberschreitendem Verhalten zu tun. (...) Also das Maß an Anvertrauen, das finde ich extrem groß in so einer SM-Beziehung. Oder auch von Geborgenheit und Sich-fallen-lassen-können und sich voll und ganz hinzugeben oder aufzugeben, ich denke, das ist größer als sonst in einer sexuellen Beziehung. (...) Es hat für mich schon die Funktion zu sehen, dass ich so sein kann, wie ich sonst nirgendwo sein kann. Und auch zu sehen, dass sie alles akzeptiert, was ich mache. Also, dass sie alles praktisch grenzenlos oder unbegrenzt hinnehmen kann. Das findet man normal eigentlich nicht. Das finde ich ist schon etwas besonderes und keineswegs selbstverständlich, sondern außergewöhnlich (38 Jahre, S, heterosexuell). Ferdinand: Beide Partner durchbrechen Barrieren, die Konvention und Angst errichtet haben. Sie durchbrechen Grenzen und werden damit zu Grenzgängern, die auch Risiken eingehen. Meine Gefühle zu beschreiben, gelingt mir nur ansatzweise und über ‚Bilder’: Abstreifen von Sicherheit, Panzerung und Schwere - dafür Durchblutung, Atem, Unruhe. Es erhebt sich ein Widerstreit zwischen Gedanken und Gefühlen. So kann ich absolut darüber entscheiden, was ‚wir’ als nächstes tun. Gefühle oszillieren zwischen uns, meine Freiheit und Verantwortung berühren Angst und Auflösung meines Partners. Der normale Koitus bietet in seiner einförmigen Wiederholung zwar Selbstvergewisserung, Heimat, Stabilität, kann sich aber auch in Routine ermüden. Es steht fast alles fest, die einfach definierten Rollen sind verteilt und Überraschung bleibt aus (43 Jahre, S/M, bisexuell). Theodor: Das Haupterlebnis ist eine schwer beschreibbare Steigerung des Lebensgefühls, die Befriedigung des Existenzhungers. Die gleiche Antwort würde ich auf die Frage geben: Warum fahren Sie überschnell Auto, warum gehen Sie klettern? Über den Körper breitet sich erst Spannung und dann tiefe Wärme aus. Es sind Orgasmen anderer Art möglich, das ist schwer zu beschreiben, es ist, wie wenn man in weiches, warmes Gold getaucht würde (58 Jahre, S/M, heterosexuell). Miriam: SM ist für mich (...) eine orgiastische Feier, in der Schmerz zugefügt oder empfangen wird, in der hygienische Überlegungen vorübergehend aussetzen, in der ‚gekleckert’ wird. Hier wird verschwendet, nicht nur Materielles, sondern auch Energie als sexuelle, und - Gefühl. Anders als beispielsweise de Sade ergötze ich mich nicht an tatsächlichem Unwohlsein meiner Partnerin (...), sondern an der Ekstase, die mein oft schmerzvolles Vorgehen auslöst. (...) Mithilfe von SMPraktiken habe ich, sofern sie gewollt waren, jedenfalls eine Intensität des Erlebens erreicht, die mir in ‚normalen’ Beziehungen selten möglich waren (27 Jahre, S, lesbisch). Sebastian: Ich liebe den Vorgang, allmählich in Fesseln gelegt zu werden, meine Freiheit aufzugeben und zugleich eine neue zu gewinnen: die Ekstase, das Außer151 mir-sein (...), ein wenig die Kontrolle über mich zu verlieren, sie abzugeben an den anderen, verantwortungslos im wörtlichen Sinne. Ich erlebe mich als Körper, Gefühl und Kopf, und dabei nicht allein zu sein. Auch die Erschütterungen des anderen mitzuspüren, sich durch Berührungen mitzuteilen. Die körperlichen Reize bringen meinen Körper zum Zucken, zum Schwitzen, aufbäumen. Ich erlebe mich sehr elementar (47 Jahre, M, schwul) Diese Interviewpassagen verdeutlichen, dass außeralltägliche Erfahrungen und das Tangieren bzw. Überschreiten individueller physischer wie auch psychischer Grenzen eine zentrale Rolle spielen (vgl. Kap IV.). Ohnmacht, Todessehnsucht, Sich-Fallen-Lassen, Überwindung von Konventionen und zivilisatorischen Standards, Abstreifen von Routinen und Sicherheit sind Emotionen und Erfahrungen, die im Verhältnis von Dominanz und Submission, im Ausleben von Macht und im Erleben der Demütigung, im Ekelerlebnis oder im Schmerz ermöglicht werden. 1.7 Das Problem der Gewalt Das sadomasochistische Verhalten macht Erfahrungen möglich, die auch in anderen Extrembereichen gemacht werden können. Seine ‚Einzigartigkeit’ gewinnt der Sadomasochismus durch die Synthetisierung von Sexualität und Gewalt, wobei die Grenzen des normalen Empfindungsspektrums häufig überschritten werden. Verletzungen oder dauerhafte Schäden, in Einzelfällen mit Todesfolge,93 können die Konsequenzen einer entgleisten Aktion sein. Die 93 Nach Becker/Schorsch (1977, S. 51 ) realisiert sich Sadomasochismus "vor allem in sadomasochistischen Gruppenarrangements in der Subkultur Gleichgesinnter, in Salons, Privatzirkeln, Bordellen; Nichtinteressierte erfahren davon meistens nichts; sehr selten schließlich sind kriminelle Realisierungen in Form von sadistischen Gewaltakten." SM-Delikte mit Tötungsfolge kommen - soweit unsere Methode eine solche Feststellung zuläßt - äußerst selten vor. Tauchen sie aber dennoch auf, so sind die Ermittlungsbehörden und Gutachter bei der Beurteilung häufig ratlos: "Die Automatik, mit der sexuelle Tötungen juristisch in der Regel als 'Mord' qualifiziert werden, beruht vor allem auf dem rationalen Konstrukt eines 'Motivs zur Befriedigung des Geschlechtstriebs'. Dieses ist angesichts eines jeweils komplexen psychischen (psychopathologischen) Geschehens ein Fremdkörper und wird als eine Schablone gehandhabt, die von außen an ein Geschehen angelegt wird und zur Ausblendung der psychischen Hintergründe verführt. Die folgenschwere Bewertung eines Tötungsdelikts als Mord oder Totschlag basiert auf Kriterien, die in der psychischen Realität keine Entsprechungen haben" (Schorsch 1987a, S. 126). Eine andere Reaktion ist die Psychiatrisierung solcher Fälle, d.h. statt Gefängnisstrafen droht die Kasernierung in der Psychiatrie. So etwa auch in einem uns bekannt gewordenen Fall: Ja, das ganze war so: An meinem Arbeitsplatz habe ich eine Frau kennen gelernt, von der ich sehr schnell wusste, dass sie auf Sadomasochismus steht. (...) Irgendwann war ich mit ihr und ihrer Freundin unterwegs in Kneipen und wir haben ziemlich viel getrunken. Die beiden haben mich zu sich nach Hause mitgenommen, und es wurde ein richtiges Saufgelage. Die beiden hatten sehr schnell raus, dass ich so eine masochistische Neigung habe und darauf stehe, anal genommen zu werden. Sie haben sich dann richtiggehend an mir vergangen, was ich ja auch wollte. (...) Es war viel Alkohol im Spiel bei dieser Sache und irgendwann entglitt die Situation dahingehend, dass die anfingen, mir Filme von schwarzen Messen und so ein Horrorzeugs mit Zerstückelungen vorzuführen und mir damit drohten, dass sie mir den Schwanz abschneiden würden und fielen wie die Hyänen über mich her. Ich hatte Angst, dass sie es tun würden. Davon bin ich also heute noch überzeugt, dass sie es getan hätten. Ich habe dann wie wild um mich geschlagen und bin ab- 152 Gewaltaffinität, die sadomasochistischen Praktiken inhärent ist, markiert also Problembereiche, die sich in juristischen, therapeutischen, medizinischen und moralischen Diskursen niederschlagen. Die therapeutischen, medizinischen und moralischen Diskurse habe ich bereits in Kap. III.1.1 dargestellt. Deshalb möchte ich mich hier auf die Skizzierung des rechtlichen Rahmen beschränken. Vorher möchte ich jedoch darstellen, wie die Betroffenen selbst mit diesem Problem umgehen. Der Umgang mit der Gewalt Die Verletzungsgefahr einerseits, moralische Bedenken und strafrechtliche Verfolgung andererseits bedrohen die Akteure und den Fortbestand ihrer Beziehungen. Es ist deshalb zu vermuten, dass sie für diese besondere Arena eigene Strategien des Risikomanagements entwickelt haben. Die Vermeidung der Gefahr von Verletzungen oder anderen negativen Folgen ist ein charakteristisches Merkmal von sadomasochistischen Arrangements. Um die jeweiligen Sessions möglichst unbeschadet zu überstehen, ist es für die Akteure wichtig, das Risiko zu minimieren. Die Teilnahme an einer SM-Handlung ist, darauf habe ich bereits mehrfach in anderen Zusammenhängen hingewiesen, freiwillig. Niemand wird zur Teilnahme an einem solchen Arrangement gezwungen, aber auch niemand kann garantieren, dass es nicht zu Gefährdungen kommen kann. Risiken müssen - genau wie bspw. beim Boxen oder Bungee-Jumping - einkalkuliert werden. Sie sind sogar notwendig, denn aus ihnen resultiert ein maßgeblicher Teil der Faszinationskraft von extremen Verhaltensbereichen.94 Aber wie bei gefährlichen Sportarten auch, hat sich in der SM-Szene ein umfangreicher Regelcodex herausgebildet. Im Unterschied zu den Bestimmungen der meisten sportlichen Disziplinen und ihren institutionalisierten Kontrollorganen (z.B. auch bei den Paintball-Spielern), sind die sadomasochistischen gehauen. Mehr weiß ich nicht mehr. Sie wurden dann ein paar Tage später tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Die wirkliche Todesursache konnte nie geklärt werden. Ich habe das zu Protokoll gegeben, dass die mir den Schwanz abschneiden wollten und auch das mit der schwarzen Messe und diesen fürchterlichen Filmen, aber ich glaube, man hat mir das nicht abgenommen. Sie haben gar nicht richtig zugehört. Sie denken, ich habe das konstruiert, um mich zu entlasten. Der Täter befindet sich zur Zeit in einer psychiatrischen Klinik und hat eigenen Aussagen zufolge keine Möglichkeit, die tatsächlichen Hintergründe des Tathergangs aufzuschlüsseln. Auch wenn wir diesen Einzelfall nicht beurteilen können, verweist die Handhabung dieser Delikte doch auf die grundsätzlichen Probleme bei ihrer Beurteilung. 94 Schmidt (1988, S. 115) betont den Aspekt des Risikos auch für die Sexualität: "Risiko und Gefahr, Kampf, Konfliktlösung - dies ist die Dramaturgie besonders intensiven Begehrens und Erlebens; ohne Risiko, ohne Angst, ohne Feindseligkeit, ohne Rache, ohne Triumph - zumindest in Spuren - resultiert sexuelle Gleichgültigkeit und Langeweile im Sexuellen. Dieses Bild von Erotik ist schockierend und zeigt zugleich, daß die Vorstellung einer nur zärtlichen, friedfertig-lustvollen Sexualität irreal, ja, beinahe antisexuell ist." 153 Normen in keiner Satzung schriftlich fixiert.95 Auch gibt es keine formellen Kontroll- und Sanktionsinstitutionen. Die einzelnen Regeln können an dieser Stelle aufgrund ihrer Vielfalt nicht aufgezählt werden. Einige sollen aber der Anschaulichkeit wegen erwähnt sein. So ist z.B. das Schlagen auf bestimmte, besonders verletzungsträchtige Körperteile (z.B. Nieren, Hoden) genauso untersagt wie das unsachgemäße Anbringen von Nadeln oder den zu eng gebundenen Stricken bei Bondage-Praktiken, so dass die Durchblutung unterbrochen wird. In fast allen Arrangements wird zudem ein sogenannter ‚Stop-Code’ vereinbart. Er ist gleichsam das Sicherungsnetz der ‚Akrobaten’. Hierbei kann es sich um ein bestimmtes Wort handeln, wobei meistens ein Begriff aus nichtsadomasochistischen Kontexten gewählt wird, um eine versehentliche Verwendung auszuschließen. Vor allem in Situationen, in denen sich die passive Person nicht artikulieren kann, etwa wegen einer Maske, wird ein bestimmtes Zeichen z.B. mit den Händen als Stopcode benutzt. Generell dient diese Sicherheitsvorkehrung zum Schutz des passiven Akteurs. Während die ‘Flehrufe, Bitten und Klagen’ des Masochisten, z.B. während einer Flagellation, den dominierenden Partner dazu animieren sollen, mehr zu wagen, bedeutet die Verwendung des Stop-Codes das Ende der Handlung. Die Respektierung der Stopzeichen ist neben der Freiwilligkeitsdoktrin eine der wichtigsten Szene-Regeln. Nur wenige Sadomasochisten verzichten auf den Stopcode. Für sie wäre seine Verwendung eine Beschneidung der Erlebnismöglichkeiten von SM, denn eine gewisse Risikolust ‘bringt noch mehr Kicks’. Allerdings werden solche Arrangements ohne Netz in der Regel nur unter Personen getroffen, die sich sehr vertraut sind. Fritz: Für alle Fälle muss mit dem Meister bzw. der Meisterin ein Codex vereinbart sein, der ein Beendigen einer Sitzung ermöglicht. Das kann ein bestimmtes Wort sein, das auch eingehalten werden sollte, jedoch nur wenn offensichtlich eine Notlage entstanden ist, die gefährlich ist (34 Jahre, M, heterosexuell). Hubertus: Regeln, die vorher aufgestellt wurden, sollten für alle Beteiligten absolut verbindlich sein. Natürlich ist das Theorie. Wenn ein Part das Gefühl hat, sein Gegenüber gibt zu erkennen, dass die vorher aufgestellten Regeln hinfällig sein sollen - why not? Jedenfalls halte ich es für angebracht und vernünftig, vorher halbwegs zu klären, innerhalb welches Rahmens sich Aktionen bewegen können und was definitiv nicht geht, ohne dass vorher noch einmal definitiv nachgefragt wird (33 Jahre, S, heterosexuell). 95 In den letzten Jahren finden sich vereinzelt Versuche, Sicherheitsregeln zu verschriftlichen und allen Interessierten zugänglich zu machen. So ist z.B. das ‚Safety Manual’ von P. Califia (1984) mit dieser Intention für lesbische Sadomasochistinnen geschrieben worden. 154 Diana: Wenn ich nicht das Gefühl habe, mit ihm machen zu können, was ich will und er das mir überlässt, ist das für mich keine akzeptable SM-Beziehung. Wenn mir gegenüber aber jemand zum Ausdruck bringt, dass er es nicht mehr akzeptiert, kann ich deswegen aber nicht ausrasten, sondern muss aufhören. Die Regeln bestimmt halt der passive Part und sie sind verbindlich. Als aktiver Part habe ich dafür die Entscheidung, ob ich mit dem Typ überhaupt was anfangen will, wenn er mir zu viele Regeln auftischt (24 Jahre, S, heterosexuell). Dietmar: Ich kenne das nur so, dass man vorher ein Codewort vereinbart, damit man als Aktiver weiß, wann Schluss ist. Also wenn der Sadist weitergehen würde, als der Masochist will, im tiefsten Seelengrunde wäre die SM-Nummer zu Ende. In dem Moment, wo du weiter gehen würdest, würde die Geilheit aufhören. Dann würde die Lust zu Schmerz (37 Jahre, S, schwul). Lina: Ich verabrede mit meinen Freundinnen immer vorher, wann Schluss ist. Das ist ganz wichtig. Und das Stopwort musst du kennen und sofort drauf reagieren. Oder du kennst dich so gut und weißt: ‚Aha, wenn sie jetzt das Stopwort sagt, dann möchte sie gern noch eine Sekunde mehr’, aber dann musst du dich wahnsinnig gut kennen (33 Jahre, S/M, lesbisch). Wer solche Regeln nicht befolgt und das Stopzeichen oder gar das Freiwilligkeitsgebot verletzt, kann - sofern es bekannt wird - in der Szene geächtet werden: Wer einmal die Kontrolle verloren hat, dem wird es vielleicht nachgesehen, wer immer die Kontrolle verliert, wird aus Treffen, Partys und anderen Veranstaltungen ausgeschlossen. Deshalb ist eine der wichtigsten Regeln für die aktive Person, dass sie immer ein recht hohes Selbstkontrollniveau haben muss und sich auch in ekstatischen Zuständen nie völlig gehen lassen kann (vgl. Kap. III.1.6.1). Die Einhaltung dieser Regeln kann aber nur ansatzweise kontrolliert werden: So gibt es auf den zahlreichen Partys fast immer eine Person, ‘die die Augen aufhält, sich ein bisschen umschaut und darauf achtet, dass nichts Ernstes passiert’. Wird eine Aktion zu drastisch, so schreiten die anderen ein. Im Bereich der Zweierbeziehungen bestehen diese Kontrollmöglichkeiten nicht. Hier muss das Vertrauen darüber entscheiden, wie weit sich der einzelne auf die SMAktion einlässt. Findet die Begegnung mit einer fremden Person statt, werden häufig bei Freunden Adressen und Telefonnummer hinterlegt. Ist nach einem bestimmten Zeitraum keine Rückmeldung erfolgt, wird Alarm geschlagen: Die Bekannten rufen unter der entsprechenden Nummer an oder fahren auch zu der Adresse hin, um zu kontrollieren, ob alles in Ordnung ist. Wird die Situation als gefährlich eingeschätzt, alarmiert man die Polizei. Dieses Regel- und Kontrollsystem ist in SM-Gruppen unerlässlich. Eine völlig anomische Situation wäre gefährlich, weil nicht selten körperliche und psychische Grenzen berührt werden. Deshalb beziehen sich viele Regeln im weitesten Sinne auf die Unversehrtheit des Maso- 155 chisten. Wie in anderen - scheinbar regellosen - sozialen Subsystemen96 werden also eigene Normen ausdifferenziert. Sie treten in das Vakuum, das durch die Ausblendung gesellschaftlicher Konventionen und Vorschriften entsteht. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die involvierten Akteure Sadomasochismus überhaupt als Gewalt empfinden: Manfred: Ich meine, früher ist Christoph Columbus losgezogen und die hatten Angst, dass die Erde platt ist und sie irgendwann runterfallen. Heute die Segler, die hören vorher den Wetterbericht, haben ihre Seekarte dabei und sagen: ‚Die und die Runde machen wir. Und wenn eine Flaute kommt, dann haben wir noch unseren Außenbordmotor dabei.’ Ja, in der Relation sehe ich das. (...) Ja, Christoph Columbus und seine Mannschaft, die haben halt noch was riskiert. Die hätten von der platten Scheibe stürzen können, in - die Hölle vielleicht. Und die Segler heute, die riskieren eigentlich nichts mehr. F: Und was bedeutet das für SM? Manfred: Na ja, bei einer Folterung, da ist es eben auch brutal hart und du weißt nicht, ob du da noch lebend rauskommst. Und bei SM-Sachen schon. Da guckst du vorher, wie die Stimmung so ist - das Analoge zum Wetterbericht - ob denn heute überhaupt ein günstiger Tag ist. Und suchst dir die Route aus, eben anhand deiner Kondition, so was du dir so zutraust, stimmst dich eben mit einem Partner ab. Was er abkann oder was so in seinen Grenzen liegt und natürlich auch, was in meinen sadistischen Grenzen liegt (32 Jahre, S, heterosexuell). Rena: Ich denke, wenn zwei Menschen irgendwie miteinander Sexualität praktizieren, die übers Softe hinausgeht und mit Schmerzen zu tun hat, ist das deren Sache und so lange in Ordnung, wie beide das wollen. Aber in dem Augenblick, wo einer anfängt, jemand anderem was antun zu wollen, was der nicht will, dann fängt für mich Gewalt an. Dann ist das nicht mehr zu akzeptieren (40 Jahre, M, heterosexuell). Diana: Was ist SM, wenn nicht Gewalt? Aber es ist eine andere Gewalt. Wenn ich jemandem etwas antue und dieser das akzeptiert, ist das dann Gewalt? Ich verstehe Gewalt anders. Das ist für mich jedenfalls von grundlegender Bedeutung, ob es freiwillig ist oder nicht (24 Jahre, S, heterosexuell). Nikolaus: Gewalt gibt es in meinen Verhältnissen nicht. Abgesehen davon, dass die Herrin mich mit Gewalt gar nicht bezwingen könnte, braucht sie nur mit dem Finger zu schnippen und ich tue alles, was verlangt wird. Sie braucht mich nicht 96 So hat sich z.B. unter Computerfreaks - insbesondere in Hackerkreisen - die Regel durchgesetzt, dass es zwar völlig legitim ist, in fremden Rechnern zu wildern, das Verändern oder Zerstören von Datenbeständen ist aber geächtet (vgl. Eckert u.a. 1991). Auch in Rockergruppen (vgl. Simon 1989) oder jugendlichen Cliquen und Gruppen (vgl. Liebel 1990) lassen sich ähnliche Entwicklungen nachzeichnen. 156 mit Gewalt in den Käfig zu sperren, ihr Befehl genügt, und ich krieche in den engsten Käfig (64 Jahre, M, heterosexuell). Natalie: Ich sehe SM als Spiel und nicht als so ernst, wie das manche vermuten. Also ich sehe das auch nicht als Ausdruck von Gewalt an der anderen Person, wie das z.B. häufig von Leuten so beurteilt wird und wo gleich gesagt wird: ‚Ich will ja keinem anderen weh tun.’ Wenn Schmerz mit Lust verbunden ist, dann ist das ein Spiel und nicht Gewalt. Gewalt wäre für mich, jemandem etwas anzutun, was er nicht will (34 Jahre, S, lesbisch). Wenngleich sadomasochistische Praktiken vordergründig das Zufügen resp. Erleiden von Gewalt bedeuten, so bleiben sie letztlich doch Elemente eines fiktionales Spiels. In ihm ist der Einzelne Extremreizen ausgesetzt, die er freiwillig erleben will und von denen er weiß, dass er sie jederzeit beenden kann. So ähnlich wie moderne elektronische Medien im Cyberspace unmittelbare und ‚echte’ Erlebnisse bieten können, ist auch der SM-Rahmen eine Simulation, in der - verbunden mit gewissen Risiken - außeralltägliche Erlebnisse und Grenzerfahrungen möglich sind. Durch ein umfassendes Regelsystem und dem letztendlichen Bewusstsein des ‚So-tun-als-ob’ bietet das SM-Arrangement virtuelle Erlebnisse. Erst wenn Grenzen verletzt und Gebote missachtet werden, wird aus dem Spiel eine gefährliche und dann auch bedrohliche Wirklichkeit. Die Überschreitung der Grenzen Im Idealfall einer SM-Beziehung kommt es nicht zu negativen Erlebnissen. Durch bestimmte Reglementierungen und die Antizipation einer funktionierenden Affektkontrolle versucht jeder für sich, Kontrollverluste, die zu psychischen oder körperlichen Schäden führen können, auszuschließen. Der Alltag des Sadomasochismus weicht aber gelegentlich von diesem Ideal ab. Durch enthemmtes Verhalten, auf der passiven wie auf der aktiven Seite, kann das Gefühl für die Grenzen verloren gehen. Geht eine solche Übertretung gut aus, können die beteiligten Personen eine neue positive Grenzerfahrung für sich verbuchen. Ist der Einzelne aber durch das Arrangement überfordert, kann er Schaden davon tragen. Neben körperlichen sind auch psychische Schädigungen festzustellen. Sie äußern sich z.B. in Angstgefühlen oder dem Verlust des Vertrauens gegenüber anderen Personen. Während Sadomasochismus von vielen Personen ohne Probleme in die Sexualität integriert ist und damit auch ein Stück Normalität darstellt, sind solche negativen Einbrüche häufig die Ursache für Probleme. So kommen manche der Betroffenen nach einem solchen Ereignis nicht mehr mit ihrer sadomasochistischen Orientierung zurecht. Misstrauen und Angst bei den masochistischen Personen, und die Furcht bei der aktiven Person vor einem erneuten Kontrollverlust 157 können z.B. die Beziehungsaufnahme zu anderen Personen erheblich erschweren resp. unmöglich machen: Brigitte: Ich habe immer gesagt, dass mir so eine totale Versklavung nicht passieren würde, und gerade mir ist es doch passiert. Das war eine ganz subtile Angelegenheit, wie versucht wurde, meine Psyche zu brechen, zu zerstören, und zu dem Zeitpunkt, als es passierte, hätte ich mich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, wenn einer gesagt hätte, dass ich mich selbst aufgebe. Es war absolut totaler Psychoterror und doch freiwillig und mit meinem vollkommenen persönlichen Einverständnis, weil es geschickt eingefädelt wurde - eigentlich die reinste Gehirnwäsche. Das hat mit Lust nichts mehr zu tun. Aber zum damaligen Zeitpunkt hat man es geschafft mir einzureden, dass es für mich das Beste und die vollkommene Selbstverwirklichung ist, und ich habe diese Argumentation bis in die letzte Faser meiner Person aufgenommen und selbst daran geglaubt. Das hat destruktive Formen angenommen (38 Jahre M, heterosexuell). Sven: Mein Freund hat mal eine sehr negative Erfahrung gemacht und zwar bei Leuten, mit denen er schon sehr lange in Kontakt gestanden hat, also wo er ganz regelmäßig hingegangen ist. Also immer wenn die angerufen haben, hatte er da anzutanzen und da nahmen die ihn dazwischen und beim letzten Mal, wo er dagewesen ist, hatten die etwas zu viel getrunken und haben die Grenzen nicht mehr gekannt und da ist er, so wie er war, geflohen - mitten in der Nacht. Und seitdem hat er unwahrscheinliche Angst (50 Jahre, M, heterosexuell). Nicht selten ist für die ‘Opfer’ therapeutische Hilfe notwendig, um derartige negative Erfahrungen zu verarbeiten. Gerade weil Vertrauen für sadomasochistische Inszenierungen unerlässlich ist, müssen manche der Betroffenen nach solchen Erlebnissen das Grundvertrauen im Umgang mit anderen Sadomasochisten wieder lernen. Um die Verarbeitung dieser Vorfälle zu erleichtern, haben sich mittlerweile Selbsthilfegruppen gebildet, in denen Sadomasochisten ihre Erfahrungen austauschen und ihre Erlebnisse zu bewältigen versuchen. Therapiebedürftig ist aber unter Umständen nicht nur das Opfer, sondern vor allem der ‘Täter’, wie das folgende Beispiel einer Misshandlung zeigt:97 Bianca: Da würde ich keine Hand für ins Feuer legen, dass dann nichts Schlimmes passiert. Ich weiß es von einem Freund. Dessen Frau, die hat ihn immer wohin geschickt, meistens zu Paaren. Irgendwann ist er nach Hause gekommen, da hat er 97 Straffällig gewordene Sadisten bedürfen zumeist therapeutischer Hilfe und Schorsch (1987b, S. 131) zufolge sind Erfolgschancen einer Behandlung recht hoch: "Zusammenfassend lassen unsere Ergebnisse die Schlußfolgerung zu, daß es, auch wenn man die Therapieerfolge kritisch bewertet, möglich ist, bei über der Hälfte der Sexualstraftäter eine erfolgreiche ambulante Psychotherapie durchzuführen. Dieses Ergebnis ist ermutigend, bedenkt man die große Skepsis, die nicht nur seitens der Justiz gegenüber Psychotherapie überhaupt, sondern auch und vor allem seitens der Psychotherapeuten hinsichtlich der Therapierbarkeit von Straftätern, speziell wenn sie eine Perversionssymptomatik haben, geäußert wird." 158 keine Fingernägel mehr gehabt. Da ist er einem richtigen Sadisten in die Hände gefallen, der nicht danach gefragt hat, ob er mit diesem oder jenem einverstanden ist. Der hat ihn ans Andreaskreuz gebunden und ihm die Fingernägel ausgezogen. Was sollte er denn da machen? (...) Der hat sich die Fingernägel nicht absichtlich rausziehen lassen. Das war was, wo er an einen richtigen Sadisten kam. Wie der das gemacht hat, da konnte er nicht mehr loskommen. Da nutzte ihm sogar sein Karate nichts. Hinterher, wie er dann los war, was wollte er da ohne Fingernägel machen? Das war wahrscheinlich nur ein irrer Schmerz. Mit Anzeigen kommen sie auch nicht weiter. Weil sie sind ja selber schuld, sie gehen ja freiwillig dahin. (...) Ich würde mich nie als richtige Sadistin in diesem Sinne bezeichnen. Ein Sadist ist für mich ein kranker Mensch, der zerstören und wirklich verletzen will, so wie der Typ mit den Fingernägeln. SM soll aber Spaß machen, auch wenn es manchmal ein bisschen weh tut. Einem [wirklichen] Sadisten macht es auch Spaß, aber erst dann, wenn es normalerweise so weit ist, dass man aufhören sollte, wenn man die Grenze der Freiwilligkeit überschreitet (40 Jahre, S, heterosexuell). Rex: Also wie manche Leute SM verherrlichen, das kann ich nicht verstehen. Natürlich läuft im Großen und Ganzen alles nach Regeln und Vereinbarungen und mit Freiwilligkeit und so weiter. Aber man muss doch auch mal ganz eindeutig sagen, dass Regeln verletzt und Grenzen überschritten werden. Das ist sicher nicht wünschenswert und auch nicht unproblematisch. Aber das gibt es in der SMSzene und das möchte ich doch mal feststellen. Ich möchte damit nicht behaupten, dass das schlechthin typisch ist für SM, man muss da ja sehr vorsichtig sein, um funktionierende SM-Beziehungen und -Aktionen nicht zu kriminalisieren oder pathologisieren, aber es kommt halt hin und wieder vor (35 Jahre, S, heterosexuell). Aus strafrechtlicher Perspektive liegen in diesen Fällen also Körperverletzungen gemäß §223 (Körperverletzung) oder §224 StGb (schwere Körperverletzung) vor. Solche erzwungenen Handlungen sind von daher generell strafbar. Gleichzeitig machen die Befragten deutlich, dass es sich bei solchen Gewalthandlungen um Ausnahmen handelt. Im Normalfall finden SM-Handlungen unter der Voraussetzung der Einwilligung statt, ähnlich wie der ärztliche Eingriff und Verletzungen im Rahmen von Sportveranstaltungen. Vom Selbstverständnis der Betroffenen ausgehend sind sadomasochistische Handlungen deshalb Sonderformen, die nicht als Körperverletzung geahndet werden können. Der Gesetzgeber ist hier aber anderer Auffassung: „Wer eine Körperverletzung mit Einwilligung des Verletzten vornimmt, handelt nur dann rechtswidrig, wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt“ (§226a StGb). Die Sittenwidrigkeit nach §226a wird beim Sadomasochismus angenommen und demzufolge wäre jede sadomasochistische Körperverletzung strafbar, denn die Einwilligung der passiven Person ist unter rechtlichen Gesichtspunkten hinfällig.98 Problematisch ist 98 Einen guten Überblick zur Vorgeschichte dieses Gesetzes gibt Sitzmann (1991, S. 72f): "Einer der ersten, der sich - wenn auch nur am Rande - mit der Strafbarkeit einer Körperverletzung auf Verlangen auseinandersetzte, war Erich Wulffen. Er vertrat die prinzipielle Straflosigkeit der Beteiligten. Die Handlungen seien zwar tatbeständig Körperverletzungen, jedoch greife der Grundsatz <<volente non fit iniuria>> rechtfertigend ein. 159 die genauere Bestimmung des Begriffs ‚Sittenwidrigkeit’. Er erweist sich bei der Findung einer klaren Rechtslage als das entscheidende Hindernis und dementsprechend wird der §226 unterschiedlich gehandhabt: „Hinsichtlich der Strafbarkeit sado-masochistischer Körperverletzungen ist zu differenzieren: nicht jede, namentlich nicht die lediglich von §223 und §223a erfaßte Tat ist bei vorliegender Einwilligung des Masochisten strafbar. Dem Verdikt der Sittenwidrigkeit unterfallen daher nur die Körperverletzungen nach §224ff. Zur Begründung dient ein gewandeltes Verständnis vom Inhalt des Begriffs <<sittenwidrig>>. Auf bloße Moralwidrigkeit kommt es nicht (mehr) an, entscheidend kann nur sein, inwieweit das Verhalten in seinen Ursachen und Konsequenzen sozialwidrig ist. Der seinen Partner zu einer schweren Körperverletzung bestimmende Masochist ist nicht wegen Anstiftung zu schwerer Körperverletzung strafbar, da seine körperliche Integrität ihm selbst gegenüber - außer bei Verstümmelung zu deliktischen Zwecken - strafrechtlich ungeschützt ist“ (Sitzmann 1991, S. 81). Die Verwendung des Begriffes der Sittenwidrigkeit ist umstritten. Er kann immer nur vor dem Hintergrund der Annahme eines einheitlichen Sittlichkeits- und Moralempfindens in der Bevölkerung formuliert werden. Solcherlei Vorstellungen können angesichts fortschreitender Differenzierungs- und Pluralisierungseffekte in der Gesellschaft aber nicht mehr ohne Weiteres angenommen werden, ohne die Ansprüche von Minoritäten zu beschneiden. Indessen ist aus strafrechtlicher Sicht noch eine andere Frage interessant. Bevor geklärt werden kann, ob gemäß §226a der Einwilligung die rechtfertigende Wirkung zu versagen ist, muss die Reichweite der Einwilligung geklärt sein. Sie bezieht sich nur auf den Bereich, mit dem die passive Person vorab in einer Absprache einverstanden war. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass bleibende Schädigungen (z.B. Kastration, Amputation), wie sie gelegentlich vorkommen sollen, generell von der Einwilligung ausgenommen sind. Das Kriminalitätsfeld im Bereich SM ist aber nicht nur auf den Tatbestand der Körperverletzung zu beschränken, sondern muss weitergefasst werden. So kommen z.B. auch Erpressungen vor. Sie sind im Domina- und Prostitutions- wie auch im semiprofessionellen Bereich - wenn auch nicht an der Tagesordnung, so doch hin und wieder - zu finden. Auch Frei- Dies gelte aber dann nicht, wenn der Masochist minderjährig sei oder infolge übermäßiger Flagellation sterbe. (...) Ende der zwanziger Jahre beschäftigte sich erstmals die höchstrichterliche Rechtsprechung mit diesem Problemkreis. Da bei sadomasochistischen Praktiken die Körperverletzungen zu <<Unzuchtszwecken>> erfolgten, verstoße die Tat trotz einer Einwilligung gegen die guten Sitten. Die Einwilligung sei daher rechtlich bedeutungslos. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang, dass bereits vor Einführung des §226a am 26.5.1933 für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit auf den Tatzweck abgestellt wurde. Nach Einführung des §226a wird ausdrücklich hervorgehoben, dass es für das Verdikt der Sittenwidrigkeit ausschließlich auf die Sittenwidrigkeit der Tat und nicht auf die der Einwilligung ankomme. Eine sadomasochistische Körperverletzung sei sittenwidrig, da zum einen nicht der Masochist, sondern die Gesellschaftsordnung durch die Anwendung des §226a geschützt werde, Masochisten ansonsten auch in ein <<abartiges Triebleben verstrickt>> würden und <<der Volksgemeinschaft verloren>> gingen." 160 heitsberaubungen, z.B. bei erzwungener ‘Sklaverei’, können als spezifisches SM-Delikt angeführt werden. Da wir zu diesen Aspekten kein Datenmaterial erhoben haben, müssen sich die Ausführungen an dieser Stelle auf die bloße Feststellung beschränken. 1.8 Die Trennung von Alltag und Sadomasochismus Die Verwirklichungschancen der sadomasochistischen Neigung in einer persönlichen Beziehung - sei es in der Gruppe oder einer Partnerschaft - entscheiden maßgeblich darüber, ob Sadomasochisten mit ihrer Neigung zurechtkommen. Aber auch die Trennung von Alltag und SM ist entscheidend für die Integrierbarkeit dieser Neigung. Wird der Sadomasochismus Teil des Alltags, so handelt es sich zumeist um ein spielerisches Agreement. Die Erweiterung des Außeralltäglichen in die Alltäglichkeit schafft eine zusätzliche Reizquelle durch die Einbeziehung von Unbeteiligten: Sie können als nichtsahnende Zeugen (‘Besonders lustig ist es, wenn ich mit meiner Freundin im Café sitze, und ihr den Dildo, den wir ihr vorher eingeführt haben, aufpumpe, ohne dass es jemand merkt’) oder als unfreiwillige Teilnehmer (‘Die Leute schauen schon ganz merkwürdig, wenn ich meinen Macker und er ist immerhin 1,90 Meter groß, also eine imposante Erscheinung - an einer Kette durch die Fußgängerzone zerre’) eine Rolle spielen. Auch dieses Ergebnis ist ein Beleg für die Virtualität der Rollenmuster. Bei anderen beschränken sich dominante oder passive Verhaltensformen explizit nur auf bestimmte Sondersituationen und werden ansonsten aus dem Alltag ferngehalten. Dazu entwickeln die Akteure regelrechte Ein- und Austrittssymboliken. Eine Vereinbarung, ein bestimmtes Zeichen oder einfach nur die Kleidung deuten an, dass die alltäglichen Regeln nicht mehr gelten und das ‘Spiel’ beginnt. In anderen Fällen ist die räumliche Auslagerung, etwa im Falle des häuslichen ‘Folterkellers’ oder des Dominastudios, Zeichen für den Austritt aus dem Alltag. In ihn wird erst dann wiederzurückgekehrt, wenn die SM-Handlung beendet ist: Veronika: Man kann es nur so abgrenzen, indem man sagt, das eine ist ein Spiel und das andere ist die Realität. In dem Moment, wo man das Spiel beginnt, hebt sich das ab, vielleicht durch Kleidung oder durch Situationswechsel, durch Signale, durch Raumwechsel, durch Utensilien, wie auch immer. Es gibt ja verschiedene Möglichkeiten. Das ist ja wie eine Rolle, in die man hineinschlüpft. (...) Wenn ich also jetzt sage: ‚So, game over’, wie man das so schön beim Computer sagt, würde ich mich umziehen oder mich optisch verändern (35 Jahre, S, heterosexuell). Alice: Wegen Zeitmangel des Ehesklaven muss ich meine Interessen an SM im Wesentlichen auf die erotisch-sexuelle Situation beschränken. Wenn der Sklave mehr verfügbar wäre, wäre eine Ausdehnung meiner Herrinnen-Rolle ein Stück 161 weit in den Alltag denkbar. Ansatzweise geschieht das schon jetzt für gewisse Haus- und Gartenarbeiten des Sklaven. Ansonsten sind meine SM-Rolle und meine Alltagsrolle nicht identisch. Meine Alltagsrolle ist eher partnerschaftlich, aber innerhalb des traditionellen Ehemusters, da ich Hausfrau bin. Ich möchte meinen Mann aber auch nicht ganz als Sklaven haben (51 Jahre, S, heterosexuell). Marion: Ich habe da für mich einen Kunstgriff. Mein normaler Name ist [Name] und ich habe mir einen zweiten Namen gegeben und dieser Name heißt Liesel und das ist sozusagen mein Theatername und der Gebrauch von dem einen und von dem anderen Namen kann gleichzeitig die Zäsur bedeuten. Also ich nehme jetzt mal als Beispiel die Geschichte, die ich dir erzählt habe, mit dem Mann, mit dem ich beim Essen war und so weiter. Da hätte es nach dem Essen z.B. passieren können, dass wir noch reden und er hat vorher gesagt ‚Marion, willst Du noch einen Wein?’ und dann aber ‚Liesel, ich denke, es ist Zeit, dass Du Dich umziehen gehst!’. Und in dem Moment wäre die andere Welt da (36 Jahre, M, heterosexuell). Jürgen: Manchmal denke ich, wenn du mit anderen herrschend umgehen kannst, dann kannst du es im Büro auch mal tun. Einen herrschenden Ton vielleicht, aber in Handlungen nicht. (...) Mein Freund und ich, wir haben im Allgemeinen nicht so ein Verhältnis. Wir haben kein Master-Sklave-Verhältnis. (...) Unser SMVerhältnis beschränkt sich auf sexuelle Taten. Das geht nicht in den Alltag rein (35 Jahre, S, schwul). Brigitte: SM ist reiner Showeffekt und In-Szene-setzen von irgendwelchen Dingen, ein gegenseitiges Verhandeln über die Dinge und sich klar sein, was da nun abläuft. Das hat jetzt nichts mit irgendwelchen Torturen oder Rollenverhalten ansonsten im Alltag zu tun (27 Jahre, SM, lesbisch). Auf die geschilderten Trennregeln kann der Begriff der ‚Modulation’ (vgl. Goffman 1980) angewendet werden, den ich schon für die Beschreibung des SM-Rahmens gebraucht habe. Die Modulationen erlauben nicht nur spezifische Transformationen von Sinn, sondern trennen auch durch spezifische Regeln verschiedene Rahmen. So wissen z.B. die Beteiligten, „daß eine systematische Umwandlung erfolgt, die das, was in ihren Augen vor sich geht, grundlegend neubestimmt“ (ebd., S. 57). Gleichzeitig sind bei diesen Transformationen Hinweise gegeben, wann sie beginnen und wann sie enden, „nämlich zeitliche ‚Klammern’, auf deren Wirkungsbereich die Transformation beschränkt sein soll“ (ebd.). Diese spezifischen Klammern sind für den SM-Rahmen typisch. Aber nicht immer gelingt der Ausstieg aus der Sondersituation. Die Verhaltensmuster verlängern sich unbewusst in den Alltag, wie etwa in dem folgenden Fall eines homosexuellen Masochisten: Ich hatte z.B. eine Autopanne und habe den ADAC rufen müssen, auf der Autobahn. Dann kam dieser ADAC-Mann. Das war ein unglaublich viriler Mensch, 162 mit Tätowierungen. Da bin ich vor ihm auf die Knie gegangen und habe angefangen, seine Stiefel zu lecken. Dafür konnte er ja gar nichts. Da war der so furchtbar erschrocken, dass er in sein Auto gegangen ist und sich verbarrikadiert hat. Dann hat er das Knöpfchen heruntergedrückt und ist nicht mehr rausgekommen. Ich musste dem dann sagen, dass ich nicht richtig ticke. Nicht nur mein Motor ist out of order, sondern ich ticke auch nicht ganz richtig. Der Mann hat dann zwar mit Distanz meinen Motor repariert, aber (...). Das ist mir ein paar Mal passiert. Bauarbeiter, die haben ja auch gar keine Antenne für sowas: Ich habe jemanden gesehen, der hat sich gerade umgezogen, der stand in der Unterhose in dieser Baubaracke. Plötzlich habe ich weder Weg noch Steg gesehen und bin dann mitten in die Baustelle gefahren. Die Bauarbeiter haben furchtbar geflucht. Aber sowas, das kann man ja gar nicht erklären. Diese Betriebsstörungen möchte ich natürlich tunlichst vermeiden. Der Phantasie kommt hier die Auslöserfunktion für eine Handlung zu, die, was Ausführung und Konsequenzen anbelangt, nicht reflektiert und mehr oder weniger in einem halbbewussten Zustand verbleibt. Neben solchen kurzen Kontrollverlusten und Aussetzern, findet sich aber auch die bewusste und zielgerichtete Verlängerung sadomasochistischer Verhaltensformen in den Alltag. Eine umfassend hierarchisierte Lebensführung wird in den Phantasien als besonders faszinierend herbeigesehnt. So ist z.B. die Vorstellung, irgendwo ‘in Stellung gehen zu können und schwere körperliche Arbeit für wenig Geld und viele Schläge unter der Aufsicht einer strengen Herrin’ leisten zu dürfen, ein Wunschtraum mancher Masochisten. Diese Sehnsüchte verbleiben aber zumeist in der Phantasie. Allerdings finden sich - wenn auch als sehr seltene Ausnahme solche Arrangements in der Wirklichkeit. Gehen diese Extremausprägungen sadomasochistischen Verhaltens mit erzwungener Versklavung und Beschlagnahmung des Eigentums einher, müssen sie Gegenstand strafrechtlicher Verfolgungen sein. Insgesamt sind solche Fälle aber eine Seltenheit. Autoritäres und submissives Verhalten, Machtansprüche und Devotheit sind im Regelfall Elemente eines Spiels, die im Alltag keinen Platz haben. Das zeigt sich beispielsweise auch an den politischen Einstellungen der befragten Personen, die gerade nicht durch autoritäre oder gar faschistische Orientierungen geprägt sind: Jochen: Wenn ich mich umgucke in unserer politischen Landschaft, dann sehe ich nur Trümmer. Das ist mit ein Grund, warum ich keine öffentliche Parteiarbeit leiste. Könnte ich niemals machen, weil keine Partei das alles umfasst, was mich interessiert. Aber ökologisch und wirtschaftlich und die Sachen, die mich jetzt hier direkt betreffen ja, würde ich schon sagen, dass ich da gemäßigte linke Positionen einnehme. Sagen wir mal Realos. Ich könnte, wenn ich Politik machen würde, mich bei den Realos ganz gut vorstellen (27 Jahre, S, heterosexuell). 163 Melitta: Parteien reiten viel auf Führerfiguren, aber da bin ich dagegen. Das geht einfach nicht, dass alles von einem Mann ausgeht und dass einer alles vertritt. (...) Ich hab so das Gefühl, wenn irgendeine Ideologie dahintersteckt - egal was - dann klappt es nach kurzer Zeit nicht mehr. Ob das eine zu grüne oder zu sozialistische Ideologie ist, auch eine zu kapitalistische Ideologie ist, dann läuft es nicht (30 Jahre, S, heterosexuell). Roswitha: Ich möchte es mal so sagen. Ich bin ein frei denkender Mensch, der seine Meinung vertreten kann und (...) andere Menschen auch frei denken und reden lässt und für den die Menschlichkeit an höchster Stelle steht (38 Jahre, M, heterosexuell). Diana: Also politisch würde ich sagen, dass ich links bin. Ich finde auch immer diese Fragen, wenn man bei SM Macht ausübt, ob man die dann auch in der politischen Einstellung hat, doof. Das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun. Ich engagiere mich in der Friedensbewegung und würde nie Parteien wählen, die für Gewalt sind. Das sind doch zwei ganz verschiedene Sachen, SM und Politik (24 Jahre, S/M, lesbisch). Manfred: Ich bin Zivildienstleistender und habe meine sehr eigene und sehr fundierte Meinung über staatliche Gewaltstrukturen, die nicht zu vergleichen sind mit irgendwelchen spielerischen Sexformen. Letzteres baut auf Gegenseitigkeit, auf Wohlwollen und auch auf Einverständnis auf. Überhaupt nicht zu vergleichen mit Aggressionen, wo der eine der Leidende ist und das nicht will und der andere das durchsetzen will. Das ist überhaupt nicht zu vergleichen, deshalb habe ich auch keine Probleme damit. (...) Bevor es mit manchen Leuten zur Sache geht, politisiere ich manchmal erst mal eine Viertelstunde, meistens über Anarchismus und Gewaltfreiheit und über Basisdemokratie (25 Jahre, M, schwul). Die Vorstellung, dass für Sadisten generell ein autoritärer und für Masochisten ein obrigkeitshöriger Habitus typisch ist, der sich auch in den politischen Auffassungen und Meinungen niederschlägt, ist also sicherlich nicht zutreffend. Es mag durchaus sein, dass die eine oder andere Person nicht nur in ihrer Sexualität, sondern auch in anderen Bereichen dominant agiert. Aber dies ist keine symptomatische SM-Erscheinung. Genau so, wie sich autoritäre politische Einstellungen in anderen Bevölkerungssegmenten finden, gibt es linksalternativ, liberal oder konservativ eingestellte Sadomasochisten. Auch gelegentlich zu beobachtende Symbole wie Hakenkreuze, Uniformen, Lederstiefel oder die entsprechenden Mützen können nicht als Ausdruck einer faschistischen Weltanschauung gewertet werden. Sie sind Teil einer sub-, besser spezialkulturellen Emblematik und Bricolage-Improvisation, die durch spezifische Aneignungen und Umdeutungen mit einer szenetypischen Semantik belegt sind. 164 1.9 Frauen und Sadomasochismus Das Themenfeld Frauen und Sadomasochismus ist in der theoretischen Literatur schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts berücksichtigt worden. Wie die anderen Perversionen, war der ‚Masochismus der Frau’, und um ihn geht es fast ausschließlich in diesen Schriften, Gegenstand sexualwissenschaftlicher und medizinisch-psychiatrischer Arbeiten. Bevor ich die Ergebnisse aus den Interviews mit SM-praktizierenden Frauen darstelle, sollen die wichtigsten Ansichten der frühen Sexualwissenschaft und Psychoanalyse zum weiblichen Masochismus und die Fortführung der Debatte in der Frauenbewegung dargestellt werden. 1.9.1 Weiblicher Sadomasochismus in der wissenschaftlichen Diskussion Krafft-Ebing (1886/1984, S. 155) zufolge stellt der Masochismus eine „krankhafte Ausartung spezifisch weiblicher psychischer Eigentümlichkeit“ dar. Das Dienen sei gleichsam der Natur von Frauen inhärent. Demnach resultiere der weibliche Masochismus aus den ohnehin schon bestehenden natürlichen Verhaltensdispositionen sowie den kulturellen und sozialen Prägungen, die dieses Verhalten noch verstärken. Krafft-Ebing räumt zwar ein, dass sich masochistisches Sexualverhalten auch bei Männern zeige (und hat in diesem Zusammenhang fast nur männliche Fallbeispiele zusammengetragen), kann dafür aber keine schlüssige Erklärung angeben. Auch Sigmund Freud geht von bestimmten geschlechtsspezifischen Eigenschaften aus. Er sieht aber auch das prägende soziale Bedingungsgefüge: „Die dem Weib konstitutionell vorgeschriebene und sozial auferlegte Unterdrückung seiner Aggression begünstigt die Ausbildung starker masochistischer Regungen, denen es ja gelingt, die nach innen gewendeten destruktiven Tendenzen erotisch zu binden. Der Masochismus ist also, wie man sagt, echt weiblich“ (Freud 1933, S. 123). Auch wenn Freud hier soziale Codierungen des Verhaltens einräumt, so sind Masochismus und Passivität für ihn typisch weibliche, invariante Verhaltensmerkmale.99 99 Ähnlich wie sein Zeitgenosse Krafft-Ebing führt er seine Vorstellungen über den femininen Masochismus ausschließlich auf Erfahrungen mit männlichen Fallbeispielen zurück: "Wir kennen diese Art des Masochismus beim Manne (auf den ich mich aus Gründen des Materials beschränke) in zureichender Weise aus den Phantasien masochistischer (häufig darum impotenter) Personen, die entweder in den onanistischen Akt auslaufen oder für sich allein die Sexualbefriedigung darstellen." Er fährt fort: "Hat man aber die Gelegenheit Fälle zu studieren, in denen die masochistischen Phantasien eine besonders reiche Verarbeitung erfahren, so macht man leicht die Entdeckung, daß sie die Person in eine für die Weiblichkeit charakteristische Situation versetzen, also Kastriertwerden, Koitiertwerden oder Gebären bedeuten. Ich habe darum diese Erscheinungsform des Masochismus den femininen (...) genannt" (Freud 1940, S. 374). 165 Insbesondere in den Arbeiten der Psychoanalytikerinnen Helene Deutsch und Marie Bonaparte werden diese Thesen fortgeführt. In der Einleitung zu ihrem ersten Band über die Psychologie der Frau beschreibt Deutsch (1948, S. 5) „Narzismus, Passivität und Masochismus“ als die „drei wesentlichen Züge der Weiblichkeit.“ Aktivität sieht sie dagegen als Domäne des Mannes. So fährt sie in ihren Ausführungen über die weibliche Sexualität (ebd. S. 199ff) wie folgt fort: „Die Anschauung (...), dass für den psychologischen Begriff ‚Weiblichkeit’ zwei Eigenschaften charakteristisch sind, nämlich: Passivität und Masochismus, hat sich durch jahrelange klinische Erfahrungen sowie durch direkte Beobachtungen an Tieren weiter befestigt. (...) Wenn ich also auch ohne Weiteres die Bedeutung äusserer Einflüsse auf die Stellung des Weibes anerkenne, so halte ich doch daran fest, dass in quantitativ wechselnder Verteilung und in verschiedenen Äußerungsformen die Grundeinheit: Weiblich-passiv, Männlichaktiv in allen unserer Beobachtung zugänglichen Kulturen, Nationen und Rassen als individuelle Eigenschaft der Geschlechter erhalten ist.“ Wenn Deutsch auch ausdrücklich darauf hinweist, dass der weibliche Masochismus nicht mit der bewussten sexuellen Perversion des Masochisten verwechselt werden darf (ebd. S. 219), so sind ihrer Meinung nach die Erfahrungen der Frau im Geschlechtsverkehr, bei der Geburt und sogar in der Mutter-Kind-Beziehung mit masochistischer Lust verbunden. Ähnlich argumentiert Bonaparte (1935, S. 24) wenn sie behauptet, der Masochismus sei eigentlich feminin. Für sie ist „die Frau bezüglich der eigentlichen Fortpflanzungsfunktionen - Menstruation, Defloration, Schwangerschaft und Entbindung - schon biologisch dem Schmerz geweiht. Die Natur scheint ohne Bedenken dem Weibe Schmerz - und zwar in hohen Dosen - aufzuerlegen, da es nur passiv den vorgeschriebenen Ablauf zu erdulden hat.“ Die Annahme einer primär passiven Verhaltensdisposition bei Frauen als gleichsam anthropologisches Merkmal ist für Krafft-Ebing und die anderen Vertreter der frühen Sexualwissenschaft wie auch Freud und die Psychoanalyse charakteristisch. Bezogen auf das Phänomen des Sadomasochismus wird dies an der begrifflichen Einengung auf den Masochismus augenscheinlich. Die Möglichkeit eines weiblichen Sadismus wird von vornherein ausgeklammert. Einige Vertreter der Psychoanalyse betonen kulturelle Aspekte und kritisieren diese Auffassungen. So revidiert Horney (1934, S. 390) als eine der ersten die Annahmen über die natürliche Passivität und den Masochismus der Frau: „Weibliche Züge sind, obwohl an und für sich nicht masochistischer Natur, geeignet zum Ausdruck masochistischer Züge; diese hingegen kommen von Quellen, die mit Feminität nichts zu tun haben. Die Bereitwilligkeit, mit der der Masochismus sich mit weiblichen Zügen verknüpft, ist zwei Faktoren zuzuschreiben, deren jeder ein eigenes Studium erfordern würde: es sind dies der kulturelle und der biologische Faktor.“ Die kulturellen Aspekte formulierte sie in ihrer späteren Arbeit über die weibliche Psychologie (Horney 1967, S. 232f): “The problem of feminine masochism cannot be related 166 to factors inherent in the anatomical-physiological-psychic chracteristics of woman alone, but must be considered as importantly conditioned by the culture-complex or social organization in which the particular masochistic woman has developed. (...) It is clear, however, that the importance of anatomical-psychological-psychic factors has been greatly overestimated by some writers on this subject.” Ähnlich argumentieren Thompson (1942) und Robertiello (1970) wenn sie darauf hinweisen, dass häufig kulturspezifische Besonderheiten verallgemeinert wurden, um den Masochismus als normales Verhalten der Frau zu beschreiben. Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass weder Krafft-Ebing noch die verschiedenen Vertreter der Psychoanalyse den Masochismus als bio-psychologisches Schicksal von Frauen haben nachweisen können. Deshalb ist Blum (1981, S. 142) zuzustimmen, wenn er schreibt: „Es gibt keinen Beweis dafür, daß der weibliche Mensch mehr dazu begabt ist, aus Schmerz Lust zu gewinnen (...), es gibt mannigfaltige, wenn nicht zwangsläufig gleiche sadomasochistische Tendenzen bei beiden Geschlechtern. (...) Sadomasochismus ist universal in der Menschheit, doch ich würde den Masochismus nicht als ein wesentliches oder organisierendes Attribut der reifen Weiblichkeit ansehen. Hypothesen, die die Weiblichkeit in Ableitung und Funktion als sekundär zur Männlichkeit ansahen, waren mit einem masochistischen Entwicklungsmodell verbunden. Diese antiquierten Formulierungen beruhten auf beschränkten analytischen Daten, Konstruktionen und Entwicklungskenntnissen.“ So ist es nicht verwunderlich, dass auch die Hauptströmung psychoanalytischen Denkens heute die Vorstellung eines weiblichen Masochismus ablehnt (vgl. Benjamin 1990). Kritik an der Auffassung, wonach Weiblichkeit, Passivität und Masochismus notwendigerweise zusammengehören, kommt vor allem aus feministischen Denkrichtungen. So schreibt Chodorow (1990, S. 185): „Freud beschrieb nur selten die Entwicklung von Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft. Oft stellte er nur unbegründete Behauptungen auf (...). Die meisten davon sind klinisch absolut unberechtigt. (...) Vielmehr entstanden sie aus unhinterfragten Annahmen einer patriarchalen Kultur, aus Freuds persönlicher Blindheit, seiner Frauenverachtung und seinem Weiberhaß, aus biologischen Ableitungen, die durch seine Arbeit nicht gerechtfertigt waren, aus einem patriarchalen Wertsystem und einer Evolutionstheorie, die diese Werte rationalisierte.“100 100 Zur ausführlichen Kritik an biologistisch-deterministisch orientierten Erklärungsversuchen weiblicher Passivität/Masochismus seien hier einige Arbeiten genannt: Baker-Miller (1976); Bernard (1981); Burgard/Rommelspacher (1989); Caplan (1986); Hagemann-White (1979); Kaplan (1991); Millet (1974; 1979). 167 1.9.2 1.9.2.1 Die SM-Debatte in der Frauenbewegung Frauen und SM - Ein Boom-Thema zu Beginn der 90er Jahre Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre wird der Sadomasochismus von Frauen über Publikumszeitschriften wie z.B. ‚Der Spiegel’ oder ‚Stern’ und Frauenmagazine wie ‚Petra’, ‚Cosmopolitan’, ‚Elle’, ‚Viva’, oder ‚Marie Claire’ verstärkt in die Öffentlichkeit getragen. Häufig handelt es sich um Reportagen über professionelle Dominas, die ihr Gewerbe vorstellen.101 Neben Berichten über den Bereich des käuflichen Sadomasochismus erscheinen auch zahlreiche Selbstbekenntnisse über die private Passion. Frauen berichten, wie sie Lust durch sadomasochistische Sexualpraktiken erfahren und „mit der Lust am Leiden leben wollen“ (Posche 1990, S. 69). Die Flut von Zeitschriftenartikeln zu diesem Thema wird durch eine Reihe von Buchpublikationen vergrößert. Zudem werden Frauen auf dem SM-Markt zu einer immer wichtigeren Konsumentengruppe. Ehrenreich u.a. (1988, S. 113) beschreiben dies am Beispiel der USA: „Heimpartys, wie sie in diesem kleinen Industriegewerbe harmlos genannt werden, sind eine beliebte Methode bei Frauen, erotische Ausrüstungsgegenstände zu erwerben und zugleich eine Sexexpertin ins Wohnzimmer zu laden. ‚Tupperware’-Partys, bei denen Sexhilfen statt Plastikbehälter verkauft werden, sind heute keine Seltenheit mehr.“ Dass auf solchen Veranstaltungen für Frauen nicht nur etablierte Erotikartikel (wie z.B. der Vibrator), sondern auch SM-Accessoires angeboten und verkauft werden, ist mittlerweile schon beinahe selbstverständlich: „So waren es auch die entsprechenden Gegenstände, die S/M für die bei Jane Cooper versammelten Frauen in den Bereich des Möglichen treten ließen. Eingeführt in Form von Waren, mit Preis und sogar in verschiedenen Größen, war S/M nicht mehr bizarr oder abstoßend, sondern einfach etwas, das die neugierige Kundin ausprobieren konnte“ (ebd. S. 132f). Sadomasochistische Frauen sind also - dass lässt sich an dieser Stelle zusammenfassend feststellen - zumindest hinsichtlich der Aufmerksamkeit, die ihnen in Öffentlichkeit und Medien geschenkt wird - kein Randphänomen. Auch wenn Feministinnen die Verbindung Weiblichkeit-Passivität-Masochismus beinahe einhellig ablehnen, wird Sadomasochismus aber keineswegs einheitlich diskutiert. So wird und wurde die Verbindung von Sexualität und Gewalt als Quelle sexueller Lust in großen Teilen der Frauenbewegung geradezu als Erbsünde verteufelt. ‚Schmetterlingszarte Berührungen’ (vgl. Heider 1986) gehörten zum Weiblichkeitsideal der siebziger Jahre. Zu Beginn der achtziger Jahre entdeckte man auch innerhalb der Frauenbewegung eine neue Sinnlich- 101 Vgl. Pott (1991); Der Spiegel (1/86a); Thönnissen (1988) 168 keit, die die Verbindung von Sexualität und Gewalt mit einbezog. Dieser Trend stößt keineswegs bei allen Frauen auf Verständnis und Akzeptanz. Die Befürworterinnen des Sadomasochismus verstehen sich als Protagonistinnen einer Gegenkultur zum Schmusesex (radikal)feministischer Positionen. Die Gegnerinnen sehen darin hingegen die Untergrabung ihres langjährigen Kampfes gegen Gewalt und Unterdrückung durch das Patriarchat. Sie befürchten, das Bekenntnis von Frauen, sadistische, aber vor allem masochistische Sexualpraktiken zu genießen, führe zur Legitimierung von Männergewalt und zu Problemen für die Öffentlichkeitsarbeit im Zusammenhang mit Gewalt gegen oder Misshandlung von Frauen.102 Diskutiert werden dabei sowohl weibliche Masochismusphantasien als auch der praktizierte Sadomasochismus von Frauen. 1.9.2.2 Weibliche Sexualphantasien Die Diskussion um das Thema Frauen und Sadomasochismus wurde 1977 durch zwei Artikel zu masochistischen Sexualphantasien in der Zeitschrift Emma (9/77; 11/77) entfacht. Es kam zu unerwarteten Reaktionen verbunden mit einer Flut von Leserbriefen, in denen Frauen ihre masochistischen Phantasien beschreiben. Kurz darauf veröffentlichte Nancy Friday (1978) eine Sammlung sexueller Phantasien von Frauen. Sie hatte in den USA über Zeitschriften und Annoncen um Schilderungen weiblicher Sexualphantasien gebeten, und obwohl keine thematischen Einschränkungen von ihr vorgegeben wurden, stellte sich heraus, dass die meisten weiblichen Sexualphantasien masochistische Inhalte aufweisen.103 Ihre Veröffentlichung hat zu heftigen Kontroversen innerhalb der Frauenbewegung geführt. Ein Teil der Feministinnen bezweifelt, dass in weiblichen Sexualphantasien Gewalt vorkommt und verweist solche Vorstellungen in das Reich patriarchaler Fabeln und Erfindungs- 102 Die Vertreterinnen dieser Positionen stützen sich dabei auf laborexperimentelle Untersuchungen, in denen beispielsweise der Einfluss des Sadomasochismus in Erotica auf die Reaktionen und Einstellungen zur Vergewaltigung und ihrer Darstellung gezeigt werden sollte. Feshbach/Mallamuth (1983, S. 145) kommen in diesem Zusammenhang zu folgendem Ergebnis: "Es scheint als würden die Männer, die vorher etwas über den Genuß einer Frau an Mißhandlungen gelesen hatten, nun die Schmerzäußerungen des Vergewaltigungsopfers als Zeichen sexueller Erregung deuten. Mit anderen Worten: Die Hemmungen, mit denen man normalerweise auf Schmerzsignale reagiert, wurden aufgrund der Konfrontation mit sadomasochistischem Material irgendwie verändert. Zu dieser Deutung paßt auch unsere Entdeckung, daß für diese Männer die sexuelle Erregung um so stärker war, je stärker sie die Schmerzen des Opfers einschätzten. (...) Es gab auch Hinweise dafür, daß sich die Männer mit dem Täter identifizierten, - und daß sie eine Vergewaltigung sogar innerhalb ihres eigenen Verhaltensrahmens als vorstellbar ansahen." 103 Aber nicht nur populärwissenschaftliche Textsammlungen zeigen, dass masochistische Vorstellungsinhalte wichtiger Bestandteil weiblicher Sexualphantasien sind. In diesem Zusammenhang sei auf die Arbeiten von Crepault u.a.(1977); Knafo/Jaffe (1984); Lohs (1983); Talbot u.a. (1980); Trukenmüller (1982) verwiesen. 169 kunst. Andere interpretieren weibliche Unterdrückungsphantasien als die Folge spezifischer Sozialisationserfahrung und Ohnmacht, nicht aber als einen Ausdruck weiblichen Masochismus. Sie gestehen zwar ein, dass Sex und Gewalt heute in den Phantasien vieler Frauen miteinander verbunden sind; dies sei jedoch anerzogen und angeprügelt. Lawrenz/Orzegowski (1988, S. 9) beispielsweise machen vor allem sozio-kulturelle Bedingungen für die Existenz masochistischer Sexualphantasien von Frauen verantwortlich. Sie versuchen, „die Verknüpfungen zwischen sexuellen Phantasien, individueller Lebensgeschichte und gesellschaftlichen Weiblichkeitsbildern aufzudecken (...)“, und sprechen in diesem Zusammenhang von ‚Gewordenheit’ und ‚Mehrdeutigkeit’ solcher Phantasien. Frauen seien aufgrund spezifischer Sozialisationserfahrungen nicht in der Lage, selbstbezogen zu entscheiden und zu handeln. Der weibliche Charakter werde in unserer Kultur seit jeher immer mit Aufopferungsbereitschaft und Verzicht auf den eigenen Willen gleichgesetzt. Sie gehen sogar noch einen Schritt weiter und behaupten, Frauen fehle vor diesem Hintergrund die Kenntnis des eigenen Willens. Das, was sie als eigenen Willen empfinden, sei die Verinnerlichung der äußeren Unterdrückung, sie sind „schließlich tatsächlich, was die Gesellschaft [ihnen] vorschreibt zu sein“ (ebd. S. 146f). Dies gelte auch für die Sexualität. Daher dürfe ihrem Verständnis nach der Vorgang der Erniedrigung nicht ignoriert und masochistische Sexualphantasien nicht glorifiziert werden. Das bei Frauen häufige Auftreten masochistischer Phantasieinhalte erscheine vor dem Hintergrund der spezifisch weiblichen Sozialisationserfahrungen nur als Folge ihrer realen Machtlosigkeit. Macht sei aber notwendiger Bestandteil der Lust. Andernfalls müsse die Lust an der Macht eines anderen teilnehmen, und sei es als Opfer. So ließen sich die Phantasiebilder als Versuch des Umgangs mit Unterdrückungsverhältnissen verstehen. Aus Unlust würde Lust, wenn passiv erlittene Unterdrückung auf initivative Weise in kontrollierbare Situtationen verkehrt werden könne (vgl. ebd. S. 153).104 Der Widerstand von Feministinnen gegen die Unterstellung weiblicher Masochismusphantasien machte auch vor den „literarisch gestalteten Phantasien von Frauen“ (Deja 1991, S. 31) nicht halt. Sie protestierten gegen die Schilderung der freiwilligen Unterwerfung einer Frau in Pauline Réages Geschichte der O105 und auch die weibliche Autorenschaft die- 104 Lawrenz/Orzegowski (1988) führen aufgrund ihrer Erfahrungen mit Frauen im Rahmen der Sommeruniversität der Frauen unterschiedliche theoretische Erklärungen masochistischer Phantasien an. Die hier beschriebene mögliche Verflechtung masochistischer Phantasien mit gesellschaftlichen Strukturen wird jedoch von den Autorinnen selbst in den Mittelpunkt gestellt und kann als stellvertretend für die Argumentation der Gegnerinnen masochistischer Sexualphantasien von Frauen verstanden werden. 105 So z.B. Dworkin (1974) und Griffin (1981) im Rahmen der feministischen Antipornographiebewegung. 170 ses Romans wurde häufig angezweifelt, obwohl sie seit langem bekannt ist.106 Für gemäßigtere Positionen wie beispielsweise Benjamin (1990, S. 81) hingegen ist es „aus psychoanalytischer Sicht (...) unbefriedigend, die Allgegenwart von Unterwerfungsphantasien im Liebesleben auf eine kulturelle Etikettierung oder auf die allgemeine Geringschätzung der Frau zurückzuführen. Wenn wir schon andere als biologische Erklärungen für den weiblichen Masochismus suchen, so finden wir diese nicht nur in der Kultur, sondern vor allem im Zusammenwirken von kulturellen und psychischen Prozessen.“ Benjamin wendet sich damit gegen einen feministischen Moralismus, wonach Frauen, die masochistische Sexualphantasien zeigen oder gar sexuellen Masochismus praktizieren, einem auf ‚Gehirnwäsche zurückgeführten Bewusstsein’ verhaftet sind. Ihr Argument ist, dass sich hinter der Faszination von Macht und Unterwerfung die Sehnsucht nach Anerkennung versteckt und an zentraler Stelle erotische Wünsche für masochistische Sexualphantasien oder gar Beziehungen verantwortlich sind.107 Während einige Feministinnen noch über die Ursachen und die Frage der Zulässigkeit masochistischer Phantasieinhalte streiten, haben sich andere Frauen organisiert, um ihre sadomasochistischen Phantasien auszuleben. 1.9.2.3 Praktizierter Sadomasochismus 1978 gründete die Feministin Pat Califia zusammen mit Gayle Rubin ‚Samois’, eine Organisation sadomasochistischer Lesbierinnen in den USA108 und löste mit ihrem 1980 zum ersten Mal erschienenen Buch ‚Sapphistrie’ in feministischen und lesbischen Kreisen eine heftige Diskussion über praktizierten Sadomasochismus aus. Sie vertritt darin einen ganz und gar positiven Standpunkt gegenüber solchen Sexualpraktiken. Sadomasochismus ist ihrer Mei- 106 "Die Geschichte der O wurde zum ersten Mal 1954 unter dem Pseudonym Pauline Réage in Paris veröffentlicht. Lange Zeit wurde darüber spekuliert, wer diesen Roman geschrieben hat. Heute gilt als gesichert, daß die am 23. September 1907 geborene französische Kritikerin und Übersetzerin Dominique Aury, die wiederum eigentlich Anne Declos heißt, die Autorin ist" (Deja 1991, S. 35). 107 "In der Phantasie von der erotischen Unterwerfung drückt sich der Wunsch nach Unabhängigkeit und gleichzeitiger Anerkennung durch den anderen aus. Die Impulse, die hinter erotischer Gewalt und Unterwerfung stehen, erwachsen, in wie entfremdeter, beängstigender oder pervertierter Form sie sich auch äußern mögen, aus tief verwurzelten Wünschen nach Eigenständigkeit und gleichzeitiger Überwindung der eigenen Grenzen. (...) Das ursprüngliche erotische Moment, der Wunsch nach Anerkennung (...) tritt heute offenbar im Sadomasochismus zutage" (Benjamin 1985, S. 90f). 108 Mittlerweile gibt es auch in Europa ähnliche Zusammenschlüsse von lesbischen und/oder heterosexuellen Frauen (und Männern). Beispiele sind die Gruppen Slechte Meiden und Wild Side aus den Niederlanden, die von Maria Marcus mitgegründete dänische Gruppe Smil oder die deutsche Gruppe Schlagseite. Einen ausführlichen Überblick über verschiedene SM-Organisationen in Europa und den USA gibt Balland (1989). 171 nung nach nichts anderes als eine sexuelle Variante, die völlig zu Unrecht tabuisiert und verfolgt wird.109 Sexueller Sadomasochismus sei nicht als Gewaltakt zwischen Täter und Opfer zu verstehen. Vielmehr handele es sich um eine freiwillige Handlung, ein erotisches Ritual zum Ausleben von Phantasien, in denen eine Partnerin sexuell dominiert und die andere Partnerin sich sexuell unterwirft. Aus diesem Grund ist es für Califia nicht erstrebenswert, diese spielerischen Aktivitäten gesetzlich zu reglementieren. Das Gleiche gelte auch für heterosexuellen Sadomasochismus. Aus dieser Argumentation heraus werfen SM-Anhängerinnen manchen Vertreterinnen feministischer Fraktionen vor, Verhaltensnormen aufzustellen, sexuelle Minderheiten zu unterdrücken und zu diskriminieren: „Ich unterstütze weder Vergewaltigung noch sexuellen Missbrauch von Kindern, sondern den Machtzuwachs der Jugend. Meine Politik ist keine Sexualpolitik von Herrschaft und Unterwerfung, sondern eine Sexualität von Herrschaft und Unterwerfung, die ich kontrollieren kann. Sexualpolitik definiert Sexualität als höher- und geringerwertig. Sie versuchen, mich zu dominieren und meine Sexualität ihrem Wertesystem zu unterwerfen. Das ist Sexualfaschismus“ (Rubin, zit. nach Plogstedt 1982, S. 20). Auch Sichtermann (1985, S. 39f) wirft der Frauenbewegung vor, an der Domestizierung von Sexualität mitzuarbeiten, „indem sie etwa glauben macht, es bräche ein sexueller Frieden aus, sobald nur die Männer das Feld räumen oder wenigstens dessen von Frauen zu formulierende friedlicheindeutige Gesetzmäßigkeit respektieren“ und wendet sich damit gegen die „Fiktion von Eierkuchensexualität, in der zwei lächelnde Gesichter und vier offene Arme zufrieden ineinandersinken“ (ebd. S. 35). Dem Bild weiblich-friedlicher Sexualität stellt Sichtermann das der ‚Schmerz-Lust’ oder ‚Militanz des sexuellen Friedens’ gegenüber. Seit der Veröffentlichung masochistischer Phantasien von Frauen und Califias Streitschrift zum praktizierten Sadomasochismus kreisen die Überlegungen immer wieder um die Frage, wie sich die Tatsache, dass weibliche Unterwerfung auch für Frauen zum erotischen Reiz werden kann, mit den emanzipatorischen Vorstellungen und Forderungen der Frauenbewegung in Einklang bringen lässt. Die Gegenerinnen sagen ‚überhaupt nicht’. Sie verurteilen Sadomasochismus als die Verkörperung sexistischen Denkens und die Verinnerlichung patriarchalischer Strukturen, die nicht nur in heterosexuellen, sondern auch in homosexuellen SMBeziehungen zum Ausdruck kommen. Frauen, die die Position von Samois vertreten, wird vorgeworfen, sich nicht am Feminismus zu orientieren, sondern unkritisch die Philosophie 109 Ebenso wie Califia betont Benjamin (1990) den Unterschied zwischen rituellen Akten von Macht und Unterwerfung, die subjektiv als lustvoll erlebt werden und Akten physischer Gewalt oder Vergewaltigung, die unfreiwillig geschehen und keineswegs provoziert worden sind, Gewalt und Herrschaft in der Politik oder in sozialen Lebenszusammenhängen. 172 des ‚sexual liberation movement’ übernommen zu haben, wonach alles, was sich gut anfühlt, auch gut ist (vgl. Leidholdt 1982/83). Gleichsam als Antwort auf die Gründung von Samois und der Veröffentlichung von Sapphistrie erschien 1982 ‚Against Sadomasochism’ (vgl. Linden u.a. 1982). Hier setzen sich unterschiedliche Autorinnen mit der Frage der Vereinbarkeit emanzipatorischer Ziele mit sadomasochistischen Sexualphantasien resp. -praktiken auseinander und stellen die Freiwilligkeit des Verhaltens infrage. Auch andere Frauen üben immer wieder harte Kritik an der Befürwortung des Sadomasochismus, den sie als Derivat chauvinistisch-pornographischer Inszenierungen der Sexualität begreifen und wenden sich gegen das „avantgardistische Kokettieren links-alternativer Libertins mit sexistischen Botschaften der kommerziellen Pornoindustrie“ (Heider 1987, S. 42). Wenn Heider auch nicht dafür plädiert, den Sadomasochisten ‚das Handwerk zu legen’, so kritisiert sie die Verherrlichung von Macht, Gewalt und Unterwerfung in der Sexualität, beispielsweise den Fall, dass die Verlegerin des Konkursbuch-Verlages „das Photo eines nackt gefesselten Kindes im Dienst an der ‚spielerischen Freiheit der Lust’“ (ebd.) veröffentlicht. Sie wendet sich damit gegen eine „Verbrämung sadomasochistisch strukturierter Verhältnisse“ (Heider 1986, S. 36) und gegen die Behauptung, Sexualität oder Liebe seien grundsätzlich gewalttätig und leidvoll. Hinzu kommt als wesentlicher Kritikpunkt, dass die Aufmachung des SM-Rituals und der -Akteure oftmals an faschistische Folterszenarien erinnere und nicht selten Ausdruck einer ebensolchen Gesinnung sei. Gerade die ‚militant’ gestylten Ledermänner und Stiefellesben sind hier angesprochen. Die Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Positionen wird mit den verschiedensten Mitteln geführt. Zur Propagierung ihrer Art von Sexualität veranstalten beispielsweise SMLesben in den USA Demonstrationen und sonstige Veranstaltungen (vgl. Wetzstein u.a. 1993). Feministinnen verteilen Flugblätter, in denen sie den Sadomasochistinnen die Glorifizierung von Herrschaft und Unterwerfung vorwerfen. In den amerikanischen Buchläden finden Diskussionen statt, ob man die Bücher boykottieren soll, in den Frauenzentren Diskussionen, ob die SM-Gruppe sich dort treffen darf (vgl. Plogstedt 1987). In der Bundesrepublik finden trotz heftiger Proteste immer mehr Frauen- oder Lesbenveranstaltungen statt, auf denen SM-Filme gezeigt werden (vgl. Klausmann 1987). Es gibt spezielle Internetforen und Gesprächskreise für SM-Lesben. Die Fronten haben sich dennoch so weit verhärtet, dass eine Diskussion innerhalb der Frauenbewegung um das Für und Wider sadomasochistischer Sexualpraktiken kaum mehr möglich zu sein scheint,110 was sich auch in den gelegentlichen Schlä- 110 "Für viele Frauen ist schon die Kombination von Feminismus und Sadomasochismus (S/M) eine ungeheure Provokation (...) und ruft wütende Empörung hervor" (Emma 4/82, S. 50). Diese Erfahrung konnten wir im Rahmen unserer Datenerhebung machen, als uns von einer Frauen- und Lesbengruppe die Unterstützung mit 173 gereien bei Treffen von Lesben und SM-Lesben zeigt, wie eine von uns befragte Sadomasochistin bemerkte. Typisch für die Diskussion und die Argumente ist, dass die SM-Debatte in der Frauenbewegung immer nur eine Masochismusdiskussion ist. Während die sexuelle Unterwerfung von Frauen problematisiert wird, ist die (mögliche) Existenz von Sadistinnen kein Thema. Innerhalb der Masochismusdiskussion zeigt sich, dass ein großes Spektrum von weiblichen Verhaltensweisen als masochistisch bezeichnet wird.111 Die einen sprechen vom sexuellen Masochismus, der Erregung, Stimulans und Orgasmus bedeutet. Daneben wird eine Art autoritärer (moralischer oder kultureller) Masochismus diskutiert, die widerstandslose Unterordnung unter Autoritäten aller Art, und nicht zuletzt der weibliche Masochismus, die Frauenrolle an sich, „die von einem Sklavenleben mit Befehlen, Verboten und raffinierten Strafen handelt, die verinnerlichte Polizei, das schlechte Gewissen, das sofort in Aktion tritt, sobald wir keine guten Mütter, Geliebten, Hausfrauen usw. mehr sind“ (Marcus 1982/83, S. 95).112 Die Protagonistinnen sadomasochistischer Praktiken möchten sexuellen Sadomasochismus aber los geslöst sehen von den unterschiedlichen Formen subtiler Gewalt und Unterdrückung, von hierarchischen Strukturen in unserer Gesellschaft und im sozialen und politischen Leben. Die Gegnerinnen bestehen auf einer engen Verflechtung zwischen diesen unterschiedlichen Ausdrucksformen von Macht und Unterwerfung. Frauen, die sich jenseits feministischsubkultureller Organisationsformen bewegen, Arbeiterinnen, Angestellte, Hausfrauen usw., kommen in den meisten Analysen überhaupt nicht zu Wort. Ich habe auch die Perspektive derjenigen Frauen rekonstruiert, die ansonsten in Wissenschaft und Medien kaum Berücksichtigung finden, vielleicht weil man sich von ihnen nichts sonderlich ‚Aufregendes’ verspricht. dem Hinweis verweigert wurde: Wer behauptet, Frauen hätten auch noch Spaß daran, SM zu praktizieren, hat bei uns nichts zu suchen. 111 Hierauf verweist auch Caplan (1986, S. 51): "Wie wir bereits festgestellt haben, hatte der Begriff 'masochistisch' ursprünglich eine sehr spezifische Bedeutung, nämlich Schmerz zu genießen. Inzwischen wird dieser äußerst spezielle Begriff jedoch auf eine Reihe von anderen - meistens weiblichen - Verhaltensformen angewandt, und dennoch hat er seinen Beigeschmack von Krankhaftigkeit und Abnormität beibehalten. (...) Selbst zu Freuds Lebzeiten (war es) 'überraschend', daß sich der Begriff 'Masochismus' in kurzer Zeit derart verbreitet hatte und daß er auf die verschiedensten Phänomene angewandt wurde, von denen man früher nicht gedacht hätte, sie hätten mit Masochismus, so, wie man ihn ursprünglich verstand, etwas zu tun." 112 Bereits Freud (1940) hat unterschiedliche Formen des Masochismus beschrieben: a) Masochismus als Lebenseinstellung (moralischer Masochismus), b) Masochismus in seiner femininen Gestalt, als Ausdruck des weiblichen Wesens (femininer Masochismus) und c) Masochismus in 'Reinkultur' als eine Besonderheit sexueller Erregung (der erogene Masochismus). Auch Reik (1941/1977) unterschied zwischen Masochismus als einer sexuellen Perversion und einer Lebenseinstellung, die dem Ich ein unterwürfiges und leidendes Verhalten vorschreibt. Im Gegensatz zu den Annahmen der Feministinnen beruht nach Meinung Freuds und Reiks aber nicht der sexuelle Masochismus auf dem sozialen, sondern umgekehrt der soziale Masochismus auf dem sexuellen: "Jene Form des All-round-Masochismus, die wir hier als soziale beschreiben, hat sich aus der sexuellen Triebneigung entwickelt" (ebd. S. 331). 174 Zusammenfassung und Thesen In der feministischen Debatte über den Sadomasochismus - das hat die synoptische Durchsicht und Analyse der entsprechenden Literatur deutlich gemacht - werden sehr unterschiedliche und z.T. gegensätzliche Standpunkte vertreten. Diese Auffassungen möchte ich zu zwei Thesen verdichten: These 1: Weiblicher Masochismus ist der Ausdruck geschlechtsspezifischer Sozialisationsverläufe und patriarchaler Machtfigurationen Masochistische Verhaltensweisen sind der Versuch, die Erfahrung von Hilflosigkeit, Ohnmacht und Unterordnung durch entsprechende Transformationsleistungen in Lusterlebnisse umzufunktionieren und aus diesen Gefühlen Befriedigung zu gewinnen. Die Prädisposition für diese Verhaltensform ist die Folge spezifischer Sozialisationsbedingungen von Frauen und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Machtlosigkeit. Dementsprechend gewinnen Frauen aus ihrer ‚Lust am Leid’ keine sexuelle Erfüllung oder Befriedigung. Ihr Masochismus ist vielmehr eine Art opiatisches Surrogat, das die Last des Frauseins unter den Bedingungen patriarchaler Machtfigurationen erträglicher machen soll. Wenn über den Masochismus der Frau gesprochen wird, ist also ein sozialer Masochismus gemeint, der sich allerdings auch im sexuellen Verhalten manifestieren kann. These 2: Der Sadomasochismus von Frauen ist eine freiwillige sexuelle Erfahrung Auch wenn der Sadomasochismus bei (Männern und) Frauen gelegentlich einen zwanghaften Charakter annehmen kann, ist die Umsetzung in ein entsprechendes Verhalten zumeist ein willentlicher Wahlakt. Das tatsächliche Verhalten wird in verschiedenen Soziotopen kultiviert und ausgelebt. Frauen leben dabei keineswegs nur passive Sehnsüchte in Folge bestimmter Kompensationszwänge aus, sondern haben - genau wie Männer auch - Lust an der Dominanz und am Herrschen. Die ‚grausame Frau’ ist demnach nicht nur eine literarische Fiktion, sondern sie personalisiert sich auch in der sozialen Wirklichkeit. Die Erfahrungen, die durch submissive und dominante Verhaltensformen gemacht werden, äußern sich als sexuelle Lust und/oder psychische und physische Außeralltäglichkeits- und Ekstaseerfahrung. 175 1.9.2.4 Frauen in der SM-Szene Um zu prüfen, welche der beiden Thesen am ehesten empirisch zutrifft, habe ich Fallanalysen durchgeführt. Sie erlauben dem Forscher tiefergehende Einsichten in schwer zugängliche Untersuchungsfelder, indem sie die Komplexität eines Falles erhalten und Zusammenhänge von Funktions- und Lebensbereichen in der Ganzheit der Person sowie ihrem lebensgeschichtlichen Hintergrund erfassen. Die biographischen Porträts von Frauen mit sadomasochistischen Interessen habe ich nach verschiedenen Aspekten strukturiert, die den Schlüssel zum Phänomen des weiblichen Sadomasochismus liefern sollen: Abb.: Struktur der Fallanalysen Biographischer Hintergrund Erziehung Kindheit Jugend Zugang und Erfahrungen Realisierung Partizipation Partner SM-Identität und Alltagsrolle Selbstbild Bewertung Emanzipation Durch die Einbeziehung des ‚biographischen Hintergrunds’ lassen sich die spezifischen Sozialisationsverläufe nachzeichnen. Wenn ich durch dieses Vorgehen auch keine ätiologischen Aussagen treffen kann, so lässt sich mit diesen Daten doch die Frage beantworten, ob tatsächlich - wie von vielen Autorinnen und Autoren vermutet - traditionelle weibliche Erziehungsinhalte eine prägende Funktion übernehmen. In der Kategorie ‚Zugang und Erfahrungen’ werden die spezifischen Realisierungs- und Partizipationsformen von SM und die Beziehungen zu den entsprechenden Partnern dargestellt. Durch die Untersuchung dieser Frage möchte ich feststellen, ob überhaupt genuin weibliche Teilnahmeformen am Sadomasochismus existieren. Die Ausprägung ‚SM-Identität und Alltagsrolle’ behandelt die Art und Weise, wie die Neigungen in Bezug auf das Rollenverständnis als Frau einzuordnen sind und welche Formen der Integration in alltägliche Lebenszusammenhänge beobachtbar sind. Gleichzeitig ist zu 176 fragen, wie die Erfahrungen mit sadomasochistischen Sexualpraktiken bewertet werden. Aber auch die Reflexion feministischer Auffassungen durch die Sadomasochistinnen geben Hinweise auf ihr Selbstbild. Bei den dargestellten Fallbeispielen handelt es sich ausschließlich um heterosexuelle Frauen, die entweder passiv oder aktiv sind. In einem Fall wechselt die Rollenpräferenz. Finanzielle Interessen spielen bei ihnen keine Rolle. 1.9.2.5 Fallbeispiele masochistischer und sadistischer Frauen Fall 1: Vanessa - ...ich suche einen Typen, der mich prügelt Den Kontakt zu Vanessa konnten wir über eine SM-Gruppe knüpfen. Wir besuchten sie in ihrer Wohnung, wo wir auch noch andere SM-Interessierte interviewen konnten. Von ihrem äußeren Erscheinungsbild lassen sich keine Rückschlüsse auf ihre sadomasochistischen Neigungen schließen. Vanessa hat ein ruhiges, freundliches und selbstsicheres Auftreten. Im Rahmen ihrer sadomasochistischen Neigungen nimmt sie partnerspezifisch sowohl die aktive als auch die passive Rolle ein. Allgemeine Lebensumstände Zum Zeitpunkt des Interviews ist Vannessa 30 Jahre alt und lebt in einer Großstadt. Sie hat eine feste Beziehung zu einem Mann, mit dem sie aber nicht zusammen wohnt, weil sie sich dadurch in ihrem Freiraum beschnitten fühlen würde. Ihre Schul- und Berufsausbildung erlaubt es ihr, eine berufliche Position zu bekleiden, die ihr nicht nur finanzielle Unabhängigkeit, sondern auch gesellschaftliche Macht gewährt: Sie ist Akademikerin und arbeitet für eine Computerfirma. Ihr Aufgabenprofil ist auf Selbständigkeit und Entscheidungsbefugnis angelegt. Biographischer Hintergrund Vanessa wuchs mit ihren Geschwistern auf dem Land auf. Sie hatte einen sehr strengen Adoptivvater, den ihre Mutter heiratete, als sie fünf Jahre alt war. Er legte sehr viel Wert auf gute schulische Leistungen, was für Vanessa jedoch kein Problem war, da sie diesem Anspruch gerecht werden konnte. Dennoch hatte sie als Kind Angst vor ihrem Adoptivvater, weshalb sie ihrer Meinung nach als erwachsene Frau eine Zeit lang Depressionen hatte: Also 177 wenn mein Vater nach Hause kam, ist von da ab jeder von uns auf Zehenspitzen getreten, hat die Türen vorsichtig zugemacht, sonst gab es wieder Geschrei. Vanessas Mutter war auch berufstätig und hatte wenig Zeit, sich um ihre Kinder zu kümmern: Sie konnte keinen ausgleichenden Pol zur strengen Erziehung meines Vaters darstellen. (...) Entweder gab es Stress mit meiner Alten oder mit meinem Vater. Mit irgendeinem hattest du immer Theater. Um dieser Situation auszuweichen, zog Vanessa mit 18 Jahren von Zuhause aus. In unserem Gespräch erwähnte sie noch, dass sie als Kind mit sechs oder sieben Jahren sexuell missbraucht worden sei, konnte für sich hier jedoch keine fundierten Zusammenhänge zu ihrer SM-Neigung formulieren. Dieses extreme Unter-Druck-Gesetztsein von Seiten ihres Adoptivvaters in der Kindheit sieht sie aber eindeutig im Zusammenhang mit ihren masochistischen Neigungen. Zugang und Erfahrungen Vanessa datiert ihre ersten sadomasochistischen Phantasien auf die Zeit vor der Pubertät. Obwohl sie diese Phantasien auch gezielt zur Masturbation einsetzte, empfand sie ihre Vorstellungen als sehr befremdlich und wollte sie deshalb zunächst nicht zulassen: Ich dachte, das ist irgendwie pervers, krank. Es ist eine Geschichte, die ganz klar in der Phantasie bleiben muss, weil es keine Leute gibt, die so etwas machen. Die Annahme, nicht normal zu sein und die eigenen sexuellen Phantasien deshalb niemals realisieren zu können, wurde durch die Rezeption verschiedener pornographischer Medien verstärkt. Als Jugendliche stieß Vanessa auf ein SM-Magazin, in dem Erziehungsspiele dargestellt wurden: Es ging um physische Erniedrigung, die mich natürlich tierisch angemacht hat. Aber das ganze Drumherum kam mir einfach so lächerlich vor, dass ich mir nie im Leben vorstellen konnte, das mal zu praktizieren. Und ich dachte mir auch, ‚Du bist ganz schön neben der Kappe. Es ist ganz faul, was ich mir an Phantasien vorstelle.’ Aus diesem Grunde erzählte Vanessa zunächst niemandem davon und in ihren ersten Partnerbeziehungen spielten sadomasochistische Sexualpraktiken keine Rolle. Ihren ersten sadomasochistischen Kontakt knüpfte Vanessa als junge Frau über eine Annonce. Die praktischen Erfahrungen, die sie dabei mit dem Sadomasochismus machte, waren negativ. Sie geriet an einen Mann, von dem sie gegen ihren Willen geprügelt und gedemütigt wurde: Der Typ ist weitgehend ausgerastet und ich habe halt die dollste Prügel meines Lebens kassiert. Auf den Typen bin ich über eine Anzeige reingefallen. Ich war ganz frisch in der ganzen Szene und bin halt blöde und dumm zu ihm in die Wohnung gegangen, ohne mich telefonisch zu covern oder sonst irgendwas. Alles Sachen, die ich jetzt nicht mehr tun würde. Dennoch ließ sich Vanessa nicht davon abhalten, auf eine weitere Kontaktanzeige zu antworten und sich mit einem fremden Mann zu treffen, denn die Misshandlungssituation war trotz aller Ge178 fahr aufregend für sie: Ich habe festgestellt, dass die Sachen, die in der Scheißsituation am extremsten waren, mich von Kopf her am meisten gekickt haben. Nämlich die Situationen, wo ich ausgeliefert war, wo ich keinen Einfluss mehr hatte. Und dann habe ich gedacht, ‚Wenn es dich so anmacht, obwohl es so eine Scheißsituation war, dann schau dir doch noch ein paar Leute an. Vielleicht ist ja doch jemand dabei, der halbwegs so drauf ist wie du.’ Bei ihrem nächsten Kontakt stellte sich heraus, dass Masochismus - entsprechend ihrer Vorstellungen praktikabel ist. Nachdem Vanessa sich ungefähr ein Jahr lang über Kontaktanzeigen mit verschiedenen Männern getroffen hatte, um ihre passiven Neigungen zu realisieren, fand sie über Feten-Kontakte entsprechende Partner für ihre dominanten Interessen. Heute realisiert Vanessa ihre masochistischen Neigungen ausschließlich in der Beziehung zu ihrem festen Lebenspartner, wohingegen sie ihre dominanten Neigungen mit verschiedenen anderen Männern auslebt. Aufgrund der offenen Beziehung zwischen ihr und ihrem Lebenspartner ist das für beide problemlos möglich. In der Stadt, in der Vanessa lebt, gibt es eine gut organisierte Szene, die regelmäßig verschiedene Veranstaltungen durchführt. Vanessa ist in diese Szene integriert und engagiert sich für die Interessen der Sadomasochisten/Innen: Ich bin in zwei Gesprächsgruppen, in einem Arbeitskreis, ich gehe zum Stammtisch, ich bin dabei, die Feten zu organisieren usw. Das heißt, ich bin in meinen Gruppenaktivitäten sowieso sehr weit in die Szene eingebunden. (...) Wir wollen auch eine Frauengruppe ins Leben rufen. Wir haben uns bis jetzt ein paarmal getroffen, um über frauenspezifische Themen und Probleme zu diskutieren. Es ist aber noch nichts festes. SM-Identität und Alltagsrolle Vanessa hat heute keine Probleme mehr damit, sich offen zu ihren sadomasochistischen Neigungen zu bekennen. Hierauf verweisen auch die in ihrer Wohnung für jeden sichtbaren SMUtensilien (Rohrstock, Krokodilklammern, Reitgerte etc.) sowie ihre Mitwirkung an einem Fernsehbeitrag zum Thema Sadomasochismus. Diese Situation war - wie bereits angedeutet aber nicht immer so. Vanessa bewegte sich lange Zeit in feministischen Kreisen und ihr Sexualverhalten stand im krassen Gegensatz zu den Anliegen feministischer Positionen: Ich hatte Probleme, gerade als Frau, die grundsätzlich gegen jegliche Gewalt und Unterdrückung von Frauen ist, hinzugehen und zu sagen, ‚Ich suche einen Typen, der mich prügelt’ - anstatt allen Typen abzugewöhnen, dass sie Frauen prügeln. An der Geschichte wäre ich fast zerrissen. Darunter habe ich gelitten. (...) Durch die Symbolik, die in dem Ganzen drinliegt, schlägt 179 das sehr, sehr in die ganzen Patriarchatskisten rein. Das ist extrem, sich gerade als Frau von einem Typen vermachen zu lassen. Der feministische Frauenanspruch und das Selbstverständnis, das Vanessa als Frau hatte, ließ sich für sie zunächst also nur sehr schwer mit der Tatsache vereinbaren, sich einem Mann - wenn auch nur sexuell - zu unterwerfen. Erst der Einstieg und die Integration in eine organisierte Szene befreite sie von ihrem selbst auferlegten Stigma der Außenseiterin: Als ich Leute aus der Szene traf, habe ich festgestellt, dass andere auch auf SM stehen und trotzdem herzerfrischend normal sind. Das war wirklich so eine richtige Befreiungsgeschichte. Leute zu treffen und festzustellen, die stehen darauf, die praktizieren es auch. Leute, die am ehesten so meiner sonstigen Szene von Leuten entsprechen, mit denen ich mich umgebe, also etwa in meinem Alter sind und politisch halbwegs ähnlich denken wie ich. Das hat mir total gut getan. Da hatte ich nicht mehr das Gefühl, dass das irgendwie so ein Ding ist, das an mir anders ist, als an anderen Leuten, sondern ich habe mich halt wiedergefunden in den Leuten, die das auch wollen. Die Frage, ‚Dürfen Frauen, die sich im Alltag feministischen Idealen verpflichtet fühlen, in ihrer Sexualität masochistisch sein?’, war für Vanessa ein großes Problem. Es brachte sie aber nicht nur in ständigen Konflikt mit sich selbst, sondern vor allem mit ihrem sozialen Umfeld. Keine ihrer Freundinnen konnte verstehen, wie sie sich als selbstbewusste und emanzipierte Frau mit sadomasochistischen Sexualpraktiken identifizieren konnte. Dennoch wurde dieser Umstand, so Vanessas Einschätzung, von Frauen, die nicht in die Frauenszene integriert waren, - wenn auch mit Unbehagen - akzeptiert. Anders verhielt es sich mit Feministinnen. Insbesondere durch ihr Eingeständnis, sich einem Mann sexuell zu unterwerfen, stieß sie in diesen Reihen als Verräterin feministischer Ideale auf Ablehnung und Verachtung, wohingegen ihre sadistischen Interessen akzeptiert wurden: Ich habe darüber meine zeitlebens beste Freundin verloren. Der besondere Clou an dem Ganzen ist, dass die eine SM-Lesbe ist, die auch sehr wohl selber SM macht. Aber ich mache es mit Typen und bin deshalb nicht mehr diskutabel. (...) SM-Lesben hatten nie ein Problem, wenn ich Typen vermacht habe, das hat denen überhaupt nichts ausgemacht. Das fanden sie total okay. Aber dann zu hören, dass ich jetzt einen Typen habe, der mich vermacht, da war es vorbei. Vanessa hat versucht, diesen Konflikt zum einen dadurch zu lösen, dass sie sich von der feministischen Szene, mit der sie ursprünglich assoziiert war, zurückgezogen hat: Ich bin es einfach leid, permanent diese Auseinandersetzungen auszufechten. Die Toleranz, die ich ihnen gewähre, ist von ihrer Seite nicht da. Die können mich nicht tolerieren. Sie sagen, dass ich mich in die patriarchalische Struktur stelle, die wir eigentlich alle überwinden wollen. Ich sehe es aber nicht so. (...) Deswegen habe ich mich von der einen Welt auch völlig verabschiedet und mache da auch selber nichts mehr, um den Kontakt zu halten. Ich habe dieses Hin- und Hergerissensein nicht mehr ausgehalten. Zum anderen lassen sich für Vanessa Fe180 minismus und Sadomasochismus im Allgemeinen und Masochismus im Besonderen insofern miteinander vereinbaren, dass sie ihre SM-Rollen eindeutig von ihrer alltäglichen Rolle abgrenzt. In ihre beruflichen und sonstigen sozialen Zusammenhängen möchte Vanessa Macht und Unterwerfung unter keinen Umständen miteinbeziehen: In meinem Alltag will ich das ganz klar nicht. Ich will in meinen alltäglichen Situationen mit allen Leuten, die ich treffe, gleichberechtigt umgehen. Also ich stehe nicht auf Konkurrenzkisten. Ich habe eine Weile im Computervertrieb gearbeitet, was ein relativ hartes Ellenbogen-Business ist und habe genau deswegen aufgehört, weil ich keine Lust hatte, mich permanent in Konkurrenzsituationen zu stellen und permanent schmutzige Wäsche zu waschen, um meine Position zu behaupten. Ich suche Umgebungen, wo ich mit jemandem zusammenarbeiten kann. Im Alltag interessieren mich solche Machtsituationen nicht. Innerhalb meiner SM- und Privat-Kisten um so mehr. Diese Einstellung sollte aber nicht als Bestätigung für die Weiterführung ihres sexuellen Masochismus im Alltag verstanden werden, denn auch ihre passive Rolle im Bereich der Sexualität steht in keinem Zusammenhang zu ihren sonstigen Verhaltensmustern. Vanessa beschreibt sich als eine Frau, für die Gleichberechtigung und Zusammenarbeit zwar einen sehr hohen Stellenwert einnehmen, die aber dennoch eher dominant als devot auftritt. Sie gibt an, ihre Interessen durchzusetzen und sich beispielsweise ihrem Partner im Alltag niemals unterzuordnen: Ich weiß sehr genau, was mein Freund und ich leben, ist eine völlig gleichberechtigte Partnerschaft, auch wenn er im sexuellen Bereich wirklich dominant ist. Es ist für uns beide völlig klar, dass ich mich bewusst unterwerfen will. Trotzdem würde mich mein Freund nie in seinem Leben schicken, seinen Kram abzuspülen oder irgendwelche Sachen für ihn zu erledigen. Vanessa hat ein positives Männerbild und legt in Bezug auf ihre dominante Rolle im SM-Spiel besonderen Wert darauf, dass sie nicht als Männerhass interpretiert wird: Ich würde meine dominante Rolle nicht als Männerhass bezeichnen. Das ist bei mir halt ganz klar nicht so. Wie ich mich auch nicht von Typen vermachen lassen würde, die das letztlich aus Angst vor Frauen oder Frauenhass machen würden. Und das ist der Unterschied zwischen destruktiven Leuten und anderen SMlern, da mache ich einfach eine Trennung. Sie differenziert also eindeutig zwischen sexuellem Sadomasochismus und sozialen, kulturellen oder gesellschaftlichen Formen des Machtgebrauchs. Dominanz und Unterwerfung kommen für sie als mögliche Verhaltensdispositionen nur dann infrage, wenn sie spielerisch inszeniert und ausschließlich auf einen solchen Rahmen beschränkt sind. Unter dieser Prämisse praktiziert sie ihre sadomasochistischen Neigungen. Sie glaubt, dass sie heute zwar in der Lage ist, diese unterschiedlichen Bereiche einwandfrei voneinander abzugrenzen, räumt aber ein, dass es zu früheren Zeitpunkten Schnittmengen gegeben hat: Ich denke, dass ich mir die Sachen vorher im Alltag abgeholt habe, die ich jetzt in meinen Privatbereich auslebe. Deswegen lasse ich mich jetzt im Alltag nicht mehr in solche Spiele reinziehen. (...) Es gab so Ver- 181 wischungen. Früher war es so, dass ich mich beruflich für andere aufgeopfert habe. Nachdem Vanessa diese Situation durchschaut hatte, begann sie, ihren Masochismus im sexuellen Bereich auszuleben. Hierdurch, so ihre Meinung, ist sie im Alltag gelassener und selbstsicherer geworden: Seit ich dieses Coming-Out hatte, habe ich auch an persönlicher Sicherheit gewonnen. Ich bin auch beruflich erfolgreicher, seit ich mich selber nicht mehr so leicht in Frage stelle. Vanessa möchte ihre bisherigen Erfahrungen im sadomasochistischen Bereich nicht missen und auch in Zukunft unter gar keinen Umständen darauf verzichten. Sie beansprucht für sich das Recht, entgegen der Meinung anderer zu handeln, wenn es für sie persönlich mit größtmöglichem Wohlbefinden verbunden ist und niemand unter ihrem Verhalten zu leiden hat. Geschlagen zu werden, empfindet sie nicht als Gewalt gegen Frauen generell, und dass ihr Masochismus mit gesellschaftlichen Strukturen verflochten sein könnte, ist für sie von geringer Bedeutung. Entscheidend ist ihrer Meinung nach nur eines: Die Gewaltsituationen, die ich inszeniere, tun meiner Psyche gut. Das Gefühl habe ich, ganz eindeutig. Ich will mich nicht vom Sadomasochismus heilen lassen, dafür erlebe ich ihn als zu genussvoll und als zu selbstverständlich. (...) Ich lasse es mir nicht mehr ausreden. Dass ich persönlich auf Gewaltsituationen stehe, hat nichts mit misshandelten Frauen zu tun. Es ist mein Ding und dass ich mir Leute dazu suche, die auch darauf stehen, ist auch mein Ding. (...) Solange ich das Gefühl habe, dass es mir besser geht, wenn ich es auslebe, als wenn ich es nicht auslebe, finde ich es legitim, es auszuleben. Ich würde mir etwas nehmen, wenn ich es jetzt bleiben ließe mit der Begründung, dass ich genau weiß, dass es möglicherweise aus den patriarchalischen Strukturen gewachsen ist. Es mag ja sein, dass alles damit zusammenhängt. Ich kann nur sagen, wenn ich es mache, fühle ich mich insgesamt besser, als wenn ich es nicht mache. Also kann es für mich nicht verkehrt sein, es zu machen. Trotz dieser positiven Einstellung hat sie sich gegenüber der SM-Szene eine kritische Distanz bewahren können. Gleichberechtigungsansprüche von Masochistinnen, die sie für sich selbst realisiert glaubt, sieht sie innerhalb der SM-Szene nicht immer gewahrt. Auch kommen verschiedene Praktiken und Grade der Unterwerfung für sie nicht infrage. Dennoch sieht Vanessa sich nicht dazu berufen, andere zu maßregeln und stellt die persönlichen Interessen, den persönlichen Geschmack des Einzelnen, über gesellschaftliche Werte. Für sich definiert sie einen klar abgegrenzten Rahmen, innerhalb dessen sie sich bewegt. Sich selbst vollkommen aufzugeben im Sinne eines Sklavinnendaseins oder andere zu versklaven, lehnt sie ab. 182 Fall 2: Carmen - ...ich fühle mich als Amazone des 20. Jahrhunderts Der Kontakt zu Carmen wurde über eine professionelle Domina vermittelt, die wir kurz zuvor in ihrem Studio besuchten. Während des Interviews war Carmen gerade zu Besuch in diesem Studio. Aus terminlichen Gründen zog sie ein Telefoninterview vor, weshalb an dieser Stelle keine Aussagen über ihr Auftreten und äußeres Erscheinungsbild getroffen werden können. Im sadomasochistischen Arrangement nimmt Carmen ausschließlich die dominante Rolle ein. Allgemeine Lebensumstände Carmen ist zur Zeit des Interviews 28 Jahre alt und lebt mit ihrem Partner in einer Großstadt. Sie hat ein fünfjähriges Studium in der darstellenden Kunst absolviert. Aus gesundheitlichen Gründen musste sie diese Ausbildung jedoch unterbrechen. Mit ihrer beruflichen Situation ist sie zufrieden. Sie beschreibt sich als erfolgreiche Geschäftsfrau, die selbständig in leitender Position Verantwortung zu tragen hat. Biographischer Hintergrund Carmen gibt an, dass ihr Verhalten im Allgemeinen und speziell im sexuellen Bereich schon immer dominant war. Diese Dominanz interpretiert sie im Zusammenhang mit Missständen und Fehlentwicklungen in der Kindheit. Sie berichtet von prägenden Erlebnissen, denen sie als Kind ausgesetzt war: So musste ich als Kind miterleben, wie ein Elternteil das andere betrog, und zwar mehrfach, mit wechselnden Partnern. Zweimal war ich ungewollt direkte Zeugin dieser ‚Vergehen’ am Ehepartner. Eventuell liegt da ein Teil dieser Neigung begraben. Ich verspürte eine Eifersucht und einen gewissen Hass gegenüber diesen ‚Fremden’, die das Familienleben und die Zeit meiner Eltern für mich noch mehr kürzten, die durch die Selbständigkeit meiner Eltern knapp gehalten waren. Ich wusste es von beiden Elternteilen. Sie aber wiederum nicht von dem anderen, der sie ebenso betrog. Diese Mitwisserschaft lastete allein auf meinen, damals achtjährigen Schultern. In Bezug auf ihre Erziehung betont Carmen, dass sie sehr offen erzogen wurde. Neben den Problemen in ihrer Kindheit versteht sie ihre sadomasochistischen Interessen auch als Konsequenz einer sexualfreundlichen Erziehung: Ich bin von zu Hause her so aufgewachsen, dass man im Bereich der Sexualität alles machen kann, wenn beide es wollen. Auch Dinge, die im Allgemeinen abgelehnt werden. Sexualität war nie etwas Schmutziges oder etwas, worüber man überhaupt nicht spricht. Vielleicht bin ich in Sachen Sexualität deshalb so frei erzogen, da meine Eltern zu diesem Zeitpunkt selbst so lebten (...). Deshalb hatte Carmen nie Probleme mit der Sexualität im Allge- 183 meinen und spezifischen Praktiken, die im gutbürgerlichen Sinn als nicht ‚normal’ definiert sind. Zugang und Erfahrungen Carmen beschreibt sich als aufgeschlossenen, experimentierfreudigen Menschen. Bereits im Alter von 16 Jahren hat sie Natursektspiele - eine ihrer bevorzugten Praktiken - ausprobiert: Ich fand es unheimlich geil. Es hat mich unheimlich angemacht, und ich war immer froh, wenn ich jemanden hatte, der das auch mochte. Ihr Interesse an sadomasochistischen Sexualpraktiken wurde durch die Lektüre spezieller Medien stimuliert: Das war so, dass ich mit meinem jetzigen Partner Magazine und Fotografien in die Hände bekam. (...) Es ist aber nicht so, dass ich nur durch den Partner dazu gekommen bin. Er hat eigentlich bei mir was gefördert und etwas ins Rollen gebracht, was schon vorhanden war. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Carmen keine praktischen Erfahrungen mit sadomasochistischen Sexualpraktiken. Da nun ihr Interesse durch Magazine und Fotos geweckt war, wollte sie diese spezielle Art der Erotik auch in der Praxis kennenlernen. Vor dem Hintergrund der Informationen aus den SMMagazinen war für Carmen klar, dass eine Szene existierte. In der Kontaktaufnahme zu Insidern sah sie die einzige Möglichkeit, ihre Neugier zu befriedigen. Als Frau lag es für sie nahe, den Einstieg zunächst über eine andere Frau, die bereits Erfahrungen auf diesem Gebiet hat, zu versuchen. Die Tür in diese fremde Welt öffnete ihr schließlich die Anzeige einer professionellen Domina, die in einem Szene-Magazin einen privaten Damenzirkel vorstellte, der um eine Dame erweitert werden sollte: Ich habe den Entschluss gefaßt, die Phantasie in die Realität umzusetzen und habe die Katrin [Inhaberin eines bekannten Studios] angerufen. Carmen hatte eigentlich keine Vorstellung, welches Milieu sich hinter der Anzeige verbirgt und war daher um so mehr überrascht, dass sich die Gesprächsebene auf einem für sie unvermutet hohen Niveau befand. Sie ging davon aus, dass die meisten Frauen, die in diesen Studios sind, etwas lasterhaftes umgibt. Ich war also am Anfang sehr überrascht, auf welchem Niveau ich mich mit ihr unterhalten habe, weil das für mich eine sehr wichtige Sache ist. (...) Sie kennen ja die Katrin, dann wissen Sie, dass sie eine Frau ist, die Format hat, die Niveau hat. Das ist eigentlich der Punkt gewesen, wo ich gesagt habe: ‚Okay, ich probiere das mal’. Also die Ausstrahlung von ihr war für mich ausschlaggebend, meinen Fuß überhaupt mal in ein Studio zu setzen. Diese lange ausführliche Unterhaltung und die Einsicht, dass ein Dominastudio durchaus eine für Carmens Geschmack niveauvolle Atmosphäre und den Kontakt zu entsprechenden Personen bietet, bewog sie zu dem Entschluss, Katrin unverbindlich in deren Studio aufzusuchen, um die Idee des Damenzirkels erläutert zu bekommen und für sich persönlich weiterzuentwickeln: Ich wurde von Katrin zu einem Damenzirkel eingeladen, um in 184 professioneller erotischer Atmosphäre erstmalig SM zu praktizieren. Selbstverständlich wurde ich an diesem Abend mit Riten und Praktiken konfrontiert, die ich selbst noch nicht kannte, geschweige denn ausprobiert habe. Ich war in einen Zirkel dominanter Frauen integriert und habe eigentlich das erste Mal SM richtiggehend praktiziert, weil ich alle Gerätschaften hier vorfinden konnte, die ich zu Hause natürlich nicht habe. Und es waren auch Dinge dabei, die ich wirklich zum ersten Mal in meinem Leben gesehen habe. Das war eine sehr interessante Erfahrung. Obwohl Carmens Wohnort und das Studio von Katrin sehr weit auseinander liegen, fährt Carmen seit diesem Zeitpunkt regelmäßig dort hin. Dabei sind aber nicht nur die von Katrin organisierten Damenzirkel für sie von Interesse, sondern auch Party-Abende, die unter verschiedenen Themen (Gummi, Fetisch etc.) im Studio veranstaltet werden. Zum Zeitpunkt des Interviews besuchte sie - wie bereits erwähnt - gerade einmal wieder das Studio, in dem noch am gleichen Abend eine SM-Party im engsten Kreis stattfinden sollte, und berichtete uns, wie sie ihre SM-Events organisiert: Ich bin halt gestern schon angereist. Ich komme ja aus einer anderen Stadt und das ist ja dann doch immer mit einigen Problemen verbunden, Koffer packen und so weiter. Dann bin ich für ein oder zwei Tage hier. (...) Ich mache das halt einfach so aus Spaß. Ich mache das aus meinem eigenen Antrieb heraus. Die Motive sind Spaß, Lust und das echte Bedürfnis, Männer zu dominieren. In Katrins Studio besteht für Carmen stets die Gelegenheit, ihre sadistischen Neigungen auszuleben. Durch eine Ankündigung auf dem Telefonanrufbeantworter erfahren die Gäste des Studios, wann sie als sogenannte Gastherrin anwesend ist: Also ich habe immer die Möglichkeit, hierher zu kommen und wenn ich Lust habe, mache ich das auch. Ich muss es lediglich mit geschäftlichen Anliegen koordinieren. Wenn Carmen das Studio besucht, um ihre dominanten Neigungen auszuleben, kommt ihr Partner hin und wieder mit. Er nimmt aber nicht an den Veranstaltungen teil. Ihr Verhältnis und damit verbundene Praktiken sind für beide eine ausschließlich intime Angelegenheit, die keiner in die Studioatmosphäre und den damit verbundenen Veranstaltungen übertragen möchte. Hin und wieder reist Carmen auch auf Wunsch von Katrin an, mit der sie mittlerweile befreundet ist. Verdienstausfall und Fahrtkosten werden dann von Katrin übernommen: Denn ich komme aus einer anderen Stadt dann extra angereist und so weiter, dann nimmt man sich auch Urlaub. Aber das ist nicht das Eigentliche, was mich hierhertreibt. Carmen betont, dass sie das Studio nicht aus finanziellen Gründen aufsucht und möchte unter keinen Umständen mit einer professionellen Domina verglichen werden: Das hieße, dass ich durch das Praktizieren von SM meinen Lebensunterhalt bestreite und das entspricht nicht den Tatsachen. Professionell im Sinne von Gewandtheit und Erfahrung auf dem SM-Sektor, das kommt meinem jetzigen Entwicklungsstand, in dem ich mich befinde, nahe. Wichtig für mich ist, dass meine ausgelebte Neigung eine Lebensart im Sinne von Verwirklichung und Ehrlich185 keit mir selbst und meinem Partner und einem bestimmten Teil meiner Umwelt gegenüber ist. Ihre Motive liegen in einem ganz anderen Bereich. SM-Identität und Alltagsrolle Carmen beschreibt sich als einen Menschen, der immer schon ein ausgeprägtes Geltungsbedürfnis hatte. Die Bestätigung ihres äußeren Erscheinungsbildes als Frau und ihre Anerkennung als sexuell begeherenswertes Wesen ist für sie die Schlüsselmotivation, Sadomasochismus zu praktizieren: Ich bin eine Gummifetischistin. Meine ganze Ausstattung ist alles in Latex, schwarz glänzendes, eng anliegendes Latex. Der Körper wird in diesen Sachen idealisiert, gibt äußerlich ein ganz perfektes Bild von der Frau ab, das meiner Meinung nach auch dazu gehört, um jemanden bestechen zu wollen. (...) Ich habe eigentlich immer versucht und es verstanden, mich irgendwo in den Mittelpunkt zu drängen. Ich habe das einfach genossen, bewundert zu werden. Ich will bewundert werden, ich will, dass man mich beachtet, begehrt, ja geradezu vergöttert. Und diese Bewunderung und Faszination, die verarbeite ich in mir zu einer Bestätigung, auf die ich theoretisch verzichten kann, es praktisch aber nicht möchte. Das Äußerliche gepaart mit meinem Wesen, meiner Wirkung und Ausstrahlung auf die Männer lässt mich jede Aktion als einen Auftritt empfinden. Hätte ich mein abgebrochenes Studium vollendet, würde ich den gleichen Effekt bei einem meiner Auftritte empfinden. Sicher ist das auch als eine Ersatzbefriedigung zu sehen. (...) Ich tauche bewusst und mit meiner ganzen Überzeugtheit in eine Welt der Phantasie ein. Und mit mir meine männlichen Untergebenen. Carmens Vorliebe für Urinpraktiken wurde oben bereits angedeutet. Abgesehen davon, dass sie diese besondere Art der Erotik sexuell als sehr stimulierend empfindet, bedeutet die Bereitschaft der Männer, diese Praktik zuzulassen, eine besondere Form der Ehrerbietung: Die Verabreichung von NS auf die verschiedensten Arten und Weisen geht oft weit über die Phantasien meiner Opfer hinaus. NS ist ein menschliches Exkrement, das von der Kindheit an tabuisiert wird, da z.B. in die Hosen machen als unsauber gilt, und länger andauerndes Bettnässen als ein auf seelischen Ursachen begründetes Leiden abgetan wird. Das Kind wird diesbezüglich zur Sauberkeit angehalten und außer auf der Toilette ist NS kein Thema. Und plötzlich wird aus dem NS eine Angelegenheit, die unglaublich erregend werden kann. Dadurch führe ich die Männer mitunter auch in Situationen, in denen ich die erste Frau bin, die überhaupt je NS mit ihnen praktiziert hat. Es gibt einige Männer, die das bei keiner anderen Frau machen, das machen die nur mit mir. Das machen die nicht einmal mit der Ehepartnerin. 186 Das sexuelle Erlebnis spielt für Carmen in der Studioatmosphäre überhaupt keine Rolle. Für sie selbst ist die Befriedigung hier ausschließlich mentaler Natur: Und es ist auch nicht so, dass ich hier einen sexuellen Höhepunkt erlebe, wenn ich irgendjemanden im Intimbereich beispielsweise unter Strom setze. Das ist für mich eine rein mentale Befriedigung, keine körperliche. Das hat für mich eigentlich wenig mit Sexualität zu tun. Das ist lediglich ein Gefühl der Bestätigung, das ich hier bekomme. Ich kriege hier im Studio wirklich keinen sexuellen Höhepunkt. Es ist ein Spiel mit meinem Körper, ja, aber mehr nicht. Das erwarte ich auch nicht. Ob ein Partner sexuelle Befriedigung erfährt oder gar bis zum Orgasmus gelangt, ist ihr vollkommen gleichgültig: Von Anfang an stelle ich klar, dass ich bei einem Abend die gesamte Gestaltung übernehme. Werden von der Gegenseite irgendwelche Einschränkungen begehrt, auf die ich Rücksicht nehmen soll, verliert diese Person mein Interesse. Ich spare mir meine Energie dann lieber für jemanden auf, der mir das Gefühl gibt, sich mir ganz auszuliefern. An diesem Abend werden Praktiken ausgelebt, die auch über einen normalen Studioalltag hinausgehen. Die müssen. Die können schreien, bis sie schwarz werden, dann kriegen sie einen Knebel in den Mund, dann sind die mundtot. Dann müssen die das machen, was hier abläuft. Dann gibt es kein Pardon und auch kein Entgehen. (...) Also wenn ich auf so einem Damenzirkel bin, dann interessiert mich das nicht, ob da jemand zum Höhepunkt gekommen ist oder nicht, sondern mir geht es für mich dann nur um die Sachen, die ich in dem Moment mit ihm mache. Das ist mir dann egal, ob der kommt oder nicht. (...) Weiter ausgeführt sehe ich das Ganze als eine Verschmelzung eines grausamen Märchens an, in dem die Anmut und die Nähe einer vollkommenen Märchenfigur nur dann genossen werden kann, wenn man bereit ist, alles nur Erdenkliche dafür hinzugeben. Nur, dass aus diesem Märchen plötzlich Realität wird und echte Opfer abverlangt werden. (...) Im Übrigen hat meine Person diese Dominanz und die Art des Auslebens nicht erfunden. Von dieser weiblichen (Ab-)Art berichtet uns schon die Geschichte mit Überlieferungen aus den Völkern der Amazonen. Ich fühle mich, um die Sache auf einen Punkt zu bringen, als eine Amazone des 20. Jahrhunderts, deren Waffen nicht kriegerisch und mordend sind, sondern deren Waffen Weiblichkeit und Überlegenheit sind, erzielt durch meine Aura und Reflektion auf meine Aura bedeuten und somit einen Sieg über ein bestimmtes Gebiet nach sich ziehen, zu meiner Bestätigung und Befriedigung. (...) Anders verhält es sich in der (sexuellen) Beziehung zu ihrem Lebenspartner, die Carmen als als offen und vielfältig beschreibt. Hier können sadomasochistische Elemente mit einbezogen werden und sind dann eng mit Carmens Sexualität verflochten. Auf die Erfahrungen im Studio möchte Carmen dennoch nicht verzichten, da diese, neben der Sexualität in der partnerschaftlichen Beziehung auch eine wichtige Rolle spielen: Ich differenziere zwischen meinem mentalen Höhepunkt und meinem körperlichen Höhepunkt, da ich der Ansicht bin, dass Sex in Form von Geschlechtsverkehr in einem SM-Studio nicht praktikabel ist. Dieses Ausleben von 187 Gefühlen geistiger und körperlicher Art, was meine Person betrifft, ist meinem Partner und mir vorbehalten. Geschlechtsverkehr mache ich nur mit meinem Partner, das hat in diesen Räumen nichts zu suchen. Trotz ihrer dominanten Neigungen im Allgemeinen sowie im SM-Bereich versteht Carmen sich nicht als durch und durch dominante Persönlichkeit. Sie beschreibt auch eine sehr sensible und feinfühlige Seite ihres Wesens, die sie lediglich nach außen hin nicht so gerne zeigen möchte: Ich bin keine Frau, die ausschließlich dominant ist. Das möchte ich an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen. Ich bin auch der Überzeugung, dass es keine Frau gibt, die wirklich nur dominant ist. Dominante Frauen haben nur den Mut, eine weitere Seite von sich auszuleben und sich voll damit zu identifizieren. Ich bin viel zu sehr Frau, um nicht die andere, sehr weiche, weibliche Seite ausleben zu wollen. Sadomasochismus gehört ebenso zu ihrem Leben wie normale Sexualität. Auch ist es für Carmen nur selbstverständlich, die sadomasochistischen Spiele von ihrem Alltag zu trennen. Eine ständige Dominanz wäre ihr zu anstrengend: Ich habe auch einen ganz normalen Liebesalltag. Der ist zwar sehr intensiv und sehr farbenreich, weil mein Partner und ich sehr offen sind für alles. Es ist also nicht so, dass ich meinen Partner ständig dominiere, ganz im Gegenteil. Unsere Beziehung basiert auf einer vollkommenen Rücksichtnahme, sowohl von ihm als auch von mir. Da würde ich also nie wagen, über bestimmte Dinge hinauszugehen. Carmen beschreibt sich als überaus selbstbewusste Frau, die um ihre Qualitäten weiß. Diesen Eindruck bekam ich auch im Interview mit ihr. Aus ihrer dominanten Neigung macht sie keinen Hehl, auch wenn Geschäftspartner und Klienten beispielsweise nichts davon wissen: Trotz meiner beruflichen Stellung und der Intoleranz der Gesellschaft wage ich es, in extravagentem Outfit auf die Straße zu gehen, sei es zum Einkaufen, sei es zu Festivitäten, sei es zu privaten Treffen. Mit dem Ausleben ihrer sadomasochistischen Neigungen, ihrer dominanten Ader, hat Carmen keine Schwierigkeiten. Ihr Selbstbild gerät hierdurch keineswegs ins Wanken, und bei den unterschiedlichsten Gelegenheiten vertritt sie ihre Meinung: Ich vertrete meine Position leidenschaftlich. Im Rahmen von Modenschauen oder in Geschäften mache ich Frauen Mut, eine vielleicht im verborgenen liegende Leidenschaft ausfindig zu machen und bei einer etwaigen Existenz zu fördern. Es liegt mir auch viel daran, den Leuten, die mit dieser Seite der Erotik oft Abartigkeit in einem Atemzug nennen, klarzumachen, dass es etwas Normales, etwas Legales ist. Es kommt immer darauf an, wer etwas in welcher Weise praktiziert. Dann ist es nämlich eine ganz niveauvolle Art der Erotik, eine bizarre Erotik auf höchstem Niveau. (...) Begriffe wie ‚Gewalt’ und ‚Feminismus’ spielen für Carmen im Zusammenhang mit Sadomasochismus keine Rolle, da es sich ihrer Meinung nach hier um völlig unterschiedliche Phäno- 188 mene handelt: Als Sadistin, Domina und Frau zu meiner eigenen Person kann ich nur sagen, dass hier zwischem dem Begriff Gewalt im Sinne von Vergewaltigung und Brutalität zu unterscheiden ist, da sich alle praktizierenden SMler dieser Gewalt ja freiwillig unterwerfen. Es würde mir nie in den Sinn kommen, jemanden zu überwältigen, der kein Interesse an SM hat. Somit bringe ich Sexualität und Gewalt in ihrem ursprünglichen Sinne nicht in Verbindung und habe auch keine Probleme mit der Thematik ‚Frauen und SM’. Carmen ist nicht bereit, ihre sadistischen Neigungen zu verdrängen oder zu verheimlichen. Der Verzicht wäre für sie mit dem Verlust von Lebensqualität verbunden und ihre Zufriedenheit hätte darunter zu leiden. Sie beschreibt ihre Erfahrungen im SM-Bereich als Gewinn für ihren Alltag: Ich konnte mich in verantwortlicher Position für die Belange der Firma, z.B. bei Vertragsverhandlungen, besser druchsetzen. Ich fühlte mich durchaus auch Situationen gewachsen, die ich vor meiner Konfrontation mit meinen SM-Neigungen lieber jemand anderen habe ausführen lassen. Das mag sich darin begründen, dass ein Großteil der Gäste, die mit mir gemeinsam das Studio aufgesucht haben, um genau wie ich, ihre Interessen ausleben zu können, meistens Männer in Positionen waren, die mir bei Verhandlungen als gleichberechtigte Partner gegenübersaßen. Ich übertrug in solchen Momenten meine Strategien in einer anderen Form auf ein anderes Gebiet. Zusehends mit mehr Erfolg. Und das hat mich weiterhin geprägt. Meine Kompromissbereitschaft, die oftmals der Gegenpartei den Vorzug ließ, wurde abgebaut und ich baute mich - und damit auch mehr Achtung vor mir selbst - auf. Fall 3: Maria - ...ich möchte mir ständig bewusst sein, dass ich eine Sklavin bin Das Interview mit Maria wurde im Rahmen eines regelmäßigen Treffens von SMInteressierten in der Privatwohnung eines Gruppenmitglieds durchgeführt. In ihrem Auftreten wirkt sie selbstsicher und freundlich. Marias Kleidung und Schmuck an diesem Abend lassen schon auf ihre Neigungen schließen: im Rahmen von SM nimmt sie ausschließlich die passive Rolle ein. Allgemeine Lebensumstände Als wir Maria zum Interview treffen, ist sie 25 Jahre alt und lebt in einer Großstadt, wo sie zusammen mit einer Freundin eine eigene Wohnung hat. Ihre Tätigkeit als Kauffrau in der Fremdenverkehrsbranche gewährt ihr finanzielle Unabhängigkeit. 189 Biographischer Hintergrund Maria wendet sich entschieden gegen die These, ihr Masochismus entspringe geschlechtsspezifischen Sozialisationserfahrungen. Ihre Eltern legten sehr viel Wert darauf, sie zur Selbständigkeit hin zu erziehen. Entsprechend diesem Anspruch gestaltete sich auch das Familien- und Berufsleben von Vater und Mutter: Ich bin genau nicht passiv erzogen und in meiner Kindheit von meinen Eltern oder in der Schule unterdrückt worden. Mir ist genau das Gegenteil anerzogen worden. Ich habe 20 Jahre lang gehört, ‚Heirate nicht, kriege keine Kinder, mach’ deine Karriere, binde dich nicht an einen Mann’. Genau das habe ich 20 Jahre mitgekriegt. Meine Eltern führten eigentlich eine wahnsinnig tolle Ehe. Beide waren berufstätig. Der eine hat gearbeitet, der andere hat auf die Kinder aufgepasst, und zwar zu gleichen Teilen. Auch die Arbeit im Haushalt wurde zu gleichen Teilen von meinem Vater und von meiner Mutter erledigt. Ich bin also in der Hinsicht völlig anti-gesellschaftlich aufgewachsen. Also bei mir trifft die These vom anerzogenen Masochismus wirklich absolut nicht zu (...). Die Erfahrungen, die Maria im Laufe ihrer Biographie machte, erlauben also keine Rückschlüsse auf eine typisch weibliche Erziehung. Die elterliche Ehe, in der beide Partner gleichberechtigt handeln konnten, war für Maria Vorbild für eine auf Gleichberechtigung basierende Beziehung zwischen Mann und Frau und die Eltern legten sehr viel Wert darauf, sie als selbständige, finanziell unabhängige Frau, die Karriere machen soll, zu erziehen. Ihre masochistischen Neigungen sieht Maria vielmehr als Veranlagung und sie datiert ihre ersten Phantasien und Erlebnisse in das frühe Kindesalter: Phantasien hatte ich, seit ich denken kann. Also noch vor der pubertären Phase. Mit elf habe ich die erste SM-Geschichte geschrieben. (...) Und das habe ich auch noch in Erinnerung, dass ich das sehr genossen habe, damals. (...) Auch wenn ich jetzt so nicht sagen würde, da war ich schon Masochistin, das waren aber die ersten Erlebnisse. Zugang und Erfahrungen Ihre ersten bewusst sadomasochistischen Erfahrungen machte Maria als junge Frau und geriet dabei in eine Situation, die für sie zu einem tragischen Ereignis wurde. Im Alter von 19 Jahren machte sie schlechte Erfahrungen mit einem dominanten Partner. Sie beschrieb nur andeutungsweise, was geschah: Ich hatte damals ohne Code-Wort angefangen und hatte eben jemanden, der gesagt hat, es gibt kein Code-Wort. Und ich sagte, ‚Klar, kein Code-Wort’. Und da gab es eben Punkte, die ich aber lieber nicht erzählen möchte, mehrere verschiedene, später dann einen, der mich total erschreckt hat, als es einfach zu weit ging. Ich hatte kein CodeWort, ich musste da durch. Und das Vertrauen war einfach weg. Das war futsch. Und damit war auch die Trennung da. Diese Erfahrung hatte zur Konsequenz, dass sich Maria für meh190 rere Jahre von sadomasochistischen Sexualpraktiken distanzierte, der Wunsch nach Unterwerfung aber weiterhin ihre Phantasien und Vorstellungen von Sexualität dominierte. In dieser Zeit litt sie unter ständigem Druck, anders zu sein, als die anderen, was schließlich zu dem Versuch führte, diese ‚Krankheit’ zu therapieren: Also wenn man das so entdeckt, vor allem am Anfang, dann weiß man schon, dass man nicht normal ist. Wenn man das erstemal direkt sagt, ‚Ich bin Masochist’, dann würde man es schon am liebsten jedem erzählen, rausschreien, und möchte auch so akzeptiert werden. Aber die Angst ist zu groß, weil man sich fragt, ‚Was halten die Leute von einem?’, und man hat Angst, dass auf einem rumgetrampelt wird. (...) Ich hatte Probleme damit, deshalb bin ich zum Psychiater gegangen. Ich habe gesagt, ‚Ich bin ja nicht normal und habe versucht, das zu verdrängen. (...) Aber im Endeffekt habe ich die Phantasie eben doch immer noch gehabt. Deshalb lebte sie ihre Bedürfnisse über Pornohefte und -filme und über Zeitungsberichte von Vergewaltigungen aus. Irgendwann war der Punkt erreicht, dass ihr die mediale Befriedigung nicht mehr genügte: Und da habe ich irgendwann gesagt, ‚Es muss wieder sein’. Nach fünf Jahren Pause bin ich wieder eingestiegen. Da war es mit den Dingern vorbei. Seit ich das wieder auslebe, liegen die Heftchen rum. Ihr Negativerlebnis hat sie mittlerweile verarbeitet. Sie interpretiert es dahingehend, dass sie damals einfach an den Falschen geraten ist. Im zweiten Anlauf hat sie es geschafft, sich in einer bestehenden SM-Szene zu etablieren, wo sie auch regelmäßig an Veranstaltungen (wie z.B. Gruppentreffen und Feten) teilnimmt. Hier kann sie ihre Neigungen entsprechend ihren Vorstellungen realisieren. Differenziert man Sadomasochismus nach unterschiedlichen Graden von Dominanz und Submission, dann versteht Maria ihre passive Rolle eindeutig als die einer Sklavin. Sie verwendet diesen Begriff um zu unterstreichen, dass sie ihren Wunsch nach Unterwerfung nicht nur zeitlich begrenzt, innerhalb eines bestimmten Rahmens realisieren möchte: Für mich ist es ernst. (...) Früher war es so, dass ich dachte, das ist so eine Art Spiel. Man geht ins Schlafzimmer, macht die Tür zu und dann ist man die Sklavin. Aber ich habe inzwischen soviel erlebt, dass ich merke, dass ich nur im Ganzen Sklavin sein kann. Dass ich eben nicht einfach die Tür zumachen will, um dann eine Sklavin zu sein, wieder rauszugehen, um eine Frau zu sein. Das bringt mir nicht viel. (...) Ich meine, ein Schwuler ist auch nicht auf einmal hetero, wenn er über die Straße geht. Er ist schwul. Ich möchte mir eben ständig bewusst sein, dass ich eine Sklavin bin. Ich brauche eine feste Führung. Vor diesem Hintergrund gestaltet sich die Beziehung zu einem Partner, dem sie sich unterwirft, was beispielsweise bedeutet, dass sie auch in seiner Abwesenheit seinen Befehlen Folge leistet. Zum Zeitpunkt des Interviews hat Maria einen Herrn, der sie dominiert. Da dieser wiederum eine feste Freundin hat, kann Maria nur seine Zweitsklavin sein. Dieser Zustand ist für sie zwar nicht sehr befriedigend, aber eine ausreichende Zwischenlösung, bis sie jemanden ge191 funden hat, den sie nicht mit einer anderen Frau teilen muss: Ich strebe zwar etwas Festes an, aber im Endeffekt hilft mir das jetzt, über meine Phantasien hinwegzukommen und nicht unbedingt jeden verbissen anzuspringen, wo es geht. Also ich strebe schon eine dauerhafte Beziehung an. Das Verhältnis von Dominanz und Unterwerfung haben Maria und ihr Herr über einen Vertrag geregelt, in dem sie ihm die Verfügungsgewalt über ihren Körper übertragen hat: Wir haben einen richtigen schriftlichen Vertrag, mit Blut unterzeichnet, der besagt, dass er volle Verfügungsgewalt über meinen Körper hat.(...) Wir haben diesen Vertrag jetzt erstmal vorläufig für ein halbes Jahr, aber eben verlängerungsfähig gemacht. SM-Identität und Alltagsrolle Maria hat keine Probleme mit sich und ihrem sozialen Umfeld ob dieser Sklavinnenrolle. Abgesehen von ihrem Beruf, wo sie ihre Neigung verbergen muss, wissen Verwandte und Freunde von ihrer Leidenschaft, sich einem Mann zu unterwerfen: Ich lebe zum Beispiel mit einer Freundin zusammen, die normal ist. Sie weiß es. Meine andere Freundin, die ist auch normal und die weiß das auch. Meine Mutter weiß es. Es ist also so, dass die Leute, die mir wichtig sind, es wissen. Und die Leute, die mir nichts bedeuten oder Arbeitskollegen, warum soll ich denen das erzählen? Wenn die mich so sehen würden, wie jetzt und ich würde auch noch sagen ‚Ja, ich bin Masochistin’, die würden doch meinen, sie könnten mich dann jede Pause flachlegen. Um Gottes willen. (...). Nicht nur an Gruppenabenden, sondern auch sonst weist ihr alltägliches Outfit auf ihre Neigungen und die Zugehörigkeit zur SM-Szene hin; Maria ist in der Regel ganz schwarz und sehr feminin gekleidet. Als wir sie kennenlernten, trug sie ein Kleid mit sehr vielen Schlitzen, ein Hundehalsband aus schwarzem Leder mit Nieten beschlagen und hohe Schuhe. Wenn ihr Herr es verlangt, ist sie auch bereit, sich an der Leine mit ihm in der Öffentlichkeit zu zeigen. Dies zeigte sich auch nach unserem Interview, als er sie abholte und an der Leine aus der Wohnung auf die Straße führte. Davon ausgenommen sind jedoch berufsbezogene Situationen. Wir trafen Maria zu einem späteren Zeitpunkt zufällig an ihrem Arbeitsplatz, wo sie sich derart bieder und brav präsentierte, dass sie fast nicht wiederzuerkennen war. Sklavin zu sein ist für Maria nicht gleichbedeutend mit dem Abtreten ihrer Rechte auf Selbstverwirklichung und Entfaltung der persönlichen Freiheit. Dies wird zum einen aus ihrem Verhalten in anderen sozialen Lebenszusammenhängen deutlich: Natürlich kann ich als Sklavin trotzdem eigene Bereiche haben, eigene Interessen. Ich kann meine Arbeit haben und man hat auch bestimmt seine Freunde. Das alles bedeutet nicht, meinen Willen zu brechen, aber ihn zu biegen. In der Beziehung, die ich jetzt habe, habe ich durchaus mein eigenes Leben. (...) Man ist trotzdem selbständig, man arbeitet, man tut und macht, und ich trage zum Bei192 spiel das Halsband auf der Arbeit nicht, ansonsten immer. Es ist mir eben ständig bewusst, dass ich eine Sklavin bin, aber ich bin trotzdem selbständig, kann trotzdem mit Leuten verhandeln, ich kann trotzdem meinen Willen durchsetzen. Zum anderen relativiert sich ihr Sklavinnenverhalten, berücksichtigt man die Einschränkungen, die sie selbst aus organisatorischen und moralischen Gründen ihrem Herrn gegenüber formuliert hat, denn der o.g. Vertrag definiert Pflichten und Rechte auf beiden Seiten. Auch Marias Herr als derjenige, der eigentlich bestimmt, wann sie sich treffen und was sie dann unternehmen, muss sich an bestimmte Regeln halten und beispielsweise ihre beruflichen Verpflichtungen berücksichtigen. Hinzu kommt, dass der Vertrag ein fiktives Konstrukt darstellt und jeder der Unterzeichnenden weiß, dass es keine gültigen Rechtsgrundlagen dafür gibt: Wenn eben Verleih-Aktionen sind, dann kommt mein Dienstplan eben dran und dann wird halt geguckt, wann ich Zeit habe und dann wird das eben abgesprochen. Das ist zum Beispiel auch so, dass bei Verleih gewisse Tabus bestehen, wo ich gesagt habe, dass ich das auf keinen Fall will. Das sind Pinkel- und Scheißespiele oder Sachen mit viel Blut. (...) Wir akzeptieren uns eben dennoch. Ich kann mit meinem Herrn diskutieren und ich kann ihm klarmachen, wer ich bin. Ich bin für ihn trotzdem ein Mensch. Also für mich ist wichtig, dass ich auch von meinem Herrn akzeptiert werde. Außerdem ist der Vertrag Endeffekt null und nichtig. Wenn man das jetzt ganz krass als normaler Mensch sieht, kann ich jederzeit sagen, ‚Du kannst dir deinen Vertrag sonstwohin stecken, du kannst ihn zerknüllen und wegschmeißen’. Aber für mich ist es eben ein Vertrag, der von der Ehre her bindet und der eben im Endeffekt beidseitig oder einseitig auflösbar ist. (...) SM macht man im Endeffekt, wenn man eben Lust hat. Maria begreift sich deshalb auch nicht als bemitleidenswerte Frau, die unterworfen wurde, sondern betont, dass sie sich bewusst und freiwillig einem Mann unterwirft, den sie sich zudem vorher genau ausgesucht hat: Der Unterschied besteht in einer gewissen Freiwilligkeit. Ich meine, wenn jahrelang Frauen unterdrückt worden sind, gezwungen wurden, am Herd und in der Küche zu stehen und in die Kirche zu gehen, dann ist das aus Zwang heraus geschehen. Das ist für mich dann ungeil. Was natürlich nicht heißen soll, dass eine Hausfrau grundsätzlich unemanzipiert ist. Es gibt Hausfrauen, die sind genauso emanzipiert wie eine Karrierefrau. So bezeichnet sich Maria trotz ihres Wunsches nach Unterwerfung als emanzipierte und selbständige Frau, die keineswegs in das Bild des passiven Hausmütterchens paßt, das seine Erfüllung und Pflicht darin sieht, die Wünsche des Mannes zu befriedigen. Sie ist durchaus in der Lage, die eigenen Bedürnisse zu artikulieren und durchzusetzen: Also ich muss ehrlich sagen, ich bezeichne mich selber schon als emanzipiert. Nicht als Emanze, aber als emanzipiert. Also ich arbeite, ich bin eigentlich auch so erzogen worden. Ich bin zum Beispiel haushaltstechnisch eine absolute Niete. Also ich kann nicht kochen und ich sehe eigentlich auch nicht meinen Sinn des Lebens darin, irgendjemandem hinterherzuräumen. Ich habe 193 so eine Beziehung hinter mir, also eine ‚normale’ Beziehung, wo ich mit einem Pascha zusammen war. (...) Es gibt einen Unterschied zwischen Pascha und Herr und die meisten Sadisten, die ich kenne, die kochen selber, die waschen selber ab, die kochen ihren Kaffee selber, die staubsaugen selber. Wenn irgendwas ist, dann eher in der Art von einer Inszenierung. Dass der Herr der nackten Sklavin ein Schürzchen umbindet und sagt: „Jetzt mach’ den Abwasch! Wenn du nicht in so und so lange fertig bist, dann...“ Aber das würde nicht jeden Tag gehen, da wäre dann der Kick raus. Das ist eigentlich nicht so mein Ding. Ich sehe mich als sehr emanzipierte Frau. Und ich bin auch nicht der Typ, dem man so leicht über den Mund fährt. Ich kann mich schon durchsetzen. Im Gegenteil, ich glaube, ich bin eher in der normalen Welt eine starke Frau. Also wenn ich normal jemanden in einer Diskothek kennenlerne, dann sind das fast nur Männer, die eine starke Frau suchen, die einen Halt suchen. Was anderes lerne ich gar nicht kennen. Durchweg keine Sadisten, eher Mamajungs. Das Ausleben ihrer masochistischen Neigugnen als Sklavin stellt ihrer Meinung nach selbst schon einen emanzipatorischen Akt dar. Gerade in der heutigen Zeit, in der Gleichberechtigung einen wichtigen Stellenwert einnimmt, erfordere das Eingeständnis und die Realisation sadomasochistischen und darum abweichenden Verhaltens Ich-Stärke und Sicherheit: Ich sehe meinen Masochismus als Emanzipation. Weil ich mich wirklich insofern emanzipiere, dass ich das mache, wozu ich Lust habe, auch wenn es den Feministinnen überhaupt nicht gefällt. Dass ich also Reizwäsche trage, wenn ich ‚will’, oder dass ich eben angekettet auf die Straße gehe, wenn ich ‚will’. Und das ist auch eine Freiheit, meine Freiheit. Für die hat keine Feministin gekämpft. Ich kämpfe nicht, um in Latzhosen rumzurennen und Männerhasser zu sein. Ich mag Männer und ich akzeptiere sie. Ich lasse mir von ihnen nicht alles sagen, es sei denn, mein Herr ist es, der etwas verlangt. (...) Ich glaube, eine Frau oder ein Mann, die oder der nicht selbstbewusst ist, kann sich auch gar nicht in die Situation hineinbegeben. Rassismus, Vergewaltigung, Kindesmisshandlung und Sklaverei sind für Maria tabu. Die Möglichkeit, auf ihre Sklavinnenrolle zu verzichten, erscheint ihr jedoch im Hinblick auf ihre bisherigen positiven wie auch negativen Erfahrungen ausgeschlossen und eine Sexualität, in der beide Partner gleichberechtigt sind, nicht wünschenswert: Ich mache meine Sachen ‚freiwillig’. Ich habe es mir ja ausgesucht. Ich bin nicht unterdrückt worden, sondern ich habe gesagt, ‚Ich will unterdrückt werden. (...) Ich habe ja fünf Jahre, nachdem ich schon SMErfahrungen gemacht hatte, ‚normale’ Partnerschaften gehabt. Und ich habe einfach gemerkt, mir fehlt irgendwas. (...) Also darauf möchte und kann ich auf keinen Fall verzichten. 194 Fall 4: Eva - ...eine stinknormale Frau von nebenan Von einem gleichgesinnten Freund erfuhr Eva von unserem Forschungsprojekt, woraufhin sie uns in einem ausführlichen Brief ihre Unterstützung anbot. Zum Interview lud sie uns in ihre Wohnung ein. Ihre Kleidung ist vollkommen unauffällig: weder Schmuck noch spezifische Kleidungsstücke verraten etwas über ihre sadomasochistischen Neigungen. Eva macht einen sehr selbstsicheren, aber freundlichen Eindruck. In Bezug auf SM nimmt sie ausschließlich die aktive Rolle ein. Lebensumstände Zum Zeitpunkt der Kontaktaufnahme ist sie 52 Jahre alt und lebt mit ihrem Mann, mit dem sie seit 30 Jahren verheiratet ist und Kinder hat, in einer Großstadt. Eva sollte Abitur machen, hat aber gegen den Willen ihrer Eltern mit mittlerer Reife eine Ausbildung an einer Fachschule als Erzieherin absolviert und ist seit ihrer Heirat Hausfrau. Biographischer Hintergrund Während des Krieges und in den ersten Nachkriegsjahren wuchs Eva mit ihrer Schwester zusammen auf dem Land auf. Außer den besonderen Bedingungen dieser Zeit weiß sie nichts Außergewöhnliches zu berichten. Sie sieht keine Verknüpfung zwischen sadomasochistischen Neigungen und spezifischen Kindheitserfahrungen oder Erziehungsstilen. Sie versucht auch nicht, ihre dominanten Aktivitäten über eine mögliche Veranlagung zu erklären. Früher war da absolut nichts. Wenn irgendwelche Leute sagen, es läge an der Kindheit und so, dann sehe ich das nicht so. (...) Ich habe eine sehr autoritäre Erziehung hinter mir, wie viele in meiner Generation. Aber meine Güte, das ist für mich kein Kriterium. Wir hatten, was wir brauchten und unsere Eltern taten verantwortlich für uns ihre Pflicht an uns Kindern. Ich habe keinen prügelnden Vater gehabt und keine Mutter, die um sich geschlagen hat. Die waren streng, aber das war damals ja jeder. Auch bezüglich ihrer schulischen Erfahrungen schildert Eva keine nennenswerten Ereignisse: Ich kann mich an nichts Spektakuläres erinnern. Ich habe die Schule nie geliebt, war immer eine mittlere bis gute Schülerin, nie herausragend, nie schlecht. (...) Um es aber nochmals zu sagen: Es ist schon möglich, dass Frauen vielleicht eher durch die Erziehung zum lieben, gehorsamen Mädchen und zu ebensolcher Frau zum Masochismus kommen. Aber genauso ist es doch auch vorstellbar, dass sie gerade deswegen nicht masochistisch werden, weil sie sich eben wehren wollen. Ich hätte aufgrund meiner Er- 195 ziehung ebenso masochistisch werden können. Es war durchaus drin. Ich war ja nicht schon immer dominierend. Ich glaube nicht, dass masochistische Frauen dazu gemacht werden. Zugang und Erfahrungen Eva gehört zu den Frauen, die über ihren (Lebens)Partner mit sadomasochistischen Praktiken konfrontiert wurden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie keinerlei Phantasien und Interessen in diesem Bereich: Das ist wie in vielen stinknormalen Ehen durch meinen Mann gewesen, der Ambitionen hatte, von denen er zunächst selber nichts wusste. Ich bin also eigentlich kein Typ, der schon immer dominant war, früher, im Gegenteil. Ich sagte ja bereits, ich wäre sicherlich eine total brave, vielleicht sogar masochistische Frau gewesen, wenn ich einen anderen Mann gehabt hätte. Da hätte ich wahrscheinlich auch mitgemacht. Ich weiß allerdings nicht, ob ich Gefallen daran gefunden hätte. Ich bin also wirklich erst durch meine Ehe dazugekommen. Eva hat ihren Mann gegen den Willen ihrer Eltern geheiratet und betont dabei ausdrücklich, dass es eine Liebesheirat war. Gleich zu Beginn ihrer Ehe stellte sich heraus, dass ihr Mann sadomasochistische Interessen hatte. Obwohl es ihr anfangs schwer gefallen ist, überhaupt Verständnis dafür zu haben, ging sie zunächst lediglich aus Zuneigung zu ihrem Mann und der guten Beziehung auf dessen Bedürfnisse ein, ohne jedoch besonderen Gefallen daran zu finden: Wir haben eben sehr gut zusammen harmoniert und ich war bereit, mitzumachen. Und mehr war das am Anfang nicht. Ich habe selber dann angefangen, dass ich erst einmal versucht habe, nur tolerant zu sein, zumal weil die Beziehung geklappt hat. Und dann habe ich versucht mitzumachen. Anfangs natürlich mit sehr, sehr viel Zurückhaltung und Vorbehalten; ich bin stockkonservativ erzogen und Sie können sich vorstellen, was das heißt, wenn man dann mit SM konfrontiert wird, auch wenn es ganz, ganz soft war. (...) Es ist erstaunlich, wie lernfähig man ist, wenn man nur will und sich ein bisschen Mühe gibt, wenn auch zuerst nur aus Liebe zu einem anderen Menschen und nicht aus eigenem Wunsch und Bedürfnis. Aus einer anfänglichen Toleranz und dem bloßen Mitmachen dem Partner zuliebe entwickelte sich bei ihr ein eigenständiges Interesse an der aktiven Rolle: Und irgendwann habe ich die Neigungen und Wünsche akzeptiert und festgestellt, dass ich selbst Spaß daran habe. (...) Ich habe dann auch sehr schnell gemerkt, welche Möglichkeiten sich mir als aktive Frau erschlossen haben und sie immer mehr ausgelebt: Macht zu haben über den Mann, über seine Sexualität, über seinen Körper, ja über sein gesamtes Wohlbefinden. Seitdem habe ich auf vielfältige Weise größten Genuss aus solchen Begegnungen gezogen und habe inzwischen ein ziemlich großes Selbstbewusstsein erlangt. Dominanz und Unterwerfung praktizierte Eva zunächst nur mit ihrem Ehemann, wobei sich die Aktivitäten in Richtung Erziehung und Flagellantismus entwickelten, weshalb sie auch 196 nicht als Domina, sondern eher als Erzieherin bezeichnet werden möchte. Die Verselbständigung und Vertiefung des Interesses führte aber dazu, dass sie sich über Anzeigen auch andere Kontakte suchte. So kann Eva mittlerweile auf eine Vielzahl unterschiedlicher Erfahrungen zurückblicken: Durch viele Umstände und Ereignisse in meinem Leben bin ich zu dem geworden, was ich heute bin: Eine Erzieherin, Herrin und Gebieterin aus Leidenschaft und mit Spaß und Freude daran, entsprechend veranlagte Männer in meine Dienste treten zu lassen. Auch auf viele Briefe solcher Männer, die mir schrieben, habe ich geantwortet. Mit vielen habe ich lange Gespräche geführt und einigen allein damit vieles geben können. Entsprechende Anzeigen führen mich häufig in Versuchung, wieder einmal zu reagieren. Eva betont, dass ihre erzieherischen Aktivitäten niemals mit einer professionellen, d.h. finanziellen Absicht verbunden waren, sondern immer nur aus Leidenschaft und eigenem Spaß an der Sache. Aus diesem Interesse heraus trifft sie sich nach ausführlichem Briefwechsel hin und wieder mit anderen Männern, um ihre dominanten Neigungen auszuleben. Seit fünf Jahren hat sie eine reine SM-Beziehung zu einem Mann, den sie regelmäßig für einen Tag besucht, um ihn zu dominieren: Ich fahre morgens hin und am späten Nachmittag zurück. Das zieht sich aber dann den ganzen Tag durch. Auch über ihre persönlichen Beziehungen hinaus ist Eva im SM-Bereich engagiert. Sie schreibt sehr viel und hält auch verschiedene SM-Erlebnisse schriftlich fest, um daraus zu lernen und möglicherweise auch mal sowas weiterzugeben. Desweiteren war Eva für verschiedene kommerzielle SM-Magazine und -Zeitschriften als Schriftstellerin tätig, wobei sie in diesem Bereich schlechte Erfahrungen machen musste und ihre Texte deshalb nur noch für ein sehr ausgewähltes Publikum verfaßt: Ich habe eine besonders große Phantasie und eine enorme Vorstellungsgabe, die ich schon mehrfach dazu genutzt habe, überaus reizvolle und sicherlich auch interessante Geschichten zu schreiben. Allerdings sind sie nur für SMMenschen interessant und reizvoll und es gibt keine Möglichkeit, sie einem größeren Kreis zugängig zu machen; denn einschlägige Magazine reißen sie mir zwar aus der Hand und drucken sie auch, aber sie tun es für nicht einmal ein Danke, geschweige denn ein Belegexpemplar oder gar ein Honorar. Sie wollen nur daran verdienen. Nur, ausbeuten lasse ich mich denn doch nicht. So schreibe ich zwar, aber es gibt nur wenige Menschen, die es lesen und die ich sehr damit erfreuen kann. Ich habe zweifellos genügend Texte geschrieben. Die meisten Texte und Geschichten etc. habe ich für meinen Mann geschrieben. Ich habe aber auch schon beispielsweise für meinen Sklaven zum Geburtstag eine Geschichte verfaßt. Ich schreibe sehr viel auf meinen Bahnfahrten und es ist durchaus repräsentativ, was ich schreibe: Gedanken, Leserbriefe und eben Geschichten. Für meinen Mann habe ich dann noch vor zwei Jahren eine Zeitschrift begonnen, ‚Utopie 2000’, an der er viel Spaß hat, aber sie ist sehr auf ihn zugeschnitten. Ich habe auch Gedichte, Geschichten und Briefe als Danke von 197 Sklaven bekommen, auch von welchen, die auf meine Veröffentlichungen reagierten. Daneben hat Eva auch schon Fotos von sich zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt. So zeigte sie uns ein Magazin, in dem sie in schwarzen Lederstiefeln und Lederrock mit einer Peitsche in der Hand zu sehen war. Auf weitere Szenekontakte wie beispielsweise den Besuch von Clubabenden, Vorführungen etc. möchte sie jedoch verzichten, da ihr solche Veranstaltungen nicht authentisch genug erscheinen: Aber in keinem Fall könnte ich zu SM etwas sagen, wenn es um Szenen geht. Ich habe da hineingerochen, wie man sagt. Das Zurschaustellen in Clubs beispielsweise habe ich ein einziges Mal erlebt und es war, außer sehr unterhaltsam, eigentlich ziemlich aufgesetzt. (...) Ich habe eben ‚nur’ ganz private Erfahrungen, geboren aus der eigenen Lust und Leidenschaft, der eigenen Freude und dem eigenen Spaß an diesem Metier. SM-Identität und Alltagsrolle Eva ist eine Frau, die sehr vielseitig interessiert ist und ihr Freizeitverhalten aktiv gestaltet. Sie schreibt nicht nur im SM-Bereich, sondern beispielsweise auch seit vierzig Jahren Tagebuch, seit über dreißig Jahren Familienchronik, Reiseberichte etc. Über Freunde, Probleme, Schwierigkeiten tobe ich mich auch schriftlich aus und bewältige damit durchaus fast alle Schwierigkeiten. Schreiben ist meine große Leidenschaft. Darüber hinaus ist sie engagierte Umweltschützerin, Hobbyschneiderin und -photographin und nimmt in diesem Zusammenhang aktiv am Vereinsleben teil. Sie hat ein positives Selbstbild und beschreibt sich als eine Frau, die mit sich und ihrem Leben rundum zufrieden ist. In ihrer Beziehung zu ihrem Mann war und ist immer genügend Freiraum für eigenständige Interessen und Unternehmungen, was von seiner Seite aus intensiv unterstützt wird. In ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter fühlt sie sich wohl. Sie glaubt, ihre Kinder liebevoll, unter großem Einsatz und mit viel Zuwendung erzogen zu haben. Auch in Bezug auf ihre sadomasochistischen Aktivitäten hat Eva keine Probleme. Sie wendet sich entschieden gegen die These, SM-Interessierte seien krank oder pervers und begreift sich selbst als eine Frau, wie jede andere: Wissen Sie, es ist mir wichtig, wenn sie unser Interview veröffentlichen sollten, dass es rüberkommt, dass ich eine ganz normale Frau bin, die mit beiden Beinen voll im Leben steht. Darauf lege ich großen Wert, dass man sieht, das ist eine stinknormale Frau wie die von nebenan. Auch wenn sich SM manchmal durch unseren ganzen Ehealltag zieht, so sind es immer nur Momente oder Phasen. Es ist für mich ein Prickel, ein Flirren, das auch nach dreißig Jahren noch interessant ist. Weil sie aber mit Sicherheit zu wissen glaubt, dass ihre Freunde sich von ihr und ihrem Mann distanzieren würden, wenn sie von ihrer Vorliebe für sadomasochistische Sexualpraktiken wüssten, schweigt sie sich ihnen gegenüber darüber lieber aus: Ich habe keine Negativerfahrungen mit Nicht-SM-Bekannten. Die wenigen, die wir haben, würden aber sofort weg 198 sein, wenn sie es wüssten. Für Eva sind sadomasochistische Sexualpraktiken nicht mit Gewalt zu verwechseln, ein Grund, weshalb sie die Argumentation der Feministinnen nicht verstehen kann: Ich halte mich durchaus für emanzipiert, allerdings anders, als es Feministinnen meinen. (...) Ich kann auch nicht verstehen, warum sich Feministinnen über SM aufregen. Das ist doch keine Gewalt, das ist doch etwas ganz anderes. Hier treffen sich Menschen, die miteinander auf ganz bestimmten Wellenlängen harmonieren. Der Masochist will doch die Gewalt. Sie ist für ihn Lust. Sadismus scheint hier auch völlig falsch verstanden zu werden. Beide wollen doch, was sie tun. Ein wahrer Sadist würde hierauf keine Rücksicht nehmen. (...) Ich habe selbst schon eine masochistische Frau erlebt und bin der Meinung, dass diese Frau den demütigenden, quälenden, sexuell ausbeutenden Mann genauso genossen hat, wie ich es eben von masochistischen Männern her kenne. Das heißt aber doch noch lange nicht, dass ich der Meinung bin, dass Männer recht haben, wenn sie denn pauschal meinen, Frauen müsste man es besorgen, die wollten es nicht anders. Das ist etwas ganz anderes. Das ist doch nicht das gleiche als wenn junge Frauen beispielsweise bei Männern bleiben, die gewalttätig sind. Mein Mann hätte mich ein einziges Mal in unserer Ehe vergewaltigt, wenn ich es als solches empfunden hätte. Ich wäre sofort weg gewesen. SM ist etwas ganz anderes. Ihre dominante Rolle im sadomasochistischen Arrangement möchte Eva nicht als Rache oder gar Männerhaß verstanden wissen, im Gegenteil; sie hat ein positives Männerbild: Als eine besonders wichtige Aussage möchte ich eine Feststellung an den Anfang stellen: Ich mag Männer im Allgemeinen und ‚dienende’ Männer im Besonderen. (...) Wenn ich mir da angucke, was ich da inzwischen kennengelernt habe, dann sage ich mir, also so gewalttätig sind die Männer gar nicht. (...) Ich bin nicht bereit, alle Männer als in irgendeiner Art gewalttätig anzusehen, wie ich - sieht man einmal davon ab, dass ich Pauschalisierungen nicht mag auch nicht bereit bin, Frauen als in jedem Fall friedliebender anzusehen. Toleranz gegenüber denjenigen, die von den gesellschaftlichen Normen und Werten abweichen, fordert sie für sich und für all diejenigen, die davon betroffen sind. Dies war auch ihr Motiv, uns bei unserer Studie zu unterstützen: Ich habe im Laufe von Gesprächen schon viel Negatives erfahren. Vor allen Dingen auch viel Schlimmes in der Weise, dass die Leute auch nichts ausleben können. Nicht mal die kleinste Kleinigkeit. Und dann sind sie permanent frustriert. Wenn sie so eine Leidenschaft haben, und die können es nirgendwo auslassen, das muss ein wahnsinniger Frust sein. Das sehe ich schon als sehr negativ. (...) Es müsste zumindest möglich sein, dazu stehen zu können, ohne gleich abzufallen oder als krank oder unnormal zu gelten. Auch Kontakte, wenigstens zu Gleichgesinnten, müssten leichter sein, offener. Ich bin aber nicht bereit, mich von intoleranten Menschen diskriminieren zu lassen, die mich ja gar nicht verstehen wollen. Mich bedrückt in dieser Gesellschaft, dass ich sehr wohl mehr Toleranz unter Erwachsenen für möglich hielte. Ich behandele Menschen, die meine Neigung 199 nicht teilen können, doch auch nicht als unnormal. Denn wer maßt sich denn an, zu bestimmen, was eigentlich normal ist? Obwohl auch Eva als dominante Frau schon negative Erfahrungen machte, (beispielsweise in dem einen Fall, als sich ein sadistischer Mann als passiv ausgegeben hat, um auf diese Weise eine Frau zu finden, die wirklich nicht dominiert werden will), steht sie sadomasochistischen Sexualpraktiken insgesamt gesehen sehr positiv gegenüber. Ihr Resümee: Wenn ich auf meine Eltern gehört hätte und eine brave Tochter gewesen wäre, hätte ich meinen Mann niemals geheiratet. Welch ein Verlust wäre das in meinem Leben gewesen. Ich habe alles so gemacht, wie ich es mir wünschte - und nichts bereut. Seit ich SM mache, hat sich vieles geändert. Ich bin selbstbewusster, sicherer im Umgang mit Menschen geworden, ganz allgemein und insbesondere mit Männern, mit allen Männern! (...) Ich habe Männern gegenüber eine selbstbewusste Einstellung, auch als ganz ‚normale’ Frau. Ich begegne den meisten Männern schließlich als ganz normale Frau. Mann spürt, ich lasse mich nicht in die Ecke drücken. (...) Mein Denken ist wesentlich großzügiger geworden, wenn es um menschliche ‚Schwächen’ geht, die ich bei anderen tolerieren will. Letzteres habe ich auch früher schon versucht, aber heute gelingt es mir besser. Ich kann Sätze die so anfangen: die Lesben, die Schwulen, die Studenten, die Hausfrauen, die Männer, die Ausländer, die Frauen, die Perversen, die Beamten, die Penner usw., einfach nicht ausstehen. Wir vergessen, dass wir alle Menschen sind, mit Schwächen, mit Fehlern, aber auch mit Stärken und vielen positiven Eigenschaften, die wir bei anderen nur allzu vorschnell verdammen wollen. Vielleicht sogar, weil wir neidisch sind, dass andere auch glücklich leben, zufrieden sind, gut erzogene Kinder haben usw., auch wenn sie ja alles so anders machen, als wir selbst. Wir meinen, jeder für sich, und ich nehme mich da nicht aus, auch wenn ich mich ständig bemühe, mich zu bessern, nur was wir selbst machen ist immer richtig. Nur das ist eben der große Irrtum. Auch sollten ihrer Meinung nach insbesondere Frauen für die Bedürfnisse ihrer Partner offener sein, was aber nicht bedeuten soll, dass sie Sadomasochismus unter allen Umständen gegen ihren Willen praktizieren sollten rein aus der Angst, ihre Männer an die Konkurrenz oder an irgendwelche professionelle Frauen zu verlieren. Aufgrund der Erfahrung, die Eva mit ihrem Mann gemacht hat, aber auch vor dem Hintergrund ihrer sonstigen Aktivitäten als Domina hält sie es für durchaus möglich, sadomasochistische Neigungen in einer guten Beziehung anzusprechen und zu prüfen, inwieweit es sich innerhalb der Partnerschaft realisieren lässt: Es gibt viele, zuviele Frauen, die doch gar nicht bereit sind, auf ihre Männer einzugehen. Es gibt Frauen, die meinen, ihr Mann sei pervers - sie sagen wirklich pervers -, weil es ihn erregt, wenn sie ihm z.B. in schwarzen Strümpfen kommen. Sie sind der Meinung, der Mann solle dann zu einer Nutte gehen, mit solchen Gelüsten. Um was bringen sich diese Frauen? Sie könnten die Sexualität ihres Mannes beherrschen, wenn sie es nur wollten, und meinen dennoch, der Mann beherr- 200 sche sie. Wer ist denn derjenige, der auf Visionelles reagiert? Das sind doch die Männer. Warum sollte man diese Schwäche nicht nutzen, für sich? (...) Ich konnte S/M-veranlagte Männer überzeugen, Mut zu haben und mit ihren Frauen zu sprechen. In diesen Fällen, wo es die Männer getan haben, war es positiv. Die Frauen haben voll mitgemacht und sogar ‚harten’ SM nicht nur toleriert. Auf solche Erfolge bin ich dann besonders stolz, zumal mir sowohl die ehemaligen Sklaven als auch insbesondere ihre Frauen sehr dankbar waren. Eva möchte nicht auf SM verzichten, auch wenn sie betont, dass sie - im Gegensatz zu vielen masochistischen Männern - nicht abhängig ist von dieser Art der Sexualität. Auch ist es ihr mittlerweile nicht mehr ganz so wichtig, ihre Neigungen um jeden Preis zu verstecken und zu verschweigen. Ich lasse es heute durchaus schon mal raus. Auch um die Toleranz meiner Mitmenschen zu prüfen. Bei Männern habe ich da wesentlich bessere Karten. (...) In jedem Fall werde ich nicht davon ablassen, sondern eher noch mutiger dazu stehen! Fall 5: Dorothea - ...Konflikte habe ich nie gehabt Um den umständehalber verlorengegangenen Kontakt zu Gleichgesinnten wieder aufnehmen zu können, annoncierte Dorothea in einem einschlägigen Szene-Magazin, so dass diese alten Bekannten sich nach ihrem Umzug unter einer neuen Telefonnummer wieder bei ihr melden konnten. Auf diese Art und Weise konnten auch wir in Kontakt zu ihr treten. Nach anfänglichem Zögern bestellte sie uns schließlich in ein Appartement, von dem sie sagte, dass es einem Freund gehöre und das bei uns den Eindruck hinterließ, als würde es ausschließlich zum Zwecke der Realisierung sadomasochistischer Neigungen genutzt. Ganz im Gegenteil zur Ausstattung des Appartements ist Dorothea bei unserem Treffen völlig unauffällig gekleidet. Sie macht auf uns einen ruhigen, aber selbstsicheren Eindruck. Ihre sadomasochistische Rolle definiert sie als ausschließlich dominant. Lebensumstände Zum Zeitpunkt des Interviews ist Dorothea 50 Jahre alt. Sie hat studiert und bisher unterschiedliche Berufe ausgeübt: Elektro-Ingenieurin, Dolmetscherin, Chefsekretärin, Lektorin und Nachhilfelehrerin. Sie lebt alleine in ihrem Haus in einer mittleren Stadt. Dorothea ist heterosexuell und seit mehr als 25 Jahren als dominante Frau in der SM-Szene aktiv. 201 Biographischer Hintergrund Dorothea hatte keine angenehme Kindheit und Jugend. Ihre Mutter war sehr religiös und hat versucht, sie entsprechend dieser Vorstellungen zu erziehen. Alles Weltliche, angenehme und unterhaltsame Tätigkeiten waren für Dorothea verboten: Zum Beispiel das Spielen mit gleichaltrigen oder älteren Kindern, das Lesen von Unterhaltungsliteratur, der Besuch von Veranstaltungen eingeschlossen Kino, Theater, Jugendtreffen usw. Dorotheas Vater teilte die Auffassung der Mutter nicht. Dementsprechend gestaltete sich das Zusammenleben der Eheleute nicht sehr harmonisch und die Spannungen übetrugen sich auf Dorothea, bis die Eltern sich scheiden ließen: Und ich war natürlich betroffen von all diesem als Kind. (...) Ich bin da sehr viel hin- und hergeschoben worden und ausgenutzt und ausgespielt worden und mein Vater hat mich oft geschlagen, bloß um meiner Mutter damit eins auszuwischen. Also nicht, weil ich es vielleicht verdient gehabt hätte, sondern eigentlich nur, um ihr damit etwas zuzufügen. Um sich der repressiven Erziehung der Mutter zu entziehen, hat Dorothea ihr Zuhause nach der Pubertät verlassen. Sie war jedoch nicht in der Lage, sich selbst zu unterhalten und ging aus wirtschaftlichen Gründen eine Ehe ein, ohne Überzeung, bloß um nicht mehr zu Hause leben zu müssen. Zwischen den Mißständen in ihrer Kindheit und Jugend, die sich auch durch Schwierigkeiten in der Schule (Leistungsverweigerung, Sozialverhalten) äußerten, und ihren sadomasochistischen Aktivitäten sieht sie einen konkreten Zusammenhang: Kinder, die aus solchen Familien kommen, die stehen ganz schlecht da, die sind unselbständig. Dorothea wollte nicht in eine solche Situation der Unselbständigkeit geraten, sondern wollte eigentlich schon im Leben stehen. Natürlich hat sich das irgendwie in mir niedergeschlagen, so dass ich mir gesagt habe: ‚Jetzt will ich aber da stehen, also jetzt will ich was sein! Jetzt will ich die Sachen in die Hand nehmen und jetzt will ich das dirigieren! Und ich will selber sehen, wie ich zurechtkomme.’ Und das hat wahrscheinlich dann meine dominante Neigung unterstützt und gefördert. Sehr wahrscheinlich. Zugang und Erfahrungen Ihre ersten praktischen Erfahrungen mit SM machte Dorothea als junge Frau. Sie las in einer allgemeinen Tageszeitung die Anzeige eines passiven Mannes, auf die sie antwortete und sich daraufhin mit ihm traf: Auf diese Anzeige habe ich geschrieben und wir haben dann unsere netten Spiele gemacht und so hat das damals vor langer Zeit angefangen. Seit diesem Zeitpunkt hat Dorothea ihr Interesse an SM intensiviert und kultiviert. Sie realisiert ihre dominanten Neigungen mit unterschiedlichen Partnern, die sie über Kontaktanzeigen oder auch Clubabende und ähnliches kennenlernt. Dorothea betont, dass sie kei- 202 ne finanziellen Interessen mit Sadomasochismus verbindet und sich auch nicht als Handlangerin masochistischer Männer versteht, sondern ihr Interesse in der Sache begründet liegt: Vorausschicken möchte ich vor allen Dingen, dass ich eine Privatperson bin. Dass ich also nichts mit dieser Profi-Szene zu tun habe, die ja allerorten auftaucht. In jeder größeren Stadt gibt es ja sogenannte ‚Studios’, die von Profi-Frauen betrieben werden, die ja eigentlich nur einen Zweck verfolgen - nämlich: Geld zu kassieren. Und zu diesen Personen zähle ich mich also absolut überhaupt nicht. Ich habe kein professionelles Studio, das ich betreibe. Sondern ich bin eine Privatperson, die sich schon sehr lange mit diesem Thema befasst. Ich befasse mich hobbymäßig damit, das ist also nicht Grundlage eines finanziellen Geschäftes, sondern ich befasse mich einfach hobbymäßig damit.(...) Ich habe eine Passion. Ich tue das gerne. (...) Das ergreift mich. Mittlerweile hat Dorothea vielzählige Kontakte. Um ihre Person hat sich ein Kreis von SMInteressierten aus dem In- und Ausland gebildet, mit denen sie teilweise eine intime, freundschaftliche Beziehung verbindet: Im Laufe der Zeit habe ich einen netten Kreis um mich geschart. Das hat lange gedauert, das ist langsam gegangen, denn ich habe eigentlich nie annonciert. Das ist ein kleiner Kreis, der sehr exklusiv ist, was die Neigungen der betreffenden Personen angeht. (...) Ich habe da sehr viel erlebt, ich habe sehr viele Leute studiert. Psychologisch gesehen. (...) Und in meinem Kreis haben die Leute alle großes Vertrauen zu mir und sie berichten mir auch alles. Nicht nur, was in ihrem SM-Leben vorgeht, auch vieles darüber hinaus. Ich nehme an vielem Anteil, sie rufen mich oft an, sie fragen mich um Rat, sie sagen, ‚Dies und das und jenes ist passiert, was kannst du mir dazu sagen?’. Dorothea legt sehr viel Wert auf Bildung im traditionell bürgerlichen Sinne und die Fähigkeit, ‚guten SM’ zu praktizieren ist ihrer Meinung nach eng an den jeweiligen Bildungsstand der beteiligten Personen geknüpft: Also ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Frau, die keine Ausbildung in ihrem Leben genossen hat, die keine Möglichkeit gehabt hat, sich auch lebensmäßig zu entwickeln, eine dominante Frau sein könnte. Kann ich mir absolut nicht vorstellen. Also eine gewisse Grundlage muss da vorhanden sein. Sie können jetzt sagen: Ja, gut, ein Fabrikmädchen kann auch eine Peitsche in die Hand nehmen und kann auch irgendjemand schlagen. Sicher, das kann sie. Warum soll sie es nicht können? Und vielleicht kann sie das sogar mit einiger Brutalität machen. Aber ob das dann das Gegebene ist, das ist die andere Frage. (...) Sie wissen doch, je gebildeter ein Mensch ist, desto aufgeschlossener ist er, je mehr Hintergrund er hat, je mehr er studiert hat, desto mehr kann er aufnehmen, erfassen, übersehen. Der steht doch auf einem ganz anderen Podest. (...) Also jemand, der bloß in der Hilfsschule war, der kann bestimmt nicht mit Integralrechnung umgehen. Und da fängt ja die Mathematik erst an, interessant zu werden. Und so ist das in diesem Bereich auch. (...) Deswegen sagte ich ja, es kann auch ein Fabrikmädchen dominant sein und die kann auch einen 203 Partner finden, der zu ihr paßt. Warum nicht. Das kann sie. Aber sie hat natürlich nicht diesen Facettenreichtum. Deshalb finden sich in Dorotheas Zirkel Personen (Männer und Frauen) im Alter zwischen 20 und 80 Jahren, die vorwiegend aus der Oberschicht kommen. Sie achtet sehr darauf, dass diese Zusammensetzung auch so bleibt und trifft ihre Entscheidung, jemanden aufzunemen oder nicht, vor dem Hintergrund dieses Anspruchs: Es sind auch keine Leute aus irgendwelchen unteren Schichten. Das Niveau der Leute in meinem Kreis ist durchweg ein gehobenes, und zwar in jeder Beziehung: geistig, kulturell und wirtschaftlich. Viele der Leute sind Akademiker. Ärzte, Anwälte, Wissenschaftler, Manager, Geistliche, viele sind beruflich gut gestellt, selbständig oder in guten Positionen in der Wirtschaft oder beim Staat. Jüngere Leute studieren noch oder absolvieren langjährige Ausbildungen. Ich könnte natürlich einen Fabrikarbeiter in meinem Kreis aufnehmen oder einen Bauhilfsarbeiter. Mit dem würde ich aber nicht sehr glücklich werden. Dorothea hat eine Vielzahl von SM-Beziehungen zu verheirateten, passiven Männern, von denen einige eigens zu SM-Arrangements aus dem Ausland zu ihr nach Deutschland geflogen kommen. In den meisten Fällen verbergen die ihr bekannten Sadomasochisten ihre Neigungen vor ihren Frauen und ihrer Familie. Deshalb ist die Kontaktaufnahme ja eine Einbahnstraße. Also ist die Kontaktaufnahme von mir zu einem SM-Partner meistens abgeschnitten. Da gibt es vielleicht, wenn ich das über den Daumen peile, 20%, 30%, eher 20, wo ich in der Lage bin, jemanden anzurufen. Aber sonst findet der Kontakt immer von außen zu mir statt. (...) Aber zu Weihnachten oder sonstigen Gelegenheiten kriege ich dann Karten und Briefe, da steht dann drauf: ‚Liebe Domina, ich bin Dir so dankbar, dass Du mich verstehst, dass ich mit Dir allen Ernstes alles erleben kann, was ich erleben möchte, dass Du mich nicht auslachst, dass Du mich nicht von Dir weist’. Das freut mich dann auch. Einige ihrer älteren Freunde, Männer der ersten Stunde, sind mittlerweile schon verstorben. Nicht immer erfährt Dorothea davon. Einige haben aber beim Notar eine Nachricht hinterlassen, da die Familie der meist verheirateten Männer von der SM-Beziehung schließlich nichts weiß. Im Laufe der Jahre hat Dorothea die verschiedensten Werkzeuge und Hilfsmittel gesammelt, die sie für ihr Hobby hat anfertigen lassen oder auch selbst angefertigt hat. Mit diesen Utensilien und Möbeln hat sie einen Hobbyraum für private SM-Spiele eingerichtet, den sie auch anderen zur Verfügung stellt: Der Raum ist natürlich komplett eingerichtet. Was denken Sie, da habe ich ja doch schon vor langer Zeit angefangen, mir alles Mögliche auszudenken, was ich gerne hätte. Und das hat man damals ja alles nicht kaufen können. Da hat man ja Heimarbeit leisten müssen. Und da habe ich mir eben alles Mögliche ausgedacht, wie ich das möchte. Es ist so im Lauf der Zeit entstanden. Immer wieder was, immer noch was, immer noch was. (...) Ich habe auch selber Sachen gemacht, nicht nur alles anfertigen lassen. (...) Den Raum kann man tatsächlich benutzen. (...) Wenn man eine Partnerin hat und möchte mit 204 dieser Partnerin allein sein, unter sich, kann man diesen Raum benutzen. Ohne mich. Viele Leute haben ja keine Gelegenheit, wenn sie sich als Partner schon verstehen, ihre Handlungen dann durchzuführen, weil dann die Familie im Weg steht, weil die Kinder da sind, die Schwiegermutter da ist, weil die Räumlichkeiten nicht passen, weil die Nachbarn aufpassen, und, und, und. Dann können die eben einfach gar nichts tun. Aber sie möchten gerne was tun. Und da habe ich gedacht: ‚Na ja, warum soll man den Leuten nicht entgegenkommen?’ Da gibt es also sehr nette Paare, die mich besuchen und dann ihre Handlungen miteinander vornehmen. (...) Auch hier schau ich mir die Leute schon genau an, wer reinkommt und wer nicht. Also irgendwelche Schluris kommen zu mir nicht rein. (...) Die Auswahlkriterien sind vor allen Dingen Zuverlässigkeit, Diskretion und Korrektheit. Das sind drei Begriffe, das ist überhaupt oberstes Gebot, abgesehen vom Niveau. Aber das ist oberstes Gebot. (...) Darüber hinaus hat sie sich im SM-Bereich im Laufe der Zeit ein umfangreiches medizinisches Hobbywissen angeeignet: Ich habe immer Privatstudien getrieben auf diesem Gebiet und kenne auch einige Ärzte, mit denen ich viel diskutiert habe, so dass ich auf diesem Gebiet also sehr viel weiß. Ich wollte mal Medizin studieren, habe aber dann damals ein technisches Studium gewählt. SM-Identität und Alltagsrolle Dorothea beschreibt sich als eine selbstbewusste Frau, die vielseitig interessiert ist, vor allem sehr kunstbegeistert und -verständig. Also Musik, Literatur und Malerei sind für mich alles. Wegen ihrer dominanten Neigungen hatte Dorothea mit sich selbst niemals Probleme. Es gab für sie auch keine Konflikte mit anderen, da sie ihre Leidenschaft immer geheimgehalten hat. Über die Jahre hinweg hat sie in unterschiedlichen sozialen Bereichen unterschiedliche Rollenmuster ausgebildet. In ihrem alltäglichen Umfeld, Nachbarn oder Freunden gegenüber ist sie die bürgerliche Frau; im SM-Bereich hingegen die erfahrene Domina: Nein. Nein. Ich habe keine Konflikte gehabt. Das ist mein inneres Wesen und so bin ich. (...) Aber Sadomasochismus ist gesellschaftlich stark stigmatisiert. Wenn man das nach außen tragen würde, dass man solche Neigungen hat, würde man nicht akzeptiert werden. (...) Ganz klar. Ich könnte nicht bei meinen Nachbarn irgendwie den Eindruck erwecken, dass mir diese Dinge Freude machen. Das könnte ich nicht. Ich führe also zwei Leben. Oder ich führe drei Leben, wenn Sie so wollen, und manchmal vier. Also ich habe wirklich verschiedene Ebenen. Ich habe ein gesellschaftliches Leben, in dem ich mich bewege. Ich habe einen Freundeskreis auch auf gesellschaftlicher Ebene natürlich. Einen sehr ausgeprägten Freundeskreis. Und ich habe einen Freundeskreis auf der SM-Ebene. Die überschneiden sich fast nicht. Es gibt vielleicht ein, 205 zwei Personen, die sich überschneiden. (...) Da würde man anecken. Das geht nicht. Also auf gesellschaftlicher Ebene muss ich mich auch entsprechend verhalten. Wie alle anderen. Fall 6: Marion - ...SM ist für mich die aktivste Seite von Sex Wir trafen Marion in einer Großstadt, wo sie gerade eine Woche Urlaub machte, um Gleichgesinnte treffen zu können. Das Interview wurde in der Wohnung eines ihrer Freunde durchgeführt. Sie ist entsprechend ihrer sadomasochistischen Interessen ganz schwarz gekleidet, trägt hohe Stöckelschuhe, ist dezent geschminkt, hat aber grell rote Fingernägel. Marion hat ein ruhiges, freundliches und selbstsicheres Auftreten. Im sadomasochistischen Arrangement nimmt sie vorzugsweise die masochistische Rolle ein. Ihre dominanten Phantasien lebt sie nur sehr selten aus. Lebensumstände Zum Zeitpunkt des Interviews ist Marion 36 Jahre alt und lebt ohne festen Partner in einer Großstadt. Sie ist als Freiberuflerin mit akademischem Abschluss tätig. Biographischer Hintergrund Nach ihrer Erziehung, Kindheit und Jugend befragt, weiß Marion nichts besonderes zu berichten, was ihrer Meinung nach im Zusammenhang mit SM stehen könnte. Über ihre Eltern sagt sie: Meine Eltern hatten nicht viel Zeit, waren ganz freundlich zu mir. Ich hatte ein kühleres Verhältnis zu meiner Mutter. Zwischen mir und meinem Vater gab es eine ziemlich heiße Liebe. Marion gibt aber an, dass sadomasochistische Phantasien und Vorstellungen bei ihr schon sehr früh vorhanden gewesen seien: In meiner Kindheit war das so lange ich denken kann da. Es war Sexualität und hatte damals aber noch keinen Namen. Es war etwas, das immer viel mit Macht zu tun hatte. (...) Ich weiß nicht, ob mir jemand meine Neigungen eingeredet hat. Wenn es mir jemand eingeredet hat, dann war das wohl schon im dritten Lebensjahr. Zugang und Erfahrungen Obwohl es Marion mit 15 Jahren eigentlich schon bewusst war, wo ihre sexuellen Interessen liegen, hat sie bis zum Erwachsenenalter keine Anstrengungen unternommen, diese zu realisieren. In Hochschul- und Studentenkreisen, in denen sie sich lange Zeit bewegte, war es 206 nicht üblich, diese Art der Sexualität zu diskutieren, geschweige denn zu praktizieren. Erst im Alter von 25 Jahren machte sie ihre ersten praktischen Erfahrungen. Sie begegnete einem Mann, der sie dominierte: Ich bin vor knapp zehn Jahren, da war ich 25, einem Mann begegnet, der sowieso eine sehr starke erotische Ausstrahlung auf mich hatte. Der hat mich dominiert, also in einer eher soften Art und Weise. Er hat mir die Hände gefesselt und dann einfach sein Spiel gespielt. Und ich habe gemerkt, indem er sein Spiel spielt, war das für mich ein phantastisches Erlebnis. Als ob sich die neue Welt für mich real macht. (...) Ich hatte Spuren an den Handgelenken und ich war ungeheuer stolz darauf, weil ich dachte ‚Ich habe meins gefunden’. Der vorsichtige Versuch, mit anderen über diese Erfahrung zu reden, schlug jedoch fehl, woraufhin sie für eine lange Zeit keine Anstrengungen unternahm, diese Erfahrung zu wiederholen: Das war die Zeit Ende der siebziger in die achtziger Jahre rein, wo ich auch in Zusammenhängen gelebt habe, die man als Alternativbereich bezeichnen kann. So in der Frauenbewegung und alles, was da so dran hing. Und da war so ziemlich das letzte, was angesagt war, zu thematisieren, dass Macht in der Sexualität Lust machen kann. (...) Es waren nur tastende Versuche, Ansprechpartner zu finden und ich habe sie nicht gefunden. So ergab es sich, dass sadomasochistische Sexualität für Marion wieder einige Jahre tabu war. Ausschlaggebend hierfür war auch die Schwierigkeit, einen entsprechenden Partner zu finden: Ich bin nie auf jemanden getroffen, der mir da entsprochen hätte und ich habe auch keinen Weg gesehen, aktiv zu suchen. Weil, man erkennt einander nicht, man sieht es sich nicht an. (...) Ich wusste aber die ganzen Jahre ‚Das ist mein Ding und das bin ich eigentlich’. Ich kann Sexualität ansonsten auch genießen, aber je softer es ist, umso langweiliger ist es eigentlich und im Grunde suche ich was anderes. Geändert hat sich diese Situation für Marion im Alter von 33 Jahren, als sie zum erstenmal auf eine codierte Kontaktanzeige in einer allgemeinen deutschen Tageszeitung antwortete, in der zwei Männer eine Geliebte suchten. Hieraus entwickelte sich eine Dreierbeziehung, die drei Monate dauerte. Zu einem der beiden Männer hatte Marion darüber hinaus eine längere Beziehung, in der sie ihre sadomasochistischen Neigungen ausleben konnte: Und dieser eine Mann, der sozusagen übrig blieb, mit dem ich lange noch Kontakt hatte, der hat eine ausgeprägt sadomasochistische Ader. Er liebt Fesselspiele, er liebt es auch zu schlagen und er hat auch die andere Seite in sich, dass er auch unterworfen werden will. Und mit dem hatte ich die letzten zweieinhalb Jahre eine ganz lockere Beziehung. Wir haben uns alle vier, sechs oder acht Wochen getroffen. Das war ein ganz lockeres Verhältnis. Damit war für mich der Weg offen, das zu leben, was ich will. Seitdem lebt Marion ihre Neigungen regelmäßig aus und hat ihre Interessen und Aktivitäten in diesem Bereich ständig weiterentwickelt. Abgesehen von ihrer szenetypischen Kleidung hat sie sich spezielle Kleidungsstücke und Werkzeuge zugelegt: Ich habe eine schwarze Ledercorsage und auch noch Geschirr, ach das kennt ihr bestimmt. Das ist so ein Konstrukt aus 207 Lederriemen mit Nieten, was dann z.B. nur so um die Brüste rumgeht mit einer leichten Kettenkonstruktion dann noch dabei. (...) Und was für mich ein sehr erotisches Objekt ist, das sind lange Lederhandschuhe. (...) Ich habe für den einen Mann ein Halsband gekauft. Dann habe ich mir ein Teil machen lassen. Das ist etwas ganz Besonderes. Eine Art Gürtel mit zwei Kunstgliedern. Ich kann mir eines reintun und ich kann damit gleichzeitig jemand anders vögeln. Das finde ich als ein sehr reizvolles Instrument. Darüber hinaus manifestiert sich Marions Interesse an sadomasochistischen Sexualpraktiken auch im literarischen Bereich. Sie liest sehr gerne und viel. Zeitschriften spielen für sie ebenso eine Rolle wie Bücher: Ich lese die ‚Schlagzeilen’ und so ziemlich alles, was mit SM zu tun hat und was ich nicht sofort als größten Blödsinn in die Ecke stelle. Größter Blödsinn sind für mich die ganz dümmliche Sorte von Pornos, halt dumm geschriebene, platte Geschichten. Meistens von Männern mit wenig Einfühlungsvermögen in einer nur pur pornographischen Art und Weise. Also ich will jetzt nicht die ganze Pornokritik der Frauenbewegung runterleiern, aber das ist es im wesentlichen. Also alles, in dem man nicht die Feinheit und das Spielerische und die Lust finden kann, die Sachen tu ich weg. Ansonsten lese ich alles, was mir dazu in die Finger kommt. Ich mag auch Pornos, wenn sie gut sind. SM-Pornos, aber auch andere. Marion hat zu zwei organisierten SM-Gruppen Kontakt aufgenommen; einen Zirkel gibt es in der Stadt, in der sie lebt, eine andere Gruppe ca. 500 km von ihrem Wohnsitz entfernt, was aber insofern für Marion unproblematisch ist, als sie dort bei einer Freundin wohnen kann. SM-Identität und Alltagsrolle Der Kontakt zu Gleichgesinnten war für Marion von zentraler Bedeutung, erfuhr sie hier doch zum erstenmal die positive Bewertung eines von der Gesellschaft als ‚deviant’ definierten Bereiches und damit die Entlastung von Schuldgefühlen und Konflikten: Ich fand und finde es immer noch sehr, sehr schwer es zu leben. Worunter ich einfach sehr gelitten habe war die Einsamkeit, dass ich mit meiner Art von Sexualität alleine bin. Ich konnte mit diesem Mann zu tun haben und ich konnte versuchen, sonst über Anzeigen Kontakt zu Männern zu finden. Aber all das, was ich dabei erlebt habe, es waren wunderschöne Sachen und auch beschissene Geschichten, die mussten in mir drin bleiben, weil ich keinen Weg gesehen habe, es meinen Freundinnen oder Bekannten gegenüber zu erzählen. Weil ich gemerkt habe, dass das auf sehr viel Unverständnis stößt und weil ich niemanden zu missionieren habe und ich bin auch nicht sehr exhibitionistisch, dass ich das jetzt ausbreiten müsste an jedem Tisch. Und das hat dazu geführt, dass ich in mir sehr verkapselt war. (...) Und vor gut vier Wochen habe ich dann meinen ganzen Mut zusammen genommen. Ich wusste, dass es die Szene-Zeitschrift gibt und habe sie gelesen und wusste, die machen ein Fest und wusste auch, dass es einen Stammtisch 208 gibt und habe meinen ganzen Mut zusammen genommen und bin für eine knappe Woche nach [Stadt] gefahren und bin in einem großen Kraftakt dann zu diesem Stammtisch gegangen. Und es ist sehr, sehr schön für mich, die Leute hier kennengelernt zu haben. Weil es das erstemal in meinem Leben einfach normal gesehen wurde. (...) Es hat mich sehr frei gemacht, zu wissen, dass ich mit den Leuten hier, die ich sehr mag, über alles reden kann, wie es gute Freunde tun oder gute Bekannte. Also es fiel mir ein Stein vom Herzen. Für Marion sind sadomasochistische Sexualpraktiken unweigerlich Akte von Gewaltausübung, die aber, und das ist für sie entscheidend, freiwillig und mit dem Bewusstsein von Dominanz und Unterwerfung geschehen: SM ist Gewalt, selbstverständlich. Für mich ist es aber eine immer einverständliche und spielerische Gewalt, die zwei Leuten Lust macht. (...) Diese Entscheidung ist immer freiwillig. (...) Da sollte mir mal einer unterkommen, der mich zwingt, nein, das geht nicht. Das ist ein Geschenk, was ich jemandem mache. Sie wendet sich entschieden gegen feministische Thesen, wonach Sadisten brutal und Masochistinnen bedauernswerte Geschöpfe seien und formuliert ein ausgesprochen positives Männerbild: Dass die Sadisten potentielle Vergewaltiger sind, kann ich nicht bestätigen. Meine einfühlsamsten Liebhaber hatte ich unter diesen Menschen gefunden. Ich habe, um es zu generalisieren, da Menschen getroffen, die sehr viel feiner und sensibler mit meinem Körper umgehen und sehr viel besser rauskriegen, was gut ist für mich und die sich mehr Zeit lassen und viel weniger auf sich gucken als viele andere Männer, mit denen ich zu tun hatte. Und potentielle Vergewaltigungssituationen, wo es wirklich gegen meinen Willen ging, die habe ich im Bereich des sogenannten normalen Sex erlebt. Und der Behauptung von den armen Kreaturen widerspreche ich auch. Gerade in ihrer passiven Rolle innerhalb eines sadomasochistischen Spiels sieht sie die aktive Seite ihrer Sexualität: SM ist für mich - auch wenn ich in der masochistischen Rolle bin - die aktivste Seite von Sex, die es überhaupt gibt. Mich in halb zugesoffenem Kopf mit irgendjemand in der Wohnung aufs Bett zu legen, da gehört nicht viel Verantwortung von mir für mich dazu. Diese Sachen brauchten keine Entscheidung. Aber mir zu sagen und zu spüren, wenn ich jemandem begegne, dass ich diesem Menschen vertraue, dass ich mir von diesem Menschen die Augen verbinden lasse, dass ich mich von diesem Menschen in einen Raum führen lasse, den ich nicht kenne, das ist etwas anderes. Diese Sorte von Ausliefern, das ist eine so bewusste Entscheidung, da muss ich ‚Ja’ sagen und zwar ohne wenn und aber. Das ist die bewussteste Entscheidung für das, was passiert überhaupt. Das ist etwas Doppelseitiges: Auf der einen Seite sieht es so aus, als ob ich die Verantwortung völlig abgebe, so ‚Ach, ich habe ja nix damit zu tun und bin ja gefesselt und was da passiert war ist überhaupt nicht mein Ding gewesen’. Das mag irgendwo auch ein Element davon sein, aber ich denke es ist viel komplizierter, weil bevor ich mich in dieser Situation befinde, ich mich entscheiden muss, mich für diese Situation zu vergeben. (...) Ja, das ist eine schwierige Sache mit den 209 Begriffen. In dem Moment, wenn eine Frau sagt, ‚Ich könnte mir es jetzt toll vorstellen, wenn Du dies und jenes machst, wenn Du mich jetzt fesselst’, dann mag dieses Fesseln ganz furchtbar passiv aussehen und irgendwo auch so sein, als Konsequenz. Aber das zu sagen, das heißt ja, ‚Ich bin hier und ich will was. Ich will was für mich und ich habe einen Vorschlag. Ich will das jetzt kriegen’. Und das ist das Aktive und das Offensive. (...) Ich bin gar nicht in der machtlosen Position. Es ist nämlich ganz genau umgekehrt. Ich fühle eine große Macht, gerade dadurch, wenn ich mich in die passive Rolle begebe. Es ist im Endeffekt immer mein Spiel und er hat zu tun, was ich ihm befehle. Wenn es ihm dabei auch gut geht, dann ist das ja sehr schön. (...) Ich habe gelegentlich festgestellt, dass manche Männer von meiner Sexualität erschrocken waren, also dass ich offenbar in dem, wie ich mich sexuell verhalte, für viele Männer zu offensiv bin. Damit scheinen manche Männer Probleme zu haben. Marions passive Rolle im sadomasochistischen Arrangement ist ausschließlich auf den spielerischen Rahmen beschränkt. Masochismus, Passivität und Willenlosigkeit dem Partner gegenüber haben für sie nichts im Alltag von Beziehungen zu suchen. Dementsprechend gestaltet sich ihr Verhalten: Selbstverständlich halte ich jemandem, der zwei Tüten trägt, gerne die Tür auf. Selbstverständlich stehe ich auch gerne in einer Runde auf, um das Salzfäßchen zu holen. (...) Ich habe in meinen Beziehungen beispielsweise niemals die Hausarbeiten, Spülen und so, niemals alleine gemacht. Das mag es durchaus geben. Ich habe auch schon solche Frauen kennengelernt. Aber das ist nicht mein SM und das, was ich mir darunter vorstelle und wo die Grenzen sind. Ich höre auch von Frauen, die sich von ihrem Typen befehlen lassen, wann sie das Haus verlassen dürfen und wann nicht und solche Geschichten. Das übersteigt mein Vorstellungsvermögen. Ich kann nur versuchen, das so hinzunehmen und zu sagen ‚O.k., so etwas gibt es also auch in der Welt’. Das hat aber mit meiner SM-Geschichte nichts zu tun und ich könnte mir auch nicht vorstellen, dass es irgendwann so sein würde. Das wäre ja langweilig. Das ist ausgeschlossen. (...) Um mich von einem Mann dominieren zu lassen, grenze ich für die Situation einen Anfang und ein Ende ab. Ganz klar. Es gibt immer mal Situationen, wo man mal beim Kaffeetrinken kleine Anspielungen macht oder ansatzweise ein Spiel macht. Z.B. dass jemand Kaffee verschüttet und der andere sagt im Scherz ‚20 Stockschläge’. Das ist dann auf der einen Seite so was wie ein Insiderjoke, auf der anderen Seite ist es aber auch wie ein Flirten miteinander. Und das sind die einzigen Punkte, wo sich Grenzen verwischen können. Im alltäglichen Leben definiert sich Marion als eine selbstbewusste Frau, die sich für eine Sache engagieren kann. Ihre bisherigen politischen Aktivitäten mögen hierfür als Beleg gelten: Ich komme aus der Gewerkschaftsjugendbewegung, war jahrelang in kommunistisch-dogmatischen Gruppen und auch in der Frauenbewegung. Auch wenn sie im Bereich der Politik mittlerweile nicht mehr so aktiv ist, weiß sie dennoch ihre Meinung im Be- 210 reich des links-alternativen Spektrums zu vertreten und persönliche Interessen im Allgemeinen durchzusetzen. Marion empfindet es als besonders unangenehm, im Geheimen agieren zu müssen, um überhaupt einen Partner finden zu können und wünscht sich für die Zukunft einen offeneren Umgang mit sadomasochistischen Sexualpraktiken, der das Finden eines geeigneten Partners ermöglicht: Ich kann also nur nochmal sagen, dass es nur mit äußersten Schwierigkeiten verbunden ist, einen Partner zu finden. Die Anzeigengeschichte ist komisch. Sie ist zeitraubend und das einzige gemeinsame ist ja zunächst einmal, dass man die gleichen sexuellen Vorlieben hat, sonst aber nichts. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ich auf jemanden treffe, der mich nicht reizt, der mir nicht schmeckt, der mir nicht gefällt, wo keine Gemeinsamkeiten sind. Es wäre mir lieber, ich könnte jemanden anders kennenlernen. Viel lockerer, ungezwungener. Bisher blieb mir aber nichts anderes übrig. Ich hoffe, es wird sich in Zukunft ändern. Für Marion spielt es überhaupt keine Rolle, wo ihre sadomasochistischen, insbesondere ihre masochistischen Neigungen herrühren. Das einzige, was ihrer Meinung nach zählt, ist, ob es für die betreffende Person ein positives oder negatives Erlebnis bedeutet. In diesem Zusammenhang wendet sie sich gegen jedweden (feministischen) Dogmatismus, der Frauen das Recht auf sexuelle Selbstverwirklichung abspricht: Wenn Feministinnen sagen, Masochismus wäre der Frau anerzogen und es ist ja gar nicht ihr eigener Wunsch, da muss ich doch erst einmal fragen, was das Kriterium für den eigenen Wunsch ist. Also da scheint mir umgekehrt bei der Fragestellung der Wunsch der Vater des Gedankens gewesen zu sein. Es ist mir im Moment auch ziemlich egal, wie sie es sehen und wo das herkommt: ob das was Angeborenes ist, ob in meiner Kindheit etwas gelaufen ist, was dazu geführt hat, ob es mir jemand eingeredet hat. Ich weiß, was ich will und dass es mir gut tut. Und ich spreche jedem das Recht ab, in dem Bereich der Sexualität eine Ideologie drüber zu stülpen. Für manche Frauen mag das Ganze schlecht sein. Für wieder andere Frauen sind Ehen schlecht oder sie leben oft in lesbischen Beziehungen oder haben keinen Typen. Der einzige Maßstab ist aber doch, ob es mir gut geht. Ich bin erwachsen genug und habe lange genug Sexualität gelebt, um zu wissen, was mir gut tut. 1.9.2.6 Frauen zwischen Dominanz und Submission Die dargestellten Fälle zeigen, dass sich für Frauen mit sadomasochistischen Neigungen keine ähnlichen oder gar einheitlichen Muster in Kindheit und Jugend nachzeichnen lassen. Insbesondere die Erziehungserfahrungen sind divergent. So finden sich sowohl bei sexuell dominanten als auch passiven Frauen autoritäre und liberale Erziehungsstile. Das gleiche gilt für 211 die Erziehungsinhalte, die sich im Spektrum zwischen der Vermittlung tradierter und emanzipierter Weiblichkeitskonzepte bewegen. Vanessa, eine in ihrer Sexualität sowohl masochistische als auch sadistische Frau, war in ihrer Kindheit der autoritären Erziehung ihres Adoptivvaters ausgesetzt. Im schulischen Bereich erwartete man von ihr - ebenso wie von ihren Brüdern - gute Leistungen. Carmen, eine Domina, wurde von ihren Eltern sehr offen erzogen, berichtet aber von prägenden Erlebnissen (dem Ehebruch ihrer Eltern), die sie im Zusammenhang mit ihrer dominanten Neigung sieht. Für Eva, ebenfalls eine Domina, wäre es aufgrund ihrer autoritären Erziehung in der Nachkriegszeit denkbar gewesen, eine Masochistin zu werden. Dorothea, auch sadistisch orientiert, wurde von ihrer Mutter sehr religiös erzogen und litt unter den Spannungen in der elterlichen Ehe. Für Maria, eine Sklavin, lassen sich keine autoritären Familienstrukturen nachzeichnen. Sie wurde bewusst und konsequent zur Selbständigkeit und materiellen Unabhängigkeit von einem Mann erzogen und Marion, masochistisch orientiert, kann nichts Spektakuläres aus ihrer Kindheit berichten und wurde von ihren Eltern ‚normal’ und ohne besondere Auffälligkeiten erzogen. Sicherlich ist mit den Eltern nur ein Teil der möglichen Sozialisationsagenten angesprochen Schule, Beruf, Freizeit, Medien etc. kommen im Entwicklungsprozess ebenfalls maßgebliche Bedeutung zu -, aber es wird deutlich, dass eine lineare Kausalität zwischen den Erfahrungen aus der Sozialisation und der sadomasochistischen Orientierung nicht besteht. Hinzu kommt: Wenn geschlechtsspezifische Sozialisationserfahrungen für weiblichen Masochismus verantwortlich wären, müssten - dieser These entsprechend - Männer, die in einer patriarchalen Gesellschaft genau die gegenteiligen Erfahrungen machen, eher sadistisch orientiert sein. Dass dem nicht so ist, beschreibt bereits Reik (1941/1977). Er sieht den Masochismus als die häufigste Perversion bei Männern, wohingegen er seiner Meinung nach bei Frauen äußerst selten ist. Neuere Untersuchungen weisen ebenfalls darauf hin, dass vor allem Männer die Lust am Schmerz suchen. So schreibt beispielsweise Weinberg (1983, S. 107): “An interesting phenomen in the sadomasochistic world is what appears to be an overrepresantation of ‘dominant’ women and ‘submissive’ men. (...) The presence of high proportions of dominant women and submissive men in a society in which men are supposed to be aggressive and women are defined as passive presents an interesting paradox (...).” Auch wenn sadomasochistische Sexualpraktiken nicht selten durch einen Mann angeregt werden, machen sich die Frauen häufig von der Fremdinitiation frei und entwickeln einen eigenen Stil im Umgang mit der schwarzen Sexualität. Für den weiblichen Sadomasochimus lassen sich, genau wie beim männlichen Pendant, bestimmte Habitusformen und spezialkulturelle Integrationen aufzeigen. Vanessa ist in eine organisierte Szene eingebunden. Sie engagiert sich in einem Arbeitskreis für Sadomasochismus und nimmt regelmäßig an verschiedenen Veranstaltungen wie Feten und Gesprächsabenden im Rahmen von SM teil. Als wir sie inter212 viewten war sie gerade dabei, eine Frauengruppe zu organisieren, um frauenspezifische Probleme zu diskutieren. Unabhängig von den Interessen ihres Partner suchte Carmen den Kontakt zu einem professionellen Domina-Studio, wo sie ihre Neigungen heute realisiert. Trotz schlechter Erfahrungen und der zeitweisen Distanzierung vom Sadomasochismus hat Maria zum Masochismus zurückgefunden und nimmt, ebenso wie Vanessa, an verschiedenen Gruppenveranstaltungen teil. Nachdem Eva den Zugang zu SM über ihren Ehepartner gefunden hat, verselbständigte sich auch ihr Interesse. Neben ihrer Verbindung zu verschiedenen Sklaven, betätigt sie sich innerhalb der SM-Szene als Schriftstellerin für Magazine und Zeitschriften oder stellt Photos zur Veröffentlichung zur Verfügung. Dorothea hat ihr Interesse an SM unabhängig von einem Partner intensiviert und kultiviert, was sich in dem Umbau ihres Hobbyraumes zu einem SM-Studios ausdrückt. Marion hat sich diverse Werkzeuge und Kleidungsstücke zugelegt, was als Ausdruck ihres eigenen Wunsches gewertet werden kann. Bezüglich der Intensität der Praktiken des Erlebens lassen sich keine Unterschiede feststellen. Zwar gelangt das American Psychiatric Association’s 1980 Diagnostic Manual of mental Disorders (DSM-III) in diesem Zusammenhang zu der Auffassung, dass härtere Formen des Sadismus bei Frauen praktisch nie beobachtet wurden (vgl. Mass 1983), aber die Tatsache, das solche Verhaltensweisen bislang nicht beobachtet wurden, bedeutet noch nicht, dass es sie nicht gäbe. Wir konnten bezüglich der Härte der präferierten Praktiken keine Unterschiede zwischen sadistischen Männern und Frauen feststellen. Gleichzeitig wird aber deutlich, dass die Möglichkeiten, solche Interessen auszuleben, für dominante Frauen wesentlich günstiger sind als für Männer. Die Dominas - ob mit oder ohne finanzielle Interessen - sind die Königinnen in der SM-Szene, die häufig ihren eigenen Hofstaat an masochistischen Männern und Sklaven haben. Carmen, die ‚Freizeitdomina’ besucht regelmäßig sogenannte Damenzirkel in einem Dominastudio, wo sich masochistische Männer dominanten Frauen bedingungslos und ohne Limits ausliefern müssen. Eva hat neben ihrem festen Lebenspartner Sklaven, die sie regelmäßig für einen Tag besucht, um ihre sadistischen Bedürfnisse zu befriedigen. Ähnlich Vanessa, der ebenfalls mehrere Sklaven zur Verfügung stehen und Dorothea hat seit über 30 Jahren einen festen Zirkel von passiven Männern um sich geschart, die sie entsprechend ihren Vorstellungen dominiert. Diese hier genannten Frauen sind keine Einzelfälle, sondern durchaus typisch für Sadistinnen, die sich in der Szene bewegen. Die Logik patriarchaler Unterdrückung verlängert sich also nicht (um es noch einmal zu wiederholen) - zumindest was die von uns untersuchte SM-Szene angeht - in den sexuellen Bereich. Auch ist der Sadomasochismus nur ein Teilaspekt des jeweiligen Identitätsentwurfs. Wenn eine Frau in ihrer Sexualität gerne devot sein möchte, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass dies ein Weg ist, ihre eigene Unterdrückung in anderen Bereichen lustvoll zu erleben, etwa im Kontext beruflicher Abhängigkeit. Vanessa ist eine selbständige, beruflich erfolgrei213 che und finanziell unabhängige Frau, und nimmt im sexuellen Bereich dennoch gerne die passive Rolle ein. Maria ist ebenfalls finanziell unabhängig und kann trotz ihrer Sklavinnenrolle in der Freizeit noch eigene Bereiche haben. Auch Marion, die Masochistin, ist beruflich und finanziell unabhängig und betrachtet ihre passive Sexualität nur als einen, von ihrer restlichen Identität unabhängigen Bereich. Umgekehrt sind sexuell dominante Frauen im Alltag nicht unbedingt dominant. Carmen, und Dorothea, die Dominas, führen mehrere Leben: Im sexuellen Bereich sind sie dominant, möchten diese Verhaltensweisen im Alltag jedoch vermeiden. Eva ist mit ihrer Rolle als Mutter und Hausfrau rundum zufrieden, aber dennoch finanziell abhängig von ihrem Mann. Die Beispiele zeigen, dass masochistische oder sadistische Frauen weder notwendigerweise das Heimchen am Herd noch die Karrierefrau sind, also ihre Familien- und Berufsrollen in die Sexualität weder verlängern noch kompensieren. 214 2. Paintballspieler - Normalität unter Gewaltverdacht Ein Waldstück in Deutschland. Menschen in Overalls, Geländestiefeln und Masken robben Hügel hinauf, verstecken sich im Dickicht. Plötzlich - Schüsse hallen wie aus Maschinengewehren. Eine militärische Übung als Vorbereitung auf eine kriegerische Auseinandersetzung oder gar der Ernstfall? Das sicherlich könnte man vermuten, wüsste man nicht, dass diese Szene Momente eines Paintball-Turniers beschreibt, an dem ich im Sommer 1996 teilgenommen habe. Innerhalb der allgemeinen Gewaltdebatte gibt es heftige Diskussionen um Paintball oder ‘Gotcha’, einem Phänomen, das nach weit verbreiteter Meinung die ohnehin zunehmende Gewaltbereitschaft forciert, gesellschaftliche Werte und Ordnungen, ja den sozialen Frieden gefährdet. In der Regel handelt es sich um junge Männer, die hier aktiv sind und denen Gewaltaffinität und aggressives Handeln unterstellt wird. So werden Paintball- oder Gotchaspieler häufig als aggressive Militaristen oder selbsternannte Rambos bezeichnet, und mit der Skinheadszene, neonazistischen Wehrsportgruppen oder Söldnertrupps in Verbindung gebracht, die auf diese Weise militärische Übungen absolvierten. Jugendschützer befürchten, die Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft werde durch solche Spiele weiter zunehmen. Paintballspieler sind mit waffenähnlichem Equipment, sogenannten ‘Markierern’113 ausgerüstet, die es erlauben, mit bunten Farbkugeln aus Gelatine (die zuweilen mit Erdbeer- oder Pfefferminzgeschmack versehen sind) auf die Spieler der gegnerischen Mannschaft zu schießen. Beim Aufprall platzen diese Kugeln und hinterlassen einen oft neonfarbenen Farbfleck (‚Splash’). Sie ‘markieren’ somit den Gegenspieler, der dann das Spielfeld verlassen muss und für den Rest des Spiels ausscheidet. 113 Im Rahmen des Waffengesetzes sind Markierer ab dem 18. Lebensjahr in Spezialgeschäften oder über den Versandhandel erhältlich. 215 Abb.: Markierer und Paintballspieler mit Markierer und Schutzausrüstung (Quellen: www.paintball.de und CD- Fotosammlung ‘Xtreme sports’, Jörg Höhle ) Diese quasi-kriegerische Handlung ist Dreh- und Angelpunkt der kritischen Diskussionen um dieses Spiel. Schlagworte wie ‚Kriegsverherrlichung’, ‚Nationalsozialismus (Rechtsradikalismus)’ und das ‚Schießen auf einen Menschen’ kennzeichnen die Richtung der Kritik. Personen als Zielobjekt seien nicht zu akzeptieren, so die Gegner, da hier gegen die Würde des Menschen, und somit gegen das Grundgesetz, verstoßen werde. Daran ändere sich auch dadurch nichts, dass keine scharfe Munition zum Einsatz kommt, sondern nur Farbkugeln. Schlagzeilen wie ‘Sport oder Mord?’ dokumentieren den Stand der Diskussion und die Emotionalität, mit der dieses Thema behandelt wird. Durch die Aburteilung in der Öffentlichkeit geraten die Paintballfans unter einen hohen Rechtfertigungsdruck. Die ablehnende Haltung gegenüber Paintball und einer sich hierzulande etablierenden Szene ist nicht nur emotional-kognitiv, sondern zeigt sich auch am konkreten Widerstand des Umfeldes: Vor allem Schwierigkeiten bei der Suche nach einem geeigneten Spielfeld machen den Paintballern zu schaffen. Aber auch mit einer Reihe von Anzeigen und juristischen Verfahren sehen sich die Akteure konfrontiert, teilweise mit den entsprechenden finanziellen Konsequenzen.114 Bemühungen der Spieler, Paintball aus dem Bereich des Subversiven zu lenken, laufen ins Leere oder fruchten nur sehr langsam. Was bleibt, ist der Rückzug auf privaten Boden oder, das ist üblich, die Militärgelände der ‘Alliierten Streitkräfte’ (vor allem amerikanische und britische Einrichtungen) als Ausweichmöglichkeit zu nutzen. Ungeachtet dessen hat sich Paintball über Amerika und England auch in Deutschland verbreitet und auch hierzulande seit Anfang der neunziger Jahre eine funktionierende Szene etabliert, 114 Zur Finanzierung der juristischen Auseinandersetzungen hat die Paintball-Szene einen Spenden-Fonds eingerichtet, der bereits bis zum Mai 2000 weit über 60.000 DM erbracht hat. 216 die über eigene Medien verfügt und miteinander kommuniziert. Die Magazine ‘GotchaSports’ und ‘Xtreme-Sports - Paintball & More’ (erscheinen regelmäßig ca. halbjährlich) liefern dem Interessierten viele wichtige Informationen: Händleradressen und Shops, regionale Übersichten der besten Spielfelder (Indoor und Outdoor), technische Informationen zu Ausrüstungsgegenständen (Markierer, Masken, Schutzbrillen, Anzüge), Events und Termine, aktuelle Tournament-Rankings, Teamübersichten regional sortiert nach Postleitzahlbereichen (Namen, Anschriften, Telefon/Fax, e-mail/Internet), Erfahrungsberichte und Reportagen von Turnieren und Ligaspielen, ‘News Ticker’, Kleintanzeigen (Verkäufe, Kaufgesuche, Kontakte), Hintergrund-Infos ‘Was ist Paintball?’/Historie und vieles mehr. Dazu einige Beispiele aus dem Inhalt von ‘Gotcha - Das Paintball-Magazin’,115 Ausgabe 4/97 (August/September): „Was ist Paintball? Fragen und Antworten; Paintball und die Medien; Liga Süd; 5. Eastern Trophy ‘97 - Turnierbericht aus Berlin; Who is Who?; Spielfeldtest; Procuct News; Clubverzeichnis; Paintball Flohmarkt.“ Im Internet gibt es mittlerweile eine Vielzahl an Homepages, wie Pommerening (in: Gotcha 3/97, S. 32) unter der Überschrift „News From Paintnet“ treffend bemerkt: „Bislang waren nur sehr wenige deutsche Homepages im Internet zu finden. Was sich jetzt aber in den letzten Wochen auf diesem Sektor getan hat, ist einmalig. Immer mehr deutsche Paintballer oder Vereine bringen ihre eigene Homepage ins Internet (...) Hier wird alles geboten und gezeigt, was unseren Paintballsport so attraktiv macht.“ Das Ergebnis meiner Recherche vom August 1996 im Internet nach Eingabe der Suchbegriffe ‘Paintball’ oder ‘Gotcha’ war negativ. Um damals entsprechende Angebote im Internet zu finden, war die Kenntnis von ‘Adressen’ notwendig. Bereits ein Jahr später (September 1997) wurden mir über die Suchmaschine Yahoo.com nach Eingabe des Suchbegriffs ‘Paintball’ 294 ‘Site-Matches’ angezeigt. Im Juni 2001 schließlich erscheinen zu diesem Stichwort 346 Treffer. Nahezu alle größeren Clubs und Vereine haben zum Teil recht professionelle, eigene Wegpages. Dort gibt es Informationen in Sachen Ausrüstung, Turnier- und Veranstaltungspläne, Erfahrungsberichte sowie Darstellungen des Regelwerks und der unterschiedlichen Varianten des Paintball-Spiels. Darüber hinaus gibt es diverse Computerspiele (so z.B. die Paintball-Version des Computerspiels ‘Lemmings’, das mittlerweile Kultstatus erlangt hat) und Videos (Spielfilme und Dokumentationen, Turnieraufzeichnungen). Personen unterschiedlicher Herkunft und Bildung 115 Das Magazin wurde durch die beiden Magazine ‘Gotcha-Sports’ und ‘Xtreme-Sports’ ersetzt. 217 haben sich in Clubs und Vereinen organisiert, um über ‘mediale Trockenübungen’ hinaus ihrem Hobby zu frönen. Ohne Berücksichtigung kleinerer ‘Splittergruppen’ werden mittlerweile Zahlen zwischen 150 und 160 ‚Teams’ gehandelt. Unter der Rubrik ‚Teams auf einen Blick’ im Magazin ‚Xtreme sports’ (05/00, S. 38) werden, nach Postleistzahlen sortiert, 138 Zusammenschlüsse von Paintballspielern (Ansprechpartner, Telefon/Fax, e-mail) aufgelistet. Verschiedene kommerzielle Anbieter im In- und Ausland versorgen die Szene über den Versandhandel oder im Ladenverkauf (Waffenhandlungen) mit dem entsprechenden (‘Outdoor-) Equipment’ rund um das Paintball-Spiel: Markierer, Ersatzteile und Farbkugeln (die im übrigen in der Szene kurz als ‘Paint’ bezeichnet werden), Schutzmasken, Stiefel, Anzüge, Fahnen, Sticker u.v.m. Einzelne Schätzungen der Szene gehen von 50.000 mehr oder weniger organisierten Paintballspielern in Deutschland aus. Diese Zahl erscheint mit Blick auf die geschätzte bzw. ermittelte Anzahl der Vereine und Clubs (Teams) jedoch übertrieben. In den USA und auch im europäischen Ausland vermag Paintball kaum die Gemüter zu erregen. Paintball/Gotcha kommt ursprünglich aus den USA (Gotya gesprochen Gotcha = Slang für ‘I got you’ - ich habe Dich erwischt!) und ist dort seit Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre als Freizeitmuster, Action- und Adventurespiel sehr verbreitet. Gewaltverherrlichung ist dort kaum ein Thema. ‘Martialische’ oder ‘militärische’ Begriffe, die Aggression bis hin zu tödlicher Gewalt suggerieren (Dead-Zone, Terminators etc.), werden nicht problematisiert und auch nicht tabuisiert. Vielerorts gibt es spezielle Anlagen für Paintballer. Auch z.B. in England, Frankreich, den Niederlanden, den skandinavischen Ländern und Spanien (vor allem auf der Ferieninsel Mallorca) gibt es seit Mitte der achtziger Jahre öffentliche Paintball-Gelände. Vor allem in Japan - bekannt für Videos, Comics oder Computerspiele, die bizarre Formen des Sex und brutale Aggressionen thematisieren - und vereinzelt in den USA, werden Extremformen des Paintball popularisiert. Auf Spielfeldern, die Kriegsschauplätzen aus dem Zweiten Weltkrieg nachgestellt sind, wird z.T. in Original- SS-Uniformen Paintball gespielt. Die Mehrheit der deutschen wie auch der internationalen Szene – so wurde mir in verschiedenen Gesprächen berichtet - distanziert sich jedoch von dieser Variante. Die intraszenischen Differenzen sowie die Reglementierung dieses ‘Spiels’ nach schriftlich fixierten Richtlinien, welche die Sicherheit und körperliche Unversehrtheit betreffen, werden von der allgemeinen Öffentlichkeit in Deutschland allerdings kaum wahrgenommen. Ebenso wenig werden biographische und aktuelle Bezugsrahmen (familiärer Hintergrund, Bildung und Beruf, soziales Umfeld) der Akteure exakt hinterfragt, um auf diese Weise Thesen hinsichtlich eines Gefährdungspotenzials ableiten bzw. widerlegen zu können. Mitnichten machen sich die schärfsten Kritiker - und hier an vorderster Front besorgte Bewahrpädagogen die Mühe, mehr als wertende Sekundärdaten zur Kenntnis zu nehmen, und sich dem Thema 218 zunächst neutral-explorativ zu nähern. Will heißen: Der Versuch, Betroffene zu Wort kommen zu lassen, zu beobachten und sogar selbst einmal am Geschehen teilzunehmen, um sich ein Urteil bilden zu können, findet nicht statt. Dem Phänomen des Paintballspiels wird im Folgenden nachgegangen. Ich möchte die Frage beantworten, welcher ‘Sinn’ für die Akteure damit verbunden, und wie Gewalt demnach bei den etablierten Gruppen und Individuen zu verstehen ist. Zur Empirie Zwischen 1996 und 2000 hatte ich intensiven Kontakt zur Szene, der vereinzelt auch heute noch anhält. Insgesamt habe ich fünf Einzelinterviews sowie zwei ausführliche Gruppendiskussionen mit Mitgliedern der deutschen Paintballszene durchführen können. Diese wurden ergänzt durch eine Vielzahl telefonischer Interviews, teilnehmender Beobachtungen (bei denen ich weitere Kurzinterviews machen konnte), schriftlicher Dokumente, Korrespondenz, Einsicht in die vereinseigene Datenbank (PC) eines Vereins, Fotos und Video- bzw. Filmmaterial, Szene-Zeitschriften, Presseberichte sowie Recherchen im Internet. Im Wesentlichen fokussiert die Darstellung der Paintballer auf eine Gruppe, die in der Szene als ‘Little Devils’ bekannt ist. Sie verzichtet bewusst auf Anonymität. Dies hängt - wie noch gezeigt wird - mit dem Selbstverständnis der Gruppe und der damit verbundenen Öffentlichkeitsarbeit ab. Sie versucht, Paintball aus dem Bereich des Subversiven zu lenken und einer Kriminalisierung der Spieler entgegen zu wirken. Die Little Devils stehen stellvertretend für das Handeln und das Selbstverständnis der Mehrzahl der Paintballspieler der deutschen Szene. Meine Beobachtungen im Rahmen des bereits erwähnten Turniers sowie Erfahrungen und Erkenntnisse aus meinen Interviews und Gesprächen mit anderen Szenemitgliedern, die nicht zu den Little Devils gehören, erlauben diese Aussage. Paintball - Das Spiel Zunächst einmal ist Paintball eine Freizeitaktivität, die vorzugsweise von Männern, aber auch von einigen Frauen (in den USA und Kanada gibt es reine Frauenteams) ausgeübt wird. Genauer betrachtet handelt es sich um ein Abenteuerspiel, das nach strengen Regeln und Sicherheitsvorkehrungen betrieben wird, auch wenn dies für den Außenstehenden auf den ersten Blick nicht so erscheint. Wie im Sport üblich, werden Turniere veranstaltet, Liga-Spiele, Europa- und Weltmeisterschaften durchgeführt. 219 Es gibt unterschiedliche Varianten des Paintballspiels. Gespielt wird jedoch meist im Freien (seltener in geschlossenen Räumen, wie Kellern oder alten Hallen) auf einem abgegrenzten und durch ein Netz nach außen gesicherten Spielfeld, das mindestens ca. 40x60 Meter misst. Paintball im Freien unterscheidet zwischen ‘Woodland’ und ‘Speedball’. Beim WoodlandSpiel umfasst das Spielfeld eine großzügige Fläche in einem Waldgebiet. Die zurückzulegenden Strecken sind z.T. enorm, das Gelände u.U. anstrengend - weil hügelig und dicht bewachsen. Das Spielfeld ist nicht mehr zu überblicken. Speedball hingegen ist auf eine kleine, offene weil überschaubare Fläche begrenzt, und daher - wie der Name vermuten lässt - viel schneller zu spielen. Speedballfelder können im Rahmen eines Turniers in ein WoodlandSpielfeld integriert sein (siehe Abb. Spielfeldplan). Abb.: Speedball-Spielfeld mit Sicherheitsabsperrung (Netz) nach außen und Deckungsvorrichtungen/Holzwände (Quelle: Fotosammlung der ‘Little Devils’) Immer häufiger werden die Spiele auf ‘Sup’Air’-Feldern ausgetragen. Hier bestehen die Deckungsvorrichtungen116 aus aufblasbaren, bunten Barrikaden (pink, gelb, grün, lila, orange etc.). Die Etablierung dieser Variante kann als ‚Distanzierungsstrategie’ interpretiert werden: Die bunten Kegel und Zylinder sollen mehr an Kinder-Hüpfburgen denn an Schützengräben erinnern und verleihen dem Spiel einen komischen Charakter. 116 Dort, wo auf kleineren Spielfeldern gespielt wird, also eher keine ‚natürlichen’ Deckungsvorrichtungen gegeben sind, werden häufig z.B. Strohballen oder Gummireifen aufgestapelt, um sich so vor dem Markieren durch die Farbkugeln des Gegners und dem Ausscheiden aus dem Spiel schützen zu können. 220 Abb.: Sup’Air-Spielfeld (Quelle: CD- Fotosammlung ‘Xtreme sports’, Jörg Höhle) Abb.: Marshals und Teams auf Sup’Air-Spielfeld (Quelle: CD- Fotosammlung ‘Xtreme sports’, Jörg Höhle) Ungeachtet dieser Unterschiede kann die Grundstruktur des Spiels an folgendem Beispiel (Woodland) erläutert werden: An einem Spiel nehmen zwei Mannschaften teil (oftmals fünf Spieler pro Team, je nach dem zwischen zwei und zehn oder mehr Spieler). Jede der Mannschaften erhält eine bunte Fahne. Auf der einen Seite des Spielfelds steht die Fahne von Mannschaft A, auf der anderen die von Mannschaft B. 221 Abb.: Spielfeldplan (Quelle: Deutscher Paintball Sport Verband - DPSV, Tournament/Game Regeln) Ziel des Spiels ist es, die Fahne der gegnerischen Mannschaft zu erobern und sie auf die eigene ‘Flagbase’ zu bringen (und dabei die eigene Fahne gleichzeitig vor dem Gegner zu schützen). Wem das zuerst innerhalb der Spielzeit von in der Regel zwischen fünf und 20 Minuten gelingt, hat das Spiel gewonnen. Die Akteure haben die Möglichkeit, sich gegenseitig am Erreichen der Fahne des anderen durch ‘markieren’ zu hindern oder den Gegner noch zu markieren, wenn er sie schon erreicht hat und versucht, sie auf die eigene Base zu bringen. Wer 222 markiert ist (egal, ob an der Ausrüstung oder am Körper), scheidet aus (‚Player is out’). Ein Schiedsrichter (Marshal) nimmt dem Spieler die Mannschaftsbinde ab und er muss das Spielfeld schnellstmöglich verlassen und sich in die ‘Neutral Zone’ (auch ‘Dead Zone’ oder ‘Dead Man’s Zone’ genannt) begeben. Beim Verlassen des Spielfeldes muss der Spieler eine oder beide Hände über den Kopf heben und darf weder mit seinen Teamkollegen kommunizieren noch ‘Paint’ oder ‘Markierer’ austauschen. Auch in der neutralen Zone ist das Verhalten weiter reglementiert: Die Spieler müssen sich - wie der Name schon sagt - ‘neutral‘ verhalten, dürfen ihrer Mannschaft weder Tipps zurufen noch am Markierer, der hier abgelegt werden muss, ‘herumspielen’ bzw. dürfen keine Veränderungen vornehmen. Die Little Devils Ich habe die ‘Little Devils’ über zweieinhalb Jahre (bis Anfang 1999) begleitet. Dabei konnte ich zu fast allen Gruppenmitgliedern Kontakt aufnehmen. Mit sechs Mitgliedern wurden ausführliche Gespräche in Interviews und Gruppendiskussionen geführt, mit den anderen Kurzgespräche, die als Gesprächs- und Gedächtnisprotokolle in die Auswertung mit eingeflossen sind. Die Teilnahme an einem Wochenendturnier, an Clubtreffen etc. ermöglichte die Beobachtung von Kleidungsstilen, Sozialverhalten oder auch Gruppenstrukturen- und hierarchien. Es handelt sich bei dieser Gruppe um einen eingetragenen Verein, dessen 15 Mitglieder mit einer Ausnahme junge Deutsche sind. Sporadisch kommen einige Interessierte zu Besuch, so dass noch ungefähr fünf Personen als lose assoziiert mitgerechnet werden können. Die Little Devils sind in der Paintballszene bekannt und haben ein gutes Image als faire Spieler und engagierte Szenemitglieder. Das jüngste Gruppenmitglied ist 18, das älteste 36 Jahre alt. Die meisten sind Anfang bis Mitte 20. Der harte Kern resp. die Gründungsmitglieder kommen aus Reutlingen, einer Kreisstadt mit ca. 130.000 Einwohnern, oder der näheren Umgebung. Typisch ist, dass die jungen Männer ohne besondere biographische Auffälligkeiten sind: ‘normale’ junge Erwachsene, die noch in der Ausbildung sind oder einer geregelten beruflichen Tätigkeit nachgehen. Die Unauffälligkeit und biographische Normalität innerhalb dieser Gruppe deckt sich mit meinen Beobachtungen innerhalb der gesamten Szene, die ich im Rahmen der ‚Bielefeld open’ und den verschiedensten Kontakten und Gesprächen machen konnte: Familienväter, die mit Ehefrau, Kind, Kinderwagen und Kombi unterwegs sind und Unternehmersöhne, die den väterlichen Dachdeckerbetrieb leiten, sind hier ebenso vertreten 223 wie Studenten der Betriebswirtschaft, Informatik oder Angestellte im öffentlichen Dienst.117 Einzige gemeinsame Merkmale sind die Leidenschaft zum Abenteuer und - so scheint es zumindest - eine gesicherte finanzielle Situation, die es erlaubt, sich dieses teure Hobby leisten zu können. Immerhin kann eine gute Turnierausrüstung (Schutzmasken, Markierer etc.) durchaus zwischen zwei- und fünftausend Mark kosten.118 Auch die regelmäßige Teilnahme an Turnieren etc. ist kostspielig. Hier schlagen Fahrtkosten zu den Veranstaltungsorten im Inund Ausland, Teilnahmegebühren, vor allem aber der Verbrauch an Farbkugeln zu Buche. Sie ‚erleichtern den Geldbeutel’ eines Einzelnen an einem Wochenende um ca. 400 bis 500 Mark. 2.1 Herkunft und aktuelle Lebenssituation Familie und private Situation Ihrer Herkunft nach sind die Befragten der Mittelschicht bzw. der gehobenen Mittelschicht zuzurechnen. Die Eltern verfügen über mittlere Bildungsabschlüsse (Hauptschule oder Realschule mit anschließender Berufsausbildung): Es sind Arbeiter oder Angestellte, teilweise mit eigenem Haus. Einige der Eltern haben einen höheren Bildungsabschluss (Abitur, Studium) und bekleiden gehobene Positionen (Geschäftsleitung, selbständige Unternehmer). Entsprechend der für diese Generation und Schicht typischen Rollenverteilungen sind es überwiegend die Väter, die für den Unterhalt der Familie sorgen. Nur einige der Mütter sind berufstätig. Die meisten Gruppenmitglieder haben ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern bzw. zu anderen Familienmitgliedern wie Geschwistern oder Großeltern, was sich in regelmäßigen Besuchen zu Hause oder in gemeinsamen Aktivitäten niederschlägt. Beispielsweise aber auch darin, dass sich die Eltern angesichts der öffentlichen Kritik an Paintball um ihre Kinder Sorgen machen: A: Meine Mutter macht sich Sorgen um meinen Sport und fragt immer nach. Sie hat Angst, ich könnte verwahrlosen. (Gedächtnisprotokoll Clubtreffen) 117 Während meiner Tätigkeit als Studienleiterin für die GIM, ein Marktforschungsinstitut in Heidelberg, hatte ich Kontakt zu Mitarbeitern der Marketingabteilungen unterschiedlicher, renommierter Konzerne. Dort sind mir Mitarbeiter (Führungsnachwuchskräfte) begegnet, die in ihrer Freizeit entweder regelmäßig Paintball spielen oder dies sporadisch schon getan haben. 118 Einsteigerausrüstungen zum Trainieren sind gebraucht aber auch schon ab ca. 400 DM erhältlich. 224 A: Ich habe jetzt schon ein paar Wochen nix mehr mit meinen Eltern gemacht. Es wird Zeit, dass ich mal wieder was mit denen mach. Das ist mir auch sehr wichtig, weil sie sich in meiner Kindheit auch sehr um mich bemüht haben (Gedächtnisprotokoll Clubtreffen). A: Wir haben hier bei uns ja zwei Brüder im Verein. Die verstehn sich bombig. Das ist typisch dafür, dass Familie und Geschwister den meisten wichtig sind. Das ist aber doch normal. (Gedächtnisprotokoll Clubtreffen) Meine Beobachtungen bestätigen diese Darstellungen: beim Besuch eines Gruppenmitglieds war der Vater anwesend. Während des Interviews reparierte er gerade den Wagen des Sohnes, um ihm so die hohen Reparaturkosten zu ersparen. Schließlich telefonierte der Interviewte mehrfach mit seinem Bruder, um ein Treffen zu verabreden. Einige der jungen Männer haben eine feste Freundin, die auch schon mal mit zu den Turnieren fährt. Einzelgänger, die z.B. wie Söldner Eltern und Familie hinter sich gelassen haben, konnte ich weder bei den Little Devils noch in der Szene antreffen. Wohnsituation Unauffällig und wenig außergewöhnlich ist auch die aktuelle Wohnsituation der Vereinsmitglieder. Etwa die Hälfte der Befragten wohnt noch bei den Eltern. Dies erscheint heute für diese Altersgruppe im Allgemeinen typisch. So können Kosten reduziert und finanzielle Freiräume für Aus- und Weiterbildung, Studium, Hobbys und Freizeit geschaffen werden. Andere haben eine eigene Wohnung; alleine oder mit der Freundin zusammen. Wie oben bereits angedeutet, habe ich ein Vereinsmitglied zu Hause besucht. Die Wohnung liegt in einem Vorort von Reutlingen in einer ‘beschaulichen’ Wohngegend. Typisch sind Ein- und Mehrfamilienhäuser (bis max. sechs Wohneinheiten) und eine aufgelockerte Bauweise mit Grünflächen und Vorgärten. Die Wohnung liegt im zweiten Stock eines VierFamilienhauses, das vermutlich Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre erbaut wurde. Es wirkt gepflegt. Vom Stil her kann die Wohnungseinrichtung als eine Mischung zwischen ‘bürgerlich-konventionell’ und ‘alternativ’ beschrieben werden: Kiefernmöbel, bunt gemustertes Sofa, Kissen, bunte Teppiche, typisch deutsche Gardinen, Stereoanlage, CD-Ständer etc. Es finden sich diverse Sammlerobjekte wie Plüschtiere oder Comicfiguren (z.B. Snoopy) oder MAD-Hefte. Der Gesamteindruck: ordentlich und aufgeräumt. 225 Die Wohngegenden der übrigen Mitglieder wurden mir als ‘normal’, ‘ländlich-ruhig’ und ‘gut bis gehoben’ beschrieben. Dort, wo das Niveau der Wohngegend niedriger sei, könne dies auf die finanzielle Situation während der Ausbildung oder des Studiums zurückgeführt werden. In jungen Jahren seien die Ansprüche noch nicht so hoch und könne man ganz gut vom Umfeld abstrahieren. A: Wir wohnen eigentlich alle in ganz normalen Gegenden. Also so wie hier [meint Wohngegend, die oben beschrieben wurde; d.A.]. Also, da wo ich jetzt mit meiner Freundin wohne, ist es vielleicht nicht so ruhig und beschaulich, aber wenn man, wie wir in unserem Alter, noch nicht so viel Geld hat, dann muss man eben Abstriche machen. Die Einrichtungen der Paintballer werden von ihnen selbst und den Gruppenmitgliedern als ‘bunt gemischt’ beschrieben. Sie reichen von Flohmarktmöbeln über ‘Ikea’ bis hin zum ‘Jugendzimmer’. A1: Also einer von uns ist so im ‘American Style’ eingerichtet. Er hat ein Motorrad an der Wand als Regal für die Stereoanlage. Und der [nennt Name] hat die Wohnung im Sperrmüll-Stil eingerichtet [andere lachen]. Ja ist doch so. Guck Dir doch mal den Krempel an. Da ein französisches Bett, dann so ein alter Schrank... A2: Der ist antik... A1: Ja, aber alles doch kunterbunt. Und ein anderer wohnt noch bei seinen Eltern. Der hat dort ein Jugendzimmer mit Aquarium und so. Und ne Katze. Der ist Tierliebhaber. Meine Wohnung, oder besser die von meiner Freundin und mir, ist so im Ikea-Stil und auch ein bisschen Out-door-mäßig. Da stehen dann so Zubehör, Zelt, Kocher und so rum. Die Freizeitangebote in Reutlingen und den Vororten bzw. in den Wohngegenden der Paintballer beschreiben die Befragten als vielfältig, ‘wie in jedem Kaff’ und ‘typisch schwäbisch’. Sie reichten von einer Vielzahl diverser Sportmöglichkeiten in Vereinen bis hin zur ‘Narrenzunft’. Bildung und Arbeit Alle Befragten haben einen Schulabschluss und befinden sich zur Zeit in der Aus- oder Weiterbildung. Sie verfügen über ein eigenes Einkommen und sind somit finanziell unabhängig (von ihren Eltern). Das Spektrum reicht vom Hauptschulabschluss bis zum Universitätsdiplom, vom Schreiner, Ver- und Entsorger, Werkzeugmacher, Automechaniker, Forstwirt, Großhandelskaufmann bis hin zum Betriebswirt und Rechtsreferendar. Viele legen besonde- 226 ren Wert auf den Beruf und entsprechende Berufsbezeichnungen. Ein Beispiel hierfür ist der ‘Medienkoordinator im Prozesssupport und Kontaminationsmanagement’ bei etablierten Firmen wie DaimlerChrysler oder ähnliche. A1: Wie gesagt, bei uns ist alles vertreten. Das ist eine Mischung. Wir haben auch unser eigenes Geld. Wer noch studiert, der jobbt und finanziert sich damit. A2: Einer war im Ausland, hat als Student ein Praktikum in Seoul gemacht. Der arbeitet mittlerweile, hat nen guten Job als Betriebswirt bekommen. Die familiären Hintergründe, Bildungs- und Berufssituation verweisen auf Normalbiographien und liefern keine Hinweise auf Besonderheiten, die gewaltaffines Verhalten motivieren könnten. 2.2 Die Gruppe Entstehung Der Verein ging aus einer zunächst losen Interessengemeinschaft hervor, die sich regelmäßig auf einem ‘halb-offiziellen’ Spielfeld getroffen hat, um Paintball zu spielen. Die Aktivitäten waren der Polizei vor Ort bekannt und wurden geduldet: A: Wir haben uns ganz früher mal in den Anfangszeiten vor unserem Verein halt kennengelernt auf nem Spielfeld in der Nähe von Sigmaringen. Hat sich halt auch so rumgesproche, dass da die Möglichkeit besteht, legal und mit Einverständnis der Polizei einmal zu spielen. Dann hat man sich da halt getroffe, miteinander gespielt. Es war dann das Interesse da, um gemeinsam was auf die Beine zu stellen, aber was Offizielles. (...) So sind wir halt zu unserer Vereinsgründung gekommen, dass die Leute halt doch ein bisschen aus recht unterschiedlichen Richtungen zusammengewürfelt sind. Eben halt die, die sich schon länger für Paintball engagiert haben und früher auf dem alten Spielgelände Paintball gespielt haben. Weil die Mehrzahl der Mitglieder aus Reutlingen selbst oder aus kleineren Orten in der näheren Umgebung kommt, hat man sich für den Namen ‘Paintballspielergemeinschaft Reutlingen e.V.’ entschieden und sich als Team - worauf im Folgenden noch eingegangen wird - den Namen ‘Little Devils’ gegeben. Offiziell wurde der Verein am 02.06.1994 gegründet und kurze Zeit später beim Amtsgericht in das Vereinsregister eingetragen. Entsprechend der Satzung hat der Verein zum Ziel, Paintball in Deutschland bekannt zu machen und zu ‘legalisieren’: 227 „Zweck der Vereins ist die Ausübung des Paintball-Sportes, dessen Verbreitung, Förderung des Sportes, Sportgeistes und der damit im Zusammenhang stehenden Interessen“ (aus der Satzung vom 02.06.1994). Selbstverständnis Die Mitglieder treffen sich regelmäßig, um neueste Informationen aus der Szene auszutauschen oder den Verein zu verwalten, um Spiele vorzubereiten etc. Treffpunkt ist häufig ein Club- und Vereinsraum, der in einem Dachgeschosszimmer untergebracht ist, das zur Wohnung eines Vereinsmitglieds gehört. Der Vereinsraum entpuppte sich als wahrer Fundus für den ethnographischen Forscher: Urkunden und Teamfotos in Bilderrahmen und Passepartouts an den Wänden dokumentieren Teamfahrten zu Turnieren und Meisterschaften, Pokale auf Regalen zeugen von der erfolgreichen Teilnahme an Paintballveranstaltungen und dokumentieren das soziale Ansehen (Fair-Play-Preis). T-Shirts mit Unterschriften, die von ‘gegnerischen’ Mannschaften als Geschenk überreicht wurden, vielzählige Zeitschriften rund um Paintball, chronologisch sortiert in Zeitschriftenständern, Fotokisten und Alben, Dokumentationsmappen für Sponsoren, Kisten mit Aufklebern, Geschenke für Austauschvereine etc. zeugen vom Engagement und Interesse am Paintballspiel. ‚Heiligtum’ ist ein Arbeitstisch, auf dem die Markierer abgelegt sind. Dort liegen verschiedene Modelle; frisch ‚geputzt’, die Ersatzteile säuberlich sortiert. Überall zu sehen ist ‘der kleine Teufel’, den die Gruppe als ‘Symbol’ ihrer ‘Corporate Identity’ erhoben hat. Er ziert nicht nur Vereinsplakate, sondern dient als Icon auf Stempeln, Briefpapier, Kleidungsstücken wie Kappen oder Krawatten oder kleinen Schnapsfläschchen, die die Mitglieder auf Turnieren als Freundschaftsgeschenke an andere Vereine verteilen. Die Spieler legen Wert darauf, dass dieser Teufel nicht im Sinne von Diabolismus, des Bösen, Martialischen verstanden werden darf. Vielmehr handele es sich bei dieser Wahl teilweise um Zufall, vor allem jedoch sei diese kleine Figur witzig gemeint: A: Wir sind zu dem Namen gekommen, weil uns damals jemand einen kleinen Stoffteufel als Glücksbringer geschenkt hat. [holt ein kleines Stofftier von einem der Regale im Vereinsraum; L.S.]. Das fanden wir irgendwie witzig. Ein Teufel überlistet andere, das ist die Verbindung zu Paintball, mehr nicht. Wie bei vielen anderen Vereinen auch, ist die Verwaltung gut organisiert und wird mittlerweile über ein entsprechendes PC-Programm erledigt. Hier sind die (Spiel-)Daten der Mitglieder gespeichert, Fähigkeiten und Vorlieben oder Turniererfahrungen jeweils in einer ,Spielerinfo’ registriert. 228 Abb.: Spielerinfo Little Devils 229 Die Mitglieder werden regelmäßig über aktuelle Termine und Veranstaltungen informiert, wie die folgende Übersicht zeigt: Abb.: Termininfo für Vereinsmitglieder der PSG Reutlingen (Little Devils) Gespielt wird meist nur an Wochenenden, da der Verein über kein eigenes Spielfeld verfügt. Dann fahren die Mitglieder in der Regel gemeinsam zu einem der vielen Turniere, LigaSpiele oder zu Meisterschaften, die immer wieder von unterschiedlichen Vereinen und Veranstaltern durchgeführt werden. Die Little Devils nehmen dann entweder in der Funktion der 230 Schiedsrichter oder auch Zuschauer teil, meistens jedoch als Mannschaft oder Team, um selbst mitzuspielen. So z.B. im Juli 1996. Diese Fahrt, an der ich teilgenommen habe, dauerte fast ein ganzes Wochenende. Abfahrt war Freitagnacht bzw. Samstagmorgen zwei Uhr, Ziel eine Meisterschaft, ausgetragen in Bielefeld, die ‘Bielefeld - Open’. Insgesamt war der Ausflug rundum nahezu perfekt organisiert: Ein Mtiglied der Little Devils stellte einen Kleinbus zur Vefügung, andere sorgten für Proviant, Getränke und Musik. An eine entsprechende Zusatzausrüstung für mich als Gast war gedacht. So konnte das Turnier für die Little Devils gegen ca. zehn Uhr beginnen. Es endete am Abend gegen 19 Uhr mit der Siegerehrung und der Verleihung der Pokale. Nicht zuletzt aufgrund meines dilettantischen Anfängerspiels erzielten die Little Devils an diesem Tag keinen der Siegerpokale. Allerdings wurden sie als ‘Long-Distance-Runner’ ausgezeichnet, das Team, das am weitesten angereist war. Als Anerkennung hierfür gab es ein TShirt. Die Rückkehr nach Reutlingen erfolgte am frühen Sonntagmorgen, da ich am späten Samstagabend noch eine Gruppendiskussion durchführte, an der auch Szenemitglieder aus anderen deutschen Vereinen und Paintballteams beteiligt waren. Die Gruppe hat sich spezielle Anzüge zugelegt, in denen sie an Wettkämpfen teilnimmt. Eines dieser ‘Kostüme’ macht ihrem Namen alle Ehre: Rote Hosen und ein blaues Oberteil, dazu eine Kappe mit roten Hörnern, die an einen Teufel erinnern. Abb.: Gruppenbild mit Forscherin (vorne Mitte): Turnierteam der Little Devils im einheitlichen Dress Im Laufe der Zeit sind andere Outfits hinzugekommen: silber-rot-schwarz ‘gesplasht’ (Splash = Farbklecks durch Paint), bunte Pullover mit schwarzen Armen und gelbem Schriftzug des 231 ‘Sponsors’. Das Tragen solcher Kostüme ist in der Szene keine Seltenheit. Andere Gruppen und Teams erscheinen zuweilen im Star-Trek-Outfit, im Kuh-Dress oder in Postsäcken. Hierbei handelt es sich - wie noch gezeigt wird - um eine bewusste Distanzierung von militärischen Anmutungen. Die Kleidung im Alltag ist heterogen und keiner Szene eindeutig zuzuordnen. Weitere Turnierkleidung ist ein Anzug, den die Devils ‘Crazy black splash’ nennen. Er besteht aus einem gestreiften Fußballtrikot und einer schwarz-rot gemusterten Hose. Dieser Stil sei dem Moto-Cross-Bereich119 entnommen. Die Little Devils sind – wie bereits erwähnt - in der Szene mittlerweile gut bekannt und aufgrund ihres Engagements für die Sache geschätzt. Mittlerweile werden sie von kommerziellen Anbietern von Paintballzubehör gefördert: „Little Devils get powered & toxic! Die berühmt berüchtigten kleinen Teufelchen aus dem wilden Süden werden in Zukunft nicht nur durch neue Spieler, sondern auch von OPM Paintballsportsupplies Germany und von VENOM - the toxic toys unterstützt. Mit dieser exkluiven Mischung aus Qualität, High Tech und ‘Frischfleisch’ hoffen die Devils dieses Jahr auf so vielen Turnieren wie möglich zu spielen und auch einige Erfolge zu erreichen“ (Gotcha 3/97, S. 13). Sponsoring ermöglicht es, die erheblichen Kosten dieses Hobbys ein wenig zu kompensieren. Zudem trägt die Förderung durch einen bekannten Sponsor zum Ansehen eines Vereins innerhalb der Szene bei und man hofft auf Synergieeffekte insbesondere bei der Bewältigung der PR-Arbeit. Die jugendkulturellen Bezugsszenen der Gruppenmitglieder sind heterogen. Ein Mitglied der Gruppe sieht sich z.B. seit über 16 Jahren den Pfadfindern verbunden, ein anderes fühlt sich zur Techno-Szene hingezogen, ein weiteres fühlt sich in die Kultur der ‘PC-AdventureGames’ involviert. Tatsächlich füllen ihre Adventure-Spiele einen kompletten CD-Ständer, wie ich bei einem meiner Besuche feststellen konnte. Gemeinsame Interessen über Paintball hinaus sind innerhalb dieser Gruppe eher untypisch. Allerdings zeigt sich bei den Mitgliedern anderer Clubs und Vereine eine gewisse Affinität für Outdoor-Adventure-/TreckingAktivitäten und Adventure Games. Die Inhalte im Internet und Paintballmagazinen verweisen 119 Das Equipment der Paintball-Szene wird vielfach über Anbieter von Moto-Cross-Zubehör bezogen. Oft handelt es sich hierbei um Kleidung oder sonstiges Zubehör, das genuin für den Moto-Cross-Bereich produziert und angeboten, dann aber von der Paintball-Szene angeeignet und umfunktioniert wurden. Bekannte Firmen wie ‘GT’ oder ‘Scott’ haben dies erkannt und produzieren mittlerweile speziell für die Paintball-Szene. 232 auf Verbindungen zur Moto-Cross-Szene (hier: Quads = motorradähnliche, geländegängige Fahrzeuge mit vier Rädern). Die Kleidungsstile oder Musikgeschmäcker sind ebenfalls heterogen: Techno und Rock und Pop sind ebenso vertreten wie Klassik. Einzig gemeinsam ist allen eine gewisse Reaktanz gegenüber volkstümlicher Musik. Einer der Befragten bringt es auf den Punkt: A: Was unseren Stil angeht, ist das nicht einheitlich. Die einen mögen dies, die andren das. Ich bin mehr Woll-Pulli-mäßig angezogen, viele tragen Jeans und Shirts, die einen hören Techno, die anderen Pop, und ich hör ganz gerne Klassik. Meine Eltern kommen so aus Richtung intellektuelles Bildungsbürgertum wie man so schön sagt. Bei uns zu Hause hören wir viel Klassik. Einige hören auch ganz gerne Musicals. Was aber keiner von uns leiden kann, ist Volksmusik. Die Behauptung von Stilpluralismus als typisch für die Gruppe bestätigte sich im Rahmen meiner Beobachtungen: Jeans und Sportbekleidung bekannter Markenartikelhersteller sind ebenso vertreten wie No-Name-Produkte, Birkenstock-Schuhe ebenso üblich wie Lederstiefel, ‘gestylte’ Kurzhaarfrisuren genauso vertreten wie lange Haare und Zöpfe. Das Musikrepertoire im Rahmen der bereits erwähnten Fahrt nach Bielefeld war vielfältig, für jeden Geschmack etwas dabei. Ebenso heterogen sind die weiteren Freizeitinteressen der Mitglieder. Sie reichen - wie bereits erwähnt - von Pfadfinder-Aktivitäten oder Reisen und Extrem-Tourismus über Aerobic, Computerspiele oder Handball bis hin zum Sammeln von Cartoons oder auch nur ‘Faulenzen’. Trotz des außergewöhnlichen Hobbys ‘Paintball’ verfolgt die Mehrzahl der Vereinsmitglieder eher konventionelle Lebensentwürfe (traditionelle Werteorientierung). Zwar ist Unabhängigkeit bei den Mitgliedern dieser Gruppe ein wichtiger Wert (post-materialistische Werteorientierung), gleichzeitig jedoch spielt Sicherheit eine wichtige Rolle. Dies umfasst zum einen die berufliche Situation, zum anderen die emotionale Sicherheit: Arbeitsplatzsicherung, Weiterbildung und Karriere, Heiraten und Familie sind wichtige Themen: A1: Ich mag es, in einer gewissen Weise unabhängig zu sein. Dazu gehört für mich, ein langer Urlaub z.B. in Kanada, wo ich mal ganz auf mich gestellt bin, fernab von Straßen und Zivilisation - auch mit einem gewissen Risiko. Aber dieses Bedürfnis geht nicht so weit, dass ich mir vorstellen kann, irgendwann komplett auszusteigen. Ich werde meine Freundin irgendwann heiraten und wir wollen auch Kinder. (...) Wichtig ist mir, einen guten Arbeitsplatz zu haben, eine gesicherte Existenz. (...) Ich fühle mich im Moment unterfordert in meinem Job, aber ich mach weiter. Kein Studium, eher eine praxisorientierte Weiterbildung. (...) 233 A2: Ich mach ja auch gerade den Meister. Ich bin vom Arbeitgeber freigestellt, oder besser: ich arbeite Schicht, Nachtschicht und Wechselschicht. Das lässt sich dann so einrichten, dass ich immer frei hab, wenn Schule ist, viermal in der Woche. (...) Heiraten ist bei mir und meiner Freundin jetzt noch nicht angesagt. Aber irgendwann mal, werd ich auch daran denken. Ihre politischen Haltungen beschreiben die Mitglieder des Vereins als Spektrum von linksalternativ, rot-grün, über bürgerlich-konservative Muster bis hin zu ‘völlig egal”. Bei manchen zeige sich eine gewisse Resignation und politisches Desinteresse, welches darin gründe, dass ‚an der momentanen politischen Situation ohnehin nichts zu ändern’ sei. In ihren mitmenschlichen Lebenszusammenhängen sehen sich die Little Devils als ‘normale’ Menschen, die ihren Alltag ‘ruhig’ und ‘stressfrei’ bewältigen und die aggressive Konflikte eher vermeiden als sie zu suchen. Gleichsam als Beleg wird ausdrücklich darauf verwiesen, dass pazifistische Motive für die Wehrdienstverweigerung und Paintball als Hobby durchaus miteinander in Einklang zu bringen sind: A1: Wir sind eigentlich ganz normale Leute und das wollen wir auch zeigen. Wir gehen nicht einfach in den Wald und ballern rum. Die Leute gibt es zwar, aber das sind nicht wir. A2: Ich bin jetzt seit 13 Jahren bei den Pfadfindern, ich hab’ Zivildienst gemacht und ich würde mich selbst als alles andere als irgendwie einen gewalttätigen Menschen bezeichnen. Ich mag es auch, in meiner Freizeit mal öfters mit meinen Kumpels irgendwo am Feuer zu sitzen und was zu grillen und einfach zu schwätzen und net irgendwie jetzt zum Beispiel auf Sauftour zu gehen und dann, wie sagt man, einen drauf zu machen und dann irgendwo zu randalieren oder sonst was. Also damit hab ich echt überhaupt nichts am Hut. A3: Und ich persönlich mag es mehr gemütlich, wie dass es irgendwo Stress gibt. A1: Also ich bin ja mehr ein lebhafter Typ. Aber grad was Konflikte anbetrifft und so, hab ich eigentlich auch wenig Interesse dran. Ich geh Streit meistens aus’m Weg, weil mir das zu blöd ist und ich denk, man kann auch Probleme mit Reden lösen. (...) Ich bin Fisch im Sternzeichen, und da heißt’s, man ist sensibel und so fühl ich mich auch. Ich bin ein bedächtiger Mensch und lass mich zu nix Brutalem hinreißen. Und ich spiele nicht nur Paintball, sondern hab auch ganz normale andere Interessen: Skating, Moutainbiking, mach Aerobic im Studio und geh’ spazieren. 234 Die Little Devils distanzieren sich von realer Gewalt und jedweden politischen Gruppierungen, insbesondere der rechten Szene. Dies ist auch in der Vereinssatzung festgelegt:120 “Der Verein verfolgt keine politischen, religiösen oder militärischen Zwecke. (...) Personen mit rassistischen, rechts- bzw. linksextremen politischen Ansichten ist die Mitgliedschaft versagt.” So haben sich bei dieser Gruppe - wie in der gesamten Paintball-Szene auch - spezifische Strategien etabliert, um sich von extremen politischen Gruppierungen, Militaristen und Anmutungen von realer Gewalt zu distanzieren. Erwähnt habe ich bereits die bunten Deckungsvorrichtungen des ‚Sup’Air’. Bedeutsam erscheint in diesem Zusammenhang weiter das ‘No Camo’-Spiel. Gemeint ist - wie bereits angedeutet - oftmals in Phantasy-Anzügen anstatt in militärisch oder martialisch anmutender Tarnkleidung zu spielen, um somit jeglichen Vergleich mit militaristischen Gruppen von vornherein auszuschließen. Zum anderen ist es gleichsam ungeschriebenes Gesetz, keine roten Paintballs zu verwenden, die im übrigen in Europa und in den USA gar nicht mehr oder kaum noch produziert würden: A: Auf den Turnieren wird in der Regel No-Camo gespielt. Das kommt von Camouflage und heißt Tarnung. Wir vermeiden es, in Nato- oder militärähnlichen Anzügen zu spielen. Wir wollen uns nicht kleiden wie Wehrsportgruppen, weil wir keine sind, auch wenn es aus spieltaktischen Gründen sinnvoll wäre, Tarnkleidung zu tragen, weil man dann einfach schwerer zu sehen ist als in den bunten Kostümen. In England oder in Amerika lachen die zum Teil darüber, weil Tarnanzüge dort kein Problem sind. Wir benutzen absichtlich auch keine rote Paint, weil das gleich wieder den Anschein von Blut erweckt. Eine weitere Distanzierungsstrategie besteht darin, den Begriff ‘Waffe’ auf das Paintballspiel nicht anzuwenden, sondern immer von einem Markierer zu sprechen. Dementsprechend wirken die Markierer oftmals eher wie bunte Spielzeuge. Nicht selten sind lila- oder mintfarbene Markierer bei den Turnieren zu sehen. 120 Die Ablehnung gegenüber der rechten Szene ist auch in einer Vielzahl anderer Regelwerke der Paintballszene schriftlich fixiert. So z.B. in den Tournament/Game-Regeln des ‘Deutschen Paintball Sportverbands’ oder auch in anderen speziellen Turnier-Richtlinien (national und international). 235 Abb.: Die Little Devils bei einem internationalen Turnier in ‘No Camo’ (unten) und im Vergleich dazu eine britische Mannschaft im ‚Military-Look’ (Fotosammlung der Little Devils) 236 Die Mitglieder der PSG Reutlingen verstehen Paintball als Outdoor- und Abenteuersport, der nichts mit Gewalt zu tun hat. Gewalt bedeute, jemandem mit Absicht reale körperliche oder seelische Schäden zuzufügen. Dies sei beim Paintball nicht der Fall, denn Gewalt sei nur gespielt, gleichsam künstlich inszeniert in einem eigens dafür vorgesehenen Rahmen mit doppeltem Netz und Boden: A: Also wir kriegen öfters das Argument: ‘Ja, ihr schießt auf andere Leute. Ihr könnt die doch verletzen’. Nein, ich verletz den ja eben nich, ich hab mit dem keinen persönlichen Kontakt. Er kriegt halt seinen Splat, aber das Splat kann man wegwischen. Ne scharfe Kugel kann ich nich wegwischen, das tut en bisschen mehr weh. Ich hab kein Interesse an scharfen Waffen und ich denk auch, die meisten Paintballspieler denken auch gar net an Krieg spielen oder so. (...) Wir markieren aufeinander, wir schießen aufeinander, aber wir wissen ja genau, dass dem andern nichts passiert. Der guckt sich an, ‘oh’ sagt der, ‘da ist en grüner Klecks drauf, da muss ich beim nächsten Mal aufpassen, da war ich wohl zu risikofreudig’. Zum Vergleich führen die Paintballspieler ‘andere’ Sportarten wie Fußball, Boxen oder Fechten an, die gesellschaftlich nicht nur akzeptiert seien, sondern auch gefördert würden. Dabei so ihre Meinung - erreiche Gewalt im Sinne körperlicher Schädigung beim Paintball nicht einmal das Niveau, das in anderen Sportarten erlaubt ist. Für sie ist Paintball ungefährlicher und weniger moralisch verwerflich als das Boxen. Das Akzeptieren des einen (Fechten, Boxkampf) und die Negation des anderen (Paintball) empfinden sie als Ungleichbehandlung und als ein Messen mit zweierlei Maß: A2. Beim Fußball brechen sie sich die Knöchel oder verletzen sich die Bänder. Das ist so in Ordnung (...) A1: Was wir hier machen, ist doch noch viel harmloser als Fechten oder Boxen. (...) Ich denk, da beißt sich doch die Katze in den Schwanz, weil wie ist es denn, wenn se bei so einem Boxkampf für die teuerste Eintrittskarte 2.800 Mark bezahlen, nur dass se zugucken können, wie einer dem andern die Fresse vollhaut und möglichst gut ins Gesicht und am Kopf trifft, dass der hinterher Hirnschädigungen hat und weiß nicht was noch alles. So Knochen gebrochen hat. Da wird dann gejubelt, da kommt dann die Presse: ‘Was für ein toller Kampf, und wunderbar’. A2: Oder beim Fechten. A1: Da geht man mit Messern aufeinander zu. Das heißt auch nicht gleich, dass der Fechter daheim das Messer nimmt, und jeden, wo’n dumm anmacht, gleich absticht, oder? Ich finde das sehr schade, dass man uns das Schlimmste unterstellt und den anderen nicht. 237 Im Hinblick auf diese Art der Argumentation resp. des Vergleichs mit Sportarten wie Boxen oder Fechten verweist Binhack (1998, S. 120) in seiner ‚sportwissenschaftlichen Analyse’121 auf einen seiner Meinung nach deutlichen ‘problematischen’ Unterschied, der nämlich in der wesentlich größeren Kampfdistanz beim Paintball/Gotcha bestünde: „Diese ist per se schon abstrakter als die Nähe des ‘Auge in Auge“ mit dem Gegner, die ihn in seiner Körperlichkeit (...), mit einem Wort in seinem ‘Menschsein’ ganz konkret erfahrbar macht. (...) Er [der Gegner; L.S.] wird verstärkt wahrgenommen als austauschbare, schemenhafte Figur, als bewegliches Ziel, das es als ‘tendenzielles Neutrum’ gegen dessen Widerstand zu ‘neutralisieren’ gilt. (...) Während anderen Kampfsportarten stets ein struktureller Beziehungscharakter zugrunde liegt, lässt es die Struktur des Gotcha-Spiels zu, daß man gerade bei seiner effizientesten Ausführung gar keine unmittelbare Kampfbeziehung mehr eingehen muss. Völlig anders als beispielsweise das klassische Duell, das auch als Pistolenduell stets Ausdruck eines offenen, aktiven, reziprok-antagonistischen Kampfes zur Demonstration von Ehrenhaftigkeit war, legt das Gotcha-Spiel ein sehr effektives, überfallartiges Schießen aus dem Hinterhalt nahe (...).“ Mit dieser Art der Interpretation konfrontiert, argumentiert der Teamcaptain der Devils: A: Ja, sicher - fehlende Distanz. Erstens hab’ ich keinen Feind oder kein Opfer, sondern einen Wettkampfgegner. Und zweitens: Klasse, beim Boxen seh ich den vor mir, der mir gerade das Nasenbein gebrochen hat und bekomme einen Hass auf den, der mir die Fresse poliert. Und außerdem: Warum zielt Paintball auf Töten und Fechten nicht? Wo gibt es denn beim Fechten die meisten Punkte. Doch nicht für den dicken Zeh. Das Fechten ist - wenn man denn von Nachahmung des Tötens spricht - doch genauso. Die meisten Punkte gibt es doch für die Brust. Aus soziologisch-ethnographischer Perspektive scheint ein Vergleich mit dem realen Heckenschützenwesen, wie Binhack ihn unternimmt, von (zumindest einem Teil) der Strategie des Paintballspiels her zulässig (schießen, in Deckung gehen). Aber - und das ist ein wesentlicher Unterschied - der fiktive Charakter, die Einbindung in einen sozialen Rahmen (Das ‘Vorher’ und ‘Nachher’) und der spielerische Charakter (hier: Organisierte Turniere, Sicherheitsmaßnahmen) dürfen in einer objektiven Diskussion nicht außer Acht gelassen werden. Konsequent zu Ende gedacht vergleicht Binhack die Fiktion des Gotchaspiels mit der Abstraktheit moderner Kriegsführung, wonach der Gegner nicht mehr mit eigenen Händen getötet werden muss, sondern aufgrund hochtechnisierter Waffensysteme per Knopfdruck und aus dem Hin- 121 Erwähnen möchte ich an dieser Stelle, dass Binhacks Arbeit mehr einem moralischen Postulat als einer wissenschaftlich wert-neutral formulierten Analyse gleicht. Er beruft sich zudem (mit Ausnahme von zwei persönlichen Gesprächen mit Mitgliedern der Gotchaszene) ausschließlich auf Kurzberichte in deutschen TVKultur- und Nachrichtenmagazinen aus den Jahren 1993/1994 sowie die Frankfurter Zeitung vom 05.12.1994. Insgesamt erliegt er oberflächlichen, moralisch-gefälligen Interpretationsangeboten und vermag es nicht, dass Phänomen Paintball in seiner Komplexität zu erfassen. 238 terhalt ausgeschaltet wird. Er unterstellt die Gefahr des Verwischens von Spiel und Alltag, die größer sei, als beispielsweise bei kriegerischen Computerspielen. Die Differenzen scheinen den hier befragten Paintballern jedoch nicht verloren gegangen zu sein. Im Gegenteil: Der selbstreflexive, kritische Umgang mit dem eigenen Faible, einer Vielzahl von Vorkehrungen und Reglementierungen zur Sicherheit der Spieler und auch das Wissen um problematische Einzelfälle spricht gegen einen zu befürchtenden Realitätsverlust. Damit auch wirklich niemand zu Schaden kommt, wird Sicherheit nicht nur groß geschrieben, sondern ist oberstes Prinzip. Gilt es zwar, den Gegner auf dem Spielfeld mit Farbkugeln zu treffen und damit zum Ausscheiden zu zwingen, verbirgt sich dahinter jedoch keineswegs unbesonnenes Handeln. Nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich am Körper dort ein Hämatom bildet, wo man von einer Farbkugel getroffen wird. Eine Spielerin berichtete mir bei dem bereits mehrfach zitierten Turnier von ihren Krampfadern, die vermutlich durch den Aufprall der Farbkugeln verursacht wurden. Eine Vielzahl an Vorkehrungen soll jedoch ernsthaftere Verletzungen ausschließen. So musste ich, um mit den Little Devils ein Turnier besuchen und am Paintballspiel teilnehmen zu dürfen, folgende Erklärung unterzeichnen: „Es wurde mir erklärt, daß das Spiel große körperliche und geistige Anstrengungen erfordern kann. Daß es gefährlich sein kann, wenn ich nicht nach den festgelegten Spielregeln, die ich gelesen habe, spiele. Daß ich mir Verletzungen zuziehen kann (Hämatome). Ich versichere, den Anforderungen des Spiels körperlich gewachsen zu sein. Daß ich Paintball als Sport und Spiel ansehe. Ich verpflichte mich, die Spiel- und Verhaltensregeln DPSV und die Anweisungen der Schiedsrichter zu befolgen. Die Ausrüstung wie vorgeschrieben zu benutzen und nicht zur Schädigung Dritter einzusetzen. Meine Schutzkleidung (z.B. Brille) im Spiel- und Schußbereich zu tragen.“ Deutlich wird hier, dass im Rahmen eines Spiels Sicherheitsvorkehrungen getroffen und zudem vom Turnierveranstalter überwacht werden. Der Deutsche Paintball-Sport-Verband (DPSV) hat in einem 35 Seiten umfassenden Regelwerk u.a. Regeln zur Sicherheit der Spieler definiert, die bei Verstoß von ausgebildeten, als ‘Marshals’ bezeichneten, Schiedsrichtern geahndet werden. Die ‘Marshals’ beobachten das Spielgeschehen und kontrollieren im Vorfeld die Zulässigkeit der Markierer. Mit einem Chronographen, in der Szene kurz ‘Chroni’ genannt, wird die Schussgeschwindigkeit der Markierer geprüft, bevor der einzelne Spieler das Feld betreten darf. Ein bestimmter Wert darf nämlich nicht überschritten werden, da Schutzbrillen und -masken dem Aufprall der Farbkugeln ansonsten nicht standhalten könnten. 239 Abb.: Vorschriftstafel und Chroni bei einem Turnier (Quelle: Gotcha 3/97, S. 33) Ebenso wird geprüft, ob andere Manipulationen (insbesondere am Markierer, aber auch an Schutzmasken und anderem) vorgenommen wurden, die nicht zulässig sind. Alkohol und Drogen sind vor dem Spiel verboten. Jugendlichen unter 18 Jahren wird die Teilnahme verweigert, da die Markierer unter das Waffengesetz fallen. Wie ernst die Spieler diese Regeln nehmen, erläutert ein Spieler am Beispiel der Gesichtsschutzmasken: A: Wenn man auf nem normalen Spielfeld spielt, dann is es immer Pflicht, die Maske aufzuhaben und auch die bestimmte Geschwindigkeit einzuhalten. (...) Man kriegt ansonsten keine Minuspunkte, sondern man wird vom Turnier ausgeschlossen, wenn man gegen die Regeln verstößt, wie zum Beispiel auch die Maske auf dem Spielfeld runternehmen. (...) Also wir haben auch schon Leute gehabt, wo mal mitgehen wollten zum Spielen, die haben so ne Wochenendausrüstung gehabt so mit Schweißerbrille und so. Und da haben wir gesagt: ‘Nee, mit der Maske spielst Du nich’. Und er so: ‘Wieso, warum nicht?’ Haben wir die Maske hingelegt und zwei-, dreimal darauf geschossen und da war das Glas kaputt. (...) Wir haben auch immer genug Masken dabei, weil wir einfach dem Risiko aus dem Weg gehen wollen. Nahezu jede Ausgabe der verschiedenen Paintballmagazine und auch die unterschiedlichen Websites der Clubs und Vereine enthalten Übersichten zu Sicherheitsvorschriften und Verhaltensmaßregeln. Dazu noch einmal ein Beispiel aus Xtreme Sports (05/00, S. 16f), das eine weitere wichtige, bisher noch nicht genannte Sicherheitsvorkehrung thematisiert - der ‘Barrel Plug’ im Lauf des Markierers, der außerhalb des Spielfeldes immer zu verwenden ist: 240 „Barrel Plug - neben der Maske einer der wichtigsten Punkte in Sachen Sicherheit. Der Barrel Plug ist ein kleiner Stopfen aus Plastik oder Hartgummi, der sich außerhalb vom Spielfeld im Lauf des Markierers befinden muß. Löst sich versehentlich ein Ball, zerplatzt dieser und kann den Lauf nicht verlassen. Somit eine der wichtigsten Vorschriften, um Zuschauer und Unbeteiligte am Spiel nicht zu gefährden.“ Insgesamt ist festzuhalten, dass die Paintballspieler in ihrem Verhalten stark reglementiert sind. Nicht das Chaos regiert, sondern die ‘Ordnung der Dinge’. Nun stellt sich die Frage, was die Faszination an Paintball ausmacht? Hier treffen im wesentlichen drei verschiedene Motivstrukturen zusammen: Paintball vermittelt 1) außeralltägliche Erfahrungen, Nervenkitzel und Thrill, 2) Selbstbestätigung im Wettbewerb und 3) Wir-Gefühl und Teamgeist. 1) Nervenkitzel: Die Suche nach Spannung, Nervenkitzel und Thrill sind zentrale Motive des Paintball-Spielers. Das Ausmaß der Entspannung korreliert mit der vorhergehenden Anspannung, der sich die Spieler ausgesetzt sehen. Künstlich herbeigeführte Angst, gefahrloses Spiel mit der gespielten Gefahr, die als real empfunden wird. Authentizität verleiht der einem gigantischen theatralen Spektakel gleichende Rahmen, der es erlaubt, für einen festgelegten Zeitraum in eine Rolle zu schlüpfen, die außeralltägliche (Körper-)Erfahrungen ermöglicht: Das Outdoor-Spielfeld als Ort, die Kleidung und diverse Utensilien spielen hierbei eine wichtige Rolle. Sie sind die Vehikel, die Authentizität transportieren. Auch wenn sich die damit verbundenen Emotionen für die Paintballer nur sehr schwer in Worte fassen lassen, versuchen sie zu beschreiben, wie es ihnen ergeht: A: Ich hab’ manchmal das Gefühl, meine eigene Angst zu riechen. Sicher weiß ich, dass mir nichts passieren kann. Es sind ja nur Farbkugeln. Aber auf dem Spielfeld verwischen Wirklichkeit und Spiel. Du merkst eigentlich nicht mehr, dass du nur vom Spielfeld runter musst, und schon bist du wieder in einer anderen Welt. Du glaubst, es ist echt und hast Angst. Angst getroffen zu werden, zu langsam zu sein, nicht schnell genug zu rennen, die Fahne zu verlieren. Du rennst, wie um dein Leben. Das Herz schlägt dir bis in den Hals und du pinkelst fast in die Hose, so aufregend ist das. (...) Und hinterher bist du unheimlich entspannt. Dein Körper, aber auch im Kopf ganz klar. A1: Es ist der absolute Adrenalinkick. Manchmal siehst du den anderen gar nicht. Die Fahne liegt vor dir, du liegst im Wald, und jetzt freie Fläche. Die Fahne vor dir, ist jetzt noch einer da, ist keiner da? Und dann, wenn du losrennst, dieser Adrenalinpush ist unbeschreiblich. (...) Werd ich erwischt, schaff ich’s bis zur Fahne, komm ich wieder zurück, wo sind die anderen? Und eben dieses ganze Drumherum, das ist eben das, was einem da den sogenannten Kick gibt. 241 A2: Du blickst um dich herum, ich schau mir alles an, ich lausch auch, ist was zu hören von den anderen. Dann geh ich weiter vor, immer das Ziel, die Fahne zu holen. Das Ganze spielt zusammen und auch die ganze Konzentration, die dazu nötig ist. Und dann, wenn ich es geschafft hab, die Erleichterung: Mensch, ich hab’s geschafft. Folgt man diesen Auführungen, sehen sich die Paintballspieler mehr als ‘Endorphin-Junkees’ denn als verstörte Militaristen (wie in der Presse häufig dargestellt und in der Öffentlichkeit angeommen), die Farbwaffen (Markierer) gegen schwere MGs tauschten, sobald sich die Gelegenheit dazu böte. 2) Wettbewerb: Wie in vielen Sportarten auch, geht es im Paintball darum, der Beste zu sein, körperlich und mental, und das Team damit zum Sieg zu führen: A: Das ist doch auch ein Gefühl des Triumphes, dass er ihn besiegt hat. Das ist wie beim Fechten oder beim Boxen auch. A: Es geht doch auch darum, sich vom Kopf her zu messen. Das ist doch auch Überlegung, Strategie. Beim Paintball braucht man nicht unbedingt einen absolut durchtrainierten Körper, sondern es kommt auf das Denkvermögen an. Es gewinnt der bessere Stratege, der, der den Überblick am besten behält. Das ist auch wie ein geistiges Kräftemessen. Hier wird thematisiert, was ob des gewaltaffinen Charakters häufig übersehen wird: die Aktualisierung der eigenen strategischen und damit geistig-intellektuellen Fähigkeiten. Das Spiel gewinnt, wer sich die Fahne erkämpft, und nicht, wer die meisten Treffer erzielt. Den Weg zur Fahne kann man theoretisch auch beschreiten, ohne den Gegner ‘auszuschalten’, sofern man sich so geschickt verhält, dass man selbst nicht getroffen wird. 3) Wir-Gefühl und Teamgeist: Wichtiges Motiv für die Teilnahme am Paintballspiel ist ein soziales Moment, dass nämlich Erfahrungen des Zusammenhalts, des ‘Füreinander-daSeins’ gemacht werden können: A: Das ist auch das, was auch diesen Mannschaftscharakter ausmacht. Wenn dann irgendwelche dauernd irgendwelche Einzelaktionen machen, dass einer davonrennt und irgendwie wild in der Gegend [auf dem Spielfeld: L.S.] rumballert oder so was, das hat dann einfach keinen Wert. Da muss die Mannschaft einfach miteinander harmonieren. A: Im Mittelpunkt steht immer das Team. Ich darf auf dem Spielfeld nicht nur an mich denken, sondern an die Mannschaft, gemeinsam zu gewinnen. Wenn ich mich dafür opfern muss und markiert werde, damit die anderen frei sind, die Fahne zu erobern, dann ist das o.k. Ich will mich ja auch blind auf die anderen verlas- 242 sen können, wissen, dass sie da sind, wenn ich sie brauche. (Postskript/Gesprächsprotokoll) Xtreme (05/99, S. 11) bringt es aus der Szeneperspektive noch einmal auf den Punkt: „Worin liegt der Reiz? Paintball ist eine ungewöhnliche Mischung zwischen Einzel- und Mannschaftssport. Spieler müssen taktisch vorgehen und im Sinne der ganzen Mannschaft handeln. Unter Zeitdruck bringt diese Anforderung an Körper und Geist den absoluten Kick.“ Gemeinschaftserfahrungen werden beim Paintballspiel allerdings nicht nur auf dem Spielfeld selbst vermittelt; der gesamte Rahmen transportiert soziale Nähe und freundschaftliche Verbundenheit: A: Ich hab früher Fußball gespielt. Wenn da die Hackerei angefangen hat, war der Streit da. Da ist es selten, dass man nach dem Spiel zu dem Team geht und mit denen noch redet. Beim Paintball ist es ‘ne ganz andere Atmosphäre. Man geht vor’m Spiel und nach’m Spiel hin und setzt sich noch zusammen. Wir haben auch schon Sachen gehabt, dass zum Beispiel bei uns jetzt ein Markierer ausgefallen ist und wir keinen Ersatzmarkierer hatten. Da sind die vom andern Team hergekommen, obwohl wir gegen die gespielt haben, und haben uns ‘nen Markierer gegeben. So was festigt, auch gerade dadurch, dass wir ja alle en bisschen abgedrängt werden (...) Und abends nach ‘nem Turnier ist ja meistens auch die Player-Party. Da sitzen alle Mannschaften, die teilgenommen haben, zusammen, machen noch ein Festchen, und das ist ne wunderbare feine Sache. Und das ist eben auch ne Art von Gemeinschaft, die man sonst nicht viel oder nicht oft erlebt in dieser Form. (...) Wir haben auch mal gegen den Europameister gespielt und ich hab den Teamcaptain von denen erwischt. Hinterher haben die den gesucht, der ihren Team-Captain markiert hat und wollten dem quasi noch gratulieren. Die haben dann noch ein T-Shirt mit ihren Unterschriften dagelassen. Und so geht das eben ab. So lautet dann auch das Motto in der Szene: ‘We are one family’. Man versteht sich, was mit entsprechenden Gesten bezeugt wird. Nicht zuletzt ‘sitzt man in einem Boot”, besonders gegenüber den ‘Diffamierungen’ von außen. Den freundlich-sozialen Umgang miteinander habe ich selbst erfahren. Als ich als Spielerin bei der Bielefeld Open teilnahm, war mein Markierer defekt. Ein fremdes Team (das zu diesem Zeitpunkt die Teilnahme resp. Beobachtung durch eine Forscherin noch nicht realisiert hatte) war sofort bereit, mit einem anderen Markierer auszuhelfen. Nach Veranstaltungsende wurde, wie im Interview beschrieben, bei bester Stimmung gemeinsam gegessen und getrunken, wurden die Sieger gefeiert, die fairsten Spieler geehrt. 243 Diese differenzierte Betrachtung der Motivstrukturen kann allerdings nur analytischer Natur sein. Denn auf dem Spielfeld, in der Praxis des Paintballspiels, amalgamieren Nervenkitzel und Thrill, Wettbewerb und Teamgeist in der Handlung, ja sie bedingen sich gleichsam. Darüber hinaus spielt bei Männern die Inszenierung der eigenen Männlichkeit und Coolness eine Rolle - fernab von ‘Weibergewäsch’ und feministischen Zwängen, denen sie glauben, sich im Alltag unterwerfen zu müssen. Mit Sicherheit dient das Paintballspiel auch dem geregelten und kontrollierten Abbau von Aggressionen, denen man im Alltag nicht nachgeben darf. Diese Motivstrukturen wurden von der hier zur Diskussion stehenden Gruppe allerdings nicht explizit geäußert, treffen jedoch - wenn nicht auch auf diese – in jedem Fall auf andere von mir befragte Paintballspieler zu. Schließlich spielt auch das Bedürfnis nach Distinktion eine Rolle. ‘Anders zu sein als die anderen’, einem exotischen Hobby nachzugehen, das nicht jeder betreibt und sich auch nicht jeder leisten kann. Zusammenleben und Struktur Die Bestimmungen zur Mitgliedschaft im Verein sind im Wesentlichen in der Satzung definiert. Wie bereits erwähnt, ist hier - quasi de jure - festgelegt, dass Personen bestimmter politischer Couleur die Mitgliedschaft verweigert wird. Ebenso muss derjenige, der Mitglied werden will, zum Zeitpunkt des Eintritts 18 Jahre alt sein. Das Alter und die politische Gesinnung der Vereinsmitglieder werden geprüft und die Mitgliedschaft im Verein erfolgt erst nach bestandener Probezeit. Ehe man Vereinsmitglied werden darf, muss man gleichsam einen Initiationsritus hinter sich bringen, an mehreren Turnieren teilgenommen, Integrität und ‘Correctness’ bewiesen haben. Der kritische Leser würde zu Recht an dieser Stelle anmerken, dass es zwar ohne Weiteres möglich ist, anhand des Personalausweises das Alter zu überprüfen, dass die politische Gesinnung jedoch nich einfach als Datum ‚objektiv’ abgerufen werden kann. Dem ist zuzustimmen und darauf hinzuweisen, dass hier im Stadium des frühen Kontaktes eine gewisse Unsicherheit besteht, die sich im Verlauf einer längeren Beziehung jedoch aufzulösen vermag. Zum ‚richtigen Verhalten’ gehört es auch, sich auch im ‘Eifer des Gefechtes’ der Sicherheitsbestimmungen bewusst zu sein und sich entsprechend zu verhalten: A: Wir prüfen das auch eingehend. Es ist nicht so, dass einer sagt: ‘Hallo, ich will Paintball spielen’ und wir sagen: ‘Oh toll. Du kannst gleich mit’. Wir nehmen die Leute mit, fünf Spieltage, und schauen erst mal, wie die sich verhalten und so. Und dann klar, wir sind auch privat öfters zusammen, bei uns ist es ja mehr ein Freundeskreis. Und wenn von außen einer reinkommt, wird erst mal eingehend geprüft. Sollte sich dann später herausstellen, dass er irgendwo in ‘nem rechten 244 Feld tätig ist, fliegt der sofort raus. Weil, das sind halt diese Leute, die machen unser Spiel kaputt. Wie in jedem anderen Verein auch, gibt es unterschiedliche Funktionen und Ämter, die von verschiedenen Mitgliedern ausgeübt werden. Vorstand, Kassenwart, Schriftführer etc. Ein wichtiges Amt ist das des Pressesprechers: Er leistet Aufklärungsarbeit, schreibt Artikel für die (Lokal)Presse, gibt Radio- und ggf. auch Fernsehinterviews für Lokalsender. Zur Klärung und Verabschiedung wichtiger Entscheidungen finden Mitgliederversammlungen statt, im Rahmen derer demokratisch abgestimmt wird. Unterschiedliche ‘Ämter’ und Funktionen gibt es auch innerhalb der aktuellen Turnier- resp. Spielteams: Der Teamcaptain ist für die strategische Organisation und Aufgabenverteilung zuständig. Er teilt die Mannschaft sozusagen ein und hat das Sagen auf dem Spielfeld. Der Teamcaptain entscheidet vor dem Hintergrund der jeweiligen individuellen Spielerkompetenzen wie Lauffähigkeit/Schnelligkeit, Treffsicherheit oder strategischem Geschick und Spielerfahrung über die grunsätzliche Teilnahme eines Spielers und/oder über seine Funktion im Geschehen. Ihm zur Seite steht der stellvertretende Teamcaptain, der ihn mit Rat und Tat unterstützt. Die Besetzung der formellen Ämter und Spielpositionen wiederum ist abhängig von informellen Hierarchien, die vor allem über spielerische Fähigkeiten definiert sind. Aber auch soziale Kompetenz, das Engagement innerhalb der Szene, für den Verein, bestimmen das Ansehen innerhalb der Gruppe und den Einfluss des Einzelnen bei wichtigen Entscheidungen. Freundschaft ist bei fast allen Befragten ein zentraler Wert. Dazu gehört das Gefühl, sich auf jemanden verlassen zu können, jemandem zu vertrauen und das Gefühl von Gemeinschaft und Zugehörigkeit. 2.3 Wahrgenommene Gruppenperipherie Perzipierte Fremdeinschätzung und eigene Bewertung Wie für die Paintball-Szene insgesamt bereits festgehalten wurde, hat die Öffentlichkeit, haben Medien, Polizei und Vertreter öffentlicher Einrichtungen – wie bereits eingangs erwähnt oft große Vorbehalte gegenüber Paintballspielern. Davon zeugen die folgenden Aussagen der Paintballspieler selbst: 245 A1: Meine Mutter hat mal im Fernsehen so nen Bericht gesehen und dann kam sie hinterher zu mir: ‘Oh Gott, das sind ja Nazis und Du machst das doch auch’. A: Ich bin bei einer [nennt öffentlichen Arbeitgeber] angestellt. Wenn die wüsste, dass ich in meiner Freizeit Paintball spiele, könnte ich gehen. Ich habe das irgendwann mal angedeutet und mir kam das pure Entsetzen entgegen. (Beobachtungs- und Gesprächsprotokoll) A: Meine Freunde denken, dass ich Bürgerkrieg spiele. Da hab ich ihnen gesagt, dass sie dummes Zeug erzählen, und da haben sie dumm geguckt. Birgit Ebbert von der ‘Aktion Jugendschutz’ kommentiert das Paintballspiel der Little Devils so: „Es handelt sich um ein Kriegsspiel mit dem echten Vorbild nachempfundenen Waffen. (...) Aggressionen werden nicht abgebaut, vielmehr ist oft das Gegenteil der Fall, wenn nämlich der sich als ‘King’ fühlende getroffen wird, und ausscheiden muß“ (zitiert nach einem Interview im ‘Schwäbischen Tagblatt’ vom 28.06.1997). Wie bereits erwähnt, ist es nicht ohne Weiteres möglich, neue Spielfelder anzumieten bzw. Grundstücke zu pachten, um darauf Paintball zu spielen. Deshalb vermuten die Paintballer hinter denjenigen, die ein Grundstück bereitwillig zur Verfügung stellen, rechtsextremistische Orientierungen: A: Mit der Jugend kann man meistens drüber reden, mit den älteren Leuten wirds halt schwieriger, grad auch hier im schwäbischen Raum, weil die Leute halt meistens Dickschädel sind. Und das ist auch das Problem bei der Geländesuche. Viele lassen große Grundstücke einfach so verwildern. Wenn man dann hingeht und fragt, ob mans pachten kann, sagen se: ‘Kein Problem’. Sobald man denen aber dann erklärt, was man da drauf machen will, heißt es: ‘Oh, Ihr spielt Krieg und ihr seid Nazis’ und solche Sachen. Das sind halt die Argumente, die man meistens an den Kopf geschmissen kriegt. Und diejenigen, die dann nix sagen oder uns akzeptieren und ihre Grundstücke zur Verfügung stellen würden, die sind uns nicht geheuer, weil es Altnazis sind. Öffentliche Waldstücke oder ‘Sportstätten’ werden auch von den zuständigen Behörden für Paintballturniere nicht freigegeben: A: Also ich hab’ nen Haufen Schriftzeug da. Ich hab versucht, hier ein Öffentlichkeitsturnier zu machen, die Stadt angeschrieben und gefragt, wie es aussieht, ob wir ne Halle haben könnten. Da sind se dann mit irgenwelchen DIN-Normen gekommen, wo Paintball nicht drin ist. 246 Die Reaktionen der Behörden und deren Begründung für die Ablehnung sind im Folgenden nocheinmal dokumentiert: „Mit Interesse haben wir die Ihrem Antrag vom 17.10.1994 beigelegten Informationen gelesen. Nach Ihrer Schilderung des Paintballspiels dürfte es sich hierbei vermutlich nicht um eine Spiel- oder Sportart handeln, die im Württembergischen Landessportbund organisiert ist. Unsere städtischen Turn- und Sporthallen sind baulich so gestaltet, dass sie vorrangig den Belangen des Schulsports gerecht werden. Darüber hinaus werden diese Sporträume auch Reutlinger Vereinen für Sportarten zur Verfügung gestellt, die in der DIN 18032 Teil 1 als Hallensportarten aufgeführt sind. Dies trifft für das Paintballspiel leider ebensowenig zu, wie z.B. für die Sportarten Baseball, Radsport, Rollsport u.a. Auch die Mitbenutzung einer städtischen Sport-Freianlage können wir Ihnen leider nicht anbieten. Die städt. Sportplätze sind seit vielen Jahren so stark ausgelastet, dass wir keine weiteren Sportgruppen mehr berücksichtigen können. Wir bitten um Verständnis für diesen ablehnenden Bescheid.“ (Auszug aus einen Schreiben des Schul-, Kultur- und Sportamtes der Stadt Reutlingen vom 24.10.1994) In einem weiteren Schreiben heißt es: „Die Vergabe der Turn- und Sporthallen erfolgt nach bestehenden Richtlinien und Normen. (...) ‘Paintball’ ist in dieser DIN nicht erwähnt. Darüber hinaus ist die Beschaffenheit der Sporthallen nicht für eine Verunreinigung durch Farbstoffe ausgelegt. Auch der Rechtsreferent des Württembergischen Landessportbunds hält es auch langfristig gesehen für völlig ausgeschlossen, dass ‘Paintball’ als Sportart anerkannt wird. Wir sehen deshalb keine Möglichkeit, Ihrer Bitte auf Überlassung einer Sporthalle für ein Paintballturnier entsprechen zu können. Bitte haben Sie dafür Verständnis.“ (Auszug aus einem Schreiben der SBG-Sportstätten-Betriebsgesellschaft Reutlingen mbH vom 29.11.1994) Insgesamt agieren die Paintballer unter einem extremen Normalitätsdruck, der potenziell ein Bias der Aussagen erzeugen kann. Dies aber eher dahingehend, dass einzelne problematische Vorkommnisse verharmlost resp. verschwiegen werden. Nicht anzunehmen ist jedoch, dass hierdurch der Charakter des Paintballspiels - wie vorliegend beschrieben - grundsätzlich in Frage zu stellen ist hinsichtlich Motivation, Reglementierung etc. 247 Außenbeziehungen Die Devils sind familiär eingebunden und die meisten haben noch weitere Hobbys. So ist ein Mitglied (wie bereits gezeigt) seit vielen Jahren den Pfadfindern verbunden, ein anderes fühlt sich zur Techno-Szene hingezogen, ein weiteres interessiert sich für Computerspiele. Insgesamt ist davon auszugehen, dass sie gesellschaftlich weitestgehend integriert sind und Isolation eher untypisch ist. Im Gegenteil: Auch mit ihrem Hobby gehen die Little Devils nach außen, in dem sie nämlich für ihre Sache öffentlich werben und streiten. Wohlwissend um die Reaktanz, die Paintball in der Öffentlichkeit auslöst, haben die Akteure - wie wir gezeigt haben - Strategien entwickelt, sich von dem Stigma des kriegsverherrlichenden Aggressors zu befreien. Sie verpflichten sich auf Fairness, Sicherheit und Distanzierung zu radikalen politischen Gruppierungen. Diese Selbstverpflichtung über verschiedene ‘PRAktivitäten’ an die Öffentlichkeit zu transportieren, gehört zu jenen selbstreflexiven Handlungsmustern, die für den Verein und die organisierte Paintball-Szene typisch sind. Die PSG Reutlingen hat eine Vielzahl verschiedener Aktivitäten aufzuweisen. Dazu gehören das Verfassen von Artikeln für Szene-Zeitschriften aber auch andere Printmedien, Zeitungsinterviews oder die Organisation von Informationsveranstaltungen über Paintball. Nachdem die Stadt Reutlingen keine Halle und auch keinen Ort für ein Paintballturnier zur Verfügung gestellt hat, entschloss man sich kurzerhand, eine sogenannte ‘Wanderdisco’ namens ‘Charly 2000’ zu buchen. Nach dem Motto: ‘Kannst Du den Feind nicht besiegen, dann mach’ ihn Dir zum Freund’ wurde aus dem geplanten Turnier eine Tanzveranstaltung, die den Rahmen für einen Informationsstand bot. Die Disco-Nacht mit ‘Charly 2000’ durfte dann in der ‘Julius-Kemmler-Halle’ mit Unterstützung der Stadt Reutlingen stattfinden: „Da die Veranstaltung sehr kurzfristig geplant wurde, war es dann um so überraschender, als fast 1000 Jugendliche erschienen. Und Charly 2000 schaffte es immer wieder, die Menge zum Toben zu bringen. Auch die PaintballSpielergemeinschaft hatte mit ihrem Infostand großen Erfolg und konnte sich großer Beliebtheit erfreuen. Im großen und ganzen ein riesen Erfolg für den Verein, der sich und seinen Sport vorstellte und für die Jugendlichen, die bis um 1.00 Uhr tanzen konnten, bis die Fetzen flogen“ (zit. nach ‘Betzinger Blättle, 02.10.1995) Auf diese Weise konnte der Verein neue Mitglieder gewinnen. Eine zweite Disco wurde kurz darauf organisiert. Auch diese war erfolgreich und schien hinsichtlich der Imagearbeit im gefruchtet zu haben. Denn, so die Devils, das Echo in der Tagespresse sei daraufhin recht positiv gewesen. 248 Devianz Würde man man sich den Blick der Medien oder öffentlicher Institutionen zu Eigen machen, so wäre zu vermuten, dass die ‘Konten’ der Paintballer insbesondere aufgrund von Körperverletzungen oder Verstößen gegen die besonderen Strafvorschriften gegen den Rechtsextremismus122 belastet wären und ganze Strafregister damit gefüllt werden könnten. Dies ist unzutreffend: Keiner der Spieler ist nach eigenen Aussagen bisher mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Devianz im Sinne strafrechtlich relevanter Delikte spielt bei dieser Gruppe keine Rolle. 2.4 Intergruppenbeziehungen Allianz und Ambivalenz Den bisherigen Ausführungen der Paintballer folgend gilt in der Konsequenz festzuhalten, dass für sie kein wirkliches Feindbild definiert werden kann. Gegner gibt es nur auf begrenzte Zeit und in einem begrenzten Relevanzrahmen; so, wie bei anderen Sportarten auch: A: Man sagt zu den anderen Mannschaften zwar Gegner, aber das sagt man in jeder Sportart. Nachher begegnet man sich, man schwätzt, wechselt noch ein paar nette Worte, man macht Witze übereinander. Sobald das Spielfeld verlassen wird, ein Turnier zu Ende ist, kehren die Beteiligten in ihre Alltagsrollen zurück, werden Tische gedeckt, selbstgebackene Kuchen serviert. Die Siegerehrung und die Verleihung der Pokale können beginnen. Ein fast schon familiärer Kaffeeklatsch beendet einen erlebnisreichen Turniertag. Wie die Hooligans (vgl. Kap. III. 3) definieren sie den ‘sportlichen Gegner’ nicht als Feind, sondern als ‘Erlebnisfreund’ und betonen den kollegialen und freundschaftlichen Charakter. Über spezifische Allianzen oder ambivalente Haltungen wurde nicht gesprochen. Dies widerspräche auch dem bereits zitierten Motto ‘We are one family’. Lediglich wie im Alltag aller Menschen gäbe es besondere Sympathien und Antipathien. Letztere haben dann häufig mit der Frage des Engagements innerhalb der Szene zu tun. Es reicht nicht, ein guter Sportler zu sein. Wer nur zum Spiel erscheint, sich sonst aber wenig für das Funktionieren der Szene engagiert, ist bei den Little Devils nicht gut gelitten. 122 So z.B. Verstöße gegen den Paragraphen 131 StGB, Gewaltdarstellung; Aufstachelung zum Rassenhass. Im Vordergrund steht der Schutz der Gesellschaft vor sozialschädlicher Aggression und Hetze. 249 Abgrenzung Deutliche Abgrenzungen formulieren die Gruppenmitglieder allerdings gegenüber solchen Gruppierungen, die sich und andere durch ihr Verhalten, gleich welcher Art, in Gefahr bringen: A: Es gibt ja so Gestörte, die rasen mit zweihundert über die Autobahn oder schnallen sich aufs Dach drauf oder stehen auf der U-Bahn. Das find ich total beknackt. Da kann wirklich was passieren. (...) Das ist ja total beknackt, jetzt wirklich sein Leben zu riskieren. (...) Nicht zuletzt, weil die ja auch andere gefährden können, wenn einer aggressiv Auto oder Motorrad fährt. Da kann wirklich schon einer druff gehen. Dann ist’s aus, vorbei vielleicht. Ähnliches gilt - wie bereits mehrfach dargestellt - gegenüber Individuen mit vor allem rechter politischer Gesinnung. Dazu gehören sicher auch Personen aus der ‘rechten Skinhead-Szene’, die glauben, militärische Übungen auf diese Weise durchführen zu können. Paintballer solcher Orientierung tauchten auf internationalen Turnieren schon einmal auf. Dies sei bedenklich, letztlich aber Sache der Turnierleitung. Sie selbst, wie andere deutsche Teams auch - so die Devils - , würden ihnen als Leiter eines Turniers die Teilnahme verweigern und hätten aufgrund der Teilnahme eines rechtsorientierten Teams auch bereits ein Turnier verlassen. Insbesondere betonen sie noch einmal ihr Verhältnis zu den in Japan und z.T. auch in den USA praktizierten Paintball-Varianten: A1: Die Amis haben schon ein paar Irre dabei. A2: Aber noch bekloppter sind die Japaner. Die sind voll durchgeknallt. Wie die Paintball spielen, dafür hab ich kein Verständnis. Die simulieren alle möglichen Kriege, die es mal gegeben hat, spielen die nach. Die sind mir echt nicht geheuer. Das sind doch Psychopathen, aber keine Paintballer. Kein Verständnis zeigen die Little Devils auch für psychisch labile ‘Einzelkämpfer’, die ‚auf ungesichertem Gelände planlos rumballern’, sich und andere gefährden, indem sie entsprechende Verhaltensmaßregeln missachten. Für diese ‘schwarzen Schafe’, die die Szene diskreditieren, haben die Paintballer nichts übrig und möchten auch nicht mit ihnen in Verbindung gebracht werden. Abgrenzung findet also nicht gegenüber anderen Szenen, als vielmehr innerhalb der eigenen Szene (intra-szenische Exklusion) statt. Distinktionen vollziehen sich hier sehr stark unter dem Normalitätsdruck. Gruppen, die das ohnehin negative Bild der Paintballer in der Öffentlichkeit durch rechtsextreme Parolen, militaristisches Auftreten etc. noch stärker verunglimpfen, werden ohne ‘Wenn und Aber’ abgelehnt. Sie bedrohen die eigene positive Selbstdefinition als ‘Sportler’ in besonderem Maße. 250 2.5 Gruppenverlauf Die Gruppe hat sich zwischen 1996 und Anfang 2000 kaum verändert. Es hat zwar Zu- und Abgänge gegeben, die mehr oder weniger formellen Positionen sind jedoch noch immer mit denselben Personen besetzt. Die Little Devils haben sich noch besser in der Szene etablieren können. Dies aufgrund ihrer spielerischen Fähigkeiten, vor allem aber wegen des Engagements innerhalb der Szene. Die Mitglieder sind als Schiedsrichter auf Turnieren sehr gefragt, der Teamchef hat lange Zeit Turnieranglisten betreut resp. herausgegeben. Auch sorgen die Little Devils für den Nachwuchs, die sogenannten ‘Rookies’. Es habe sich herumgesprochen, dass man ihnen gegenüber keinerlei Arroganz zeige. So ist der Teamcaptain mittlerweile gleichzeitig auch Teamcaptain der Nachwuchsspieler der ‘Allstars’, dem erfolgreichsten Team in Deutschland. Die Gruppe verspürt aktuell eine leichte Normalisierungstendenz. Der Druck von außen sei zwar immer noch stark, habe aber im Vergleich zu vor ein oder zwei Jahren abgenommen. Zwar plane die neue Regierung eine Verschärfung der Gesetze, die Paintball problematisiere und zu weiteren Reglementierungen beitrage. Auf der praktischen Ebene jedoch haben die Little Devils von einer Kreisstadt offiziell ein Spielfeld angeboten bekommen. Auf Turnieren lockern sich die krampfhaften Bemühungen des Vermeidens militärähnlicher Spielanzüge. Wohlwissend, dass es bisher zu keinem nennenswerten bzw. folgenschweren Zwischenfall gekommen ist und dass sich ‘Rechte’ in der Szene bisher nicht etablieren konnten, traut man sich nun eher, funktional (Tarnung) sinnvolle ‘Armyhosen’ zu tragen, die bei Ravern und Rappern ohnehin zulässig und üblich seien. Die Fähigkeit des Thrillerlebens scheint nicht inflationär geworden zu sein. Die Gruppenmitglieder sehen keine Abnutzung oder Gewöhnung im ‘Reizkonsum’, die stärkere oder gar ‘realere’ Erlebnisse abverlange. Allenfalls der hohe Zeitaufwand, den das Hobby erfordere und auch die hohen finanziellen Kosten werden gleichsam mit den Jahren hinterfragt. Beruf, Zeit und Geld waren die Gründe für den Ausstieg bei einigen Gruppenmitgliedern. Freundschaft, Spaß, Erfolg und soziales Ansehen Motive für den Einstieg bei den Little Devils. 251 3. Hooligans - Gewalt macht Spaß Besuch aus Deutschland ... „Als Markus Warnecke und 45 Gleichgesinnte (...) gegen Mitternacht am Busbahnhof Hannover den Bussa-Nova-Reisebus bestiegen, hatte keiner von ihnen eine Eintrittskarte für das Spiel der Nationalelf gegen Jugoslawien bei sich, dafür aber Massen von Bier und den festen Willen, sich zu prügeln. ‘Wir sind Hooligans’, bekennt Jörg Draht, Organisator der Fahrt, ‘einer gepflegten Schlägerei sind wir nicht abgeneigt’“ (Der Spiegel 1998, S. 74 – zu den Ereignisse in Lens 1998). Seit dem Brüsseler Heyseldrama 1985 evozieren gewaltbereite Fußballfans in der breiten Öffentlichkeit Empörung und Bestürzung. Erneut wurde das Problem der (Jugend)Gewalt in das Bewusstsein gerückt, als Hooligans aus Deutschland bei der Fußballweltmeisterschaft in Frankreich bei Krawallen in der nordfranzösischen Stadt Lens am 21. Juni 1998 den Gendarmen Daniel Nivel so schwer verletzten, dass dieser wochenlang im Koma lag und bleibende Schäden davon trug. Abb.: Tatfoto vom Juni 1998 in Lens: Ein Hooligan schlägt auf den am Boden liegenden Polizisten ein (Quelle: http://mainz-online.de) „Was im nordfranzösischen Lens (...) nach dem Spiel der Deutschen gegen die Jugoslawen geschehen war, hatte ‘die Welt entsetzt’ (‘Bild’). Der BeinaheTotschlag, von blindwütig prügelnden Hooligans vollzogen an einem 43jährigen Polizisten, beherrschte tagelang die Medien, beschäftigte den Bundestag und wurde zum politischen Zankapfel zwischen Deutschen und Franzosen. (...) Waren die französischen Sicherheitskräfte schlecht vorbereitet auf ein erwartbares, von Düsseldorfer LKA-Leuten angekündigtes Spektakel der fliegenden Fäuste? (...) Einig waren sich alle im empörten Aufschrei und in der Verurteilung von Tat und Tätern. ‘Gewaltverbrecher’ nannte sie Außenminister Klaus Kinkel und forderte eine 252 ‘Hooligan-Datenbank’ (die es längst gibt). Von ‘kaum resozialisierbaren’ Tätern sprach Innenminister Manfred Kanther. Über ‘reisende Gewalttäter’, die ‘dem Ansehen Deutschlands schwer geschadet’ haben, klagte der SPD-Agbeordnete Jürgen Meyer. DFB-Abgeordenete waren den Tränen nahe. Der Kanzler schämte sich stellvertretend für die ganze Nation“ (ebd. S. 73). Hooligans oder Hools sind gewaltbereite Gruppen, die sich seit 1987 innerhalb der deutschen Fußballszene ausbreiten und sich dabei an den englischen Vorbildern orientieren. Sie sind Teil eines Randaletourismus, wie er im oben zitierten Spiegel-Artikel beschrieben wird: Ort und Zeit für körperliche Auseinandersetzungen werden oftmals schon via Telefon/Handy oder Internet verabredet. In erster Linie geht es hier nicht unbedingt um Fußball, sondern um die Schlacht nach dem Spiel. Innerhalb der bundesdeutschen Fankulturen unterscheiden Utz/Benke (1997, S. 103) die Gruppen der Novizen, Kutten, Hools und Veteranen, „die sich hinsichtlich ihrer Figurationsstruktur, der Interpretation der subkulturellen Wertvorstellungen und der daraus resultierenden Logik ihres Ausschreitungsverhaltens unterscheiden.“ Die Novizen stoßen im Alter von zwölf bis 16 Jahren zur Fankultur. Dieser „Einstieg“ kann Ausgangspunkt einer längeren Fankarriere sein. In der Szene insgesamt haben die Novizen das geringste Ansehen; sie werden als „Kinder, Heuler- oder Lutschermob“ (ebd., S. 106) verhöhnt und müssen sich zuerst ihre Sporen verdienen. Ist ihnen das gelungen, können sie möglicherweise zu Kuttenträgern aufsteigen. Kuttenträger sind Fangruppen, die ihre Vorliebe für ihren Verein durch Schals und Mützen und die über und über mit Vereinsemblemen verzierte Jacke (Kutte) ausdrücken. Kutten gehören zu den etablierten und anerkannten Fans und sind auch für Außenstehende während der Bundesligasaison beim samstäglichen Stadionbesuch leicht auszumachen. Der Veteran stellt den Ausstiegstyp aus der Fankultur dar. Er ist nur noch lose über Kneipen, Cliquen oder Freundesgruppen an die Szene gebunden und bewegt sich eher zurückhaltend in dieser Welt. Hooligans bezeichnen einen neuen Fantyp in der bundesdeutschen Fankultur und unterscheiden sich von den übrigen Typen: „Sie rekrutieren sich zum Teil aus ehemaligen Kuttenträgern, die bereits eine Karriere als Novize hinter sich haben. Neuerdings scheinen sie direkt aus Novizenkreisen und jugendlichen Gruppen Zulauf zu haben, die keine spezifischen Fanerfahrungen mehr aufweisen, sondern sich umweglos an die Hools anzuschließen versuchen. Die Hooligans sind für den Außenstehenden nicht auf den ersten Blick wie etwa die gleichaltrigen Kuttenträger erkennbar. Zu ihrer ‘Standardausrüstung’ gehören teure Jeans, Jogging-Bekleidung, Imitationen amerikanischer Baseballjacken und die ihrem Verständnis nach unverzichtbaren Regenschirme. Auch den Hools dient die spezielle Kleidung als Mittel, sich gegenüber den anderen Typen der Fankultur intern abzugrenzen und nach außen für die gegnerischen Hools leicht erkennbar zu sein. Daß das Tragen von Symbolen in der Fanszene als abgrenzungsrelevantes Zugehörigkeitssymbol gelesen wird, zeigen Ausdrücke mit 253 verächtlicher, abwertender Konnotation, mit denen Hools Kuttenträger beschreiben: Kuttenlutscher, Kuttenaffe, Kuttenkinder oder - in anderer Stoßrichtung - Assimob. Die Hoolsfigurationen weisen keine formalisierte Binnenstruktur auf. Zugang und Mitgliedschaft ist für Außenstehende nur sehr schwer zu erhalten. Da das Gruppenziel der Hools im Unterschied zu den Kuttenträgern vornehmlich darin besteht, gewalttätige Ausschreitungen relativ rational zu planen und durchzuführen, ist Zugang und Mitgliedschaft für andere Fangruppen, besonders für Kuttenträger, wegen der durch sie gegebenen Entdeckungsgefahr seitens der Polizei, nicht zu haben“ (ebd. 1997, S. 109f). Neben der hier ausführlich zitierten Analyse von Utz/Benke gibt es eine Vielzahl deutschund englischsprachiger Literatur zum Phänomen der Hooligans. International bemühen sich Journalisten sowie renommierte Wissenschaftler um ein adäquates Verständnis der Interaktions- und Motivationsstrukturen. Hinweisen möchte ich auf die Studien von Deiters/Pilz (1998), Farin/Hauswald (1998), Gehrmann/Schneider (1998), Hahn u.a. (1988), Heitmeyer/Peter (1992), Matthesius (1992), Weis (1993).123 Einen ausführlichen Erfahrungsbericht im Sinne einer ethnographischen Analyse liefert die Schilderung von Buford (1992), der seine Erlebnisse mit den gefürchteten englischen Hooligans in den Fußballstadien Englands und Europas beschreibt. Als Erklärung für die von Hooligans ausgeübte Gewalt werden häufig adoleszente Identitätskrisen oder makrosozial bedingte Sozialisationsdefizite sowie gewisse Dispositionen für gewalttätige Verhaltensweisen verantwortlich gemacht (vgl. Utz/Benke 1997). Auf diese Ursachen von (Jugend)Gewalt verweisen auch Eckert u.a. (1998; 2000), wenn sie vor allem Mehrfach-Problemlagen hinsichtlich Herkunft, Familie und Ausbildung als ausschlaggegend bezeichnen. Für die besonders realitätsnahen und gewaltaffinen Tripps der von mir untersuchten Hooligans kann allerdings ein Zusammenhang zwischen Gewalt und benachteiligten Lebenslagen so nicht notwendigerweise nachgezeichnet werden. Bei ihnen spielt die ‘Lust an der Gewalt’ als Ausdruck der Suche nach dem ‘ultimativen Kick’ eine wichtigere Rolle. Diese emotionale Dimension kann bis zu einem gewissen Umfang auch für andere gewaltaffine Jugendkulturen (Türkengangs, HipHopper, Skinheads oder Punks) nachgezeichnet werden, denn fast immer schwingt in der gewaltaffinen Auseinandersetzung auch Gewaltlust mit. Für die Hooligans lässt sich aber zeigen, dass diese Lustquelle nicht ‘Nebenprodukt’ ist, sondern vielmehr im Zentrum eines bewusst herbeigführten, martialischen Erlebnistourimus steht. 123 Vgl. auch Marsh u.a. (1978); Haferkamp (1987); Horak u.a. (1987) 254 Zur empirischen Datenbasis Bei den hier skizzierten Hooligans handelt es sich um eine Gruppe von ca. 150 Mitgliedern. Diese Zahl schließt allerdings die sogenannten ‘Mitläufer’ ein. Die Altersspanne reicht von ca. zwölf (der Nachwuchs) bis 35 (die Alten) Jahre. Zum harten Kern gehören vor allem die 18- bis 26-Jährigen. Dies sind ca. 30 bis max. 50 Männer, die im Rahmen von Fußballspielen und Kneipenbesuchen auch schon einmal ihre Freundinnen oder Frauen mitbringen. Die Frauen sind allerdings - so meine Beobachtungen - nur ‘Gäste’. Die sozialen und familiären Herkunftslagen sind heterogen, die eingeschlagenen Ausbildungs- und Berufswege ebenso. Die Gruppe definiert und profiliert sich über Fußball, mehr aber noch über die Gewaltrituale im Anschluss an die Fußballspiele. Die Daten zu diesem empirischen Portrait habe ich zwischen 1995 und 1999 erhoben. Der persönliche Kontakt zu den Hooligans bestand zwischen 1995 und 1997. Die Informationen aus den Jahren 1998 bis 1999 basieren auf einem Gespräch mit einem Experten der Polizei, der die Gruppe seit langem beobachtet und kennt, und der von mir auch schon vorher befragt worden war. Im einzelnen habe ich zwei ausführliche Interviews mit Hooligans sowie Expertengespräche mit Straßensozialarbeitern und Polizisten durchgeführt. Hinzu kommen zahlreiche Unterhaltungen mit den Hooligans und eine Reihe von (teilnehmenden) Beobachtungen. Anlass für letztere waren zwei gemeinsame Stadionbesuche und eine Nonstop-24-Stunden-Begleitung der Hools an einem Wochenende. Dass die immens zeitaufwendige Datenerhebung bei dieser Gruppe keine Gruppendiskussionen oder weitere aufgezeichnete Interviews erbracht hat, liegt an der Besonderheit der Gruppe: Sie aktualisiert sich nur anlässlich der entsprechenden Fußballspiele mit anschließender Randale. Meine Begegnungen mit der Gruppe fanden deshalb in erster Linie während und nach der sogenannten ‘dritten Halbzeit’ statt. Von einer ‘geordneten’ Interviewsituation kann auch angesichts des hohen Alkoholkonsums und der Schlägereien deshalb keine Rede sein. 255 3.1 Herkunft und aktuelle Lebenssituation Familie ‘Meine’ Hooligans stammen aus sehr unterschiedlichen Familienverhältnissen. Die sozialen Herkunftslagen reichen von den unteren Schichten bis hin zum Großbürgertum und Unternehmerfamilien. Informationen aus Gesprächen mit der Polizei und Straßensozialarbeitern, aber auch meine eigenen Recherchen zeigen, dass dabei das ganze Spektrum von ‘normalen’ bis hin zu sehr problematischen Familiengeschichten vertreten ist. Einer der Befragten, der zum Untersuchungszeitpunkt gerade eine Umschulung im Handwerk machte, ist im Heim aufgewachsen, weil ihn seine Eltern - wie er sagt - ‘nicht erziehen konnten und abgeschoben haben’. So sei er ‘auf die schiefe Bahn geraten’, habe Kontakte in die kriminelle Szene bis hin zur organisierten Kriminalität. Zum Zeitpunkt meines letzten Gespräches erwartete ihn ein Verfahren wegen versuchten Mordes. Er gab an, dass seine reichen Eltern gute Kontakte zum Gericht hätten und „wohl wegen ihres schlechten Gewissens“ eine Kaution für ihn hinterlegt hatten. So müsse er bis zur Verhandlung nicht in Untersuchungshaft. Dies wurde von den anderen Gruppenmitgliedern bestätigt. Typischer scheinen allerdings konventionelle Verhältnisse zu sein, wie das folgende Beispiel stellvertretend zeigt. Es handelt sich um einen jungen Mann, der religiös erzogen wurde, was hier als Hinweis auf traditionell orientierte und ‘geordnete’ Familienverhältnisse interpretiert werden kann. A: Ich bin sehr streng katholisch erzogen worden, also war mal Messdiener. F: Ja. A: Ja, ich musste jeden Sonntag in die Kirche gehen, bis ich 14, 15 war, mit Freunden dann statt zum Gottesdienst zu gehen, in ‘ne Kneipe gegangen bin und geflippert habe und so, und als ich dann nach Hause kam und mein Vater gefragt hat, was der Pfarrer gepredigt hat, und ich mir ja was ausgedacht habe und dann entweder Druck gekriegt habe, weil es nicht stimmte oder, irgendwann haben’s denn mal aufgegeben, dass ich also in die Kirche gehe und Messdiener mache und so weiter und so fort. Gläubig bin ich eigentlich auch, kann man sagen, aber deswegen muss ich nicht jeden Tag in die Kirche rennen. Ich geh eigentlich nur in die Kirche, wenn mal ‘ne Hochzeit ist oder ‘ne Taufe, Konfirmation, Kommunionfeier, ansonsten eigentlich nicht. Hat aber nach meiner Ansicht nichts mit dem Glauben zu tun. Irgendwo glaube ich, dass es so was gibt, aber, ja, warum auch nicht? Beten tu ich eigentlich nicht, brauche ich net (lacht). 256 In der Interviewpassage wird die Akzeptanz des Jugendlichen in Bezug auf gesellschaftliche und religiöse Bräuche (z.B. Taufe, Konfirmation, Hochzeit) und damit auch seine Verankerung ins ‘normale Leben’ deutlich. Solche Ereignisse werden nicht in Zweifel gezogen, sondern als das ‘Fraglose’ (Schütz/Luckmann 1979) hingenommen. Dies weist ebenso auf eine Integration hin wie die Aussagen, die ich (nicht nur von diesem Jugendlichen) über die Zukunftsvorstellungen bezüglich des privaten Lebens erhalten habe. Familie gründen, Kinder haben, Haus bauen, Auto besitzen, regelmäßig in Urlaub fahren und seinen Hobbys nachgehen können - das sind die Eckpunkte der Lebensplanung. Die älteren Hooligans sind teilweise verheiratet, haben Kinder und üben einen Beruf aus. A: Was mach ich? Montags pass’ ich normalerweise auf meine Zwerge auf abends, weil meine Lebensgefährtin ja bis zehn Uhr arbeitet, dienstags geh ich normal zum Training, Fußballtraining, donnerstags auch, freitags zieh ich um die Häuser, bisschen tanzen gehen oder Billard spielen gehen. Oder es passiert ja auch mal, dass freitags dann Fußball ist, geht ja von Freitag bis Sonntag, kommt drauf an. Aber wenn freitags oder sonntags Fußball ist, bin ich samstags zu Hause meist abends, muss ich nicht haben, dass ich weggehe. Ja, und sonntags spiel ich meist selber Fußball oder ich geh dann ins Stadion, es kommt drauf an, was für’n Spiel, also en ganz normales Freizeitverhalten, mal Sauna, Schwimmen. Das Übliche, Normale. Dass hier eine ausgesprochen konventionelle Orientierung vorliegt, wird immer wieder deutlich. So betonen die Befragten mehrfach, dass es sich bei ihnen in erster Linie nicht um randständige Personen, gescheiterte Existenzen oder ‘Verlierer’ handelt: A: Ehm, wichtig vor allen Dingen zu schreiben wäre, dass Hooligans aus allen Schichten kommen, sogar weniger aus den untersten Schichten, also mehr aus der Normalbürgerschicht und auch obersten Schicht, dass die eigentlich nur sich austoben beim Fußball, das heißt also, im normalen bürgerlichen Leben ganz normale Leute sind, die ihrer Arbeit nachgehen, die auch Familie und Kinder haben, die eigentlich so, ist zwar übertrieben, aber sonst keiner Fliege was zuleide tun. In einem Punkt wird die ‘Normalität’ des bürgerlichen Lebens allerdings aufgebrochen: Das Wochenende und seine ‘Ausbruchsversuche’ (vgl. Cohen & Taylor 1977) in Form des Hooliganismus. Dies ist im vorliegenden Interviewbeispiel auch in anderer Sicht interessant. Zumindest bei diesem ‘Fußballrowdie’ trifft das typische Austrittsmuster aus Subkulturen, nämlich über eine feste Partnerschaft, nicht zu. Trotz Ehe und Kindern verbleibt er noch in der Szene. 257 Wohnsituation Die jungen Männer leben in einer Großstadt mit ca. 500.000 Einwohnern. Die konkrete Wohnsituation konnte nicht ermittelt werden. Die Hools befanden sich zum Zeitpunkt der Interviewdurchführung unter massivem polizeilichen Verfolgungsdruck. Alle Hinweise auf die persönliche Identität wurden deshalb von den Jugendlichen vermieden. Eine Begehung des Wohnviertels oder gar der Wohnungen konnte deshalb nicht stattfinden.124 Bildung und Arbeit In der Bildungs- und Ausbildungssituation der Gruppenmitglieder setzt sich die Heterogenität der Herkunftsfamilien fort. Dazu ein Hooligan-Experte der Polizei: A: Man kann sagen, es geht los von Sonderschülern, aber nicht überproportional, sondern wirklich nur der Ausnahmefall bis also Realschüler, aber auch Hauptschüler, Gymnasiasten auch, teilweise auch dabei gewesen, auch Leute, die natürlich nicht mehr zur Schule gehen, ist klar, die zwar noch schulpflichtig sind offiziell, aber dann irgend’ne berufsbildende Schule besuchen oder ähnliches. Ohne dass man sagen kann, irgend’ne Schulform wäre überproportional vertreten. Es handelt sich also um eine Gruppe mit sehr verschiedenen Ausbildungsgraden und Berufen. Divergierende soziale Startbedingungen und die darauf aufbauenden Bildungsverläufe führen in entsprechend unterschiedliche Tätigkeitsfelder. Vom Lehrling über den Kaufmann bis hin zum Jura-Studenten ist alles vertreten. Ebenso gehören ‘gescheiterte Existenzen’ wie Alkoholiker oder Drogenabhängige - auch wenn dies von den Gruppenmitgliedern heruntergespielt wird - zur Clique. Sieht man einmal von letzteren ab, so zeichnet fast alle Jugendlichen ein pflichtbezogenes Arbeitsethos aus. Dies wird besonders in dem Bemühen deutlich, Beruf und Karriere durch die deviante Leidenschaft nicht zu gefährden. A: Aber ich sage mal, sobald ich irgendwas machen würde, oder irgendwas kommen würde, wo ich die Gefahr sehen würde, dass zum Beispiel mein Studium oder meine Zukunft oder so darunter zu leiden hat, was ja nun bei meinem Studium auch schon an Kleinigkeiten manchmal hängen kann, würde ich sofort sagen: “Nee, das war’s, das ist es mir nicht wert.” A: Hmhm. Auch in meinem Job will ich mich mal irgendwann weiterbilden. (...) Ich muss irgendwo mein Ziel finden. Wann ich das finde, weiß ich nicht, kann morgen sein, kann nächstes Jahr sein, das kann auch erst in fünf Jahren sein, aber 124 Treffpunkte für die Interviews waren vor allem das Stadion und als ‘Locations’ der Hools bekannte Kneipen. 258 wenn ich so einigermaßen meine Ziele realisiert habe, dann will ich mich auch irgendwie mal ein bisschen mehr weiterbilden. Nicht des Geldes wegen, sondern einfach für mich selbst. Die berufliche Zukunftsorientierung steht eindeutig in Richtung gesellschaftlicher Etablierung. Sich des Etikettierungspotenzials und der Folgen des Prügelns auf der Fußballbühne durchaus bewusst, findet eine klare Rationalisierung des Handelns statt: Gewalt ja, Karrieregefährdung nein. Auch wenn die Definition der beruflichen Ziele vielleicht noch vage und unabgeschlossen ist, geht die grundsätzliche Orientierung klar in den Bereich ‘legaler’ Karrieren. Eine materialistische Werthaltung ist dafür bezeichnend. 3.2 Gruppenwirklichkeit Entstehung Die Ursprünge der untersuchten Hooligangruppe sind nicht klar nachzuzeichnen. Es gibt aber in den Gesprächen und Interviews Hinweise auf zwei verschiedene Zugangsmuster. Eher selten war der Quereinstieg aus anderen Szenen. Einige der Hools haben sich vorher, z.T. auch noch während ihrer Hooligan-Zeit, in der rechten Skinheadszene getummelt und dort auch schon erste Gewalterfahrungen gesammelt. Ohnehin scheint zwischen Skinhead- und Hooliganszene eine beständige Wanderungsbewegung zu bestehen. Wohl auch deswegen werden die Hools als eher rechts eingestuft. Typischer als die Interszenenfluktuation ist aber der Zugang über den Fußball. Einige der Befragten haben richtiggehende Karrieren vom aktiven Jugendfußballer hin zum Hooligan durchlaufen: A: Der Einstieg war so mit 14 Jahren, war das halt so, da war ich auf meiner Schule mit’n paar Freunden und da sind wir dann halt mal zum Fußball hingegangen. Mich hat das durch ‘nen Nachbarn, den ich früher mal hatte, auch schon interessiert. Der hat mich dann mal als ganz kleinen Steppke mitgenommen. Und ich war nun nicht so fußballverrückt, aber ich hatte auch mal Fußball gespielt. Und in dem Alter verfolgt, glaub ich, jeder Junge die Bundesliga und wir sind dann halt auch mal hingegangen. Und auf der Schule war’n dann halt noch’n paar Ältere, sag ich mal, die schon kurz vorm Abitur standen, die haben dann gefragt, ob wir nicht in so ‘ner Art Fanclub mitmachen wollen. Haben wir gesagt: “Ja, in Ordnung.” Und dann sind wir halt oft in diese Fankurve reingegangen und richtig so mit Singen und Tralala, also halt, was man so mit 13, 14 Jahren halt so macht, und fanden das auch alle ganz toll. Und irgendwann hab ich dann halt mal mitgekriegt, nach dem Spiel sind dann plötzlich alle aus dieser Kurve rausgelaufen. Und das war damals noch so, es waren halt viele Leute mit Trikots, Kutten oder BomberJacken und Jogging-Hosen und so was, also irgendwie noch, ja, wie soll ich sa- 259 gen, sah halt anders aus als heute. Und die sind halt alle in eine Richtung gerannt und dann bin ich dann mal hinterher gelaufen und dann hab ich halt gesehen, dass aus dem andern Block, aus dem Gästeblock andere rauskamen, und dass es dann halt zu Rumgelaufe und Prügeleien kam, und halt irgendwie dazwischen Polizei und ich fand das halt total aufregend, richtig spannend. In die gleiche Richtung weist das folgende Beispiel. Hier wird zudem deutlich, wie unter dem Einfluss der Peergroup in der Pubertät eine Interessenverschiebung stattfindet. Der Jugendfußballer verliert den Anschluss an das Leistungsniveau der Mannschaft, weil er abends mit seinen Freunden durch die Diskotheken zieht. Als Folge muss er gezwungenermaßen das Fußballspielen aufgeben. Seinen Hooliganismus betreibt er quasi als Fortsetzung des Fußballhobbys mit anderen Mitteln: A: Ja, angefangen hat’s, ja, mein Vater, der hat früher selber Fußball gespielt, war fußballbegeistert. F: Hmhm A: Gut. Na, ja, auf jeden Fall war selber fußballbegeistert und mit sechs Jahren hat er mich im Fußballverein angemeldet und das hat mir auch Spaß gemacht. Na ja, und er hat dann auch jede Sportschau gesehen und so weiter. Und ist er mit mir auch ins Stadion gefahren. Also er war die ganze Woche auf Montage, dann kam er freitags nach Hause, geduscht, gegessen, Kaffee getrunken, dann ging’s meist ab ins Stadion. Ja, und so kam das Interesse überhaupt im Allgemeinen zum Fußball und ich war damals ein sehr guter Fußballspieler, hab mit 11 Jahren dann den Verein gewechselt, also in ‘ne größere Stadt, der jetzt auch weit entfernt war, also musste immer mit dem Bus fast 13 km hin- und herfahren. Ja, war auch in der Auswahl schon und natürlich hatte ich auch als Vorbild vielleicht mal Fußballprofi zu werden. Ja, und als ich dann so 14, 15 wurde, ging das los, ne, Kumpels abends, schon in die Disko gegangen. F: Jetzt hier vom Fußball? A: Nee, nee, das kommt ja noch alles (lacht). F: Ah, so. A: So Kumpels, die ich so eben bei mir zu Hause hatte, ne, in ‘ne Disko gegangen, und was weiß ich, und ich wollte das auch mal mitmachen. Und meine Eltern, die waren dagegen, habe ich mich nachts immer aus dem Zimmer geschlichen, ne, bis morgens, was weiß ich, und dann wieder reingeschlichen. Ja, und das haben sie dann irgendwann mal spitzgekriegt und haben gesagt: “Wir geben nicht das viele Geld dafür aus, dass du hier deine Partys machst.” Das heißt also, ich hab auch in der Leistung dann nachgelassen, ne. Na ja, dann hab ich mich abgemeldet, hab ich so weiter Fußball gespielt und dann war auch erst ‘ne Zeitlang Ruhe, also auch mit Fußballstadion und so, und haste dann die erste Freundin gehabt. Und angefangen hat es eigentlich richtig dann so Anfang der 260 habt. Und angefangen hat es eigentlich richtig dann so Anfang der 80er Jahre. Hatte ich dann auch ‘ne Freundin gehabt und mit der bin ich dann zusammengezogen und dadurch hab ich Leute kennengelernt, die eben auch ins Fußballstadion fahren. Ja, und dann habe ich mich dazugesellt, angefangen als Schalträger, hab mir so’n Schal gekauft, nun, ging das weiter, so ‘ne Kutte gemacht und was es alles so gibt, Mütze und Fahne, und so ging ich dann richtig los ins Stadion. Nun, das hat mir irgendwie Spaß gemacht und dann bin ich mal beim Auswärtsspiel mitgewesen, und das war so ein halbes Derby. Und da hab ich dann eben so Hooligans kennengelernt, so die Leute, die ja auf Gewalt richtig aus waren. Und zwar hab ich das daran gemerkt, dass wir also, dass wir mit ‘nem Zug in der Stadt waren, in ‘ne Straßenbahn reingegangen sind und die ist kaum losgefahren, dann hat’s schon gescheppert, ne, buff, alles kaputt gewesen, die ganze Straßenbahn und so weiter und so fort. Über diese unterschiedlichen Zugänge ist allmählich eine Gruppe entstanden, die - wie bereits erwähnt - aus ca. 30 Mitgliedern besteht. Die bis zu 100 Mitläufer kommen meist bei fußballerischen Großereignissen dazu. Es liegt eine relativ hohe Fluktuation vor. Insbesondere ältere Mitglieder verlassen die Gruppe wegen Partnerschaft und Ehe, vor allem aber wegen laufender (teilweise mehrfacher) Strafverfahren. Wer den Ausstieg nicht ganz schafft, resp. den Kontakt aufrecht erhalten will, bleibt mehr oder weniger noch ‘lose’ assoziiert. Ein Mitarbeiter der Polizei konkretisiert die Gründe des Ausstiegs: A: Die Älteren gehen raus, die Jüngeren kommen nach, auch damit verbunden, dass eben die Älteren teilweise auch Strafverfahren offen haben. ‘Ne Zeit lang geht’s gut, denn vielfach sind sie ja auch nur in Gewahrsamnahme, ohne Straftaten nachweisen zu können, aber irgendwann erwischt es den einen oder anderen dann doch mal. Und wenn’s eben häufiger vorkommt, dann kriegen sie Bewährungsstrafe und dann ziehen die meisten sich dann irgendwann zurück. Auch in der Perspektive der Polizei zeigt sich, dass die Mitgliedschaft in dieser Gruppe und die Teilnahme an entsprechenden gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Kalkül verbunden ist. Kosten und Nutzen werden sorgfältig gegeneinander abgewogen. Die Konfrontation mit dem Gesetz, vor allem die möglichen Folgen, werden gescheut. Selbstverständnis Die Suche nach Gewalt und die mit ihr erlebten Gefühle sind - wie bei vielen anderen Hooligangruppen auch - Kern des Selbstverständnisses dieser Gruppe. Die Vorfreude auf diese Intensiverlebnisse beginnt oft schon in der Nacht zuvor und äußert sich in Schlaflosigkeit und Unrast. Der Tag beginnt früh, öfters sind auch lange Anfahrten in Kauf zu nehmen. Das Fußballspiel, die Jagd durch die Straßen, die Verfolgung durch gegnerische Hools und Polizei und schließlich der Kampf selbst erzeugen höchste emotionale Erregtheit, das Gefühl von 261 Angst und Nervenkitzel. Die eigentliche Schlägerei als Höhepunkt ist meist nur von kurzer Dauer. Die folgenden Interviewpassagen können dies anschaulich vermitteln: A: Also das ist es aber, warum man das macht. Das ist nicht ‘ne Angst an sich, es ist halt ein Nervenkitzel. Von wirklich guten Sachen kriegt man Kribbeln im Bauch und ist nervös. Und als ich früher halt so die ersten, als ich auswärts gefahren bin, dann irgendwann angefangen habe damit, konnte ich die Nacht vorher kaum schlafen. So ‘ne Mischung aus Angst und Freude und überhaupt. A: Dieser Kick, dieses Bauchkribbeln ist genauso, wenn de dich frisch verliebst, und dein Bauch kribbelt und deine innerliche Stimme sagt: Ah, das kann nicht sein, dass ich den Menschen gut finde. Aber man kann nichts dagegen tun. So ist das eben, man braucht das irgendwie. Früher war’s ja noch schlimmer, da bin ich schon ganz nervös morgens um fünfe aufgestanden, hab erst mal gefrühstückt, Zeitung gelesen und so, und dann in Ruhe geduscht und fertig gemacht, Klamotten zusammengelegt und’n Film wahrscheinlich noch zwischendurch geguckt, bis es dann endlich los ging. So aufgeregt war ich, dass ich also wirklich kaum schlafen konnte die Nacht. Das Kribbeln, die Vorfreude war schon immer da. Das ist wie so ‘ne Droge. Man weiß, dass es Blödsinn ist, aber man macht’s trotzdem. Das ist genau wie wenn ich eine rauche, ich weiß, das ist absoluter Schwachsinn, aber ich mach’s trotzdem. Fun, einfach Spaß. In erster Linie natürlich fahr ich ins Stadion, um Fußball zu gucken. Was ja auch oft gesagt wird, die wollen nur zum Randale machen, was ja gar nicht stimmt. Ja, und dann die Action, hinterher, vorher, einfach nur so aus Spaß, das Kribbeln im Bauch, das gewisse, was passiert dann, ne, wenn se um ‘ne Ecke kommen und so, das gewisse, wie manche eben Bungeespringen machen. Keine weitere Bedeutung. Einfach nur Spaß haben. A: Es ist ja auch beim Fußball so, dass diese Massenschlägereien meist nicht lange dauern, paar Sekunden, und dann war’s das auch schon, weil entweder die Bullen kommen dazwischen oder selten mal, wie jetzt zum Beispiel, letztes Jahr, wo’s wirklich also über Minuten hinaus geklatscht hat und ‘ne Jagerei ohne Ende war. So was ist selten passiert, aber da ist es passiert, und waren auch sehr viele Verletzte und alles. Aber in den meisten Fällen kommt es entweder nicht dazu oder es ist nur von kurzer Dauer und sind meist sowieso nur 10, 20 Prozent, die ja wirklich rangehen. Das Fußballspiel selbst wird zwar verfolgt, stößt aber nur auf minimales Interesse. Besondere - weil außeralltägliche Erfahrungen - machen die Hools nicht während des Spiels, sondern im Anschluss daran. Ein Befragter vergleicht den Erlebniswert der Fanschlachten mit einem Urlaub auf Mallorca. Vielen dient die Ferieninsel bereits seit längerem als Enklave, sich von Alltagszwängen zu befreien, sexuellen Trieben unkontrolliert nachzugeben oder im Rausch von Alkoholexzessen das zu tun, was zivilisierte Menschen normalerweise nicht tun würden: A: Aber wenn se beim Fußball sind, drehen se durch. Das heißt genauso, wenn ein normaler Bürger in Urlaub fliegt und der landet auf Mallorca, dann ist er auch ein ganz anderer Mensch. So kann man das beim Fußball auch beschreiben. Man ver- 262 gisst sein Alter, die ganzen Sorgen, man will Fun haben, Spaß, man kann sich austoben und du darfst dich bloß nicht erwischen lassen. Wenn de im normalen Leben irgendwo was machst und so, dann hängen se dir gleich was weiß ich hinterher und wirst de gleich erwischt und so, und da kannst de also, da hast de mehr Bewegungsfreiheiten. Die Fanschlachten sind also auch Ausbruchsversuche aus dem Einerlei und den Zwängen des Alltags. Besonders die großen internationalen Wettbewerbe wie Europa- und Weltmeisterschaften sind das Ziel aller ‘hooliganesken Urlaubsträume’. Schon lange vorher beginnt die Vorfreude auf diese Großereignisse. Ein Polizeimitarbeiter bemerkt dazu: A: In Hooligan-Kreisen freut man sich schon drauf. Da hört man also tatsächlich: „Mensch, nächstes Jahr England, geile Aktion, da geht’s wieder gut ab.“ Weil die englischen Fans ja auch dafür bekannt sind und die sind ja auch verrückt in dem Bereich. Besonders wichtige Spektakel üben also schon lange im voraus eine beträchtliche Faszinationskraft aus. Wegen solcher Ereignisse wird unter Umständen auch immer wieder der Ausstieg aus der Szene verschoben. Zu groß sind die Verlockungen bevorstehender FußballEvents. Hier entlang richtet sich teilweise die ‘Karriereplanung’ als Hooligan. A: In näherer Zeit wollt ich sowieso Schluss machen, weil ich manchmal denke: Was hat das überhaupt für’n Sinn? Weil du läufst da wie so’n Irrer durch die Gegend und prügelst dich und riskierst en blaues Auge und so, und das war’s dann auch. Irgendwo ist das Schwachsinn. Aber auf der andern Seite, ich wollte mit 30 aufhören, ich hab’s bis heute noch nicht geschafft. F: Was glaubst de, wo dran das liegt, dass du’s nicht geschafft hast? A: Das kribbelt immer wieder. Ich hab mir gesagt, ‘96, also jetzt nachdem ich’s mit 30 nicht geschafft hab (räuspert sich), ‘96 England ist Schluss, endgültig. F: Da fährst du aber nochmal hin? A: Hab ich vor, ja. Na, ja, jetzt ist ja ‘98 die Weltmeisterschaft in Frankreich. F: (lacht). A: Ist auch wieder so’n Ding, da hab ich gedacht: Na, ja, dann aber, dann allerspätestens. Na, ja, und jetzt hat sich rausgestellt, dass im Jahr 2000 Belgien/Holland dran ist, Belgien/Holland, also die Europameisterschaft ist, und da ist es normalerweise immer Pflicht, hinzufahren. 263 Bei den Herstellungsbedingungen der Gewaltrituale selbst bleibt nichts dem Zufall überlassen. So sind die Fanschlachten nicht selten ‘Verabredungen’, die lange vorher schon sorgsam geplant werden. Durch diese Planungen muss einerseits gewährt sein, dass der ‘Feind’ auch an Ort und Stelle ist. Andererseits ist es wichtig, die Einsatzpläne und Präventivmanöver der Polizei zu unterlaufen, was aber nicht immer gelingt. Durchaus kann die geplante AdrenalinEkstase auch mit einer ‘Taxifahrt’ enden (so nennen die befragten Hools das Abtransportieren mit dem Polizeiwagen). Gerade die strategische Herbeiführung der Thrillerlebnisse macht deutlich, dass es sich bei den Schlachten der Hools nicht bloß um dumpfe Gewaltausschreitungen aufgrund von Frustration und Monotonie handelt, sondern dass vielmehr Kalkül und Rationalität im Sinne einer Erlebnistechnik einen wichtigen Anteil haben. A: Ja, und entweder man hat halt irgendwas mit jemand anders verabredet, dass die wissen, wann wir kommen oder wohin wir kommen, oder wir wissen, wohin wir kommen sollen. Oder es ergibt sich halt so, dass wir natürlich versuchen an die ranzukommen und die versuchen an uns ranzukommen, sei es auf dem Weg zum Stadion, sei es im Stadion, sei es danach, sei es, dass wir uns in irgend’ner Kneipe treffen oder wissen, wo die ihre Kneipe haben. Das kann man einfach nicht so sagen, das ist von Mal zu Mal auch so unterschiedlich. F: Hmhm. A: Es gibt halt andere Städte, zu denen wir Kontakt haben, dann wird vorher telefoniert, es gibt Städte, da fährt man hin auf Verdacht und weiß überhaupt nicht, was da nun ist und ob überhaupt dann was ist. Das kann man nicht pauschalisieren. Es ist aber zu beobachten, dass im Spiel mit diesen extremen Erlebnissen eine hundertprozentige Sicherheit vor Ausschreitungen und Kontrollverlusten nie gewährleistet ist. Besonders wenn der Alkoholpegel ein bestimmtes Maß überschreitet, sind Eskalationen und Rahmenverletzungen zu beobachten. Dann kommt es immer wieder auch innerhalb der Gruppe zu Gewalt: A: Wenn vielleicht mal was außer Kontrolle gerät, dann ist das sicherlich dadurch bedingt, dass viele Leute vielleicht in sich angestaute Aggressionen nicht unter Kontrolle kriegen, andere Leute vielleicht aus Angst und aus Panik dann reagieren und durchdrehen und bei vielen Leuten halt einfach nur der Adrenalinspiegel und vielleicht auch mal das ein oder andere Bier, das sie zuviel getrunken haben, mit ‘ne Rolle spielen. Allerdings distanzieren sich die befragten Hools von solchen Kontrollverlusten, bei denen Unbeteiligte zu Schaden kommen oder bloßer Vandalismus ausgelebt wird. 264 A: Man kann mich beleidigen, man kann zu mir Arschloch sagen, das geht mir hintenrum vorbei, juckt mich nicht, interessiert mich nicht. Aber da ist mal ‘ne Situation gewesen, da war ich ziemlich stinkig, auf den wollt ich drauf los. Und das hat man mir auch bestätigt, das hätte jeder andere genauso gemacht wie ich auch. Aber da gehört wirklich was zu, um mich da rauszukriegen, dass ich mich da rumprügeln würde, aber der hat’s geschafft. Ich hab mich zwar zurückgehalten, aber wenn se mich nicht zurückgehalten hätten, wär ich drauf losgegangen, ist noch gar nicht so lange her, aber im Allgemeinen kann man sagen, dann laß ich denjenigen da stehn. Gut, wenn er mich angreifen würd oder so, würde ich mich natürlich wehren, wie jeder andere auch. Im Großen und Ganzen bin ich’n lustiger Typ und geh eigentlich Streit und Ärger aus dem Wege. Ich will meinen Spaß haben, wenn ich ausgehe und will lachen. A: Ich persönlich halte davon absolut gar nichts von diesen ganzen Sachbeschädigungen und auch Plünderungen, die ja auch schon vorgekommen sind. Und wenn du da nämlich richtig erwischt wirst, dann hast du nämlich nicht nur ‘ne deftige Anzeige am Hals, dass du dafür abgehst, sondern kost auch richtig Kohle. F: Und das bist du nicht bereit, zu riskieren? A: Nee, das werde ich nicht, da hab ich mich auch rausgehalten. Ich war zwar dabei, aber ich bin im Hintergrund geblieben, da hab ich also mich wirklich rausgehalten, war keine Polizei da, gar nichts. Ich hätte da voll mitmachen können, aber ich wollt es nicht. [...] Genau wie auf der einen Raststätte da, wo da auch hier ‘ne Bedienung ziemlich was derbe abgekriegt hat, weil die einfach dazwischen war, finde ich Scheiße, will ich mich nicht dazu zählen irgendwie, ne, ist nicht mein Ding. Da würd ich mich auch immer raushalten auch. Noch deutlicher wird die Sonderstellung der Fußballgewalt und das Bewusstsein bei den befragten Hools über den angemessenen Rahmen in der folgenden Passage, wo der Befragte den Versuch unternimmt, Gewalt zu definieren. Dabei wird sehr deutlich zwischen Gewalt und den Erlebnisfreuden im Kampf unterschieden. Gewalt kommt im realen Alltag in zahlreichen Situationen vor. Was die Hools dagegen machen, ist aus ihrer Sicht eher Sport und Wettstreit, eine harte Freizeitbeschäftigung unter Männern: A: Was ist Gewalt? Gewalt ist für mich nicht das, was beim Fußball ist. Gewalt ist für mich eher, was schon im normalen Leben abgeht. Ob’s jetzt in der Familie ist, wo der Mann die Frau schlägt oder die Kinder misshandelt oder Messerstecherei, oder irgendeinen abknallt, oder Gewalt gegen den Staat. Zum Beispiel Linke gegen die Polizei, gegen die Staatsmacht, dass die mit Dingen was durchsetzen wollen, ach, wie soll ich das ausdrücken, die haben en bestimmtes Ding, das passt denen nicht und dann denken die, jetzt muss man dem Staat mal was auf die Birne hauen und dann passiert es wie zum Beispiel traditionsmäßig am 1. Mai in Berlin oder so, wo von vornherein schon feststeht, heute oder morgen oder übermorgen knallt es richtig gegen den Staat. Das ist für mich Gewalt. Fußball würd ich nicht als Gewalt bezeichnen. Gewalt ist irgendwas Höheres für mich, nicht so ‘ne kleine 265 Boxeinlage. Da müsst ja zum Beispiel im Sport Boxen, ja, Karate oder so, auch was, muss ja auch Gewalt sein, ist ein ganzer normaler Sport. Wir sehn das eigentlich als Sport. Entweder bin ich besser als der, der vor mir steht oder ich bin schlechter. Wie beim Boxen, entweder geb ich dem was auf die Glocke oder er gibt mir was auf die Glocke. Und einer ist dann Weltmeister oder Europameister und Deutscher Meister oder sonst was, wir sehn das eher als Sport, en bisschen Fun, ein bisschen Action, Kribbeln im Bauch. Hooligan-Schlachten sind aus der Sicht der Akteure also keine ‘Gewalt’, sondern Kräftemessen und Stimulation. Es ist eine rauhe Form des ‘sensation seeking’ (Zuckerman/Bone 1972). Gleichzeitig bringt der Erfolg im Kampf Anerkennung und Respekt sowohl innerhalb der eigenen Gruppe als auch außerhalb in der Szene. Dies wird in den Interviews nicht explizit genannt. Zu stark dominiert der Gedanke des aktiven Herbeiführens von Nervenkitzel und Thrill. Beobachtungen, die ich bei den obligatorischen und abschließenden Trinkgelagen nach ‘getaner Arbeit’ machen konnte, verdeutlichen aber die Wichtigkeit des Kampferfolgs. Erfolg tritt nicht nur im Falle des Besiegens anderer Gruppen ein, es reicht schon aus, ‘seinen Mann zu stehen’ und nicht zu kneifen. Die Heimkehrer aus der Schlacht sonnen sich in ihren Heldentaten. Gegenüber den Gefühlsbädern des Kampfes und den anschließenden ‘Würdigungen’ werden andere Aspekte der Selbstdefinition, wie etwa jugendkulturelle Moden unwichtig. Bezüglich ihres Outfits sind die von mir befragen Hooligans keiner eindeutigen Richtung zuzuordnen. Wer es sich finanziell leisten kann, trägt Sportschuhe bekannter Sportartikelhersteller sowie Hosen, Jeans, Hemden und Jacken von führenden Designern. Den sonnenbankgebräunten Muskelmann mit langem Haar und Zopf in lässiger Jeanshose und Lederjacke traf ich ebenso an wie den Kahlrasierten oder extrem Kurzhaarigen im noblen Zwirn (Hemd aus Seide mit Leinen, Krawatte, Markenjeans, hochglänzende schwarze Lederschuhe und Jacket). Zu finden war auch der tätowierte Rockertyp in Lederhose, schmutziger Jeansjacke mit abgeschnittenen Ärmeln, T-Shirt und Lederstiefeln. Die Musik in den unterschiedlichen Szene-Treffpunkten, lässt ebenfalls keine eindeutige Richtung erkennen: von Disco über Soul zu Rock-Pop oder Reggae scheint es keine eindeutige Präferenz zu geben. Die Diversität modischer Stilattitüden und musikalischer Geschmäcker ist in gewisser Weise ein Zeichen für deren Beliebigkeit und relative Bedeutungslosigkeit bezüglich der Selbstdefinition der Gruppe. Ähnlich uneindeutig ist auch die politische Orientierung. An Politik sind die Befragten nicht interessiert, sie hat keinerlei Relevanz für ihr persönliches Leben. Allenfalls eine latent ‘rechte’ Orientierung lässt sich vermuten. Politische Aussagen bleiben stets unverbindlich und offen. Niemand äußert Sympathie für radikale Positionen. Ein Hool sagt: A: Ich möchte an der Gesellschaft an sich nichts ändern. Und da ist es mir ehrlich egal, ob ich nun, sagen wir mal, die FDP mit der CDU an der Regierung habe o266 der die SPD mit den GRÜNEN, das sind Kleinigkeiten, die einen sicherlich ab und zu mal betreffen, aber ansonsten fühl ich mich halt so wohl, dass ich mich halt politisch nicht in irgendein Extrem schlagen möchte. Insgesamt ist festzuhalten, dass die untersuchte Gruppe intensive Gefühlsstimulationen im Kampf sucht. Ihr Selbstverständnis ist untrennbar mit dieser Motivation verbunden. Das besondere Erlebnis wird in besonderen Ritualen zelebriert, die es von der Alltagsrealität abkoppeln, was aber nicht immer gelingt. Das Beispiel der Hools zeigt, dass der Gegenstand der Gefühlsproduktion völlig unerheblich geworden ist. Was dem Außenstehenden als hasserfüllte Schlägerei sozial desintegrierter Personen erscheint, ist für die Insider ein kalkuliertes Spiel mit dem Risiko. Aber genau wie der Bungee-Springer hat auch der Hooligan eine Sicherung, die ihn in seiner Situation vor dem freien Fall in ‘unzivilisierte’ Zeiten bewahrt. Das Auffallende an der Gewalt der Hools ist ihre Konstruktion als Fiktion, unabhängig davon, wie real ihre Spiele wirken mögen. Man bezahlt zwar mit seinen echten Zähnen für den Thrill, aber das machen Hochgeschwindigkeits-Biker, Boxer etc. auch. So kann auch Gewalt jenseits aller gesellschaftlichen Regeln zum Spiel werden. Gleichzeitig wird über den Erfolg im Kampf und das dadurch gewonnene Ansehen ein positiver Selbstwert generiert. Zusammenleben und Struktur Die untersuchte Gruppe besteht fast nur anlässlich des Fußballspiels und der daran anschließenden Randale. Es handelt sich in gewisser Weise um ein Zweckbündnis. Weitergehende Freundschaften bestehen nur vereinzelt. Gemeinsame Aktivitäten über ‘den Samstag’ hinaus sind bislang fast immer im Sande verlaufen: A: Wenn Fußball vorbei ist, geht meist jeder seinen eigenen Weg. Gut, es gibt’n paar Leute, die sind untereinander auch so befreundet. Aber es ist nicht häufig so. Meist treffen sie sich alle beim Fußball und dann ist man eben Kamerad und kumpelhaft, man trinkt einen zusammen und das geht meistens nach dem Fußball auseinander. Es ist mal so gewesen, dass wir vorgehabt haben: Ja, jeden Donnerstag treffen wir uns in der Kneipe und im Monat zahlen wir jeder 10 Mark ein, dann machen wir ab und zu mal ‘ne Feier und das hat nicht lange gedauert, dann ist das auseinander gegangen, weil zu viele Leute dann auch nicht gekommen sind und so. Also das hat sich nie richtig irgendwie aufgebaut, ne. Die Gruppe ist klar strukturiert. Hierarchiebildend ist die Zugehörigkeit zum festen Kern verbunden mit entsprechenden Aktivitäten und Mut. Wer mehr oder weniger aus sicherer Entfernung nur den Beobachter spielt, ist weniger akzeptiert. Ein Hool führt aus: A: Es gibt, es schimpfen sich zwar viele Hooligans, aber man kann sagen, ja, viele Möchtegern-Hooligans, die sich einfach nur beweisen wollen vor andern Kumpels 267 und so: Ja, ich geh zum Fußball und dann ging die Boxerei ab und die haben noch nie einen umgeboxt oder mal eine gekriegt, aus dem einfachen Grunde, weil se viel zu weit weg waren, das erst mal aus der Ferne beobachtet haben. Das sind eigentlich sehr viele. Es gibt’n harten Kern und dann gibt es Mitläufer. Ansehen und Prestige wird nur den ‘wirklichen Kämpfern’ zu Teil. Aber nicht nur der kurzfristige Erfolg, sondern vor allem - eng damit verknüpft - eine entsprechende Szenekarriere (‘Die Alten’) bestimmen den Rang eines Gruppenmitglieds. Oben steht, wer lange und erfolgreich dabei ist. Neulinge müssen sich zuerst einmal bewähren: A: Und, ja, was heißt Mutproben, wenn halt gesehen wurde, man hat halt schon mal am Anfang ein, zwei Mal was hinter die Löffel gekriegt sozusagen, also nicht schlimm, aber es wurde halt so gesagt: „Hier, geb mal’n Bier aus oder sei froh, dass du mitfahren darfst. Und wenn ich dich nachher nicht vorne sehe, dann kriegst du nach dem Spiel von mir noch eine.“ A: Akzeptiert wirst de eigentlich erst, wenn de richtig mit vorne dabei bist und dich auch stellst, wenn die gegnerischen Hooligans kommen und nicht gleich wegrennst. Aber das kriegen die Leute nach ‘ner Zeit auch mit, wer mitmacht. Man muss sich das wirklich erkämpfen. Es gibt ja auch Nachwuchsleute, wenn die ewig da wegrennen, ja, dann kriegen die was aufs Maul, ist klar. Weil, ich weiß nicht, ist nun mal so. Die Alten sind nicht nur die Angesehensten, sie sorgen auch dafür - sofern das möglich ist dass die Tradition und insbesondere ihre Verkörperung durch bestimmte Regeln (z.B. Verbot des Waffengebrauchs) eingehalten werden. Abgeklärter als die jungen Nachwuchshools üben sie eine wichtige Kontrollfunktion in der affektiv geladenen Situation der Schlägerei aus. Sie halten die jungen ‘Heißsporne’ vor den ärgsten Ausschreitungen zurück. Kritisch anzumerken ist, dass ihnen das allerdings nicht immer gelingt. F: Kriegen die Druck von den andern, wenn se das machen? A: Wenn se erwischt werden, ja. Zumindest, es sind ja meist die Leute, die erst anfangen, die mehr hinten in der Reihe stehen. Und die Leute, die zu den Alten gehören, die packen sich die dann schon mal und geb’n ihnen zur Not auch eine aufs Maul, ne. Zum Beispiel war ein Spiel gewesen, da hat einer en Stein aufgehoben und da kam’n Alter an und sagte: „Ja, wenn du den net gleich wegschmeißt, dann fliegst du da hinterher.“ Ich find’s nicht korrekt, ne. Weil dadurch ja wirklich viel passieren kann und richtig was, wenn du so’n Stein an den Kopf kriegst, wenn der unglücklich dann landet, ne, dann liegst de daneben. Der Einfluss der Alten machte sich überall im Gruppenleben bemerkbar. Sie haben Vorbildfunktion. So gelang der Kontakt zu dieser Szene über eine solche ‘zentrale Figur’: 268 A: Wenn [nennt Namen] dich hierher bringt, dann hör’ ich dir wenigstens zu. In dieser hoch gewaltaffinen Gruppe werden bestimmte Autoritäten selten in Frage gestellt. Möglicherweise ist diese Struktur im Zusammenhang mit dem hohen Risiko im Gewaltritual zu sehen. Angesichts der hohen Dynamik der Situation können nicht hinterfragte Führerfiguren funktional sinnvoll sein. In der Gruppe gibt es aber noch eine andere wichtige Funktion. Vor dem Showdown haben alle ein mulmiges Gefühl oder Angst - was auch von den meisten offen eingestanden wird. Hier helfen die ‘Pusher’, indem sie stimulieren, anfeuern, euphorisieren und so ein Gefühl der Unbesiegbarkeit produzieren: A: Ich hab’s schon erlebt, dass sich Leute an den Händen gefasst haben und irgendwo raufgerannt sind, nur um sich gegenseitig zu pushen, und um sich gegenseitig vielleicht auch’n bisschen Mut zu machen und, also es ist halt ganz wichtig, diese Mischung aus Motivation und Gruppengefühl. Es gibt Leute, die können andere so gut pushen, dass sie einfach keine Angst mehr haben oder einfach gut drauf sind oder so, gute Stimmung verbreiten und dann natürlich auch halt die richtige Stimmung kriegen, um zu sagen: Selbst, wenn ich umfalle oder sonst was passiert, da muss ich jetzt durch, und zwar mit meinen Kollegen und mit meinen Freunden zusammen. Diese Personen haben in gewissem Sinne die gleiche Funktion, wie die Trommler und Fahnenträger in historischen Militärschlachten. Durch ihre ‘Motivationsarbeit’ wird es für den Einzelnen subjektiv leichter, die Norm der Tapferkeit einzuhalten: Es ist wichtig, nicht zu kneifen. Nur wenn niemand kneift, hat die Gruppe überhaupt eine Chance oder besteht gar die Aussicht auf den Sieg (und die anschließende Siegesfeier). Dementsprechend wichtig ist Tapferkeit und Solidarität im Kampf. A: Da ist sicherlich was dran, man kennt sich, man weiß, dass man sich auf viele Leute verlassen kann und dieses Gruppengefühl kommt gerade immer dann, wenn man irgendwo anders ist, ich sag mal, in ‘ner fremden Stadt, wo man nicht weiß, was ist nun, und wenn man dann vielleicht nur mit 30 Leuten da ist, dann muss man sich halt irgendwie zusammengehörig fühlen, um überhaupt irgendwas hinzukriegen (...). Ich glaube, dass es auch ‘ne Sache war, warum es die Leute auch so zum Fußball hinzieht. Das ist halt irgendwie schon, du hast da Freunde, für die du sonst was machen würdest, auf die du dich verlassen kannst. du bist sicherlich nicht mit jedem gut Freund, aber ich kann für mich persönlich sagen, dass ich da 10 Leute rumlaufen habe, für die würde ich, auf gut deutsch gesagt, in jeder Situation des Lebens meinen Arsch hinhalten. Die erfahrene Solidarität im Kampf wird zu einem besonderen Ausweis für Verlässlichkeit. Nur diejenigen, die mit ihrem Körper für mich einstehen, sind einen besonderen Einsatz wert und - so ließe sich weiterführen - sind die Garanten für die interne Stabilität des Rituals. Ge269 rade weil dies so wichtig ist, wird diese Norm sehr stark im Ehrencodex der Gruppe verankert. Auch nach außen finden sich Normen und Trennregeln. Eine der wichtigsten besagt, dass Außenstehende - wie bereits angedeutet - nicht in die Auseinandersetzungen miteinbezogen werden: A: Das sind doch genau solche Leute wie ich auch. Die fahren da auch hin, um Spaß zu haben. Das sind ja nicht irgendwelche Kutten oder normale Leute, die zum Fußball gehen, Väter oder sonst solche Leute, es sind ja nur diese Gruppierung, die auch darauf aus sind, ihre Kräfte zu messen, ne. So, und wenn ich zum Fußball fahre und will das, dann muß ich damit rechnen, dass ich richtig was aufs Maul kriege, entweder gib oder stirb. Also es gibt nur zwei Möglichkeiten. Und dies Risiko geh ich von vornherein ein und das machen die Leute eben auch, ne. Die gehen dann genau das gleiche Risiko ein wie ich auch. Das ist ja nicht so, dass wir da irgendwelche Kutten da schlagen oder so, die sind für uns total unwichtig, ne. Die stehn in ihrem Block da und machen da, singen ihre Lieder und was weiß ich, die sind passé, da wird nicht drangegangen. Die weitgehende Einhaltung dieser ‘Trennregel’ wird von dem bereits zitierten HooliganExperten der Polizei bestätigt: A: Also hier wirklich nur die Hooligans selbst und die suchen sich auch die anderen Hooligans aus, die eben auch Randale haben wollen und da geht es dann eben zur Sache. Da ist es nicht so, dass irgendwelche Unbeteiligten größtenteils, klar, ein oder zwei können immer mal dazwischen kommen, aber Unbeteiligte eigentlich nicht. Die erlebniszentrierten Arrangements sind zusätzlich durch weitere Regeln abgesichert. Lange Zeit zählte ein gewisses Fairplay, der faire Faustkampf und damit das Verbot von Waffen zu den ungeschriebenen Regeln der Szene. Dazu ein Hooligan: A: Ich sag mal, solange die Leute wissen, wie es abzulaufen hat, solange die Leute sich da’n bisschen auskennen, es einigermaßen fair zur Sache geht, es gibt’n paar Regeln, liegt einer, dann liegt er. Und dann wird ihm entweder aufgeholfen oder man lässt ihn gleich in Ruhe und gut, man macht halt möglichst nichts mit was anderem als mit seiner Hand und oder seinem Fuß. Weil, wie gesagt, man möchte ja nun auch keinen unbedingt irgendwas antun. Das sind halt so Deeskalationsregeln, sag ich mal. F: Und was wäre bei euch nicht korrekt im Verhalten? A: Zum Beispiel, wenn es Ausschreitungen gibt mit Gegenständen oder so, Steine schmeißen, Messer, Baseballschläger. Normalerweise ist es ja so, dass, es gibt da so ‘ne Art Gesetz, ne, ohne Waffen und wenn einer liegt, dann liegt der, ne. Und 270 da gibt’s aber genug Leute, die im Vorbeigehen nochmal richtig reintreten, ne, find ich Scheiße. Dieser Teil des Ehrencodex ist aber in den letzten Jahren offensichtlich etwas brüchiger geworden. Dazu nochmals der Polizeimitarbeiter: A: Bei den Auseinandersetzungen selber, da gab es mal früher so’n Ehrenkodex, dass es hieß: Hooligans, die Auseinandersetzungen sind immer ohne Waffen, also nur Fäuste und Füße zum Treten und sobald einer auf der Erde liegt, ist erledigt. Aber dies hat sich leider, wie man auch, wie öfter auch drinsteht, schon en bisschen geändert, dass also denn die Leute, die auf der Erde liegen, teilweise eben auch getreten werden und dass eben auch mit Biergläsern und weiß ich, mit Schlägern also irgendwie da zugelangt wird. Dazu bemerkt Heitmeyer in einem Interview in „Der Zeit“ (Die Zeit Nr. 27 vom 25.08.98, S. 10): „Die Hemmschwellen werden niedriger, weil die Täter ihr Tun politisch begründen; der Gegner wird erniedrigt und zum Freiwild erklärt. Außerdem lösen sich soziale Verankerungen auf mit der Folge, daß es den Tätern völlig egal geworden ist, wenn andere zu Schaden kommen. Schließlich schaukeln sich die Hooligans auf, es entsteht eine besondere Dynamik, und gerade in diesen unstrukturierten Gruppen läuft die Gewalt schnell aus dem Ruder. Nicht das Handy oder die EMail-Adresse sind die neuen Wesensmerkmale der Hooligans, sondern ihre Unstrukturiertheit. Damit meine ich, daß sie sich an keine Regeln mehr halten und keine Hemmschwellen mehr kennen. Natürlich haben Hooligans schon immer mit den Muskeln gespielt und zugeschlagen. (...) Heute aber ist die Gewalt enthemmt und unterliegt keinen sozialen Normen. (...) es kommt den Tätern nicht mehr auf einen bestimmten Gegner an. Die Opfer werden nach Belieben ausgesucht, und auch die Art, wie sie malträtiert werden, ist nicht mehr kalkulierbar. Genau damit tut man sich schwer, und auch die Polizei ist machtlos, wenn sich größere Gruppen an absolut keine Regeln halten“. Gerade durch zunehmende Ausschreitungen und den offenbar enthemmten Waffengebrauch verliert die Szene an Authentizität. Nicht zuletzt deswegen wird schon seit einigen Jahren von einem Teil der Hools die Rückbesinnung auf alte Traditionen gefordert. ‘Faire Randale’ und die Einsatzhaltung ‘Hooligans without Weapons’ (Weis 1993) werden zunehmend wieder propagiert. 271 3.3 Wahrgenommene Gruppenperipherie Perzipierte Fremdeinschätzung und eigene Bewertung Intern besteht ein positives Selbstbild. Die Selbstdefinition lautet - wie aufgezeigt - ‘Spaß haben’ oder ‘mit Gleichgesinnten seinem Ding nachgehen’. Dies wird als absolut normal empfunden. Die Illegalität der Sache und auch die mit den Schlägereien verbundenen Gefahren können diese Einschätzung nicht beeinträchtigen. Extern erfährt die Gruppe dagegen keine positive Beurteilung. Ablehnung und negative Bewertung erfolgt vor allem durch die Presse. In ihr wird nach Ansicht der Befragten ein unzutreffendes und negatives Bild gezeichnet, das mit Hooliganismus nichts zu tun hat. Dort würde immer von Massenschlägereien und den gefährdeten Stadionbesuchern gesprochen, was angesichts der abgegrenzten Erlebnisräume nur sehr bedingt zutreffe. A: Man muss auch sehen, so Sachen, zum Beispiel, die immer unheimlich aufgebauscht werden. Das war zum Beispiel so, da hast du nun 200 Leute, 100 auf der einen, 100 auf der anderen Seite. Und die können sonst was machen. Die können stundenlang gegeneinander vorgehen, das interessiert keine Sau. Nun ist zufällig mal’n Kamerateam in der Nähe oder ‘n Reporter oder sonst irgendwas. Und dann gibt das da, irgendwo prügeln sich Leute und das sieht natürlich auch immer gewaltvoll aus, wenn die ganze Straße, wenn man das im Fernsehen sieht bei Eurooder bei Länderspielen, Europa-Pokalspielen oder ja, bei irgendwelchen anderen Sachen im Fernsehen das sieht, wie die so aufeinander zulaufen, das sieht natürlich nach so einer brutalen Gewalt aus. Auch wenn eine solche Aussage sicherlich als Verharmlosungsstrategie zu deuten ist, tragen die Medien mit ihrer Berichterstattung über die Hools nicht unbedingt immer zur ‘Aufklärung’ bei. Im Gegenteil: Durch ihre teilweise einseitig-sensationsorientierte Darstellung verschärfen Medien die ‘Binarisierung’ von Wirklichkeitskonstruktionen. Dies gilt auch für die untersuchten Hools. Einerseits werden sie unnötig stigmatisiert, andererseits erfahren sie aus den Medien, dass eine ‘gegnerische Gruppe zur Schlacht aufrüstet’ und die eigene Gruppe massiv bedroht ist. Medien wirken in diesen Fällen eskalierend. Außenbeziehungen Die befragten Hools sind in ein dichtes Netz von Außenbeziehungen eingebunden. Ausbildung, Arbeit, zahlreiche andere Freizeitaktivitäten, manchmal auch die Familie, schaffen ein integrierendes Netz: 272 A: Nee, das ist nicht nur bei meinen, also da muss ich sagen, gut, bei mir ist’s so, ich hab halt nun drei feste Freundeskreise, das ist einmal der Fußballfreundeskreis, dann die Leute, mit denen ich studiere, da habe ich sehr viel Glück gehabt, dass ich da tolle Leute kennengelernt habe. Und halt so der alte Freundeskreis, der halt, sag ich mal, aus der Gemeinde kommt, in der ich früher aufgewachsen bin. Da sind halt die Fäden auch noch nicht abgerissen, wir machen auch oft was zusammen, die ziehn jetzt halt auch alle hier her und es ist also nicht so, dass ich nur in eine Richtung fixiert bin. In letzter Zeit sicherlich öfter, weil es hat bei mir wieder ein bisschen zugenommen und dadurch, dass ich mich mit den anderen jetzt auch wesentlich besser versteh als früher, ist ja dieser Fußballfreundeskreis, so möchte ich ihn mal nennen, obwohl wir sicherlich mehr Gemeinsamkeiten haben als nur Fußball, ist schon im Moment sehr dominant. Das Hobby ist in der Regel so angelegt, dass es möglichst nicht in andere soziale Verkehrskreise hineinwirkt. A: Und die meisten haben ihre Freunde doch schon woanders, Freunde und Kumpels, ich zum Beispiel auch, die zwar auch was mit Fußball irgendwie im Gange haben, aber keine Stadiongänger sind in dem Sinne, geschweige denn überhaupt was mit Gewalt zu tun haben. Die haben andere Interessen, ne, die ich dann mit denen auch nachgehe aber die aber nicht mit zum Fußball gehen. F: Ist das so’ne Art Doppelleben oder wäre das übertrieben, von ‘nem Doppelleben zu sprechen? A: Das ist übertrieben, nein, das ist übertrieben. Die wissen ja, was ich mache. Das kalkulierte Suchen nach Thrills bedeutet also auch, die abweichenden Aktivitäten kompatibel mit ‘normalen’ Sozialbeziehungen zu lassen. Dies scheint bei dieser Gruppe auch zu funktionieren. Es ist aber anzunehmen, dass Strafverfolgung und Bestrafung dieses Verhältnis stören. Entweder das Hobby wird dann aufgegeben oder es setzt ein Weg in die Stigmatisierung ein. Auch dies unterstreicht den Charakter einer Zweckgemeinschaft. Devianz Devianz entsteht bei der untersuchten Gruppe fast nur im Zusammenhang mit dem Hooliganismus. Die bereits angeführten ‘Entgleisungen’ führen gelegentlich zu Übergriffen und Vandalismus. Die strafrechtlichen Konsequenzen werden gefürchtet und führen - wie schon erwähnt - nicht selten zum Ausstieg aus der Szene. Das Hobby darf nicht das ‘übrige Leben’ gefährden. Diese Ansicht stellen die Befragten immer wieder selbst als handlungsleitend heraus. Polizei und Sozialarbeiter bestätigen diese Aussagen. 273 3.4 Intergruppenbeziehungen Allianz und Ambivalenz Die Gruppe verbündet sich gelegentlich mit anderen Hooligangruppen, um einen gemeinsamen Gegner zu bekämpfen. Ambivalente Beziehungen zu anderen Gruppen wurden in den Interviews nicht thematisiert. Insgesamt scheinen diese beiden Formen der Intergruppenbeziehungen - sofern hier ein Bild darüber gezeichnet werden kann - fast oder überhaupt nicht zu bestehen. Dies hängt vermutlich mit der temporären Konstruktion der Gruppe zusammen. Sie besteht - wie erwähnt - nur anlässlich von Fußballspielen und in der unmittelbaren Zeit danach. Und dann ist eigentlich nur die Beschäftigung mit dem Gegner relevant. Dieser ist in gewisser Weise auch ein Freund. Wie erklärt sich diese Paradoxie? Auf den ersten Blick scheint die Hooliganwelt in viele Lager aufgeteilt zu sein, die sich unversöhnlich, feindlich und hasserfüllt gegenüberstehen. Dieses Bild stimmt aber nur wenig mit der Realität überein. Die Konstruktionen haben einige Besonderheiten, die in engem Zusammenhang mit der Erlebnisrationalität stehen. Obwohl die Rivalität mit Fäusten und Füßen bis zum k.o. ausgetragen werden kann und ‘richtig hingelangt’ wird, ist das Verhältnis der Gruppen untereinander nicht von Hass geprägt. Der Rivale, mit dem man sich auseinandersetzt, ist zumeist auch ein Freund: A: Also prinzipiell gibt es erstmal kein Feindbild, sondern das ist so ‘ne Art Städtewettkampf, sag ich mal. Es gibt halt die und die, von denen weiß man, dass sie gut sind, und dann gibt es die und die, von denen weiß man, dass sie nicht so gut sind. Dann weiß man, es gibt Faire, es gibt Unfaire, dann gibt es Leute, mit denen trifft man sich und dann passiert was und dann geht man mit denen dann ein Bier trinken. Manche haben Bekannte überall in jeder Stadt oder auch Brieffreundschaften oder man telefoniert vorher und viele Leute kennt man vom Sehen, sag ich mal, von Europapokalspielen, von Länderspielen, wo halt alle zusammen sind, lernt man halt Leute kennen. Und insofern gibt es prinzipiell erst mal keine Feindbilder. Dass man sicherlich mit einigen Vereinen schlechte Erfahrungen gemacht hat oder mit einigen Leuten aus anderen Städten, und deshalb nicht so gut auf die zu sprechen ist, das ist schon so’ne Sache, aber ansonsten Feindbilder an sich, sehe ich eigentlich nicht. Aber prinzipiell sind das halt Leute von anderen Vereinen und da gibt es keinen großartigen Hass, also bei manchen schon, bei manchen nicht. Ich kann da, wie gesagt, nicht für alle sprechen. Die sind nun mal da, die wollen dasselbe wie wir und, also ich hab da keine Hassgefühle oder so. Weiter führt der Befragte in einem anderen Gespräch aus: A: Das sind nicht Anhänger der gegnerischen Mannschaft, das sind die Leute, die dieselben Interessen haben wie wir und sich uns halt gegenüberstellen wollen. Die 274 sind nun mal da, die wollen dasselbe wie wir und, also ich hab da keine Hassgefühle oder so. Was man so als Hass bezeichnet, ist vielleicht so ab und zu mein Adrenalinüberstoß, wenn nun gerade was passiert, dass man nun also total aufgekratzt und aufgedreht ist, aber Hass würde ich sagen, nein (Gesprächs-protokoll). Demnach sprechen die Hools nicht von Feinden, sondern von Gegnern im Wettkampf. Die Anderen sind hier der notwendige Part in den Gewaltritualen zur Herstellung bestimmter Gefühle. Die Konstruktion eines ‘guten Feindes’, der prinzipiell ebenbürtig ist und keineswegs gehasst wird, ist notwendig, damit es überhaupt zu den gewaltsamen Auseinandersetzungen kommt. Erst wenn die anderen im Spiel mitmachen, seinen Sinn nicht weiter hinterfragen, kann Lustgewinn aus den kollektiven Gewalt-Happenings erzielt werden. Hier liegt zwar ‘reale’ Gewalt vor, aber durch ‘Modulationen’ im Goffman’schen Sinne wird sie in einen anderen Sinnkontext transformiert. Dies gilt auch für die Feindkonstruktion. Es ist ein ritualisiertes Spiel, ein ‘So-tun-als-Ob’, das allerdings sehr authentisch inszeniert ist. Der Echtheit wegen ist wiederum die Rahmenkonstruktion sehr labil; aus dem Spiel wird sozusagen sehr leicht Ernst. Abgrenzung Die Fähigkeit zur Kontrolle der Statuskämpfe und Erlebnisfreuden darf aber nicht den Blick dafür verstellen, dass es auch für die hier befragte Gruppe Feindmuster gibt. Während die Gegner in der Erlebnisarena normalerweise nicht die eigene positive Distinktheit bedrohen, empfinden die Befragten dies in Bezug auf zwei andere Gruppen mit Nachdruck. Erstens sind hier gegnerische Hoolgruppen im unmittelbaren Nahraum zu nennen, d.h. rivalisierende Cliquen aus Nachbarstädten. Jedes ‘Lokalderby’ hat seine besondere Brisanz, weil man es den Nachbarn, die immer als Bedrohung der eigenen Einmaligkeit und Besonderheit präsent sind, in besonderer Weise zeigen will. A: Feindbilder kommen meist zustande durch (...) wie soll ich das ausdrücken, durch regionale Fußballspieler. Mal’n Beispiel: Stadt X aus dem Norden spielt gegen Stadt Y aus dem Süden, so. Und das Fußballspiel ist in der Stadt X, die aus Stadt Y kommen hoch, die klatschen sich, das war’s. Das ist kein Feindbild, weder Feindbild noch sonst noch was. Anderes Beispiel: Stadt X aus dem Norden spielt gegen Stadt Y aus dem Norden. Städte liegen nicht weit auseinander entfernt, und da ist, da geht das schon los, Vormachtstellung im Norden oder im Westen, gibt’s ja Schalke, Dortmund, Duisburg, was es da alles gibt, Düsseldorf, Köln. Je näher die, also ich hab das, das ist eigentlich so, je näher die Städte zusammen sind, desto größer ist das Feindbild. Weil die haben ihre Region da und die Nachbarstadt hat ihre Region und irgendwo will die besser sein als die. Das sind diese sogenannten Derbies. Und die hat man sehr schnell als Feindbild (...). Ja, das war früher schon so, das ist heute noch so und so was trägt sich auf die 275 Generation irgendwie. Also es gab ja früher, gab es ja nicht diese Ausschreitung in dem Maße, diese Zusammenrottung, aber es gab schon immer irgendwie beim Fußball Schlägereien oder so, das gab’s früher auch schon. Auch hier zeigt sich die besondere Brisanz von Nähe im Zusammenhang von Distinktion. Die nahen Gruppen sind stets präsent und stellen die Überhöhungsansprüche einer Gruppe in Frage, denn sie leben fast im gleichen Lebensraum, gehen den gleichen Aktivitäten nach, haben ein ähnliches Selbstverständnis. Diese Nähe lässt wenig Raum für ein positives Absetzen der Eigengruppe. Zweitens werden zwei weitere Gruppen zum Feind. Hier amalgamiert das Feindbild auch mit irrationalen Hassgefühlen gegenüber den Fans des FC St. Pauli. Diese Ablehnung eint die von uns untersuchte Gruppe mit vielen anderen Hooligan-Gruppen in der Bundesrepublik. Der FC St. Pauli hat eine besondere Fangemeinde, die zu einem größeren Anteil als anderswo aus Punks, Autonomen etc. besteht. Die tendenziell eher mit dem rechten Lager sympathisierenden Hools (dies aber keineswegs in Form einer direkten und bewussten Zuordnung, denn niemand von den Befragten würde sich als ‘rechts’ bezeichnen) lehnen diese ungewöhnlichen Fans ab. Zum einen weil es politische Differenzen gibt, zum anderen - und das scheint mir wichtiger, weil die St. Paulianer das Bild des Fußballfans in gewisser Weise auch karikieren. Aus der Sicht der echten Hools sind die Fans vom Millerntor vor allem ‘Asoziale’, ‘Zecken’, ‘Drogenabhängige’ etc., die den Fußballsport verunglimpfen oder gar verunreinigen. Gleichzeitig stellen sie das auf Männlichkeit und Härte beruhende Selbstbild in Frage. Deswegen stehen ihnen die meisten Hools unversöhnlich gegenüber. Hier fehlt den Selbstdarstellungen der Befragten auch jene Prägnanz, mit der sie etwa die Produktion von Kicks und die Außeralltäglichkeit ihres Hobbys beschreiben. Wenn es um die Feinde geht, werden die Beschreibungen schwammig und stereotyp (z.B. Linke, Zecken). In der folgenden Interviewpassage zeigt sich dies beispielhaft: A: Ja, gut, wenn so’ne Mannschaft wie St. Pauli, das, die haben en Ruf nun mal, das sind Linke, Autonome, die sind in der ganzen Szene irgendwo, also fast im ganzen Land irgendwo sind die als Zecken angesehen und da geht das schon mal politischer zur Sache, aber nicht weil die Jungens rechts, sondern einfach weil die da eben links sind, ne, Kiffer, Drogenabhängige und so weiter und so fort. Aus der Sicht der Eigengruppe bedrohen solche abweichenden Fußballfans genauso wie die Hoolgruppe aus der Nachbarstadt das eigene Selbstbild. Hier wird der ‘rationale’ Rahmen des Erlebnismanagements verlassen. Nicht die Produktion von Gefühlen spielt bei diesen Auseinandersetzungen eine Rolle. Gewalt ist hier vielmehr Ausdruck von Abwertung. Hier liegt ein typisches Beispiel einer Intergruppenrelation vor, wo über Stereotypisierung von Merkmalen (links, drogenabhängig etc.) ein Feindbild konstruiert wird. Die eigentliche Sache, der Fuß276 ballsport, tritt dabei völlig in den Hintergrund. Er liefert nur noch den Aktualisierungsanlass für Gruppenauseinandersetzungen, die nicht mehr ritualisiert und kontrolliert als Spaß unter Freunden ablaufen. Hier kommt es auch häufiger zu Ausschreitungen gegenüber Unbeteiligten. Den Hools sind dann nicht nur die St. Pauli-Fans, sondern alle Punks als Gegner recht. Ohnehin hat sich das Feindbild ‘Punk’ in der Hooliganszene mehr und mehr verselbständigt. Nach dem Spiel wird durch die entsprechende Stadt gezogen, auf der Suche nach Opfern. Gegenreaktionen der ‘Opfer’ bleiben meist nicht aus. Zwischen den verschiedenen Hooligangruppen ist Verständigung möglich, weil keine ‘echte’ Feindschaft (von Ausnahmen abgesehen) besteht. Zu anderen Gruppen wird (aus dargelegten Gründen) keine Beziehung hergestellt, folglich sind keine Verständigungsprozesse erforderlich. Eine Ausnahme sind die Derbyrivalen, die St. Pauli-Fans und immer mehr die Punks generell. Aus den dargelegten Motiven sind hier keine rationalen Arrangements, sondern Hass und Ablehnung bezeichnend. Verständigung ist in der stark vorurteilsbeladenen Intergruppensituation nicht möglich und nicht gewünscht. Auffallend bei den Befragten ist - und dies ist ein wichtiger Bestandteil von Verstehensleistungen - die Fähigkeit, die eigene Position zu reflektieren und zu hinterfragen: A: Ja, natürlich musst du irgendwo’n Rad abhaben. Irgendwie hat man ‘ne Macke, wenn man so was macht. Aber es hat keinen Sinn irgendwie andern Leuten was aufs Maul zu hauen. Im Endeffekt, was hab ich davon, wenn ich jetzt aus ‘nem anderem Verein irgendwem eine aufs Maul haue. Wenn de wirklich klar denkst, hast de davon gar nichts. An anderer Stelle doziert der Befragte weiter über sein abweichendes Hobby: A: Das ist ein Phänomen, was man eigentlich nicht erklären kann. Erklären schon, aber was ein Normaldenkender, wir sind auch normaldenkende Menschen, aber was’n ein Außenstehender eben nicht begreift, ne. Ich zum Beispiel begreife nicht, wie man Alkoholiker sein kann oder drogenabhängig, das begreif ich zum Beispiel nicht. Ich versteh die Leute auch, die machen das, aus irgend’m Grund machen die das, ich würd die nie verurteilen deswegen. Genauso wie diejenigen nicht begreifen, dass ich zum Fußball fahre und mich da rumboxe. Prinzipielle Einsicht in Sinn und Unsinn des eigenen Treibens besteht. Die Lebenspraxis zeigt aber, dass die Thrills viel zu wichtig sind, als dass sie einer Einsicht folgend geopfert werden. Die zusätzliche Rationalisierung des eigenen Handelns (‘Ist ja nur Spaß’) und die damit implizierte Folgenlosigkeit für andere machen es zusätzlich leicht, die Einsicht ohne Konsequenzen zu belassen. 277 3.5 Gruppenverlauf Die Gruppe ist in ihrer Größe und Struktur ähnlich geblieben. Es hat hinsichtlich des aktiven Verhaltens Abwanderungen und Neuzugänge gegeben. Mit der Zeit haben einige der ‘Alten’ den Ausstieg geschafft. Aus familiären und/oder beruflichen Gründen ist für viele die Ära des Nervenkitzels vorbei. Sie treffen sich allenfalls noch mit den ‘Kumpels’ von früher zum Spiel, verlassen jedoch sozusagen das Feld vor Beginn der dritten Halbzeit. Der ‘Nachwuchs’ hat sich hochgearbeitet. Damit wurden Positionen innerhalb der Hierarchie erhalten, die Personen, die diese besetzen, jedoch teilweise ausgetauscht. Einige der älteren Mitglieder sind immer noch aktiv dabei und es hat auch negative Verläufe gegeben. Nach Auskunft eines Mitarbeiters der Polizei handelt es sich dabei um diejenigen, die ihr Leben nur schwer im Griff haben. Wie zu Beginn gezeigt, besteht die skizzierte Gruppe aus Personen aus unterschiedlichen sozialen Verhältnissen. Auffällig ist, dass denjenigen der Ausstieg gelungen scheint, die aus relativ geordneten Verhältnissen kommen, d.h., wo der soziale Druck und berufliche wie familär-emotionale Zukunftsperspektiven wirksam geworden sind. Immer noch dabei und - wie noch zu zeigen sein wird - auf einem höheren Gewaltniveau und teilweise unter Verlust jeglicher Beschränkungen durch einen Ehrenkodex, sind eher diejenigen, die familäre, berufliche oder Drogenprobleme haben. Demnach scheint zwischen den Ausstiegschancen aus der ‘Devianz’ und dem additiven Charakter derselben ein enger Zusammenhang zu bestehen. Deutlich gesagt werden muss, dass es Verschiebungen hinsichtlich des Gewaltniveaus und eng damit verbunden Veränderungen im Ehrenkodex der Gruppe gegeben hat. Einige Mitglieder waren an der Eskalation im Rahmen der Weltmeisterschaft 1998 in Frankreich beteiligt. Nach Aussagen der Polizei seien sie zwar nicht mit der Absicht nach Frankreich gefahren, den Konflikt mit den französischen Kollegen zu suchen, in Ermangelung eines Gegners jedoch (die Hooligangruppen wurden durch Bemühungen der Polizei voneinander fern gehalten) wurde - wie durch die Medien hinreichend bekannt - die Staatsgewalt Ziel einer Gewalteskalation mit folgenschwerem Ausgang. Unter erheblichem Alkoholeinfluss wurde ein Polizist von den Hooligans fast zu Tode geprügelt. Die Auflösung des Ehrenkodexes, wonach Waffen verboten sein sollen und Gewalt dann ein Ende findet, wenn der Schwächere am Boden liegt, ist eine bedenkliche Entwicklung, die die Polizeiexperten beobachten. Das Mitführen von gefährlichen Waffen - Messern, Pistolen, Baseballschlägern - wird mittlerweile häufig stillschweigend von den Gruppenmitgliedern toleriert. Über die genauen Gründe kann mehr oder weniger nur spekuliert werden. Jedoch gilt auch hier: Maßgeblich ist die soziale Einbindung der ‘Täter’; die Tatsache oder das Bewusstsein darum, ob es noch viel oder wenig zu verlieren gibt. Es hat den Anschein, dass die Hooliganszene zunehmend als Sammelbecken 278 für ‘Sozialverlierer’ funktioniert. Damit wäre im Hinblick auf zunehmende soziale Probleme, unter denen insbesondere Jugendliche innerhalb unserer Gesellschaft mehr und mehr zu leiden haben, eine weitere Eskalation zu befürchten. Hier scheint Sozial- und Fanarbeit dringend von Nöten. Insgesamt jedoch betrachtet sind Aktionen wie ‘Lens’ und damit einhergehend verheerende Kontrollverluste immer noch die Ausnahme. Sie stehen nicht für das traditionale Selbstverständnis von Hooligans und der von mir untersuchten Szene-Mitglieder. 279 III. Spezialisierte Affektkulturen in der Erlebnisgesellschaft 1. Zur Erlebnisgesellschaft In der Einleitung habe ich bereits dargestellt, wie vielfältig und teilweise originell sich die Suche des modernen Menschen nach dem ‘besonderen Erlebnis’ gestaltet. Um Themen wie Ekstase, Tod, Traum, Phantasie, Meditation, Spiritualität, Sekten/Okkultismus, Drogen, Bioenergetik, mediale Grenzerfahrungen, Abenteuer, Reisen und Sport ließe sich eine noch längere Liste jeweils ausdifferenzierter Aktivitäten darstellen, die darauf abzielen, aus der Routine und Habitualisierung des Alltags auszubrechen. In seinem umfangreichen Werk beschreibt Schulze (1993) die moderne ‘Erlebnisgesellschaft’, in der sich die individuelle Gestaltung des Lebens nicht mehr an äußeren Notwendigkeiten, am ‘Überleben’, orientiert, sondern am ‘aufregenden Leben’, das im Fokus menschlicher Bedürfnisse steht. Er konstatiert: „Die Problemperspektive des Lebens verlagert sich von der instrumentellen auf die normative Ebene; an die Stelle der technischen Frage ‘Wie erreiche ich X’ tritt die philosophische Frage ‘Was will ich eigentlich?’ (...) Auf die beispiellosen Veränderungen der Situation in den letzten Jahrzehnten reagieren die Menschen mit einer Veränderung der normalen existentiellen Problemdefinition. Das Erleben des Lebens rückt ins Zentrum. Unter dem Druck des Imperativs ‘Erlebe Dein Leben’ entsteht eine sich perpetuierende Handlungsdynamik, organisiert im Rahmen eines rasant wachsenden Erlebnismarktes, der kollektive Erlebnismuster beeinflusst und soziale Milieus als Erlebnisgemeinschaften prägt“ (ebd. 1993, S. 34). Auch in seiner Begrifflichkeit hat das Phänomen in den letzten Jahren einen regelrechten Boom erlebt. Der semantische Raum unserer Sprache stellt sich als ein einziges Erlebnis dar: Erlebnisorientierung, Erlebnismarkt, Erlebnispark, Erlebnisbad, Erlebnisreisen, Erlebnishunger, Erlebnismesse, Erlebnispädagogik, Erlebnismarketing,125 Erlebniskauf, Erlebnisseminare - Erlebnisgesellschaft. Das Leben wird so gleichsam zu einem einzigen ‘Erlebnisprojekt’: 125 Entsprechend der üblichen Anglizismen in Werbung und Marketing distanziert man sich hier vom gleichsam provinziell anmutenden Erlebnisbegriff und spricht schon längst vom ‘Event’. So gibt es den regelmäßig stattfindenden ‘Deutschen Eventmarketing-Kongress’ oder auch die jährliche ‘World of Events’ als internationale Fachmesse für Event-Marketing. 280 „All diese Ästhetisierung und Pseudo-Entästhetisierung von Produkten ist Teil eines umfassenden Wandels, der nicht auf den Markt der Güter und Dienstleistungen beschränkt bleibt. Leben schlechthin ist zum Erlebnisprojekt geworden. Zunehmend ist das alltägliche Wählen zwischen Möglichkeiten durch den bloßen Erlebniswert der gewählten Alternative motiviert: Konsumartikel, Eßgewohnheiten, Figuren des politischen Lebens, Berufe, Partner, Wohnsitutationen, Kind oder Kinderlosigkeit. Der Begriff des Erlebnisses ist mehr als ein Terminus der Freizeitsoziologie. Er macht die moderne Art zu leben insgesamt zum Thema“ (ebd. 1993, S. 13f).126 2. Spezialkulturen in der Erlebnisgesellschaft Einen ähnlichen Ansatz haben die Trierer Soziologen entwickelt. Sie sprechen von spezialisierten (Affekt)Kulturen, die sich in der modernen Gesellschaft herauskristallisieren. Ausgehend von einer historisch-strukturtheoretischen Arbeit (vgl. Winter/Eckert 1990) wurden verschiedenste Spezialkulturen in unterschiedlichen Studien (Gewalt/Horror, Sexuali- tät/Pornographie, Neue Medien/Computernetzwerke/Internet, agressionsaffine Jugendgruppen) nachgezeichnet.127 Das Phänomen der Spezialkulturen wird dabei wie folgt erklärt: „Zentrales Charakteristikum der modernen, medienvermittelten Kultur scheint zu sein, spezifische Gefühlslagen und -praxen, die in der bisherigen Geschichte der Menschheit in religiöse, familiale, politische und militärische Symbolik eingebunden waren, aus diesen übergreifenden Sinnzusammenhängen herauszulösen und sie isoliert und spezialisiert zur ‘Wahl’ zu stellen. So lassen sich spezifische Meditationstechniken in der Hoffnung auf spirituelle Erfahrungen einüben, ohne das Lehrgebäude zu übernehmen, in dem sie entwickelt worden sind; so können die Grenzerfahrungen eines Überlebenstrainings ‘gebucht’ werden, ohne dass sie als Vorbereitung auf einen Krieg 'Sinn' machen; so sind symmetrische Kommunikationsformen erlernbar, ohne dass diese an genossenschaftlich-demokratische Organisationsstrukturen gebunden wären. Liebe und Sexualität, die auch in der Vergangenheit eher normativ als faktisch an Ehe und Familie gebunden waren, legitimieren sich zusehends aus sich selbst. Nachdem die persönlichen Beziehungen heute weitestgehend aus der Jurisdiktion und Kontrolle von Verwandtschaft und Nachbarschaft entlassen sind, ist nicht einfach ein ‘Freiraum’ entstanden, sondern eher ein Marktplatz, auf dem Menschen als Anbieter und Nachfrager von Freundschaft, Liebe, Geborgenheit und Abenteuer auftreten. Auf diesen Märkten differenzieren sich spezifische Sinnwelten heraus, die wir als Spezialkulturen bezeichnen. In ihnen finden sich Menschen zusammen, die eine gemeinsame Wahrnehmung der Wirklichkeit oder gemeinsame Interessen und Spezialisierungen 126 Schon der Autokauf hängt nicht mehr von funktionalen Aspekten ab, sondern vom Erlebniswert, den diese oder jene Automarke vermittelt (BMW postuliert ‘Freude am Fahren’ im Claim der Marke). 127 Vgl. Eckert u.a. (1990; 1991); Eckert u.a. (2000); Wetzstein u.a. (1995) 281 verbindet. Dabei ist es nicht erforderlich, dass zwischen allen Mitgliedern der Spezialkulturen unmittelbare face-to-face-Beziehungen entstehen, vielmehr gruppieren sie sich auch überlokal um spezifische Themen und Sinnangebote“ (Wetzstein u.a. 1993, S. 17f). Als ein Grund für die Herausbildung von Spezialkulturen ist die kommunikative Infrastruktur der Medien zu nennen, die es immer leichter macht, ‘Wahlnachbarschaften’ für spezielle Interessen aufzubauen. Ein anderer und damit verbundener Grund liegt in dem Bedeutungszuwachs der Selbstverwirklichung. Mit der Ausdehnung der Bildungsbeteiligung erfahren immer mehr Menschen, dass sie selbst Gegenstand ihrer Arbeit sind und sein müssen (vgl. Eckert 1984; Eckert 1990). Gesteigerte Reflexivität und Selbstbezogenheit ist die Folge. Der sich Bildende wird tendenziell zum Baumeister seiner eigenen Identität. Der Schub an Reflexivität in den letzten Jahrzehnten, maßgeblich getragen durch die mediale Universalisierung von Selbstbezogenheit und Selbstverwirklichungsidealen, führt zu immer weiter fortschreitenden Differenzierungen, zur Herausbildung von immer neuen Spezialkulturen, in denen immer spezifischere Bedürfnisse ausgelebt und ausagiert werden. Während Selbstverwirklichung in der bildungsbürgerlichen Tradition noch begründungspflichtig war, und beispielsweise durch den genialen Beitrag zur Innovation in Kunst und Wissenschaft legitimiert wurde, ist heute bereits durch die unzähligen Wahlmöglichkeiten im Konsum sichergestellt, dass die subjektive Gefühlslage zum Kriterium werden kann, auch ohne dass dies begründungspflichtig ist. Der Widerspruch zwischen Pflicht und Neigung, wie er bei Kant und Schiller thematisiert wird, ist in vielen Lebensbereichen, insbesondere der Freizeit, durch die Selbstlegitimation der Neigung aufgelöst. Erlebnisorientierte Spezialisierungen gehören deshalb zur Grundstruktur der Freizeitgesellschaft.128 3. Außeralltäglichkeit, Gewalt und Zivilisation Neben Spezialkulturen, die sich um Themen wie ‘Aquarell-Malen’, ‘Briefmarken-Sammeln’, ‘Modelleisenbahn’, ‘Heimwerken’ oder ‘Camping’ herauskristallisieren, haben sich auch sol- 128 Selbstverwirklichung bedeutet dann aber auch Selbstvergewisserung hinsichtlich des Körpers und der Gefühle. Sie wird hergestellt in persönlichen Beziehungen, im Extremsport, im Medienkonsum. Der Wunsch, den Körper, das animalische, den Affekt zu spüren, Grenzerfahrungen und Ekstase zu erleben, ist Ausdruck einer postmoderenen Variante der Selbstthematisierung, die in immer schnellerem Tempo immer neue Räume der Außeralltäglichkeit und des Thrills produziert. Körpererfahrung wird für manche Menschen zum zentralen Konstruktionsprinzip der subjektiven Identität, weil gerade sie unhintergehbare Authentizität zu beglaubigen scheint (vgl. Trilling 1989). 282 che etabliert, in denen Körper- und Grenzerfahrungen ausgelebt werden können, die wir normalerweise aus unserem Verhaltensrepertoire sowohl im beruflichen als auch im privaten Rahmen ausklammern (Angst, Rausch, Ekstase, Schmerz, Ekel, Wut, Thrill). Menschen suchen hier anders gerahmte Situationen - Beispiele sind Urlaub (‘Ballermann Mallorca’) oder auch der Karneval - auf, um ihre Affekte (dort, wo niemand sie kennt) auszuleben. Heute haben sich für diese Erlebnisformen regelrechte Emotionsmärkte herausgebildet, die in ganz unterschiedlichen Bereichen (z.B. Sport, Meditation, Drogen, Sexualität, Sekten, Selbstfindungsgruppen oder mediale Extremsituationen) ähnliche Gefühls- und Körpererfahrungen ermöglichen.129 Durch sie sollen die ‘animalischen Leidenschaften’ (vgl. Vincent 1990) aus der alltäglichen Mäßigung herausgehoben und extreme Gefühls- und Ich-Erfahrungen durchlebt werden. Ekstasen oder andere Extrem-Emotionen sind heute frei verfügbar. Jeder kann sofern er will - seine Grenzen suchen und überschreiten. Gerade der Sport bietet heute hierfür zahlreiche Möglichkeiten. Mandell (1981) vermutet für den Marathonlauf, dass - ausgelöst durch komplexe neurochemisch-elektrophysiologische Reaktionen - neben dem sogenannten ‘first second wind’ auch der ‘second second wind’ entsteht. Mit beiden gehen rauschähnliche Zustände einher, die im ‘second second wind’ nochmals gesteigert werden: "In the longdistance runner the second wind is beyond pain, hunger, thirst, anger, or depression: transcendent" (ebd., S. 217). Ein anderes Beispiel ist das Bungee-Jumping. Der Sprung aus großer Höhe, nur durch ein Gummiseil gesichert, führt zu komplexen körperlichen Reaktionen. Schon vor dem Sprung führen spezifische physiologische Prozesse zu einer veränderten Selbstwahrnehmung, die nach überstandenem freien Fall in ein euphorisches Gefühl mündet (vgl. Hoppe 1992). Auch aggressionsaffine Affekte und Gewalt (fiktiv oder real) werden in spezialisierten Kulturen ausgelebt. Solche Spezialkulturen kristallisieren sich um mediale Gewaltinszenierungen (Literatur, Kino, Video, Computer/Internet), wie sie in den Arbeiten von Eckert u.a. (1990; 129 Die Ähnlichkeit solcher Erlebnisse verdeutlicht die folgende Schilderung eines begeisterten Bergsteigers: "Dort oben werde ich ganz einfach herrlich stark und entfesselt, tief aus dem Körper heraus. Ich lebe ein Leben der ungewohnten Fülle. Schuften wie ein Wilder, essen wie ein Wilder, Mut-Taten tun wie ein Barbar. Ja, durch und durch wild sein, danach bin ich süchtig. Das Saft- und Machtgefühl spüren, das aus dem vollen Körpererleben kommt. Worte sind da so schwach, dieses Daseinsgefühl zu beschreiben. Es ist ein Lebensgefühl der vollen Pulse, ein Raubtiergefühl. Die Käfige sind offen, die Dompteure sind fort, das Raubtier ist los. Da kriegt das Dasein eine ganz andere Fülle und Selbstverständlichkeit. Eine neue Lebensgewißheit ist da, die nicht erst durch Gedanken gedacht sein muß. Die Basis des Daseins ist klar: Da ist die Bergnatur und mein Raubtier-Ich. Das gibt ein Wechselspiel, das läuft von selbst. Ich bin inzwischen ganz zufrieden, wenn mir am Berg das Geistige abhanden kommt. Dafür handele ich mir Stärke und Wildheit ein, ein großes Lebensgefühl, das von unten, aus den Knochen, aus den Muskeln und Eingeweiden kommt. Klare und gewaltige Rhythmen teilen das Leben ein, Spannung und Erlösung, Zweifel und Triumph, Hunger und Sättigung" (Aufmuth, 1984, S. 89f). 283 1991) und Winter (1995) beschrieben werden. Der Sport bzw. Kampfsportarten wie Catchen, Ringen, Boxen oder Fechten sind weitere Beispiele der Manifestation von Gewalt. Schließlich sehen wir in jugendkulturellen Szenen, dass Gewalt als Selbstzweck inszeniert und als Mittel der Distinktion eingesetzt wird (vgl. Eckert u.a. 2000). Gewalt ist aber keineswegs ausschließlich ein Phänomen unserer Zeit bzw. unseres westlichen Kulturkreises. Ihre Verbreitung und Kultivierung im Alltag, im Krieg oder in Opferritualen wird von Anthropologen, Ethnologen und Historikern beschrieben. Gay (2000) beschäftigt sich mit den vielfältigen, individuellen und kollektiven, Erscheinungsformen ‘kultivierter’ Gewalt in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Einen Überblick über den Umgang mit Gewalt in unterschiedlichen historischen Epochen und geographischen Regionen liefern Sieferle/Breuninger (1998).130 In seinem ‘Traktat über die Gewalt’ spricht Sofsky vom gewaltdisponierten Gattungswesen Mensch. An verschiedenen historischen Beispielen erläutert er unterschiedliche Formen und Eskalationsmechanismen der Gewalt, die zu einer „entgrenzten Freiheit“ wird, sobald nur alle Zwecke und Disziplinierungen abgestreift sind. Die „menschliche Bestialität“ könne weder kulturell durch die jeweiligen Sitten noch individuell durch psychische Dispositionen der Täter erklärt werden; Sofsky geht vielmehr von Gewaltfaszination im Sinne einer anthropologischen Konstante aus: „Alle Aspekte menschlichen Handelns können sich in einer Bluttat vereinigen. Da ist der Genuß der Ausschweifung, das Hohngelächter über das Leiden der Opfer, die Entgrenzung des Affektes. Da ist die gleichgültige Gewohnheit, das wiederholte Ritual der Inszenierung, der regelmäßige Ablauf des Schlachtfestes. Da ist die Kreativität des Exzesses, die Geselligkeit der Mörder, die Zusammenarbeit der Spießgesellen und Zuträger, und da ist nicht zuletzt der erfolgreiche Plan, der Kalkül, die Rationalität der Grausamkeit“ (ebd. S. 49). Die Entgrenzung der Gewalt wird durch ihre „Ordnung“ reguliert bzw. unterdrückt, doch die „Leidenschaft“ hat weiterhin Bestand: „Auf die alten Triebkräfte mag auch der Staat nicht verzichten. Er stellt die Affekte in seinen Dienst und läßt sie bei Gelegenheit frei. Dem zuverlässigen Soldaten steht der wilde Berserker zur Seite, die organisierte Razzia wird von einer lynchenden Straßenmeute angefeuert, die kühle Grausamkeit des Vollstreckers gewinnt Elan durch die Hitze des Aktionsexzesses“ (ebd. S. 22). Mit Eibl/Eibesfeld (1976) ist davon auszugehen, dass Aggression und Sexualität gleichsam zur Grundausstattung eines jeden Menschen gehört. Ihre Inszenierung und Kontrolle jedoch steht im Kontext der Zivilisationsgeschichte, die den Menschen eine immer stärkere Beherr- 130 Vgl. auch: Colpe/Schmidt-Biggemann (1993); Sorel (1981) sowie den historischen Abriss medialer Gewaltdarstellungen, den Hartwig (1986) in seiner Publikation „Die Grausamkeit der Bilder“ unternimmt. Einen ausführlichen Überblick über Gewalt in Opferritualen liefert Girard (1992). 284 schung abverlangt. So kann das Ausleben der Affekte als eine Reaktion auf die Verhaltensnormen des Alltags, die ein beständiges, vernunft- und zweckorientiertes Handeln fordern, verstanden werden. Die Vergegenwärtigung der zivilisatorischen Transformationen seit dem Beginn der Neuzeit, wie Elias (1976) sie untersucht hat, verdeutlichen diese Funktion. Elias zufolge ist der Affekthaushalt des heutigen Individuums durch bestimmte soziale und kulturelle Einflüsse geprägt worden, was er exemplarisch an der höfischen Gesellschaft darstellt. Waren unmittelbare und spontane Affekte in vormoderner Zeit durchaus übliche und akzeptierte Verhaltensformen, so sind es heute vor allem das rationale Kalkül und die Selbstkontrolle, die den Umgang mit anderen Menschen prägen. Für diese psychogenetischen Veränderungen macht Elias grundlegende gesellschaftliche Umwälzungen verantwortlich.131 Gesellschaften auf einem höheren Komplexitäts- und Interdependenzniveau sind ohne ein stabiles Gewaltmonopol nicht denkbar. Die individuelle Gewalthandlung wird zu einer Bedrohung der allgemeinen Befriedung. Deswegen sind Gewalt und Aggression durch ein strenges Normkorsett begrenzt und nur derjenige, der seine Affekte unter Kontrolle hat, braucht keine negative Sanktionen zu befürchten. Dem unkontrollierten und unberechenbaren Individuum droht hingegen Bestrafung und Kasernierung. Aber nicht nur hinsichtlich aggressiver Affektäußerungen wird dem einzelnen Menschen ein bestimmtes Verhalten abverlangt, sondern auch in bezug auf sein ganzes Verhalten. Es errichtete sich um mit Foucault (1977, S. 230) zu sprechen - eine "Mikro-Justiz der Zeit (Verspätungen, Abwesenheiten, Unterbrechungen), des Körpers (falsche Körperhaltungen und Gesten, Unsauberkeit), der Sexualität (Unanständigkeit, Schamlosigkeit)." Das zunächst äußere Zwangssystem verändert sich evolutionär mehr und mehr in einen Selbstzwang und funktioniert gleichsam als internalisierter Automatismus. Das zivilisierte, ‘triebgedämpfte’ Verhalten erscheint als natürlich. Elias (1976, S. 328f) folgert nun weiter, dass das Erleben von Affekten abgeschwächt und neutralisiert wird: "Wie die Monopolisierung der physischen Gewalt die Angst und den Schrecken verringert, die der Mensch vor dem Menschen haben muß, aber zugleich auch die Möglichkeit, Anderen Schrecken, Angst, oder Qual zu bereiten, also die Möglichkeit zu bestimmten Lust- und Affektentladungen, so sucht auch die stetige Selbstkontrolle, an die nun der Einzelne mehr und mehr gewöhnt wird, die Kontraste und plötzlichen Umschwünge im Verhalten, die Affektgeladenheit aller Äußerungen gleichermaßen zu verringern. Wozu der Einzelne nun gedrängt wird, ist eine Umformung des ganzen Seelenhaushalts im Sinne einer 131 Einen allgemeinen Überblick zu den komplexen Transformationen der Moderne geben auch: Aries/Duby (1990); Beck (1986); Beck/Beck-Gernsheim 1990; Braudel (1985); Hahn (1984); Luhmann (1984); Tenbruck (1989). 285 kontinuierlichen, gleichmäßigen Regelung seines Trieblebens und seines Verhaltens nach allen Seiten hin. (...) Aber wie er nun stärker als früher durch seine funktionelle Abhängigkeit von der Tätigkeit einer immer größeren Anzahl Menschen gebunden ist, so ist er auch in seinem Verhalten, in der Chance zur unmittelbaren Befriedigung seiner Neigungen und Triebe unvergleichlich viel beschränkter als früher. Das Leben wird in gewissem Sinne gefahrloser, aber auch affekt- und lustloser, mindestens was die unmittelbare Äußerung des Lustverlangens angeht" (Elias 1976, S. 331). Die Nivellierung der äußerlich sichtbaren Emotionsregungen bedeutet aber noch nicht, dass der Mensch auch innerlich befriedet ist. Zwar kann er seinen Gefühlen nicht mehr freien Lauf lassen, das bedeutet aber nicht, dass sie nicht mehr da wären.132 Jeder Mensch lebt deshalb im Spannungsverhältnis von zivilisatorischen Selbstkontrollzwängen und dem inneren Aufbegehren gegen diese Restriktionen, was sich in den temporären Befreiungsversuchen von diesen Verhaltensstandards äußert: "Aber die Triebe, die leidenschaftlichen Affekte, die jetzt nicht mehr unmittelbar in den Beziehungen zwischen den Menschen zum Vorschein kommen dürfen, kämpfen nun oft genug nicht weniger heftig in dem Einzelnen gegen diesen überwachenden Teil seines Selbst" (ebd).133 Demnach muss das Individuum im Alltag das Verhalten zeigen, das von ihm erwartet wird. Eine Vielzahl von ritualisierten Verhaltensschablonen, wie Goffman sie beschrieben hat (vgl. Kap. III. 1.5.2), sichern dabei die Stabilität und Zuverlässigkeit der Handlungen des Individuums und gewähren auch in bestimmtem Umfang Kontrollentlastungen, weil sie mehr oder weniger automatisch realisiert werden. Unmittelbar mit den Anforderungen des Alltags ist die 132 Deutlich zeigt sich diese Feststellung im Bereich der Sexualität, wie Bataille (1982, S. 88) treffend formuliert: "Der Liebesakt und das Opfer decken beide dasselbe auf: das Fleisch. Das Opfer läßt an die Stelle der geordneten Funktionen des Lebewesens das Blinde zucken der Organe treten. Dasselbe gilt für die erotische Konvulsion: sie befreit die blutgefüllten Organe, deren blindes Spiel sich über das überlegte Wollen der Liebenden hinaus fortsetzt. Auf das überlegte Wollen folgen die tierischen Bewegungen der vom Blut geschwellten Organe. Eine Gewalttätigkeit, die von der Vernunft nicht mehr kontrolliert wird, beherrscht diese Organe, spannt sie bis zum Platzen, und plötzlich wird es zu einer Freude der Herzen, dem Überschwang dieses Sturmes nachzugeben. Die Bewegung des Fleisches überschreitet, während der Wille abwesend ist, eine Grenze. Das Fleisch ist in uns jener Exzess, der sich dem Gesetz des Anstands widersetzt. Das Fleisch ist der angebore Feind jener, die das christliche Verbot quält; wenn es aber, wie ich glaube, ein vages und umfassendes Verbot gibt, das sich in verschiedenen, von Zeit und Ort abhängigen Formen der sexuellen Freiheit entgegenstellt, so ist das Fleisch Ausdruck für die Rückkehr dieser bedrohlichen Freiheit." 133 Die Theorie von Norbert Elias sieht Sieferle (1998, S. 27) in Anthony Burgess Roman ‘Clockwork Orange’ plastisch illustriert: „Am Anfang steht die Gewalt der Täter, die in der Zerstörung und in der Zufügung von Leid ihre private Lust gewinnen. Sie finden Macht, Selbstachtung und Anerkennung, wenn sie andere verletzen und demütigen können. Doch dann verkehren sich die Fronten. Der Schläger wird zivilisiert, er unterliegt der strafenden Umkonditionierung, seine Schmerzschwelle wird gesenkt, was ihn zur Empathie, zur Leidensfähigkeit und zur Friedfertigkeit erzieht. Diese Disziplinierung wird jedoch als Traumatisierung erfahren: Ihm wird eine offene Wunde implantiert, die bei der kleinsten Reizung schmerzt.“ 286 Außeralltäglichkeit verbunden, die als temporärer Ausstieg aus den allgemein geltenden Verhaltenskonventionen verstanden werden kann. Den Alltag als Bezugspunkt der Außeralltäglichkeit beschreibt Weber (1921/1976) in seinen soziologischen Grundbegriffen bzw. in seiner Theorie sozialen Handelns als ein sich in sehr kleinen Abständen regelmäßig wiederholendes Handeln. Somit liegt der Unterschied zwischen Alltag und Außeralltäglichkeit in der Häufigkeit des Vorkommens. Weber versteht unter Alltag aber auch gelebtes, traditionales Handeln. Zum Alltag dazu gehörig fasst er schließlich zweckrationales Handeln, das durch die rationale Abwägung des Zwecks, der zu verwendenden Mittel und der zu erwartenden Nebenfolgen gekennzeichnet ist.134 Mit der zunehmenden Rationalisierung der Welt unterstellt Weber (1921/1988) die Abnahme von magischen und mystischen Vorgängen und bezeichnet diesen jahrhundertelangen Prozess, der bereits in frühen Hochkulturen begonnen habe und bis heute anhält, als die „Entzauberung der Welt“. Luckmann (1991) formuliert, dass die ‘Religion’ nicht verschwindet, sondern diffundiert. Menschen haben religiöse und oder spirituelle Erlebnisse in anderen, unterschiedlichen Bereichen, so z.B. der Zapfenstreich beim Militär. Auch im Sport und in verschiedenen Hobbys sind vormals religiöse Erfahrungen vorhanden.135 Rituale übernehmen hier eine besondere Funktion: Einerseits strukturieren sie den Alltag, machen Verhalten erwartbar; andererseits stellen Rituale aber gerade auch den Übergang vom 134 Die Dialektik von Alltag und Außeralltäglichkeit vermag Schulze (1999, S. 79) an einem sehr einfachen, aber plastischen Beispiel zu beschreiben: „Der Film ‘Baka’, vor Jahrzehnten von französischen Ethnologen gedreht, gibt Szenen aus dem Leben eines Naturvolks in Afrika wieder. Ab und zu sieht man einen alten Mann, der den Kindern signalisiert, dass er ihnen eine Geschichte erzählen möchte. Die Kinder hören auf zu spielen, setzen sich hin und schauen ihn erwartungsvoll an. Alle seine Geschichten beginnen mit der Floskel: ‘Das war so’, und sie enden mit dem Satz ‘So war das’. Was hier sichtbar wird, ist eine Ur-Idee: gemeinsam aus dem Fluss des Alltagsgeschehens herauszutreten und eine Enklave in Raum und Zeit zu schaffen, in der ein Arrangement zwischen Akteuren und Beobachtern gilt - der Tausch von Aufmerksamkeit gegen eine bemerkenswerte Darbietung. Noch nie aber so scheint es, hat es so zahlreiche Verabredungen zwischen dem universellen Erzähler und seinem ewigen Publikum gegeben“ (Schulze 1999, S. 79). 135 Aus der Vielzahl psychologischer Erklärungsversuche möchte ich hier explizit auf die Ansätze von Balint und Zuckerman/Bone verweisen. Balint unterstellt dem Menschen Lustgewinn durch das Erfahren von Angst im Sinne des Wissens um Risiko und Gefahr in Grenzsituationen. Dabei sind drei Elemente konstitutiv: 1. Das Bewusstein eines äußeren Risikos oder einer Gefahr, 2. Die freiwillige Konfrontation mit der Gefahr und 3. die Hoffnung und das Vertrauen auf die Bewältigung der Gefahrensituation und das Wiederherstellen der Sicherheit (vgl. Balint 1982). Zuckerman geht von einem gewissen Grundbedürfnis des Menschen nach Aktivität, Spannung und Erregung aus. Dieses jedoch ist nicht bei allen Menschen gleich ausgeprägt. So gibt es die ‘high-sensation-seekers’ und die ‘low-sensation-seekers’. Hohe Reizsucher haben einen stark ausgeprägten Stimulationsbedarf, den er durch eine sensorische Deprivation erklärt. Die Schwelle des Empfindens von Angst z.B. liegt bei hohen Reizsuchern sehr viel höher als bei anderen. Für hohe Spannungssucher stellt sich das Problem, dass das Alltagsleben als zu spannungslos empfunden wird und sich diese Erfahrungsräume suchen, die ihren Bedürfnissen entgegen kommen (vgl. Zuckerman/Bone 1972). Apter (1994) schließt sich diesen Konzepten weitestgehend an, indem er auch das Bedürfnis nach Risko-Erfahrung als etwas Natürliches betrachtet und dafür plädiert, ‘Räume des Risikos’ zu schaffen. Zum Thema Risikolust vgl. auch Hauck (1989) sowie Brengelmann (1991). 287 Alltag zur außeralltäglichen Erfahrung her: „Symbole schließlich sind Verkörperungen einer anderen Wirklichkeit in der alltäglichen; sie können aber auch in Verbindung mit bestimmten (nämlich ritualisierten) Handlungen in Anspruch genommen werden, um die Grenzen zu anderen Wirklichkeiten, einschließlich der letzten Grenze, zu überschreiten. (...) Rituelle Handlungen richten sich an die außeralltägliche Wirklichkeit“ (Luckmann 1991, S. 175f).136 Gebhard (1987) erläutert die Beziehung zwischen Alltag und Außeralltäglichkeit am Beispiel des Fests, das die soziale Ordnung des Alltags aufhebt und teilweise umkehrt. Schützenfeste, Partys, Volksfeste als Orte emotionalen Handelns, die es erlauben, aus sich heraus zu gehen, Tabus und Normen zu negieren: „Das Fest ermöglicht die Flucht, das Vergessen und die Erholung von der alltäglichen Wirklichkeit“ (ebd. S. 12).137 Grenz- und Körpererfahrung, Angstlust und Thrill im Sinne von nicht zum Alltag gehörenden und darum außeralltäglichen Erfahrungen - das sind Motive, die sich sowohl für Sadomasochisten als auch für Paintballspieler und Hooligans nachzeichnen lassen. Die Beispiele zeigen, dass die Menschen in diesen Szenen Aggression und Gewalt nicht nur ‘erleiden’, sondern sie zur lustvollen Stimulation unter bestimmten Bedingungen suchen. Sie stellen Gefühlslagen her, die im Rahmen von Gewalt(ritualen) eingebettet sind. Allerdings zeigen sich hier im Vergleich unterschiedliche Authentizitätsstufen hinsichtlich des fiktiven bzw. realen Charakters bzw. der Interpretation von Gewalt sowohl aus der Innen- als auch der Außenperspektive und den Eskalationsressourcen der jeweiligen Szenen. Der fiktive Charakter des Paintballspiels ist deutlich größer als der im sadomasochistischen Ritual oder bei den Gewalthandlungen der Hooligans. Unter der Annahme einer allgemeinen Definition von Gewalt als (absichtliches) Zufügen bzw. Erleiden physischer und/oder psychischer (Macht/Ohnmacht) Beeinträchtigung, können die hier untersuchten gewaltaffinen Spezialkulturen im Vergleich zu anderen Phänomenen wie folgt verortet werden: 136 Runkel (1988, S. 102) verweist auf „das Bedürfnis nach Überschreiten der Normalität und des Gewöhnlichen, der friedlichen, aber langweiligen Homogenität“, das es immer geben wird und stellt hierfür die Bedeutung der Rituale heraus. Georges Bataille (1982, S. 235) spricht von einem menschlichen „Verlangen, an den Grenzen des Möglichen und des Unmöglichen mit fortwährend wachsender Intensität zu leben.“ 137 Vgl. dazu auch Simmel (1923/1983, S. 13ff) über das Abenteuer: „Und zwar ist nun die Form des Abenteuers, im allerallgemeinsten: daß es aus dem Zusammenhang des Lebens herausfällt. (...) In einem viel schärferen Sinne, als wir es von den anderen Formen unserer Lebensinhalte zu sagen pflegen, hat das Abenteuer Anfang und Ende. (...) daß es in sich eine durch Anfang und Ende festgelegte Gestaltung eines irgendwie bedeutungsvollen Sinnes ist, und daß es, mit all seiner Zufälligkeit, all seiner Exterritorialität gegenüber dem Lebenskontinuum, doch mit dem Wesen und der Bestimmung seines Trägers in einem weitesten, die rationaleren Lebensreihen übergreifenden Sinne und in einer geheimnisvollen Notwendigkeit zusammenhängt. Hier klingt die Beziehung des Abenteurers zum Spieler an.“ 288 Abb.: Authentizitätsstufen von Gewalt 1) Sadomasochismus Der Sadomasochismus ist - das hat die bisherige Analyse deutlich gemacht - eine Inszenierungsform von Erotik und Sexualität, die von der ‘normalen’ Sexualität in zum Teil drastischer Art und Weise abweicht. Erfahrungen mit der Abweichung und den gesellschaftlichen Reaktionen darauf haben alle Sadomasochisten gemacht oder imaginativ vorweggenommen. Gleichzeitig haben manche Sadomasochisten gelernt, mit der devianten Leidenschaft umzugehen und ihre Leidenschaft (trotzdem) zu kultivieren. In der sadomasochistischen Spezialkultur ist die Verbindung von Sexualität und Gewalt und das Ausleben von intensiven Affekten konstitutiv. Einem ‘zivilisierten’ Menschen erscheinen diese Verhaltensformen als bedrohlich oder zumindest als fremd, denn solche ‘affektuellen Kollektive’ wirken auf den ersten Blick unberechenbar und die allgemein gültige Affektkontrolle scheint nicht zu gelten. Außeralltäglichkeit manifestiert sich im SM-Rahmen durch die Chance des exzessiven Auslebens von Emotionen. Gleichzeitig wird in dieser Situation all das, was der Alltag im Umgang mit anderen Menschen erfordert (z.B. Rituale, Konventionen), hyperritualisiert, karnevalisiert oder ins Gegenteil verkehrt. Die alltäglichen Ordnungen lösen sich in der außeralltäglichen Erfahrung des Sich-gehen-lassens und der Sicherheit vor negativen Konsequenzen auf. Außeralltäglichkeit konstituiert sich also in der Ablösung des Verhaltens von den Alltagserwartungen und der Befreiung dieser Ablösung von negativen Konsequenzen. Damit wird auch deutlich, dass Außeralltäglichkeit ein Phänomen ist, das es schon immer - wenn auch in verschiedenen Erscheinungsformen - gegeben hat. Jede Epoche und jede Kultur prägen eigene Formen der Außeralltäglichkeit (vgl. Eckert 1990). 289 Die Analyse hat gezeigt, dass die sadomasochistische Spezialkultur keineswegs eine anarchische Welt ist, in der es keine Normen und Regeln gibt. Das, was sie von anderen gesellschaftlichen Systemen unterscheidet, ist ein eigenes Wert- und Normsystem, das aber nur innerhalb dieser Szene Gültigkeit hat. So gehört z.B. zum sadomasochistischen Arrangement unbedingt die Zustimmung der beteiligten Personen. Des Weiteren werden die Grenzen dessen, was erlaubt ist, vorher abgesprochen, so dass das Ausleben von Gewalt in einem kontrollierten und reglementierten Rahmen stattfindet. Das sadomasochistische Ritual ist auf diese Weise eine Simulation, eine virtuelle Handlung. Daraus lässt sich ableiten, dass die Grenzen für Regel- und Normüberschreitungen nicht in allen gesellschaftlichen Teilsystemen gleich sind. So ist das Ausleben von Emotionen in der sadomasochistischen Szene anders codiert als in der übrigen Gesellschaft. Hier gilt, was Vester (1991, S. 112) festgestellt hat: "Die emotionalen Bindungen und die auf sie bauenden Wertentscheidungen und Tauschbeziehungen stellen auch ein soziales Drama dar. Dieses soziale Drama beinhaltet den Versuch der interaktiven Ausbalancierung zwischen den von einer Situation gestellten Anforderungen und Herausforderungen und den vorhandenen Ressourcen zur Situationsbewältigung bzw. Situationskontrolle. Als Ergebnis dieses Versuchs können sich implizite Definitionen des fairen Austausches etablieren, die dann in der weiteren Entwicklung der Austauschbeziehung als normativer Maßstab fungieren. Es werden dann möglicherweise moralische Wertvorstellungen wie ‘gut’ und ‘böse’ ausgebildet und soziale Verfahren entwickelt, die diesen Werten entsprechen sollen." Der ‘faire Austausch’ wird in der Spezialkultur der Sadomasochisten durch ein eigenes Regelsystem gewährleistet. Wer diese Normen nicht beachtet, hat keine Chance Mitglied in sadomasochistischen Szenen zu bleiben. Nur wer ein situationsangepasstes Emotionsmanagement beherrscht, ist akzeptiert. Doch nicht nur Emotionen werden in dieser Spezialkultur anders als in der übrigen Gesellschaft kultiviert. Auch das ästhetische Empfinden ist ‘spezialkulturtypisch’ codiert. Im Sadomasochismus kann sich die Suche nach Ekstase und Grenzerfahrungen äußern, wie sie in allen Gesellschaften bei religiösen bzw. kultischen Riten möglich waren resp. sind: Initiationsriten, Hinrichtungs- und Marterfeste, Märtyrien und extreme Askesen sind Beispiele hierfür.138 Gemeinsam ist diesen ‘künstlichen Paradiesen’, dass sie die Zustände ekstatischen 138 Bahnen (1992, S. 14) schreibt in diesem Zusammenhang: "Obwohl das Grausamkeitsthema über Jahrtausende hinweg einen beträchtlichen Anteil sexueller Besetzung auf sich gezogen haben muß, konnte es zunächst keine soziale Komponente entwickeln. Sadomasochistische Sexualakte, Lebensweisen gar, müssen extreme Ausnahmen gewesen sein. (...) In unserem Kulturkreis ist es aber dann zu einem bedeutenden Veränderungsprozeß gekommen, welcher den Ansätzen sexueller Faszination am Grausamkeitsthema eine Art Sozialisationsvorsprung vor anderen Themen perverser Grundorientierung (z.B. sexuellem Interesse an Fäkalien) gab. Ursache war nicht zuletzt der Aufstieg des Christentums und seine Entwicklung zur katholischen Kirche. Ihre zentrale, vergesellschaftende Mythologie umkreiste das Thema Erlösung, Himmelfahrt durch 290 Erlebens absichtsvoll herbeiführen und an bestimmte Anlässe gebunden sind. In der säkularisierten Welt fallen sie zunächst dem Diktat der Rationalität zum Opfer und verschwinden ganz aus dem Alltag des zivilisierten Individuums139 oder werden in die Bereiche subversiver Enklaven abgedrängt. Im Unterschied zur Alltagsbezogenheit der Außeralltäglichkeit transzendiert die Ekstase den Alltag in die ‘Hypertrophie des Präsens’ (vgl. Hahn 1976) und die Referenzlosigkeit des Erlebens.140 Die Differenz von Außeralltäglichkeit und Grenzerfahrung markiert deshalb - bezogen auf den Sadomasochismus - auch unterschiedliche Grade der Partizipation, denn nicht jeder will Grenzen überschreiten, manchen genügt schon die Außeralltäglichkeit. Die zentralen Werte der modernen westlichen Welt sind Freiheit, Gleichheit und Solidarität, die die Basis für persönliche Selbstbestimmung (pursuit of happiness im Sinne der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung) bilden. Zwei von ihnen werden durch die sadomasochistischen Spezialkulturen herausgefordert. Kann man freiwillig das Spiel der Unfreiheit wählen, kann unter Gleichen ein Vertrag über Ungleichheit geschlossen werden? Ist jemand berechtigt, auf seine körperliche Unversehrtheit zu verzichten? Vieles in der Beurteilung wird davon abhängen, ob Freiheit und Gleichheit, die vor der ‘Klammer’, vor dem ‘Spiel’ stehen, nicht grundsätzlich aufgegeben werden, sondern immer wieder herstellbar sind. Vieles in der Beurteilung dürfte davon abhängen, ob die körperlichen Beeinträchtigungen prinzipiell reversibel sind. In zivilisationstheoretischer Perspektive stellt sich hier jedoch noch eine andere Frage. Sadistische und masochistische Impulse haben in Religion und Erziehung, in Militär und Polizei - das Aufsichnehmen von Leiden; das extrem sozialfreundliche Motiv des Sich-Aufopferns für ein Ideal (...) wurde zu einem Hauptinhalt der Überlieferung, der Kunst, der Gebete. Dadurch kam es zu einer beträchtlichen Verklärung des Themas Grausamkeit." 139 Gelpke (1982, S. 141f) verdeutlicht dies am Beispiel der Bedeutung von Rausch und Ekstase im Orient und Okzident: "Diese technische Zivilisation ist ihrem ganzen Wesen nach funktionalistisch; und das einzige, allgemein verbindliche Kriterium, an dem die moderne Gesellschaft das Individuum mißt, ist mehr und mehr dessen sozialer Funktionswert. Rausch wie Eros aber sind - ihrem eigentlichen, die Grenzen des bloß Funktionellen sprengenden Wesen nach - transzendent. Ihr gemeinsamer Nenner heißt Ekstase. Das aber ist etwas, was wohl in die orientalischen und andere außereuropäischen Gesellschaften integriert worden ist, keineswegs aber in die Zivilisation des Westens. Deren ganzer, so extrem auf Leistung und Zweckdenken ausgerichteter Funktionalismus, deren linear und ad infinitum in den Zeitablauf projizierte Fortschrittsgläubigkeit, schließen ein tieferes Verständnis, eine geistige Durchdringung und existentielle Bejahung des Phänomens der Ekstase zwangsläufig aus." 140 Csikszentmihalyi (1987, S. 59) beschreibt diesen Zustand als 'flow' und bemerkt dazu: "Im flow-Zustand folgt Handlung auf Handlung, und zwar nach einer inneren Logik, welche kein bewußtes Eingreifen von Seiten des Handelnden zu erfordern scheint. Er erlebt den Prozeß als ein einheitliches 'Fließen' von einem Augenblick zum nächsten, wobei er Meister seines Handeln ist und kaum eine Trennung zwischen sich und der Umwelt, zwischen Stimulus und Reaktion, oder zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verspürt." 291 bzw. überall dort, wo es zu Machtmonopolen kommt - eine Bedeutung gehabt, zumeist als Macht, die unbegriffen im Rücken der Akteure deren Handeln mitbestimmt hat. Kann die Ausdifferenzierung einer spezialisierten Szene die anderen Lebensbereiche von solchen Impulsen entlasten? Zumindest bei den befragten Personen scheint es sich so zu verhalten. 2) Paintballspieler Anders als bei den Sadomasochisten verbleibt Gewalt bei den Paintballspielern nur auf der fiktiven Ebene; es gibt keine wirklichen Waffen oder Verletzungen (sieht man einmal von möglichen Hämatomen, die eher selten vorkommen, ab). Insofern können die Paintballspieler im Sinne der üblichen Gewaltdefinition nicht als gewaltaffin eingestuft werden. Sie spielen Gewalt und Kampf, dies aber nicht anders als das Indianerspiel von Kindern oder Ritterspielen auf Burgfesten, wo Gewalt nicht tatsächlich ausgeübt wird. Was für den Außenstehenden nicht selten als Ausdruck psychopathischer Gewaltverherrlichung und Kriegsspielerei verstanden wird, entpuppt sich als modernes ‘Räuber-und-Gendarme-Spiel’ braver Familienväter, Studenten und sogar Kriegsdienstverweigerern, das in vom Alltag klar abgegrenzten Rahmen geschieht. 3) Hooligans Den Hooligans reicht das nicht. Ähnlich wie im Bereich von Kampfsportarten wie Boxen, Karate und anderen ‘martial arts’ wird in einem Spielrahmen Gewalt tatsächlich angewendet. Das Risiko von Verletzungen gehört dazu. Wer am Spiel teilnimmt, willigt in eine Art Vertrag ein und kann später keinen Schadensersatz oder Vergeltung beanspruchen. Die Hooligans kämpfen zwar wirklich, allerdings in Grenzen, die ein gemeinsamer Kodex mit einer gewissen Regulierungsfunktion vorgibt. Die Balance bei der Gratwanderung zwischen Angst und Risikolust auf der einen und den möglichen, irreversiblen Verletzungsfolgen auf der anderen Seite wird zum entscheidenden Aspekt der extremen Erfahrungen, wie es auch bei Extremsportarten häufig vorkommt. Beachtenswert ist, dass die Hooligans - bei aller Brutalität, die sichtbar wird - ein (für sie selbst) zivilisiertes Spiel spielen. Den Hools ist zunächst einmal die Notwendigkeit einer besonderen Rahmenkonstruktion bewusst, ebenso die erforderliche Absicherung dieses Spielrahmens durch Regeln und Kontrolle wie auch die Erfordernis der freiwilligen Einwilligung in das Ritual. Dass die Beteiligten sich gegenseitig verletzen können und dies auch tun, ist für 292 sie akzeptabel. Dass im Spiel mit dem Risiko eine Gefahr für unbeteiligte Andere nicht auszuschließen ist, macht das Spiel und seine Grenzen prekär. Die Gründe für Grenzübertretungen sind unterschiedlich. Sicherlich spielt der Kontrollverlust unter Alkoholeinfluss eine Rolle, möglich auch, dass die antizipierte Medienaufmerksamkeit nach dem Motto ‘Helden für einen Tag’ bedeutsam ist. Nicht auszuschließen ist auch, dass sich die Hooligans gerade in internationalem Zusammenhang in die Rolle nationaler Helden phantasieren. Viel fundamentaler als diese Stimuli dürfte aber der Rahmenbruch durch die erzeugten spezifischen Emotionen selbst sein. Gerade weil das Spiel der Hools so real ist, funktioniert das Rahmenmanagement nicht immer und Entgleisungen sind die Folge. Das Spiel ist um so faszinierender, je echter das Spiel ist. Je echter das Spiel ist, um so eher verliert es seinen spielerischen Charakter. Der Rahmen bricht - mit fatalen Folgen, wie in Lens. Trotz unterschiedlicher ‘Authentizitätsstufen’ in den verschiedenen Szenen handelt es sich um Spiele (vgl. Caillois 1982; Huizinga 1987), die über Grenzziehungen und Transformationsregeln außeralltägliche Erfahrungen ermöglichen. Spiele grenzen Alltag aus und produzieren in einem eigenen Rahmen Spannung. Der Rahmen konstituiert sich über Spielregeln, Chancengleichheit und ungewissen Ausgang. Die Faszination des Spiels dürfte nicht nur auf die innewohnenden Spannungsquellen zurückzuführen sein, sondern auch auf die Ausgrenzung von Alltag. Das Spiel stellt eine abgegrenzte Form des Erlebens dar, die durch einen ‘Als-ObCharakter’ gekennzeichnet ist. Während des Spiels tut man so, als ob es nur die Wirklichkeit des Spiels gebe. Der Rahmen, die Einbettung in andere Wirklichkeiten ist nicht mehr bewusst. Die Spieler gehen im Spiel auf. Sadomasochisten, Paintballspieler und Hooligans zeigen, dass sich neue Regeln des Umgangs mit destruktiven Affekten prinzipiell finden lassen. Dieses Ergebnis ist allerdings an den engen Rahmen von persönlichen Beziehungsnetzen und freiwilligen Vereinbarungen gebunden und daher nicht ohne weiteres auf die Gesellschaft übertragbar. Gleichwohl trägt das in ihr entwickelte Lösungsmuster Züge, die letztlich der Transformation der Ethik im Modernisierungsprozess entstammen: Konkrete Rechte und Pflichten werden immer mehr durch abstraktere, universalistische Regeln ersetzt, die nichts positiv vorschreiben, sondern Bedingungen und Grenzen für inhaltlich bestimmte Handlungen formulieren. Es sind typischerweise Situationen, welche die Mitglieder der jeweiligen Kultur respektive Szene als folgenlos verstehen, entweder weil die Opfer keinen Zugang zu Justiz haben oder weil ein Einverständnis zwischen Opfern und Gegnern besteht, dass das Ganze nur ein Spiel sei oder - im Falle der Paintballspieler - tatsächlich nur ein Spiel ist. Der Charakter dieser Formen der Gewalt also ist von anderen Gewaltformen grundsätzlich verschieden. Während die Schlägerei in der Kneipe, die Vergewaltigung oder Tötung immer auch (staatliche) Ge- 293 gengewalt provozieren, handelt es sich bei gewaltaffinen Spezialkulturen um eine Gewalt, die folgenlos bleibt. Das vorgängig eingeholte Verständnis des Opfers beinhaltet den Verzicht auf Rache und Vergeltung; einer möglichen Eskalation wird auf diese Weise vorgebeugt. R. Girard weist in seinem Buch ‘Das Heilige und die Gewalt’ darauf hin, dass das Opferritual in primitiven Gesellschaften die Funktion hat, die Ausbreitung von Gewalt in der Gemeinschaft zu verhindern, indem es die Gewalt auf ein Objekt lenkt, das sich nicht wehren kann. Die dem Opfer angetane Gewalt bleibt folgenlos. Girard (1992, S. 59) verwendet die Metapher des unreinen Blutes, um diese Ambivalenz sichtbar zu machen: „Wir haben bereits von versehentlich oder böswillig vergossenem Blut gesprochen; es ist dieses Blut, das noch am Opfer trocknet, seine Klarheit verliert, trüb und schmutzig wird, Krusten bildet und sich schichtenweise ablöst; das Blut, das an Ort und Stelle alt wird, und das unreine Blut von Gewalt, Krankheit und Tod sind eins. Diesem bösen, schnell verdorbenen Blut stellt sich das frische Blut der eben dargebrachten Opfer entgegen, das immer flüssig und rot bleibt, weil es im Ritual erst im Augenblick des Vergießens gebraucht wird und gleich wieder weggewischt wird (...).“ Im Opferritual stellt sich kein Vergeltungswunsch ein. Es soll befrieden und symbolisiert dies durch eine finite Gewalthandlung, die keine Anschlüsse zulässt. Eine ähnliche Qualität haben die Gewaltrituale bei Sadomasochisten, Paintballern und Hooligans. Der Peitschenschlag im Dominastudio provoziert nicht den Gegenschlag des Sklaven. Die Prügeleien unter Hooligans provozieren keine von Ihnen selbst initiierten strafrechtlichen Konsequenzen, und die fiktive ausgeübte Gewalt im Paintballspiel zieht keine aggressiven Handlungen außerhalb des Spielfeldes nach sich. Der soziale Charakter von Gewalt ist darum von anderen Gewaltformen zunächst einmal verschieden. Er impliziert den Verzicht auf Rache und Vergeltung, einer möglichen Eskalation wird auf diese Weise vorgebeugt. Bedingung ist hier jedoch die Freiwilligkeit der Teilnahme und die Reversibilität der Folgen. Begrenzte Aggression wird durch eine vorausgehende Vereinbarung legitimiert. Das generelle Verbot der privaten Gewaltanwendung wird durch Einwilligung und einem vereinbarten Racheverzicht gleichsam ausgetrickst. Basis ist die Etablierung einer Spezialkultur zum Ausagieren der Affekte mit eigenen Regeln, Distinktionen und Kontrollen. Abschließend gilt festzuhalten, dass die hier referierten Beispiele die Thesen über den Zivilisationsprozess im Sinne einer zunehmendem Affektkontrolle keineswegs revidieren. In allen Szenen wird ein hohes Maß an Selbstkontrolle offensichtlich; bei solchen Gewaltritualen handelt es sich um höchst rational herbeigeführte Erlebnistechniken, die soziale Folgenlosigkeit und Abgrenzung vom Alltag sicherstellen (auch wenn dies - das zeigt das Beispiel der Hooligans in Lens - nicht immer gelingt). Für alle gilt, dass reflektiertes Handeln zugrundegelegt 294 werden kann, welches Stimulation im Kampf sucht. Die Thrills werden in besonderen, von der Alltagsrealität abgekoppelten Ritualen zelebriert. Die von Elias (1976) beschriebene Transformation von Verhaltensstandards hin zu Affektkontrolle und Triebdämpfung zeigt sich gerade in der Ausdifferenzierung solcher spezialisierter Szenen, in deren Enklaven Affekte und Emotionen ausgelebt werden können. 295 Anhang 296 Literatur ALLERBECK, K./HOAG, W. 1985: Jugend ohne Zukunft? Einstellungen, Umwelt, Perspektiven. München AMANN, N./HIRSCHAUER, J. 1997: Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm. In: dies. (Hg.): Die Befremdung der eigenen Kultur. Frankfurt/M.; S. 7-52 APTER, M. 1994: Im Rausch der Gefahr. Warum immer mehr Menschen den Nervenkitzel suchen. München ARIES, P./DUBY, G. (Hg.) 1990: Geschichte des privaten Lebens. (Bd. 2 und 3). Frankfurt/M. ARLOW, J.A. 1967: Perversion. Theoretical and Therapeutic Aspects. In: RUITENBEEK, H.M.: The Psychotherapy of Perversion. New York. ARMIN, T.A. 1991: Faszination & Fetisch. Gay-Sex in Uniform. 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Besteht aus einer Hülle aus bunter Gelatine, gefüllt mit einer Mischung aus Glycerin etc.; häufig mit Fruchtgeschmack. ‘Munition’ für die → Markierer, platzt beim Aufprall und hinterläßt einen Farbfleck. Explizit wird keine rote → Paint verwendet, um Assoziationen mit Blut zu vermeiden. Häufige Farben: neon, blau, orange, gelb, grün, pink oder bunt gemischt/gemustert. Battlepack: Bezeichnung im → Paintball; gürtelartige Tasche/Rucksack-ähnliche Tragekonstruktion zur Aufbewahrung einer extra Tasche für den CO2-Tank sowie der (Ersatz)Farbkugeln, die sich in sog. → Pots befinden, während des Spiels/auf dem Spielfeld. Base: (aus dem Engl.) Bezeichnung im → Paintball für den Ort, die Basis, auf der die eigene Flagge steht, von wo aus das → Team startet und wohin es die gegnerische Flagge bringt. Barrel Plug: Bezeichnung für Laufstopfen; neben der Schutzmaske einer der wichtigsten Punkte zur Gewährung der Sicherheit beim → Paintball; Stopfen aus Gummi oder Plastik, der sich entsprechend der Regeln des Paintballspiels außerhalb des Spielfeldes immer im Lauf des → Markierers befinden sollte. Verhindert das unbeabsichtigte Austreten einer Farbkugel. Breakdance: Akrobatische Tanzform aus dem → HipHop Camo/Camouflage: Bezeichnung für die Verwendung von Tarnkleidung beim → Paintball. Wird in der deutschen Paintballszene wegen Assoziationen zu militärischen Spielen in der Regel abgelehnt (→ military look). Chrony/Chronograph: Im Rahmen von Paintballturnieren eingesetztes Gerät zur Ermittlung der Schussgeschwindigkeit mittels Lichtschranke oder ‘Radar’. Entsprechend der Regeln ein Muss (vor und nach dem Spiel) zur Gewährung der Sicherheit und Chancengleichheit. Dead Zone/Dead Man’s Zone: (aus dem Engl.); auch → Neutrale Zone/Neutral Zone. Bereich, in dem sich die markierten bzw. ausgeschiedenen Spieler in der Nähe des → Paintball- 321 spielfeldes aufhalten. Die Kommunikation mit den noch auf dem Spielfeld befindlichen Spielern sowie die ‘nachträgliche’ Manipulation am → Markierer sind in dieser Zone verboten. DPSV (Deutscher Paintball Sportverband): ‘Dachorganisation’ der deutschen Paintballspieler. Herausgeber von Regelwerken, vertritt Interessen der Paintballspieler in der Öffentlichkeit. Ecstasy: Synthetische Droge, in der Wirkung leistungssteigernd und gefühlsverstärkend. Elevator-Rider: Vor allem Kinder und Jugendliche, die zwecks Thrillerlebnis vorzugsweise auf den Dächern von Fahrstühlen und Aufzügen fahren. Flagbase: → Base Gotcha: (aus dem Engl. von Gotya, Slang für ‘I have got you). Oft synonym verwendet für → Paintball. In der Paintballszene häufig abgelehnter Begriff, da hiermit ‘militärische’ Varianten des Paintballspiels assoziiert werden bzw. gemeint sind. Graffiti: Der Begriff (von ‘graffito’ aus dem Italienischen) geht auf das lat. Verb ‘graphire’ zurück und bedeutet so viel wie ‘Einritzen’, ‘Einkratzen’. Bezeichnet heute ‘subkulturelle Zeichnungen’ auf der Basis von Sprühfarbe (bunt oder nur schwarz). Graffitis sind vor allem auf Bahngeländen oder Zügen sowie an größeren Häuser- und Hallenfassaden zu sehen. Grufty-Szene: Anhänger okkulter Themen und Praktiken. Schwarze Kleidung und weißpudriges Make-up unterstreichen die Assoziationen zum Tod (Gruft). Hooligan: Gewalttätiger Fußballfan (Rowdy, Randalierer). HipHop: Bezeichnung für eine Ende der siebziger Jahre entstandene Jugendkultur. Typische Aktivitäten: → Sprayen, → Breakdance, → Rappen, → Skaten und → Streetball. Indoor: Hallenvariante des → Paintballspiels; wird auch in großen Kellern gespielt. Long-Distance-Runner: Diejenigen Spieler im Rahmen eines → Paintballturniers, welche die weiteste Entfernung zur Anreise auf sich genommen haben. Markierer: Luft- oder CO2-betriebenes, waffenähnliches Schussgerät im → Paintball; oft in vielen bunten Farben. Marshal: Schiedsrichter beim → Paintballspiel. Nach den Spielregeln des Paintballspiels ist seinen Anweisungen in jedem Fall Folge zu leisten. Maske: Spezialschutz während des → Paintballspiels für den Gesichts- und Kopfbereich; sollte entsprechend der Regeln in jedem Fall auf dem Spielfeld, aber auch im ausgeschilderten Bereich rund um das Spielfeld getragen werden Military Look: Verwendung von Tarnkleidung beim → Paintballspiel. Der Military Look ist in der deutschen Szene häufig verpönt, da er die Szene aufgrund der Assoziation zu Kriegsspielen diskreditiere. Widerspricht der Forderung nach → No Camo No Camo: Beim Paintball häufige Vereinbarung bzw. Bedingung auf Turnieren, keine Tarnkleidung zu tragen. → Camo, Military Look Neutrale Zone: auch → Dead-Zone oder Dead Man’s Zone; Bereich, in dem sich die markierten bzw. ausgeschiedenen Spieler in der Nähe des Paintballspielfeldes aufhalten. Die Kommunikation mit den noch auf dem Spielfeld befindlichen Spielern sowie die ‘nachträgliche’ Manipulation am → Markierer ist verboten. 322 Outdoor: 1) Bezeichnung für Sportarten im Freien, meist Abenteuer-/Adventure-Aktivitäten. 2) Variante des → Paintballspiels, bei der im Freien gespielt wird. Paint: (Aus dem Engl.) Dieser Begriff wird speziell für die verwendete ‘Marke’ der Farbkugelen verwendet - → Ball, Paintball. Paintball: Von den Anhängern als Abenteuer-, Extrem-, Fun-, und Strategie-Sport bezeichnet. Mannschaftsspiel, bei dem zwei Mannschaften gegeneinander antreten, um die Fahne der gegnerischen Mannschaft zu erobern und auf die eigene → Base zu bringen. Der Gegner kann am Erlangen der Fahne gehindert werden, indem er mit dem → Markierer ‘abgetroffen’ bzw. durch Farbkugeln → markiert wird. Er muss das Spielfeld verlassen. Gespielt wird meist im Freien, aber auch in geschlossenen Räumen (Kellern, Hallen). Es gibt unterschiedliche Varianten: z.B. → Speedball, Sup’Air oder Woodland. Player ist out: Bezeichnung für einen von einer Farbkugel/→ Paint getroffenen Spieler beim → Paintball. Pot: Länglicher Nachfüllbehälter (aus Kunststoff) für die Farbkugeln. Wird auf dem Spielfeld im -→ Battle Pack mitgeführt. Quad: Vierrädriges, geländegängiges Fahrzeug aus dem Moto-Cross-Bereich. Findet Interesse bei den Anhängern des → Paintballsports. Randale: Gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Hooligans am Rande von Fußballspielen (Bundesliga, internationale Meisterschaften). Typisch sind auch Zerstörung und Vandalismus in Innenstädten (Lokale, Geschäfte). Rappen/Rap: Sprechgesang, rhythmisches Sprechen. Real-Life-Show/Real-People-Format: Medial-kommerzielle Rundum-Beobachtung von Personen mittels Kamera (und Mikrophon), die sich der Kasernierung (auf einer Insel, in einem Wohn-Container etc.) bereit erklärt haben. Bekanntestes Beispiel: ‘Big Brother’ (RTL2); auch ‘Big Diet’ (RTL2) oder ‘Girlscamp’. Zuschauermotivation: ‘Authentische Menschen in authentischen Situationen’. Rechte: Politisch rechts Orientierte (auch: Rechtsradikale, Neonazis). Rookie: (aus dem Engl., wörtlich: Grünschnabel): Bezeichnung aus der Paintballszene für Anfänger/Novizen, die den ‘Sport’ erst einmal erlernen müssen (Spielregeln, Sicherheitsvorschriften, Strategie, Ausrüstung/Werkzeuge, Szenestruktur etc.). Skaten: (aus dem Engl.) Rollbrettfahren auf öffentlichen Plätzen oder in eigens dafür vorgesehenen sportlichen Einrichtungen/Bahnen, z.T. mit akrobatischen Übungen/Sprüngen/Kunststücken. → HipHop Speedball: Schnellste Variante des → Paintballspiels. Kann im Freien (auf fußballfeldähnlichen Plätzen) und in Hallen mit künstlichen Deckungen (Autoreifen, Paletten, Strohballen) gespielt werden. Splash: Farbfleck durch Aufprall einer → Farb-/Paintballkugel, Treffer. Sprayen: → Graffiti-Kunst; Herstellen von Bildern oder Schriftzügen (Kunstwerken) mit Spraydosen. Streetball: ‘Straßen’variante des Basketballspiels. → HipHop 323 Sup’Air: → Speedball-Variante auf künstlich angelegtem Spielfeld. Deckungen bestehen aus aufgeblasenen bunten Zylindern oder Kegeln. Die Zuschauer können die Spielzüge überblicken. Team: Bezeichnet in der → Paintballzene einen Verein (oder Club) bzw. eine Mannschaft im Rahmen von Liga-Spielen, Turnieren und sonstigen Wettkampfveranstaltungen. Teamcaptain: ‘Führungsposition’, Mannschaftskapitän beim → Paintball; ähnlich einem Spieler-Trainer im Fußball. Der Teamcaptain entscheidet, wer bei einem Turnierspiel mitspielt und wer welche Funktion übernimmt. Treffer: → Splash Wagendorfbewohner: Personen, die auf einem Wagendorfplatz (Bau- und Campingwagen), meist in Großstädten, wohnen. Typisch ist eine ‘antibürgerliche’ Aussteigerhaltung und die Suche nach alternativer Selbstverwirklichung. Woodland: Variante des → Paintballspiels, bei der im Freien auf einem größeren, hügeligen Gelände gespielt wird. Yuppie: Young urban professional people; lifestyleorientierte Aufsteiger/Jungkarrieristen. b) Sadomasochismus Analpraktiken: Analerotik, analer Koitus (Geschlechtsverkehr) oder Penetration mit verschiedenen Gegenständen. Bizarr: Szene-Begriff für außergewöhnliche Praktiken, wie etwa → Koprophilie, Urolagnie, Klinik-Sex oder Verkehr mit Schwangeren. Bondage: Fesselung des ganzen Körpers oder der Extremitäten mit Ketten, Seilen, Schnüren etc., auch ‘Einpacken’ in Ganzkörpersäcke oder ‘Einsperren’ in Käfige oder Räume. Bottom/B: Szenebegriff für die → submissive Rolle im sadomasochistischen Arrangement (→ Masochismus, M, Sklave). Breeches: Reithose. Chaps: (Leder)-Hosen, die an Gesäß und Geschlechtsteil ausgeschnitten sind. Sie werden sowohl auf der Haut als auch über Jeans getragen. Cockring: Um den Penis befestigter Ring aus Metall, Gummi oder Leder. Neben der Schmuckfunktion (→ Intimschmuck) dient er der Erhaltung oder Verbesserung der Gliedversteifung. Cruising area: Öffentliche Orte wie Parks oder → Klappen, an denen Schwule ihre Sexpartner rekrutieren und auch Sexkontakte haben. Darkroom: Meist Neben- oder Kellerraum in Schwulen-Kneipen, wo anonymer Sex (auch Sadomasochismus) praktiziert werden kann. Dehnung: Dehnen von Körperöffnungen (Vagina und/oder Anus) mit Gegenständen (z.B. → Dildos oder Analstopfen verschiedener Größe) oder von Hoden und Penis mit Gewichten. 324 Dildo: Nachbildung des steifen männlichen Gliedes (zumeist aus Kunststoff, aber auch Gummi/Leder). Es wird von Männern und Frauen zur sexuellen Stimulation benutzt. Einige Varianten können umgebunden werden. Dirty: Sexpraktik, die Exkremente (auf dem Körper verreiben, verspeisen) mit einbezieht. Domina: → Dominante Frau. 1. Professionelle Domina, die (gegen Bezahlung) die masochistischen Wünsche ihrer meist männlichen Kunden befriedigt. Geschlechtsverkehr ist dabei in der Regel ausgeschlossen. 2. Ausdruck für dominante Frauen, die keine finanziellen Interessen mit der Ausübung von sadomasochistischen Praktiken verbinden. Dual: Person, die sich nicht auf eine SM-Rolle (→ Top oder → Bottom) festlegt, sondern beide praktiziert (→ Switch). Englische Erziehung: Wechselspiel zwischen einer → dominanten und einer → submissiven Person. Dazu gehören Bestrafungen, wie etwa Schlagen, Peitschen etc. Oft werden solche Inszenierungen in einem Lehrer/Schüler-, Vater/Sohn-, Vater/Tochter-, Mutter/Sohn o.ä.Verhältnis nachempfunden. Fist Fucking/Fisten (FF): Anale oder vaginale Penetration mit zur Faust geschlossener Hand und Unterarm. Flagellation: Praktik bei der Schlagen und Geschlagenwerden im Vordergrund steht. Dazu können Peitschen, Rohrstöcke, Ruten, Reitgerten oder Ähnliches verwendet werden. Oft in Verbindung mit Erziehungsspielen (→ Englische Erziehung). Flag-Szene: Gruppe von Personen, die sexuelle Lust durch → Flagellation empfindet. Fetischismus: (Sexuelle) Fixierung meist bei Männern auf bestimmte Körperteile (z.B. Füße, Brüste) oder Kleidungsstücke (Unterwäsche, auch getragen, Korsetts) oder bestimmte Materialien (Leder, Gummi). Golden shower: Urinieren auf den Körper oder in den Mund des Partners. Harness (Pferdegeschirr): Lederriemen, die durch Metallringe und Nieten zusammengehalten werden. Sie werden auf der nackten Haut getragen. High Heels: Hochhackige Frauenschuhe und Stiefel, werden als Fetisch von Frauen und Männern gebraucht. HWG: 1. Häufig wechselnder Geschlechtsverkehr. 2. ‘Huren wehren sich gemeinsam’: Initiative von Prostituierten, zur Vertretung ihrer Interessen nach außen. Intimschmuck: Ringe, Ketten oder ähnliche Gegenstände, die im Intimbereich oder an den Brüsten angebracht werden. Zur Befestigung werden die betreffenden Körperteile perforiert (→ Piercing). Jack-Off-Party: (abgeleitet vom Amerikanischen jerk off = ‘wichsen’). Von Schwulen organisiertes Fest, bei dem ausschließlich → Safe-Sex-Praktiken erlaubt sind und der Einlass nur bis zu einer bestimmten Uhrzeit erfolgt. Wer die Party danach verläßt, muss draußen bleiben. Kaviar: Szenebezeichnung für Kot (→ Dirty). Klammern: Sie werden zur schmerzhaften Befestigung an der Brust, im Intimbereich oder an anderen Körperstellen verwendet; sind meistens aus Kunststoff oder Metall. Klappen: Öffentliche Bedürfnisanstalten, die Schwule zum Sex nutzen (→ Cruising Area). 325 Klinik-Sex: Sexpraktiken, die in klinikähnlichen Räumen stattfinden. Dazu gehören ArztPatient-Inszenierungen (z.B. das Einführen eines Katheters, Untersuchungen auf einem gynäkologischen Stuhl, → Klistiere etc.). Klistier: Einlauf. Diverse Flüssigkeiten werden mittels eines Schlauches in den Mastdarm zu dessen Entleerung bzw. Reinigung eingeführt. Wird häufig vor Analverkehr_oder im Rahmen des → Klinik-Sex angewandt. Koprolagnie: (Sexuelle) Neigung zu Kot(Spielen); Beschmieren, Verreiben. Koprophagie: (Sexuelle) Neigung zum Verspeisen von Kot. Leder-Szene: Personengruppe in der schwulen (aber auch heterosexuellen) Subkultur, die eine fetischistische Vorliebe für Lederkleidung und -materialien hat. Lolita: 1. Vom sexuellen Verhalten und vom Aussehen her frühreifes Mädchen (zwischen 9 und 24 Jahren). 2. hier: Vom äußeren Erscheinungsbild her mädchenhafte Frau. Masochismus: Neigung zu (sexuell) unterwürfigem Verhalten; Rolle im → sadomasochistischen Arrangement (→ Bottom, M, Submission), die durch das ‘Erleiden’ physischer wie auch psychischer Beeinträchtigungen/Gewalt gekennzeichnet ist. M: → Bottom, kann auch die Abkürzung für → Meister sein. Meister: Wird (besonders bei Schwulen) für die → dominante Rolle verwendet. Nadelspiele: Nadeln werden zur Stimulation sowohl an den Geschlechtsteilen als auch an anderen Körperstellen angebracht. Häufig werden auch Vorhaut, Brustwarzen oder Schamlippen durchstochen. Natursekt (NS): Sexpraktik, die Urin miteinbezieht; Verreiben auf dem Körper, Trinken (→ Dirty) Negrophilie: Sexuelle Orientierung, bei der die Befriedingung durch Handlungen an Leichen erlangt wird. Nymphomanie: ‘Krankhaft’ gesteigerter Geschlechtstrieb der Frau. One-night-stand: Sexuelle Aktivitäten zweier oder mehrerer Personen für eine Nacht ohne weitere Verpflichtungen. Päderastie: Gleichgeschlechtliche Beziehung von älteren zu jüngeren Männern (Knaben) insbesondere im alten Griechenland. Gemeint ist sowohl die sexuelle Beziehung als auch ein erzieherisches Verhältnis im intellektuellen Sinn. Pädophilie: Neigung zu sexuellen Handlungen mit Kindern. Piercing: Durchstechen von Körperteilen mit Nadeln oder anderen Gegenständen zur Befestigung von → Intimschmuck. Poppers: Rauschmittel auf Amylnitratbasis mit gefäßerweiternder und muskelentspannender Wirkung (→ Analverkehr). S: → Dominante Rolle im → sadomasochistischen Setting. Sackfolter: Behandlung der Hoden mit unterschiedlichen Gegenständen, wie etwa Riemen, Nadeln, → Cockringen oder Gewichten. 326 Sadismus: Neigung zu (sexuell) → dominantem Verhalten; Rolle im → sadomasochistischen Arrangement, die durch das ‘Zufügen’ physischer wie auch psychischer Beeinträchtigungen/Gewalt gekennzeichnet ist (→ Domina, Meister, S, Top). Sadomasochismus: Sammelbegriff für → masochistiche und → sadistische Orientierungen bzw. Praktiken; Interaktion zwischen → Sadist und → Masochist. Safe sex: Sexualpraktiken, die vor einer AIDS-Ansteckung oder auch Geschlechtskrankheiten schützen sollen. Scat: (aus dem Engl.) Fäkalien → Dirty Schoko: → Dirty_ Sklave: Unterworfene Person, die absoluten Gehorsam gegenüber ihrem → Meister_bzw. ihrer → Domina zeigt (→ Bottom, M). Sklaven-Auktion: Inszenierung, die einer antiken Versteigerung von → Sklaven_nachempfunden ist. Dabei werden Letztere meistbietend (für einen begrenzten Zeitraum, in der Regel ein paar Stunden) 'verkauft'. Sling (engl.: Schleuder, Schlagriemen Schlinge): Ein meist aus Leder gefertigtes Gurtwerk zum Aufhängen an der Decke, bei dem sich der darin liegende Körper in einer entspannten und für verschiedene Sexualpraktiken (wie etwa Fist Fucking) geeigneten Rückenlage befindet. SM: Gebräuchliche Abkürzung für → Sadomasochismus. Stopcode: Begriff, auf den sich die an einer → sadomasochistischen Inszenierung Beteiligten vorher einigen. Er wird gebraucht, wenn einer der Partner das Setting unterbrechen möchte. Straps und Grips: Vereinigung von Prostituierten (→ HWG). Strenge Erziehung: Besonders harte Bestrafungsmaßnahmen gegenüber einem → Sklaven oder Schüler. Stromspiele: Sadomasochistische Praktiken, bei denen mittels leichter Stromschläge gefoltert wird. Swinger: Männer oder Frauen, deren Sexualverhalten in besonderem Maße auf wechselnde Geschlechtspartner abzielt (Gruppensex). Switch: → Dual Tabuloser Sex: Sex, der sehr weit gesteckte Grenzen hat, meist auch → bizarre Praktiken mit einbeziehend. Toilettensklave: → Sklave, der die Ausscheidungen anderer Personen, mitunter auch aus dem WC, verspeißt oder trinkt. Top: → Domina, Meister, S, Sadist. Toys: Gegenstände (‘Spielzeuge’) für → sadomasochistische, bizarre oder änhnliche Sexualpraktiken. Transvestit (TV): Person, die Kleider des anderen Geschlechts trägt. 327 Transsexueller: Person, die sich im Körper des eigenen Geschlechts unwohl fühlt, bis hin zum Wunsch nach einer Geschlechtsumwandlung (hormonell, operativ). Urolagnie: Sexuelle Neigung zu Urin(spielen). Vibrator: Elektrisches (phallusartiges) Massagegerät, das zur sexuellen Stimulation benutzt und häufig vaginal oder anal eingeführt wird. Wasserspiele: Sexuelle Spiele unter Einbeziehung von Urin. → Natursekt. Watersports: → Wasserspiele, → Natursekt. Whipping: (aus dem Engl.) Jemandem eine Tracht Prügel versetzen. → Flagellation. Zofe: Assistent(in) einer dominanten Person, der/die anderen Beteiligten unter Umständen auch für Geschlechts- und Oralverkehr zur Verfügung steht oder die untergeordnete Rolle einnimmt. Zoophilie: Sexuelle Neigung zu Tieren. 328 Beispiele Datenerhebungsmaterial 329 Gewalt, Abenteuer oder Sport? Schon seit geraumer Zeit sind Gotcha- oder Paintballspieler/innen ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Schlagzeilen wie ‘Sport oder Mord?’ dokumentieren den Stand der Diskussion. Selten findet die Perspektive der Fans dieser und ähnlicher Sportarten Berücksichtigung. Ihre ‘Sicht der Dinge’ soll deshalb im Rahmen einer Untersuchung herausgearbeitet werden. Was sind die Motive, welche Faszination verbirgt sich dahinter? Sind diejenigen, die diesen Sport ausüben, gewaltverherrlichende oder gar gewalttätige Individuen? Dies sind Fragen, die nur beantwortet werden können, wenn die Fans selbst zu Wort kommen. Ziel dieser Untersuchung ist also, eine nicht wertende Darstellung der Perspektive der ‘Spieler’, ihrer Erfahrungen und Erlebnisse, die mit dem Ausüben dieses Kampfsportes (?) verbunden sind, vorzunehmen. Dies kann aber nur gelingen, wenn sie im direkten Gespräch bereit sind, darüber zu berichten, denn die Auswertung von z.B. Artikeln aus der Regenbogenpresse würde allenfalls Erkenntnisse über Vorurteile erbringen, nicht aber die Realität treffen. Über Ihr Interesse würden wir uns sehr freuen und Ihnen als kleines Dankeschön nach Fertigstellung den Forschungsbericht zur Verfügung stellen. Noch ein wichtiger Hinweis: Die Identität von Einzelpersonen, persönliche Daten wie Namen oder Adressen und ähnliches spielen keine Rolle! Kontakt: Arbeitsgemeinschaft sozialwissenschaftliche Forschung und Weiterbildung an der Universität Trier e.V. z.H. Linda Steinmetz DM I - 116 - Postfach 7 54286 Trier Tel. 0651/201-3232 oder 3233; Fax 0651/201-3232 e-mail: [email protected] 330 Linda Steinmetz DM I/116 - Postfach 7 D-54286 Trier Tel. 0651-201-3232 Fax: 0651-201-3232 e-mail: [email protected] Paintball Club Austria Endergasse 4 1120 Wien Sehr geehrte Damen und Herren, aufgrund Ihrer Anzeige in ‘Paintball Pur’ (Heft 3, 1996, S. 40/41) erlaube ich mir, Sie heute anzuschreiben. Ich selbst habe keinerlei Erfahrungen mit Paintball oder Gotcha, auch verfüge ich über keinerlei Kenntnisse bezüglich Regeln, Techniken, Strategien u.v.m. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Soziologie der Universität Trier interessiere ich mich im Rahmen eines Forschungsprojektes für Ihr ‘Hobby’. Zunächst einmal geht es mir darum, einen ersten Überblick über den Sport selbst zu erhalten (Regeln, Kleidung, Sport-‘Waffen’ etc.). Dann bin ich auch daran interessiert, etwas über die Szene (Veranstaltungen, Clubs, Wettbewerbe, Nachrichtenbretter/Rubriken im Internet) etc. herauszufinden. In erster Linie interessiert mich jedoch, was die Faszination dieser Sportart ausmacht, welches die Motive sind, diesen Sport auszuüben, welche Gefühle und ‘Körpererfahrungen’ damit einhergehen (Erfahrungsberichte zu sog. ‘Extremsportarten’ sind z.B. aus dem Bereich des Bergsteigens bekannt). Um all dies herauszufinden, bin ich jedoch auf die freundliche Unterstützung der Fans/Sportler angewiesen. Deshalb würde es mich freuen, wenn Sie als Experten mir weiterhelfen könnten. Vielleicht können Sie in diesem Zusammenhang das beiliegende Papier auch in Ihrem Club, ggfs. an Freunde und Bekannte weiterreichen? Einen ersten Einblick erhoffe ich mir über Clubdarstellungen, Veranstaltungshinweise, Flugblätter, Videos, Erfahrungsberichte, (nicht-kommerzielle) Szene-Magazine u.ä., also all jene Materialien, die die Sport-Szene über sich selbst produziert. Dann bin ich aber auch daran interessiert, mit einzelnen Sportlern oder Clubs (Gruppen/Teams) über ihr Hobby zu sprechen/diskutieren. Sollte es Ihnen möglich sein, Materialien zur Verfügung zu stellen, erhalten Sie diese selbstverständlich zurück. Die Gespräche könnten telefonisch oder ggfs. vor Ort bei Ihnen durchgeführt werden. Wenn mein Anliegen Ihr Interesse findet, würde ich mich über einen kurzen Anruf/Fax oder Antwortbrief (liegt frankiert bei) freuen. Vielleicht darf ich ja bereits auf die ein oder andere Clubzeitschrift o.ä. hoffen. Damit Sie sich einen Eindruck über die bisherigen Arbeiten der Forschungsgruppe machen können, lege ich Ihnen einige Kopien bei. In Erwartung Ihrer Antwort verbleibe ich mit bestem Dank im voraus mit freundlichen Grüßen Linda Steinmetz 331