Bachelorarbeit - DHBW Stuttgart

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Fakultät Sozialwesen
Bachelorarbeit
_________________________________________________________________________
Jugendliche mit einer Borderline-Störung
in der Jugendhilfe –
ein Vergleich unterschiedlicher stationärer
Betreuungssettings
_________________________________________________________________________
von Anja Elbers
Studienschwe rpunkt:
Erziehungshilfen/ Kinder- und Jugendhilfe
Studiengangleiter und Betreuer:
Matrikelnumme r:
Prof. Dr. Moch
8381891
Jahrgang und Kurs:
SO14C
Praxiseinrichtung:
Martin-Bonhoeffer-Häuser
Bearbeitungszeitraum:
26.12.16 – 20.03.17
Abgabedatum:
20.03.17
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis ........................................................................................................ III
Begrifflichkeiten ....................................................................................................................1
1. Einleitung ...........................................................................................................................1
1.1 Anlass und Ziel der Arbeit ...........................................................................................1
1.2 Vorgehensweise ...........................................................................................................2
2. Jugendliche mit einer Borderline- Persönlichkeitsstörung ................................................4
2.1 Psychiatrische Sichtweise ............................................................................................4
2.1.1 Die Borderline-Persönlichkeitsstörung: Begriffsbeschreibung und Diagnostik ....4
2.1.2 Diagnostik im Jugendalter .....................................................................................6
2.1.3 Ätiologie und Neurobiologie .................................................................................7
2.1.4 Prävalenz, Komorbidität und Verlauf ....................................................................8
2.2 Sozialpädagogische Sichtweise....................................................................................9
2.2.1
Eingliederungshilfe
für
Jugendliche
mit
einer
Borderline Persönlichkeitsstörung ...................................................................................................9
2.2.2 Sozialpädagogische Diagnose .........................................................................11
2.2.3 Fallbeispiel.......................................................................................................13
2.3 Jugendhilfe für Jugendliche mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung ................15
2.3.1 Die stationäre Jugendhilfe ...................................................................................15
2.3.2 Vorzeitige Beendigung von Eingliederungshilfen ..................................................16
2.4 Entwicklung im Jugendalter.......................................................................................16
2.4.1 Die „normale“ Entwicklung ................................................................................18
2.4.2 Sozialisation im Jugendalter ................................................................................18
2.4.3 Jugendliche mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung und ihre Sozialisatio n
......................................................................................................................................21
2.4.4 Entwicklungsaufgaben im Jugendalter ................................................................24
2.4.5 Jugendliche
mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung
und ihre
Entwicklungsaufgaben .................................................................................................26
2.4.6 Bindungsentwicklung im Jugendalter..................................................................29
I
2.4.7 Jugendliche
mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung
und ihre
Beziehungsgestaltung ...................................................................................................31
3. Jugendliche mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung in der Jugendhilfe .................33
3.1 Modelle für die Betreuung von Jugendlichen mit einer Borderline Persönlichkeitsstörung in der Jugendhilfe........................................................................34
3.1.1 Das mehrdimensionale Hilfekonzept nach Adam und Peters ..............................34
3.1.2 Die multimodale Betreuung nach Hofmann ........................................................35
3.1.3 Die Systemischen Arbeitsweisen nach Natho .....................................................36
3.2 Der aktuelle Forschungsstand ....................................................................................38
3.2.1 Wirksamkeitsstudien in der Jugendhilfe..............................................................38
3.2.2 Schutzfaktoren im Jugendalter ............................................................................38
3.2.3 Wirksamkeit der Jugendhilfe bei „stark belasteten“ Jugendlichen......................40
3.3 Ansätze für die sozialpädagogische Praxis ................................................................40
3.3.1 Die Ausarbeitung „entwicklungsfördernder Lebensbedingungen“ .....................41
3.3.2 Darstellung entwicklungsfördernder Lebensbedingungen ..................................54
3.3.3 Darstellung der Vergleichskriterien.....................................................................57
4. Der Blick in die Praxis: die Betreuung von Jugendlichen mit einer BorderlinePersönlichkeitsstörung in unterschiedlichen Betreuungssettings ........................................59
4.1 Die sozialtherapeutische Wohngruppe Nehren ..........................................................59
4.2 Die therapeutische Wohngruppe Cramergasse ..........................................................64
4.3 JuMeGa Gastfamilien.................................................................................................69
4.4 Vergleich der drei Betreuungssettings .......................................................................73
4.5) Drei weiterführende Hypothesen ..............................................................................78
5. Fazit..................................................................................................................................79
Literaturverzeichnis .............................................................................................................IV
Ehrenwörtliche Erklärung ................................................................................................ XIV
Anhang: Hilfepläne und Konzeptionen ..............................................................................XV
II
Abkürzungsverzeichnis
BPS
Bordeline-Persönlichkeitsstörung
DBT
Dialektisch-Behaviorale Therapie
DBT-A
Dialektisch-Behaviorale Therapie für Adoleszente
DIMDI
Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information
EREV
Evangelischer Erziehungsverband e.V.
IZL
Intensive Zusatzleistungen
JuMeGA
Junge Menschen in Gastfamilien
KJP
Kinder- und Jugendpsychiatrie
LVR
Landschaftsverband Rheinland
LWL
Landschaftsverband Westfalen-Lippe
MBH
Martin-Bonhoeffer-Häuser
STEP e.V.
Sozialpädagogische-Therapeutische Einrichtungen und Projekt e.V.
III
Begrifflichkeiten
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird nachfolgend nur die männliche Form eines
Begriffes verwendet. Selbstverständlich beziehen sich sämtliche Begriffe auf die männlic he
und weibliche Version eines Begriffes.
Die Auslegung der Begriffe Jugendliche und Jugendphase erfolgt in Anlehnung an
Hurrelmann und Quenzel. Diese begreifen die Jugendphase als Übergang zwischen dem
„abhängigen
Kind“ und dem „unabhängigen
Erwachsenen“.
Die Erreichung
einer
überwiegenden Autonomie in relevanten Lebensbereichen (als Ende der Jugendphase)
gestaltet sich individuell und kann nicht am Lebensalter festgemacht werden (vgl.
Hurrelmann/Quenzel
2012, S.40).
In
der Ausarbeitung
wird
der Begriff
der
BorderlinePersönlichkeitsstörung und nicht jener der „Persönlichkeitsentwicklungsstörung“
(Adam/Breithaupt-Peters 2010, S.7) verwendet. Dennoch wird von einer Veränderbarkeit
und Entwicklungsmöglichkeit der BPS ausgegangen.
1. Einleitung
1.1 Anlass und Ziel der Arbeit
Hilfen zur Erziehung stellen ein „kompensatorisches Sozialisationsfeld“ (Trede 2014, S.25)
dar, ihre Leistungen können durch die Personensorgeberechtigten in Anspruch genomme n
werden, wenn eine dem Kindeswohl entsprechende Erziehung nicht möglich und die Hilfe
zur Entwicklung des Jugendlichen geeignet und notwendig ist (§27 Abs. 1 SGB VIII).
Unterschiedliche Studien zur der psychischen Gesundheit in den Erziehungshilfen lassen
eine weite Verbreitung von psychischen Störungen und psychischen Auffälligkeiten in der
stationären Jugendhilfe vermuten (vgl. Schmid 2008, S.196). Dies fordert die stationäre
Jugendhilfe und ihre Angebotsstruktur fachlich heraus. Erkennbar wird dies auch dadurch,
dass die Jugendhilfe insbesondere bei psychisch stark belasteten Jugendlichen und einer
hohen Problembelastung an ihre Grenzen stößt (vgl. Schmidt 2002, S.35). Studien für
Abbruchrisiken
benennen
Jugendhilfeeinrichtung,
individuelle
Faktoren,
sowie
auch
Strukturen
der
die im Zusammenhang mit dem Abbruch einer stationäre n
Jugendhilfemaßnahme stehen (vgl. Tornow/ Ziegler 2012, S.105-108).
Eine vermutlich häufig vorliegende psychische Störung im Jugendhilfekontext ist die
Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS). Da die BPS nach der ICD-10 erst mit 18 Jahren
diagnostiziert werden kann, liegen
hierfür kaum Angaben vor. Im Rahmen einer
1
Diplomarbeit erfüllten jedoch 48,7% der in einer Jugendhilfeeinrichtung lebenden Kinder
und Jugendlichen die Kriterien für eine Borderline-Persönlichkeitsstörung (gemäß dem
DSM-IV) (vgl. Esser 2002 in Adam/ Breithaupt-Peters 2010, S.114).1 Jugendliche mit einer
BPS können durch ihre Verhaltensweisen Wohngruppen und Mitarbeiter an ihre Grenzen
bringen oder den Gruppenrahmen „sprengen“ (vgl. Girnth 1995, S.16). Hierin zeigt sich,
dass die Jugendhilfe Angebote schaffen muss, die diese Jugendlichen halten und ihren
Bedarfen gerecht werden kann.
Für die BPS wird als Leitsymptom eine Störung in der Emotionsregulation beschrieben,
welche zu Instabilitäten im emotionalen Bereich, in sozialen Interaktionen und der Identität
führen
(vgl.
Armbrust/Link
2015, S.43). Dies
kann
ambivalente,
nur
schwer
nachvollziehbare Verhaltensweisen nach sich ziehen. Häufige Einrichtungswechsel und
Beziehungsabbrüche
können die Symptomatik
der Borderline-Persönlichkeitsstör ung
verstärken (vgl. Schmid 2008, S.196).
Die vermutet weite Verbreitung der Borderline-Persönlichkeitsstörung in der Jugendhilfe,
sowie die damit verbundenen
Jugendhilfesettings
machen
Herausforderungen
eine
theoretische
und Grenzen in den stationäre n
Auseinandersetzung,
sowie
eine
Weiterentwicklung der Betreuungspraxis nötig.
Diese Relevanz möchte ich im Rahmen dieser Arbeit aufgreifen und die Betreuung von
Jugendlichen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung in der Jugendhilfe erörtern.
Ziel dabei ist es, Lebensbedingungen (und somit Rahmenbedingungen der stationäre n
Einrichtungen) für Jugendliche mit einer Borderline- Persönlichkeitsstörung zu erarbeiten,
die zu einer bestmöglichen Entwicklung beitragen.
Die forschungsleitende Fragestellung setzt sich deshalb aus zwei Teilfragen zusammen:
Welche
Lebensbedingungen
brauchen
Jugendliche
mit
einer
Borderline-
Persönlichkeitsstörung in der Jugendhilfe, um sich gut entwickeln zu können? Wie wird
diesen in den unterschiedlichen stationären Betreuungssettings entsprochen?
1.2 Vorgehensweise
Die Arbeit ist in drei Teile untergliedert.
1
Zu kritisieren ist in dieser Studie die geringe Untersuchungszahl von 37 Kindern (vgl.
Adam/BreithauptPeters 2010, S.114).
2
Im ersten Teil werden die Grundlagen behandelt. Zunächst wird die Borderline-Störung im
Jugendalter
aus psychiatrischer
Sichtweise
betrachtet:
Die Diagnostik,
Ätiologie,
neurobiologische Befunde, sowie Prävalenz, Komborbidität und Verlauf werden darin
geschildert. Anschließend erfolgt eine sozialpädagogische Betrachtung dieser psychisc he n
Störung, welche die Erläuterungen zur Eingliederungshilfe,
eine sozialpädagogis c he
Diagnose und ein daran ansetzendes Fallbeispiel enthält Als Nächstes erfolgt die Darstellung
der rechtlichen Grundlagen und Ziele der Jugendhilfe, sowie ihre unterschiedlic he n
Betreuungsformen. Statistische Daten zur vorzeitigen Beendigung von
Jugendhilfemaßnahmen werden erläutert.
Das letzte Kapitel im ersten Teil behandelt die Entwicklung im Jugendalter, welche speziell
für Jugendliche mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung betrachtet wird. Darin wird
zunächst der Begriff der „normalen Entwicklung“ dargestellt.
Die drei folgende n
Unterkapitel beschreiben die Sozialisation, die Entwicklungsaufgaben und die
Bindungsentwicklung
im
Jugendalter.
Der
Bezug
auf
das
Störungsbild
der
BorderlinePersönlichkeitsstörung erfolgt im Anschluss an die Darstellung der Theorien.
Der
zweite
Teil
beschreibt
die
Betreuung
von
Jugendlichen
mit
einer
BorderlinePersönlichkeitsstörung in der stationären Jugendhilfe. Dazu wird zunächst ein
Überblick über drei Betreuungs-Modelle gegeben: das mehrdimensionale Hilfekonzept nach
Adam und Peters, die multimodale Betreuung nach Hofmann und die systemisc he n
Arbeitsweisen nach Natho. Da keine Studien zu der Betreuung von Jugendlichen mit einer
BPS in der Jugendhilfe bestehen, wird eine Annäherung über den aktuellen Forschungssta nd
zu den
Wirkfaktoren
in
der
Jugendhilfe,
sowie
den
Schutzfaktoren
in
der
Persönlichkeitsentwicklung von Jugendlichen vorgenommen. Auf diesen Erkenntnissen und
dem ersten Kapitel aufbauend erfolgt die Ausarbeitung günstiger Entwicklungsbedingunge n
für Jugendliche mit einer Borderline-Persönlichkeitstörung in der stationären Jugendhilfe.
Im Anschluss an eine kompakte Darstellung dieser werden sieben Kategorien abgeleite t,
welche
die wesentlichen
Entwicklungsbedingungen
zusammenfassen
und
so auf
Konzeptionen von Praxiseinrichtungen angewandt werden können.
Im dritten Teil erfolgt der Blick in die Praxis der stationären Jugendhilfe.
Drei
Betreuungssettings, die Jugendliche mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung begleite n,
sollen hinsichtlich ihrer Geeignetheit hierfür untersucht werden. Dabei handelt es sich um
3
die sozialtherapeutische Wohngruppe Nehren der Martin Bonhoeffer Häuser, um die
therapeutische Wohngruppe Cramergasse des STEP e.V. und um Gastfamilien von JuMeGa.
Dazu erfolgt die Darstellung der für den Vergleich relevanten Inhalte der Konzeptionen,
sowie ihre Beurteilung hinsichtlich der zuvor gebildeten Kategorien. Im Anschluss daran
erfolgen die Zusammenfassung und der Vergleich dieser Bewertung, welcher mit der
Formulierung von Hypothesen über stationäre Jugendhilfesettings für Jugendliche mit einer
Borderline-Persönlichkeitsstörung abschließt. Das daran anschließe nde Fazit fasst die
gewonnenen Erkenntnisse zusammen.
2. Jugendliche mit einer Borderline- Persönlichkeitsstörung
2.1 Psychiatrische Sichtweise
In diesem Kapitel werden die Grundlagen der BPS bei Jugendlichen aus der
psychiatrischen Sichtweise herausgearbeitet. Dazu gehört die Diagnose dieser Störung
nach der ICD, sowie die Diskussion über die Vertretbarkeit einer Diagnostik im
Jugendalter. Daran anschließend wird ein kurzer Überblick über die Ätiologie,
Neurobiologie, die Prävalenz, die
Komorbidität
und
der
Verlauf
der
BPS
im
Jugendalter
gegeben.
2.1.1 Die Borderline-Persönlichkeitsstörung: Begriffsbeschreibung und Diagnostik
Der englische Begriff „Borderline“ bedeutet übersetzt „an einer Grenze“ (Subjektiv) (vgl.
Langenscheidt o.J.). Er entstammt ursprünglich einem Konzept der Psychoanalyse, mit
welchem Krankheitsbilder von Patienten beschrieben wurden, die sich im Grenzbere ic h
zwischen Psychose und Neurose befinden (vgl. Fleischhaker/Schulz 2010, S.4). Lange Zeit
galt das Störungsbild der BPS als schwer therapierbar, ihre Diagnostik orientierte sich an der
Zugehörigkeit zu den großen Therapieschulen (vgl. Bohus/Schmahl 2006, S.206). Aufgr und
zahlreicher neurobiologischer Untersuchungen wird heutzutage ein biosoziales Konzept der
BPS favorisiert, dessen Leitsymptom Schwierigkeiten in der Affektregulation ist (vgl.
Herpertz 2011a, S.9). Die BPS ist eine psychische Störung, die den Persönlichkeitsstörunge n
zugeordnet ist. Ihre Diagnostik erfolgt anhand der beiden aktuell geltenden internationa le n
Klassifikations- und Diagnosesysteme: der ICD 10 (International Statistical Classificatio n
of Diseases and Related Health Problems) und dem DSM IV
4
(Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorder). Die inhaltlichen Kriterien einer BPS
(301.83, Achse II) des DSM IV und jene der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung des
Borderline- Typus (F60.31) der ICD 10 sind inhaltlich weitestgehend identisch (vgl.
Davidson u.a. 2007, S.469).
Ziel einer psychiatrischen Diagnose ist es, eine psychische Störung anhand von einheitlic he n
Kriterien möglichst detailliert zu beschreiben und dadurch ein therapeutisches Handeln
ableiten zu können. In Deutschland wird per Gesetzgebung (SGB V, KJHG) eine
Orientierung an der ICD10 vorgeschrieben (vgl. Goldbeck u.a. 2004, S.259). Kapitel fünf
der ICD-10 beschreibt psychische Störungen und Verhaltensstörungen.
Persönlichkeitsstörungen,
zu
denen
auch
der Borderline-Typ
Dazu gehören
(F60.31) als
eine
Unterkategorie der Emotional Instabilen Persönlichkeitsstörung (F60.3) gehört. Diese
Einordnung bedingt, dass zunächst allgemeine Merkmale einer Persönlichkeitsstörung und
solche der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vorliegen müssen, um im Weiteren
durch
die
für
den
Borderline-Typ
Persönlichkeitsstörungen
stellen
ein
spezifischen
Kriterien
Muster
überdauernden
von
ergänzt
zu
werden.
Erlebens-
und
Verhaltensweisen (von der Kindheit/ Adoleszenz bis ins Erwachsenenalter) dar, die von der
Norm abweichen und insbesondere in den Bereichen der Wahrnehmung, Kognition, der
Affektivität und der Beziehungsgestaltung deutlich werden. Damit verbunden ist ein
subjektiver Leidensdruck und Beeinträchtigungen in der sozialen Leistungsfähigkeit. Die
Ursache der Abweichung darf zudem nicht auf eine Gehirnverletzung oder einer andere
psychische Störung zurückzuführen sein (vgl. DIMDI 2016, S.210). Die emotional instabile
Persönlichkeitsstörung ist gekennzeichnet durch impulsive Verhaltensweisen, welche
unbedacht
ihrer
möglichen
Konsequenzen
gezeigt
werden und
einhergehen
mit
Stimmungsschwankungen launischer Art. Weiter aufgeführt ist die Tendenz zu emotiona le n
Ausbrüchen und streitsüchtigen Verhalten, die häufig als Reaktion auf einer Begrenzung
einer impulsiven Handlung gezeigt wird, sowie eine Unfähigkeit die eigene Impulsivitä t
einzugrenzen (ebd., S.211).
Der Borderline- Typus zeichnet sich durch folgende Merkmale aus:
•
„… Störungen des Selbstbildes, der Ziele und der inneren Präferenzen
•
… ein chronisches Gefühl der Leere
•
… intensive aber unbeständige Beziehungen
•
… eine Neigung zu destruktivem Verhalten mit parasuizidalen Verhaltensweisen und
Suizidversuchen“ (DIMDI 2016, S.211).
5
Die
ICD
10
selbst
benennt
keine
Altersvorgabe
für
die
Diagnose
einer
Persönlichkeitsstörung. In manchen Fällen, überwiegend bei Jugendlichen über 14 Jahren,
wird eine Verdachts-Diagnose auf eine Persönlichkeitsstörung oder
Persönlichkeitsentwicklungsstörung gestellt (vgl. Breithaupt-Peter/Dufner 2012, S.371).
Häufig kritisiert wird das operationalisierten Vorgehen der Klassifikationsmanuale ICD 10
und DSM IV in der Diagnose von psychischen Krankheiten, welches die einzelne n
Symptome
unbeachtet
des Kontextes zu einer Diagnose
zusammengefasst.
Eine
Berücksichtigung des subjektiven Erlebens, sowie psychischer und biografischer Aspekte
erfolgt nicht (vgl. Jäger u.a. 2008, S293). Die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung birgt
auch die Gefahr der Etikettierung von relati dauerhaften Persönlichkeitsstrukturen, für
welche
wenig
Aussicht
auf
Veränderung
und
Entwicklung
bestehen
(vgl.
Adam/BreithauptPeters, S.49).
2.1.2 Diagnostik im Jugendalter
Sowohl die ICD-10, als auch das DSM V setzen den Beginn einer BPS im Kindes oder
Jugendalter fest (vgl. DIMDI 2016, S.211; Falkai/Wittchen 2015, S.908). Dennoch galt im
wissenschaftlichen Diskurs eine Diagnosestellung im Jugendalter lange als umstritte n,
häufig wurde diese erst ab dem 16. oder 17. Lebensjahr als sinnvoll erachtet. Besonderes in
der Praxis besteht diese Einstellung zur Diagnose im Jugendalter weiterhin. Kaess und
Brunner fassen als Gründe hierfür drei Vorbehalte zusammen:
•
Jugendliche in Adoleszenz-Krisen können ähnliche Merkmale wie solche einer BPS
zeigen (z.B. Stimmungsschwankungen und selbstschädigendes Verhalten) (vgl.
Brunner/Resch 2008, S.135) und diese im Entwicklungsfortschritt wieder ablegen,
weshalb eine Diagnose zu diesem Zeitpunkt als schwierig und wenig valide
angesehen wird (vgl. Kaess/Brunner 2016, S10).
•
Zudem entwickelt sich im Laufe des Kindes- und Jugendalters die Persönlichke it
kontinuierlich und ist nicht stabil. Deshalb kann auch nicht von der Stabilität einer
Persönlichkeitsstörung, bei deren Diagnose, ausgegangen werden.
•
Menschen mit einer BPS werden nach wie vor (auch im Helfersystem) als schwierig
und schwer therapierbar angesehen. Eine Diagnose stellt somit immer auch eine
Stigmatisierung dar – eine spätere Diagnostik verhindert oder verspätet diese
Stigmatisierung (vgl. Kaess/Brunner 2016, S.11).
6
In den letzten Jahren gab es vermehrt auch empirische Untersuchungen zur BPS bei
Jugendlichen, deren Ergebnisse Kaess und Brunner als Indizien für eine frühzeitige
Behandlung und Diagnose aufführen. Demnach ist die Persönlichkeit in allen Lebensphasen
ein veränderbares Konstrukt und die BPS stellt bereits im Jugendalter eine schwere
Erkrankung mit Einschränkungen in psychosozialen Bereichen dar. Wirksamkeitsnachwe ise
von Therapien, sowie eine Langzeituntersuchung liefern Hinweise darauf, dass die BPS
behandelbar ist und durch Frühintervention Folgeschäden dieser Persönlichkeitsstör ung
gemindert werden können (vgl. Kaess/Brunner 2016, S.13). Inzwischen ist die Vergabe einer
Diagnose der BPS im Jugendalter in einigen Behandlungsrichtlinien empfohlen (vgl.
Fleischhaker/Schulz
2016,
S.10)
und
im
DSM
V
bei
andauerndem
und
situationsübergreifendem Vorliegen der Kriterien möglich (vgl. Falkai/Wittchen 2015),
S.887). Dem entgegengesetzt gibt es sehr heterogene Studienergebnisse zur frühzeitige n
Diagnostik, sowie Empfehlungen für eine zurückhaltende Diagnosevergabe im Jugendalte r
(vgl.
Fleischhaker/Schulz
2010, S.31) und eine weiterbestehende
Skepsis in der
PsychiatriePraxis (vgl. Armburst/Link 2016, S.103). Ein Konsens unter Borderline fachkundigen Psychologen scheint sich bei 16 Jahren einzupendeln (ebd.).
2.1.3 Ätiologie und Neurobiologie
Die Komplexität und Heterogenität der BPS ergibt sich aus der individuellen Ausprägung
und Komorbiditäten (vgl. Herpertz 2011b, S.75). Heutzutage wird ein multifaktorielle s
Ätiologie-Modell favorisiert, welches der Entstehung ein Zusammenspiel aus biologische n,
psychologischen und sozialen Faktoren zugrunde legt. Untersuchungen konnten zeigen, dass
traumatische Erfahrungen, insbesondere in der Kindheit, bei der Entwicklung einer
Persönlichkeitsstörung
eine
Rolle
spielen
(vgl.
Fleischhaker/Schulz
2010, S.22;
StreekFischer/Freyberger 2009, S.401). Ebenso wurden Hinweise auf eine Bedingung
zwischen der Schwere der BPS-Sympotmatik und dem Ausmaß der Traumatisier ung
festgestellt (vgl. Fleischkaker/Schulz 2010, S.22). Die genetische Forschung beschreibt, dass
einige
Persönlichkeitsmerkmale
der Borderline-Persönlichkeit
eine genetische
Basis
besitzen (ebd. S.23). Ebenso werden neurologische Veränderungen, beispielsweise im
Bereich der Wahrnehmung, als Risikofaktor gesehen und unter Umständen als Folgen
gestörter Beziehungen zur Mutter definiert (vgl. Streek-Fischer/Freyberger 2009, S.402).
Grundlagenforschungen, welche sich auf Jugendliche mit einer BPS beziehen, gibt es nur
einige wenige: Eine Studie von Krause-Utz et. al. zeigt bereits bei Jugendlichen mit einer
7
BPS strukturelle und funktionale Veränderungen in frontlimbischen Netzwerken (dazu
gehören auch die Amygdala und der Hippocampus), die die Emotionsverarbeitung steuern
und an präfrontalen Gehirnarealen, welchen Regulationsprozesse zugrunde liegen (vgl.
Krause-Utz u.a. 2014, S.1). Eine Heidelberger Studie fand heraus, dass bei schlechter
Stimmung die Aufmerksamkeit zunehmend nur auf negative Reize gelegt wird (vgl.
Ceumern-Lindenstjerna von u.a. 2010, S. 30). Untersuchungen bei Erwachsenen mit BPS
liegen zahlreich vor und beschreiben neuronale Veränderungen. Beispielsweise sind die
Hirnbereiche für die primäre Affektkontrolle bei einer BPS verändert, weshalb Menschen
mit einer BPS schneller emotional, sowie undifferenzierter reagieren und Schwierigkeite n
haben, negative emotionale Reize zu unterdrücken (vgl. Herpertz 2011b, S.85). Impulsivitä t
und Aggressionen sind zurückzuführen auf Dysfunktionen im System der Neurotransmitte r
Serotonin und Dopamin (vgl. Koenigsberger/Siever 2011, S.91). Neuronale Veränderunge n
stehen auch im Zusammenhang mit der Informationsauswahl- und -aktivierung, sowie einer
geringeren Schmerzwahrnehmung (vgl. Fleischhaker/Schulz 2011, S.25f.; Herpertz 2011a,
S.12).
2.1.4 Prävalenz, Komorbidität und Verlauf
Für Jugendliche mit einer BPS liegen kaum epidemiologische Untersuchungen vor, damit
im Zusammenhang steht sicherlich die umstrittene Haltung zur Diagnostik im Jugendalte r.
Generell wird die Prävalenz für Jugendliche zwischen 3-18% angegeben, die Schwankunge n
zeigen
die Schwierigkeiten
in der Vergabe der Diagnose
im Jugendalter
(vgl.
Fleischhaker/Schulz 2010, S.11f.). Nach Bohus und Lieb gehört die BPS in psychiatrisc he n
Kliniken zu der zweithäufigsten Aufnahmediagnose (Sekundärdiagnose mit einbezoge n),
mit einem Prozentsatz von 15 Prozent aller Klienten. Bereits zu Beginn der Adoleszenz sind
viele Merkmale einer BPS erkennbar, durchschnittlich findet eine stationäre Behandlung
jedoch im Alter von 24 Jahren statt (vgl. Bohus/Lieb 2006, S.235). Die bei Jugendlichen mit
einer BPS am häufigsten komorbiden Diagnosen sind „depressive Störungen, Essstörunge n,
dissoziative
und
posttraumatische
(Feenstra u.a. 2012 in
Störungen
sowie Substanzmissbrauchsstörunge n“
Brunner/Resch 2016, S.23). Über den Verlauf der BPS bei
Jugendlichen kann keine valide Prognose gemacht werden, es existieren kaum Studien
hierüber. Erste Hinweise sprechen aber dafür, dass für die Entwicklung bessere Aussagen
gemacht werden können, als bisher vermutet und diese Störung nicht lebenslänglic h
8
vorliegen
muss
(vgl.
Fleischhaker/Schulz
2010,
S.92).
Störungsspezifisc he n
Behandlungsansätzen werden bessere Ergebnisse zugeschrieben als unspezialisierte n,
insbesondere für die dialektische behaviorale
Therapie nach Linehan
konnte eine
Wirksamkeit nachgewiesen werden (vgl. Bohus/ Kröger 2011, S.19f.).
Zusammenfassung: Abschließend ist festzustellen, dass das Bild einer BPS sehr heterogen
ist. Mit der Klassifizierung nach der ICD 10 kann das Vorliegen dieser Störung zwar
postuliert werden, dennoch lässt es wenige Aussagen bezüglich der Schwere und
Ausprägung der Symptome zu. Gleichzeitig ist die Diagnostik im Jugendalter nach wie vor
umstritten, in der Praxis scheinen Verdachts-Diagnosen häufig ab dem Alter von 16 Jahren
vergeben zu werden. Die Entstehung der BPS ist von unterschiedlichen Faktoren abhängig,
dazu gehören biologische, psychologische und soziale Bedingungen.
Miteinher gehen
Veränderungen im neuronalen Bereich, die auch schon im Jugendalter zu finden sind. Daten
zur Prävalenz, Komorbidität und dem Verlauf geben Hinweise darauf, dass die BPS bereits
im Jugendalter erkennbar, häufig mit weiteren Symptomen verbunden und bei einer Therapie
behandelbar ist.
2.2 Sozialpädagogische Sichtweise
Psychische Störungen können auch als Folge und Ausdruck ungünstiger Lebensumstä nde
aufgefasst
werden. Ziel der Jugendhilfe
ist es, Kinder und Jugendliche
in ihrer
Persönlichkeitsentwicklung und Teilhabe am Gesellschaftsleben zu unterstützen. (vgl.
Schrapper 2004, S.204f.). Aus diesem Grund wird der psychiatrischen Sichtweise der BPS
in diesem Kapitel eine sozialpädagogische Sichtweise und zur Veranschaulichung ein
Fallbeispiel gegenübergestellt. Da Jugendliche mit psychischen Störungen häufig über die
Eingliederungshilfe betreut werden und diese eine psychiatrische und sozialpädagogis c he
Diagnose voraussetzt, erfolgt vorab die Darstellung der rechtlichen Rahmenbedingunge n
dieser.
2.2.1 Eingliederungshilfe für Jugendliche mit einer Borderline -Persönlichkeitsstörung
Mit der Verschiebung der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit einer
(drohenden) seelischen Behinderung in die Jugendhilfe sollten Abgrenzungsproble me
aufgehoben werden (vgl. Wiesner 2004b, S.179). Leistungen können sich dadurch sowohl
9
an dem erzieherischen Bedarf und dem Wohl des Kindes (§ § 1,2 SGB VIII), als auch an
behinderungsbedingten Bedarfen orientieren (§ 35a Abs. 4 SGB VIII).
Anspruchsberechtigung auf Eingliederungshilfe ist nach §35a SGB VIII 2 das Kind oder der
Jugendliche selbst, wenn eine seelische Behinderung droht oder vorliegt (vgl. Beck 2016,
S.252). Dieser Behinderungsbegriff wird im SGB IX definiert und gliedert sich in zwei
Aspekte. Die seelische Gesundheit muss eine Abweichung von über sechs Monate
gegenüber einem alterstypischen Zustand, mit hoher Wahrscheinlichkeit, aufweisen. Für
diese Feststellung ist eine ärztliche Diagnose an der ICD-10 orientiert, erforderlich. Weiter
muss daraus eine Beeinträchtigung (oder eine zu erwartende Beeinträchtigung) in der
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben resultieren (beispielsweise in der Schule, PeerGroups)
(vgl. Wiesner 2004b, S.180f.). Diese Einschätzung wird von einer Fachkraft der
Jugendhilfe übernommen (vgl. Beck 2016, S.252) und kann bei psychischen
Einschränkungen positiv ausfallen, hierbei spielen situative und Entwicklungsaspekte eine
wichtige Rolle (vgl. Wiener 2004b, S.181). In der Rechtsnorm §36 SGB VIII zur
Hilfeplanung ist die Entscheidung für eine Hilfeform in der Zusammenarbeit mehrerer
Fachkräfte zu treffen (Abs. 2), im Falle einer Hilfe nach §35a ist der stellungsnehme nde
Facharzt zu beteiligen. Demnach kann die Hilfe in ambulanter, teilstationärer und stationärer
Form (Pflegeeltern, sonstige Wohnformen) erbracht werden und muss auf den Bedarf des
Einzelfalles abgestimmt werden (§53a SGB VIII Abs.2). Ihre Aufgaben und Ziele sind im
SGB IX festgehalten, hierzu gehört es, Beeinträchtigungen zu mildern oder verhinde r n,
sowie die Teilhabe im Beruf und sonstigen Tätigkeiten zu ermöglichen (§53 SGB VII).
Absatz 4 des §35 SGB VIII beschreibt die Kombinationsmöglichkeit von Hilfen zur
Erziehung und einer Eingliederungshilfe, wobei in einem solchen Falle jene Hilfeformen in
Anspruch genommen werden sollen, die sowohl den erzieherischen Bedarf, als auch die
Aufgaben der Eingliederungshilfe abdecken können (§35a SGB VIII Absatz 4). Nach § 5
SGB VIII ist dem Wunsch und Wahlrecht der Eltern (in dem Fall des Kindes/Jugendliche n)
zu entsprechen.
2
Die Einführung des §35a wird vielfach kritisiert: einige halten eine Ausweitung dieser Rechtsnorm auch für
Kinder und Jugendliche mit anderen Behinderungen für notwendig, die anderen bemängeln einen
Stigmatisierungseffekt, eine Defizitorientierung und einen Spezialisierungsdruck der Einrichtungen (vgl.
Schrapper 2004, S.203).
10
2.2.2 Sozialpädagogische Diagnose
Im Rahmen der Hilfeplanung nach §36 SGB VIII kommt der sozialpädagogischen Diagnose
eine zentrale Bedeutung zu (vgl. Ader/Schrapper 2004, S.85). Eine präzise Diagnose im
Aushandlungsprozess mit dem Jugendlichen, den Eltern und mehreren Fachkräften führt
schließlich zu der Beurteilung über einen Leistungsanspruch und die Geeignetheit und
Notwendigkeit einer Hilfeform (§27 SGB VIII). Sie beinhaltet die systematische Sammlung,
Analyse und Bewertung von Informationen (ebd., S.95f.) Ader formuliert hierfür drei
Zugänge und wahrt dadurch eine Perspektivenvielfalt:
•
Aus verschiedenen Quellen werden Daten über die Lebenssituation, die Biographie
und das Umfeld des Klienten herangezogen. Dazu gehören Eckdaten zur Person, die
soziale und materielle Situation, bedeutsame Ereignisse, persönliche und auf das Umfeld
bezogene Ressourcen und Beeinträchtigungen, sowie die Einschätzung und Erwartunge n
aller Beteiligten (vgl. Ader 2006, S.240f.).
•
Ein weiterer Zugang erfolgt über die Selbstaussagen der Klienten zu den gesamme lte n
Informationen, sowie ihre Erzählungen zu Lebensereignissen, Bezugspersonen und
Problemeinschätzungen.
Dieser Perspektivwechsel
ermöglicht
es Strategien
der
Lebensbewältigung kontextbezogen zu erfassen (vgl. Ader 2006, S.241).
•
Der dritte Zugang zur sozialpädagogischen Fallanalyse erfordert eine „Selbstreflexion
des Hilfesystems“. Die kritische Reflexion,
aufbauend
auf der durchgeführte n
Informationssammlung, bezieht sich auf vorangegangene Maßnahmen, ihre Abbrüche
und Übergänge, sowie auf Kooperationen und Konflikte im Helfersystem und gestellte
Diagnosen oder Hypothesen (vgl. Ader 2006, S.240f.).
Entwicklungsauffälligkeiten, abweichendes Verhalten und seelische Störungen sind in
diesem Prozess aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Sie können eine
Anpassungsleistung, Folge einer gescheiterten Entwicklungsaufgabe oder fehlender
Entwicklungschancen und eine Bewältigungsstrategie darstellen (vgl. Köckeritz 2004, S.68).
Ist die Erfüllung
von Grundbedürfnissen
unterschiedliche Faktoren (biologische/
Individuum
als angstauslösend
über einen
gewissen
soziale) verhindert,
wahrgenommen
Zeitraum
durch
kann die Umwelt vom
werden. Dies wiederum führt zur
Herausbildung von Wahrnehmungs- und Handlungsweisen die eine Ausblendung der
angstauslösenden Umwelt ermöglichen - es kommt zur Verzerrung von Wahrnehmung,
Einschätzungen und einer mangelnden Impulskontrolle (vgl. Grawe in Köckeritz 2004,
11
S.68). Ungewöhnliches Verhalten stellt in diesem Falle ein Anpassungsverhalten dar.
Gleichzeitig werden die individuellen Erlebens- und Verhaltensweisen von Mitmensc he n
und Institutionen gedeutet und bewertet und damit von ihnen mitbestimmt. Abweichende s
Verhalten zieht häufig eine Etikettierung und Zuschreibung nach sich und führt in der Folge
auch dazu, dass weniger Entwicklungschancen zugeteilt werden. Mit der Übernahme der
Zuschreibung in das eigene Selbstbild und damit dem weiteren Zeigen abweichender
Verhaltensweisen entsteht ein Teufelskreis (vgl. Köckeritz 2004, S.71). Hier entspringe n
diese der gescheiterten Bewältigung der Entwicklung und /oder den fehlenden Chancen zur
Entwicklung. Entwicklungsauffälligkeiten können weiter auch gedeutet werden als eine
Antwort auf persönliche Defizite und wenige Wahlmöglichkeiten.
Bewältigungsversuche
für
sich
widersprechende
Sie stellen also
Anforderungen,
schwier ige
Zukunftschancen, belastende Erfahrungen oder Lebenslagen dar (ebd. S.71f.). Ziel der
Sozialpädagogik ist es an diesen inneren Motiven anzuknüpfen und alternative Lern- und
Bildungserfahrungen zu ermöglichen (vgl. Ader 2004, S.443). Zusammenfassend wird
Verhalten erst mit der Beurteilung durch Institutionen „abweichend“ oder „verwahrlos t“.
Diesem geht häufig eine Leidensgeschichte voraus und dies ist mit fehlenden Ressourcen
verbunden (vgl. Trede 2014, S.32). Deutlich wird dadurch, dass es nicht Teil einer
sozialpädagogischen Diagnose ist, ein Verhalten als normabweichend oder defizitär zu
beurteilen (vgl. Ader/Schrapper, 2004, S.91f.). Die Jugendhilfe zielt vielmehr darauf ab,
zwischen den gesellschaftlichen Erwartungen und den Vorstellungen der Jugendlichen zu
vermitteln
(vgl. Uhlendorff 1999, S.132) und begleitet
Menschen in schwierige n
Lebenslagen, greift dort ein wo diese mit der Alltagsbewältigung überfordert sind (vgl.
Uhlendorff 1999, S. 130f.).
Auch die sozialpädagogische Diagnose birgt eine Fülle von Risiken: sie kann stigmatisiere nd
sein, gesellschaftliche Problemlagen pädagogisieren und wesentliche Aspekte eines Falles,
sowie Machtverhältnisse nicht erkennen (vgl. Harnach-Beck 2004, S.123). Dennoch ist sie
als „rechtlich-administrativer Prozess“ für die Entscheidung über eine
Leistungsberechtigung (Hilfen zur Erziehung/ Eingliederungshilfe) wichtig (vgl. Uhlendor ff
1997, S.69).
12
2.2.3 Fallbeispiel
Die Fallbeschreibung einer Jugendlichen mit BPS stellt exemplarisch dar, wie die Symptome
in der interpersonellen Lebensgestaltung vorliegen können. Hierbei wird deutlich, wie die
Gestaltung des Lebensumfeldes die Entwicklung beeinflussen kann.
Lisa und ihre (Halb-)Geschwister wurden im Alter von 5 Jahren (Alter von Lisa) aufgrund
von Verwahrlosung, Vernachlässigung und sexuellen Übergriffen vom Jugendamt in Obhut
genommen und neun Monate später von der Familie M. adoptiert. Laut der Teamvorlage des
Jugendamtes K. kam es im November 2012 zu einer stationären Aufnahme Lisa’s in die
Kinder-
und
Jugendpsychiatrie/Psychotherapie
Ulm,
nachdem
Lisa
häufiger
„Auffälligkeiten“ zeigte und es vermehrt zu Krisen in der Familie kam. Bereits im Vorfeld
wurden starke Stimmungsschwankungen, Selbstverletzungen und Ängste vor Verlassen
Werden beschrieben. Die behandelnden Ärzte diagnostizierten bei Lisa eine Störung des
Sozialverhaltens mit depressiver Störung, sowie den Verdacht auf eine emotional instabile
Persönlichkeitsstörung
des Borderline-Typs.
Auf
Empfehlung
der
behandelnde n
Therapeutin wandten sich die Adoptiveltern an das Jugendamt.
Im Rahmen der Hilfeplanung beschrieben die Adoptiveltern, dass Lisa viel Aufmerksamke it
einfordern
würde und gleichzeitig
keine Nähe zulassen
könne. Im Umgang
mit
Gleichaltrigen nehme sie eine Sonderrolle ein und habe es schwer sich einzufügen. Lisa lüge
häufig, fühle sich schnell angegriffen und reagiere darauf aggressiv und verbal verletze nd.
Sie äußere suizidale Gedanken. Frau und Herr Müller berichteten weiterhin, dass es häufige r
zu Konfliktsituationen und Handgreiflichkeiten komme (insbesondere zwischen Lisa und
Frau Müller). Außerhalb des Hauses verhalte Lisa sich liebenswert und wisse, was von ihr
erwartet werde. Die Konflikte nähmen seit Anfang des Jahres weiterhin zu. Lisa selbst
berichtet soziale Kontakte zu haben und am Liebsten zu lesen oder joggen zu gehen. Sie
erzählt von einem angespannten Verhältnis zu ihren Adoptiveltern, diese hätten eine
permanente Vorwurfshaltung ihr gegenüber und vertrauten ihr nicht mehr. Sie wolle zu
ihnen keinen Kontakt mehr, verstehe sich aber mit ihrem Bruder sehr gut. Der ärztlic he n
Stellungnahme ist zu entnehmen, dass infolge des Störungsbildes die seelische Gesundheit
Lisa’s (länger als sechs Monate) als abweichend vom alterstypischen Zustand eingestuft und
eine stationäre Unterbringung empfohlen werde. Das Jugendamt K. leitete die Betreuung in
einer therapeutischen stationären Einrichtung ein. Als Gründe für diese Unterbringungsfor m
wurden die traumatischen Erfahrungen, die familiären Konflikte, sowie die mit der
psychischen Störung verbundenen Beeinträchtigungen benannt.
13
Von März 2013 bis August 2015 wurde Lisa in der Wohngruppe T. betreut, Rechtsgrund la ge
ist der § 35a SGB VIII. Die Tischvorlage zum Hilfeplan Ende 2013 beschreibt Lisa’s
Entwicklung in der Gruppe.
Aus Sicht der Einrichtung entwickelt sich Lisa positiv, Rückschritte sind aber immer wieder
erkennbar. Lisa habe sich in der Gruppe eingelebt, ihre Rolle gefunden und zeige soziale
Kompetenzen. Sie verhalte sich den Betreuern gegenüber sehr schwankend: sie könne gut
im Kontakt sein, um den Kontakt im nächsten Moment abzubrechen. Insbesondere mit einem
vor kurzem eingezogenen Jugendlichen gerate sie häufig aneinander und wolle auf keinen
Fall länger mit ihm in der Gruppe wohnen. Mit dem Schulbeginn zeige Lisa wieder vermehrt
Stimmungsschwankungen, auch ihre Ausgleichsmöglichkeiten könne sie dann nicht so
effektiv einsetzen. Generell nehme sie sich in Stress- oder Krisensituationen eine Auszeit,
gehe nach draußen oder in ihr Zimmer, höre Musik oder spiele E-Schlagzeug, wodurch es
ihr gelänge sich abzureagieren. Lisa sei es immer wieder möglich, sich längere Zeit nicht
selbst zu verletzen. Auf die Unterstützung der Betreuer und der Suche nach alternative n
Verhaltensweisen könne sie sich bei dem Bedürfnis, sich zu verletzen meistens einlasse n,
häufig helfe es ihr zu zeichnen, Schlagzeug zu spielen oder ihre Skill-Box zu nutzen. In
einem Fall mussten die Wunden ärztlich versorgt und eine Übernachtung in der KJP
organisiert werden.
Lisa gehe gerne zur Kinder- und Jugendtherapeutin der Einrichtung, die Gespräche scheinen
sie vorwärts zu bringen. Der Kontakt zu den Adoptiveltern sei schwankend, dennoch
scheinen ihr die Heimfahrten trotz auftretender Konflikte gut zu tun. Lisa besuche eine
Tanzgruppe für Hip-Hop und nehme seit längerem an der Theater-AG der Einrichtung teil.
Sie selbst berichtet, dass der Drang sich zu verletzen abgenommen habe, dennoch fällt ihr
das Einfordern von Unterstützung schwer. Die Heimfahrten mache sie manchmal gern,
manchmal weniger. Bereitwillig gehe sie zur Therapeutin. Laut den Adoptiveltern strenge
Lisa sich zu Hause sehr an, sich richtig zu verhalten, es gäbe aber immer wieder schwier ige
Situationen. Die monatlichen Treffen mit der Therapeutin seien für Frau M. sehr wertvoll.
In der Schule falle Lisa nicht auf, Mathematik bereite ihr jedoch Mühe.
Im Fallbeispiel ist erkennbar, dass das stationäre Jugendhilfesetting für die Entwicklung der
Jugendlichen mit BPS förderlich sein kann. Dies macht das oben genannte Beispiel zur
Verhinderung von selbstverletzendem Verhalten deutlich.
Zusammenfassung: In diesem Kapitel wurde dargestellt, dass Jugendliche mit einer
Borderline-Persönlichkeitsstörung über die Rechtsnorm §35a SGB VIII in der Jugendhilfe
14
betreut werden können. Die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und
Jugendliche schreibt eine psychiatrische und sozialpädagogische Diagnose vor, ihre
Beurteilungen sind Voraussetzung für den Leistungsanspruch auf Eingliederungshilfe. Die
sozialpädagogische Diagnose unterscheidet sich von der psychiatrischen Diagnose darin,
dass
sie
Verhaltensweisen
und
seelische
Störungen
in
einem
Kontext-
und
Sinnzusammenhang betrachtet und darauf abzielt Interventionen herauszuarbeiten, die
alternative Lern- und Bildungserfahrungen ermöglichen. Die psychiatrische Diagnose
wiederum ist Voraussetzung für eine Behandlung. Die beiden Hilfesysteme ergänzen sich
somit in ihren Unterstützungsleistungen, weshalb eine Kooperation erforderlich ist.
2.3 Jugendhilfe für Jugendliche mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung
Anstelle des Leistungsanspruchs über §35a kann eine Jugendhilfe auch gewährt werden,
wenn die Eltern einen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung nach §27 SGB VIII haben. In
diesem Kapitel werden die unterschiedlichen Betreuungssettings in der stationäre n
Jugendhilfe kurz beschrieben. Darauf aufbauend folgen statistische Angaben zur vorzeitige n
Beendigung von Jugendhilfemaßnahmen.
2.3.1 Die stationäre Jugendhilfe
Rechtliche Grundlage der Jugendhilfeangebote stellt §27 SGB VIII dar: demnach haben
Personensorgeberechtigte einen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung, wenn eine dem
Kindeswohl entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe geeignet und
notwendig für die Entwicklung des Jugendlichen ist. Die stationäre Jugendhilfe umfasst
dabei die Vollzeitpflege nach §33 und die Heimerziehung, sowie sonstige betreute
Wohnformen nach §34. Die Vollzeitpflege nach §33 beschreibt die Betreuung in einer
fremden Pflegefamilie, einer Verwandten- oder Netzwerkpflegefamilie oder professione lle
Pflegestellen wie z.B. Erziehungsstellen (vgl. Trede 2014, S.21f.). In dem Begriff
Heimerziehung sind unterschiedliche Betreuungssettings zusammengefasst: die Erziehung
in Wohngruppen, in „Intensivstationen“, in (Groß-)familien, dem betreutem Jugendwohne n
und den sogenannten „Krisenbetten“ (ebd. S.22f.). In Wohngruppen erfolgt die Betreuung
der sechs bis neun Kinder und Jugendlichen durch sozialpädagogische Fachkräfte. Diese
wird Tag und Nacht zumeist über den Schichtdienst geleistet. „Intensivstationen“ arbeiten
intensiv mit den „Defiziten“ der jungen Menschen, setzen auf eine starke
15
Alltagsstrukturierung und ein therapeutisches Milieu. Ihr Setting kann sowohl dem einer
Wohngruppe, als auch dem einer Familie ähneln. Großfamilien beschreiben die Betreuung
von einer größeren Gruppe (circa 10 Kinder) durch ein Erzieherpaar, welches mit den
Jugendlichen dauerhaft zusammenlebt. Im betreuten Jugendwohnen leben zwei Jugendlic he
(oder einer alleine) überwiegend selbstständig in Wohnungen und werden regelmäßig von
dem Betreuer aufgesucht. Für obdachlose, abhängige oder sich prostituierende Jugendlic he
werden „Krisenbetten“ bereitgestellt (vgl. Trede 2014, S.23). Alle Formen der stationäre n
Jugendhilfe dienen als Sozialisationsinstanzen und haben in ihrer Betreuung einige
Gemeinsamkeiten: sie stellen Orte dar, die den Jugendlichen Schutz, Geborgenheit und eine
Grundversorgung
bieten
und
die Bezugspersonen
arrangieren
Entwicklung-
und
Lernmöglichkeiten und unterstützen in der Identitätsentwicklung (vgl. Trede 2014, S.25).
2.3.2 Vorzeitige Beendigung von Eingliederungshilfen
Das statistische Bundesamt liefert Daten zur Beendigung von Jugendhilfemaßnahmen.
Vorzeitig beendete Eingliederungshilfen in einer Einrichtung über Tag und Nacht beziffer n
sich im Jahr 2014 auf 1725. Davon werden viele einseitig durch die Eltern oder den jungen
Volljährigen beendet (1021) und einige durch die Einrichtung (468). Im Pflegekinderwe se n
belaufen sich die vorzeitigen Beendigungen auf insgesamt 54 Fälle. Davon wurden einige
durch die Sorgeberechtigten bewirkt (33) und weniger häufig einseitig durch die
Pflegefamilie (11) angestrebt (vgl. Statistisches Bundesamt 2014, S.58). Auf die Beendigung
einer stationären Hilfe (vorzeitig oder geplant) folgt in den meisten Fällen keine
nachfolgende Hilfe oder eine weitere Jugendhilfe (nach §27 oder §35a) (ebd. S.64).
Zusammenfassung:
Die hohe Zahl der vorzeitigen Beendigungen in einem Jahr,
insbesondere jene durch die Jugendhilfeträger selbst, werfen Fragen auf. Sind die
Jugendhilfeeinrichtungen in ihrer pädagogischen Arbeit mit seelisch behinderten Kindern
überfordert?
unzureichend?
Sind die Einrichtungsstrukturen
Welche
und fachlichen
Entwicklungsbedingungen
brauchen
Kompetenzen
solche
hierfür
Kinder
und
Jugendlichen? Diese Fragen müssen auch insofern gestellt werden, da häufig eine weitere
Unterbringung durch die Jugendhilfe oder Eingliederungshilfe erfolgt.
2.4 Entwicklung im Jugendalter
Den aufgeworfenen Fragen wird in der weiteren Ausarbeitung (bezogen auf Jugendliche mit
einer
BPS) nachgegangen.
Hierzu
bedarf es zunächst
einer
Betrachtung
der
16
Entwicklungsanforderungen im Jugendalter,
sowie eine spezifische Betrachtung der
Besonderheiten, die sich für Jugendliche mit BPS ergeben können.
Den folgenden Ausführungen liegt ein transaktionales Modell der Entwicklung zugrunde
(vgl. Sameroff 1975; Sameroff/Fiese 2000 in Schleiffer 2009, S.59): dieses beschreibt, dass
die Entwicklung der Jugendlichen durch Umweltfaktoren, durch Faktoren innerhalb der
eigenen Person und durch die Veränderung dieser im Rahmen des Zusammenspiels und der
Weiterentwicklung beeinflusst ist. Einflussfaktoren, die zu einer gesunden Entwicklung
beitragen (Schutzfaktoren) und solche, die das Risiko für eine pathologische Entwicklung
erhöhen (Risikofaktoren), können dabei sowohl biologischer, psychologischer, als auch
sozialer Natur sein. Dieses einzigartige Zusammenspiel aus Risiko- und Schutzfakto re n
bestimmt die Art und Weise, wie ein Jugendlicher Entwicklungsaufgaben löst und diese
interpretiert
(vgl. Schleiffer
2009, S.60f.). Dadurch ergeben sich für Jugendlic he
unterschiedliche Entwicklungsverläufe. Die Ausführungen dieses Kapitels entsprechen dem
beschriebenen Entwicklungs-Modell. Zunächst werden zentrale Entwicklungsprozesse im
Jugendalter (die Sozialisation,
Bindungsentwicklung)
die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben und die
allgemein
erläutert.
Daran
anknüpfend
werden
die
darin
beschriebenen Anforderungen mit den Symptomen einer BPS im Jugendalter in Verbindung
gebracht und zusätzliche Herausforderungen herausgearbeitet. Allem voraus geht die
kritische Betrachtung der Unterscheidung zwischen „normaler“ und „pathologische r “
Entwicklung.
In den nachfolgenden Unterkapiteln wird es häufig um „allgemeine Schwierigkeiten der
BPS“ (die auch unterschiedlich ausgeprägt oder gar nicht vorliegen) gehen, da an ihnen
angeknüpft zusätzliche Unterstützungsleistungen herausgearbeitet werden sollen. Dabei gilt
zu beachten, dass sie keine Defizite darstellen und sich immer aus einem Wechselspie l
zwischen Anlage, Kontextfaktoren und einem Verhältnis von Macht und
Entwicklungschancen ergeben (siehe Kapitel 2.2.2). Dies bedeutet jedoch nicht, dass diese
jungen Menschen nicht auch über zahlreiche Ressourcen und Kompetenzen verfügen. Diese
sind vor allem im Einzelfall zu identifizieren. Aufgrund der großen Heterogenität der BPS
und einer schimmernden Symptomvielfalt erheben die folgenden Ausführungen keinen
Anspruch auf Vollständigkeit, dennoch sollen sie einen Überblick über das Wesentlic he
geben.
17
2.4.1 Die „normale“ Entwicklung
Die Entwicklungspsychologie beschreibt den „Normalfall“ eines Entwicklungsverla ufes
und darin zu bewältigende alterstypische Anforderungen. Dazu im Gegensatz steht die
Jugendhilfe aber insbesondere auch mit solchen Jugendlichen in Kontakt, bei denen die
Entwicklung eben nicht „normal“ verläuft und Abweichungen zeigt (vgl. Köckeritz 2004,
S.69). Hier stellt sich die Frage, was als „normal“ und was als „abweichend“ bezeichne t
werden kann.
Klare Entwicklungsvorgaben und feste Biografieverläufe fehlen in einer Zeit, die durch
Pluralisierung, weniger Regulierung und Ausdifferenzierung gekennzeichnet ist. Aufgr und
unterschiedlicher Lebensbedingungen können nicht alle Heranwachsenden die Fähigkeite n
entwickeln, um ihre eigene gelingende Biografie zu gestalten – unter diesem Druck zeigen
sie dann häufig Verhaltensweisen, die als „abweichend“ definiert werden, in Verbindung mit
den spezifischen Lebensbedingungen jedoch ihren Sinn erfüllen (vgl. Becker/Koch 1999,
S.12f.). Kinder wachsen zunehmend in Kleinstfamilien auf, erleben Trennungen oder
Veränderungen der Familienzusammensetzung oder erfahren Armut und Arbeitslosigkeit in
einer gleichzeitig luxuriösen Welt. Viele werden mit widersprüchlichen Normen im
kulturellen und sozialen Bereichen konfrontiert (vgl. Köttgen 1999, S.91). Somit kann nicht
mehr von einer normalen Lebensweise von Jugendlichen ausgegangen werden. Dennoch
können unterschiedliche Vorstellungen von Normalität nicht unbedacht anerkannt werden:
Herrschaftsverhältnisse und ungleiche Chancen in der Lebensgestaltung spielen häufig eine
Rolle (vgl. Koch 1999, S.136). In den Familien und den engeren Bezugssystemen erlernte
Normen halten Kinder für allgemeingültig (vgl. Köttgen 1999, S.99). Es bestehen also eine
Vielzahl an Entwicklungsverläufen,
die als „normal“
und eine Vielzahl,
die als
„pathologisch“ bezeichnet werden können. Eine solche Unterscheidung ist nur möglic h,
wenn normative Vorgaben zu Entwicklungsverläufen bestehen. Eine solche Norm stellt das
Erreichen der Entwicklungsziele dar. Insofern ist die Bewertung „normal“ und
„abweichend“/ „pathologisch“ erst im Nachhinein möglich, wenn die Erreichung oder
NichtErreichung des Entwicklungsziels erkennbar ist (vgl. Schleiffer 2009, S.60).
2.4.2 Sozialisation im Jugendalter
Gegenstand
der Sozialisationstheorien
sind
Spannungsverhältnisse
zwischen
dem
Individuum und der Gesellschaft. Zentrale Fragestellungen der Sozialisation erörtern darum,
wie Individuen von der Gesellschaft zu sozialen Menschen gemacht und in soziale
18
Strukturen eingebettet werden. Sie betrachten weiter, wie Menschen in dieser Gesellscha ft
ihre freie Persönlichkeitsentwicklung und Autonomie entwickeln (vgl. Hurrelmann u.a.
2008, S.14). Hurrelmann entwickelte das „Modell der produktiven Realitätsverarbeitung“
(Hurrelmann 2012a, S.42), in welcher soziologische und psychologische
Theorien
zusammengeführt wurden, und bezieht dieses auf die Entwicklung Jugendlicher.
„Sozialisation [wird] als Prozess der Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen
verstanden, die sich aus der produktiven Verarbeitung der inneren und der äußeren
Realität ergibt. Die körperlichen und psychischen Dispositionen und Eigenschaften
bilden die ‚innere‘ Realität, die Gegebenheiten der sozialen und physischen Umwelt
die ‚äußere‘ Realität. Die Realitätsverarbeitung ist ‚produktiv‘, weil ein Mensch sich
stets aktiv mit seinem Leben auseinandersetzt und die damit einhergehenden
Entwicklungsaufgaben zu bewältigen versucht. Ob die Bewältigung gelingt oder nicht,
hängt von den zur Verfügung stehenden personalen und sozialen Ressourcen ab.
Durch alle Entwicklungsaufgaben zieht sich die Anforderung, die persönliche
Individuation mit der gesellschaftlichen Integration in Einklang zu bringen, um die
Ich-Identität zu sichern.“ (Hurrelmann 2012a, S.52)
Die Jugendphase ist der erste Zeitpunkt im Leben, in welchem ein Verhältnis zwischen
„persönlicher Individuation“ und „sozialer Integration“ hergestellt werden muss (vgl.
Hurrelmann 2012b, S.91) Die persönliche Individuation beschreibt die Herausbildung einer
unverkennbaren und einzigartigen autonomen Persönlichkeit. Die soziale Integration kann
mit der Übernahme von Mitgliedsrollen in der Gesellschaft umschrieben werden (vgl.
Hurrelmann/Quenzel 2012, S.33, 36). Die Grundannahmen der Soziologie über die
Lebensphase Jugend werden von Hurrelmann in 10 Maximen zusammengefasst:
Erste Maxime: Die Persönlichkeitsentwicklung findet in einem Wechselspiel von Anlage
und Umwelt statt.
Zweite Maxime: Die Sozialisation stellt im Jugendalter eine intensive Phase da, in ihr
werden Grundlagen für die weitere Sozialisation entwickelt. Es findet eine „produktive
Verarbeitung der inneren und äußeren Realität statt“ (Hurrelmann/Quenzel 2012, S.91),
Voraussetzung hierfür ist die Bewältigung der Entwicklungsaufgaben.
Dritte Maxime: Jugendliche formen ihre Persönlichkeit selbst und erlangen schrittwe ise
Fähigkeiten zur selbstständigen Lebensgestaltung.
19
Vierte Maxime: Im Jugendalter kann erstmals eine Ich-Identität entwickelt werden, durch
die Verbindung von persönlicher Individuation und sozialer Integration.
Fünfte Maxime: Können die Individuation und Integration nicht in einem angemessene n
Verhältnis integriert werden, werden Entwicklungsaufgaben nicht gelöst und Krisen und ein
Entwicklungsdruck sind die Folge.
Sechste Maxime: Zu dieser Bewältigung sind personale und soziale Ressourcen nötig.
Personale Ressourcen bezeichnen individuelle Fähigkeiten zur Bewältigung,
soziale
Ressourcen bestehen in Unterstützungshandlungen durch Bezugsgruppen.
Siebte Maxime: Sozialisationsinstanzen stellen eine Unterstützung im Entwicklungspro zess
dar. Neben der Herkunftsfamilie sind Schulen, Ausbildungseinrichtungen, Gleichaltrige und
die Medien bedeutend.
Achte Maxime: Die Jugendphase ist eine eigenständige Lebensphase und eng an
gesellschaftliche, geschichtliche und wirtschaftliche Bedingungen geknüpft.
Neunte Maxime: Aufgrund pluraler Lebensformen, eines schnellen sozialen Wandels und
starker ökonomischer Unterschiede sind auch die Lebenswelten der Jugendlichen stark
unterschiedlich.
Zehnte Maxime: Die Bewältigungsart der Entwicklungsaufgaben ist auch geprägt von der
Geschlechterzugehörigkeit. Besser Ausgangschancen haben hier häufig die Mädchen (vgl.
Hurrelmann/Quenzel 2012, S.90-100).
Hurrelmann beschreibt Entwicklungsaufgaben stärker aus einem Verhältnis zwischen
Individuum
und Gesellschaft
heraus.
Demnach
beschreiben
Entwicklungsaufgabe n
Erwartungen der Gesellschaft, die darauf bezogen sind welche physische, psychisc he,
soziale und wirtschaftliche Weiterentwicklungen
zu einer bestimmten
Lebensphase
angebracht sind. Sie beziehen sich somit auf bestehende Normen und sollen individuell, in
einer akzeptierten Art und Weise, umgesetzt werden (vgl. Hurrelmann 2012b, S.95).
Hurrelmann kategorisiert die Entwicklungsaufgaben in vier Bereiche: „Qualifiziere n“,
„Binden“, „Konsumieren“ und „Partizipieren“. Diese beinhalten sowohl
„psychobiologische“ als auch „soziokulturelle Dimensionen“, die zueinander in Beziehung
stehen (Hurrlmann/Quenzel 2012, S.28). Die psychobiologische Dimension beschreibt
Aspekte der Entwicklungsaufgaben,
handlungsfähigen
Person beitragen
die zur
Entwicklung
(Individuation).
einer
autonomen
Die soziokulturelle
und
Dimens io n
betrachtet jene Aspekte der Entwicklungsaufgabe, welche zur Übernahme von
20
Mitgliedsrollen in der Gemeinschaft befähigen (Integration) (ebd. S.34).
Voraussetzung für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung, sowie die Entwicklung einer
Ich-Identität ist ein angemessener Bezug zwischen Individuation und Integration (vgl.
Hurrelmann 2012b, S.95; siehe fünfte Maxime).
2.4.3 Jugendliche mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung und ihre Sozialisation
Auf das „Modell der produktiven Realitätsverarbeitung“ (Hurrelmann 2012a, S.42) bezogen
geraten für Jugendliche mit einer BPS insbesondere vier Themengebiete in den Blick: die
Realitätsverarbeitung, die Bedeutung von soziokulturellen Faktoren, Sozialisationsinstanze n
und Ressourcen, individuelle Lebenswelten und Verhaltensweisen, sowie die
Identitätsbildung.
Die Realitätsverarbeitung
Die Realitätsprüfung ist in der BPS erhalten, dennoch ist sie von Störungen betroffen. Dies
kann darin resultieren, dass die Realitätsprüfung nur zu einem Mindestmaß oder zeitweise
gar nicht vorliegt und sich in verschiedener Intensität und Qualität in der Wahrnehmung der
eigenen Person und der Umwelt wiederspiegelt (vgl. Hofmann 2002, S.148). Menschen mit
einer BPS unterscheiden sich in ihrer Art Informationen wahrzunehmen, auf Reize zu
reagieren und mit Menschen in Interaktion zu treten von anderen Menschen. Bei ihnen liegen
häufig kognitive Verzerrungen vor, die sich auf ihr Selbstbild, ihre Umwelt und ihre
Handlungsmöglichkeiten beziehen. Menschen mit einer BPS haben ein negativ gefärbtes
Selbstbild („Im Grunde bin ich nicht zu akzeptieren“) und eine widersprüchliche Art zu
denken. Gleichzeitig sehen sie ihr Umfeld auch in negativeren Konturen als üblich („die
Welt ist gefährlich und böse“) und nehmen negative Reize verstärkt war. Diese beiden
kognitiven
Überzeugungen
Handlungsmöglichkeiten
führen
weiterhin
als eingeschränkt
verletzbar“) (Vater u.a. 2011, S.260f.).
dazu,
dass
auch
die
eigenen
erlebt werden („Ich bin machtlos
und
Ausgehend von diesen Annahmen kann vermutet
werden, dass insbesondere die Verarbeitung der inneren Realität (Anlage) und äußeren
Realität (Umwelt) für Jugendliche mit einer BPS größere Anforderung darstellt als
gewöhnlich (Zweite Maxime). Hier müssen soziale Unterstützungssystem ansetzen, um
Verzerrungen in der Wahrnehmung und Kognition aufzudecken und schrittweise auflöse n
zu können.
21
Die Bedeutung soziokultureller Faktoren, Sozialisationsinstanzen und Ressourcen
Untersuchungen weisen darauf hin, dass soziokulturelle Faktoren die BPS fördern oder
hindern: dies bedeutet, dass mit dieser Störung verbundene Symptome wie die Impulsivitä t
oder emotionale Instabilität durch soziale Stressoren in der Umwelt beeinflusst werden (vgl.
Paris 2011, S.227). In modernen gesellschaftlichen Strukturen fehlen zunehmend stabile
Strukturen, der soziale Wandel vollzieht sich schnell und führt zu Instabilitäten in soziale n
Gefügen. Diese Instabilitäten gelten als ein Risikofaktor für die Entwicklung oder
Chronifizierung einer BPS (vgl. Calliness 2011, S.233). Da die Persönlichkeitsentwicklung
in einem Zusammenspiel von Anlage und Umwelt stattfindet (Erste Maxime) gilt es solche
umweltbedingten Stressoren zu identifizieren und in Bereichen, in denen dies realisierba r
ist, stärkere Strukturen und verlässliche Beziehungen anzubieten.
Sozialisationsinstanzen, wie beispielsweise der Familie oder der Peer-Group, kommen in der
Persönlichkeitsentwicklung von Jugendlichen eine Bindungs- und Unterstützungsfunk tio n
zu. Sie bieten die Möglichkeit zum Erwerb sozialer Kompetenzen, einer Statusrolle und
Hilfe bei der Bewältigung von Anforderungen (siehe Kapitel 2.4.6), sie stellen soziale
Ressourcen
dar. Jugendliche
stehen
zu einigen
Sozialisationsinstanzen
in einem
Abhängigkeitsverhältnis, formal und auf die Beziehung bezogen. Die Systeme und Gruppen
nehmen Einfluss auf die Entwicklung der Jugendlichen und arbeiten dabei
„anforderungsspezifisch“, sind per Normen verpflichtet und verantwortlich – dieser Aspekt
wirkt sich immer auch auf die Beziehungsgestaltung mit den Jugendlichen aus (vgl.
Hofmann 2002, S.180). In der asymmetrischen Beziehung zu professionell Tätigen werden
früh erworbene Bindungsmuster
in Beziehungen
wiederholt,
die Idealisierung
und
Entwertung können von den Jugendlichen dabei als „Methoden“ zur Regulierung des
NäheDistanz-Verhältnisses eingesetzt werden (vgl. Armbrust/Link
2015, S.56). Dies
erfordert eine hohe Reflexivität und Kenntnisse zur und im Umgang mit Jugendlichen mit
BPS, um diese Mechanismen zu erkennen und adäquat darauf zu reagieren. In schwierige n
Beziehungen müssen deshalb sowohl Anteile des Jugendlichen, als auch jene der Fachkräfte
betrachtet werden (ebd. S.58). Diese Aspekte entsprechen den Maximen sechs bis acht in
Hurrelmann’s Modell und müssen im Umgang mit Jugendlichen mit einer BPS beachtet
werden: Denn im Entwicklungsprozess muss ein Verhältnis zwischen Individuation und
Integration ausgehandelt werden, wozu personale und soziale Ressourcen notwendig sind.
Die Entwicklung ist auch an gesellschaftliche und ökonomische Bedingungen geknüpft.
22
Personale Ressourcen sind vor allem im Einzelfall zu finden. Von Freunden werden
Jugendliche mit einer BPS auch als sozial kompetent, fürsorglich und begeisterungsfä hig
beschrieben (vgl. Armbrust/Link 2015, S.54). Daneben sind zahlreiche andere Eigenschafte n
denkbar, wie beispielsweise Kreativität, Humor oder Intelligenz.
Individuelle Lebenswelten und Verhaltensweisen
Wie bereits in Kapitel 2.2.2 ausgeführt wurde sind Verhaltensweisen und insbesondere
Entwicklungsauffälligkeiten in ihrem kontextuellen und subjektiven Sinnzusammenhang zu
sehen: sie können eine Anpassungsleistung oder eine Bewältigungsstrategie aufgrund
prekärer Lebensumstände darstellen (vgl. Köckeritz 2004, S.68-72). Diese Sichtweise ist
wichtig, da Jugendliche ihre Persönlichkeit individuell formen und Unterschiede in deren
Lebenswelten, sowie zwischen den Geschlechtern bestehen (Dritte, neunte und zehnte
Maxime).
Daraus kann geschlossen
werden,
dass Fachkräfte eine entsprechende
Grundhaltung gegenüber Jugendlichen mit psychischen Störungen entwickeln sollten.
Die Identitätsbildung
Die BPS ist in weiten Teilen auch als eine Identitätsstörung zu verstehen. Personen mit einer
BPS haben ein zerbrechliches „Ich-Erleben“, die Verunsicherung bezogen auf die eigene
Identität und das Selbstbild sind länger andauernd. Mit den Begriffen „Ich-Erleben“ und
„Selbstbild“ wird die Selbstwahrnehmung eines Menschen beschrieben, welches sich aus
dem
Zusammenspiel
von
individuellen
Erfahrungen
und
der
Umgebung/
zwischenmenschlichen Interaktionen herausbildet (vgl. Armbrust/Link 2015, S.60f.). Damit
im Zusammenhang stehen die kognitiven Verzerrungen, die sich auf das Selbstbild, die
Umwelt und die eigenen Handlungsmöglichkeiten beziehen (vgl. Vater u.a. 2011, S.260f.).
Betroffene beschreiben hier Überzeugungen wie: „Ich bin nicht liebenswert“ oder „Ich habe
es nicht verdient, gut behandelt zu werden“ (Armbrust/ Link 2015, S.63). Folgend bestehen
Verunsicherungen auch hinsichtlich ideeller Vorstellungen und Werte (sie werden häufig
gruppenabhängig übernommen) (ebd. S.62f.), der sexuellen Orientierung, der Interessen, der
eigenen Fähigkeiten und moralische und politische Vorstellungen (vgl. Fischer/Kaess 2016,
S.44). Viele Menschen mit einer BPS beschreiben einen geringen Selbstwert, welcher sich
in „Funktionszuständen“ und einer „inneren Zerrissenheit“ niederschlägt: Unsicherheiten in
der Identität
werden durch das Zeigen
gewünschter
Verhaltensweisen
zeitweilig
kompensiert (Funktionszustände) und das Erleben ist durch plötzliche Stimmungswechse l
23
gekennzeichnet (Innere Zerrissenheit) (vgl. Armbrust/Link 2015, S.31f.). Bei Jugendlic he n
mit einer BPS scheint hier ein erhöhtes Potenzial zum Scheitern vorzuliegen. Es ist von der
individuellen Ausprägung der Störung und dem Stand der Entwicklung abhängig, wie stark
die Verunsicherung in der Identität vorliegt. Unter Rückschluss auf Hurrelmann ist die
Ausbildung der Ich-Identität von dem Herstellen eines angemessenen Verhältnisse s
zwischen Individuation und Integration abhängig (Vierte Maxime). Können beide Aspekte
nicht adäquat ausgebildet werden und werden Entwicklungsaufgaben nicht bewältigt, gelingt
die Entwicklung einer Ich-Identität nicht - es kann eine Krise entstehen (Fünfte Maxime).
Zusammenfassung: Die Soziologie betont individuelle Faktoren, sowie Umweltfaktoren in
der Persönlichkeitsentwicklung und beschreibt das Wechselspiel aus Individuation und
Integration als zentrales Element der Ich-Entwicklung.
Auf der individuellen Seite wird
deutlich, dass Jugendliche mit einer BPS in ihrer Realitätsverarbeitung Verzerrunge n
unterliegen und sie Schwierigkeiten in der Ausbildung einer Identität zeigen. Auf Seiten der
Umweltfaktoren sind soziokulturelle und strukturelle Aspekte bedeutend, welche die
Symptomatik der BPS beeinflussen, ebenso der Einfluss von Sozialisationsinstanzen. Aus
diesem Grund
sind störungsspezifische
Kenntnisse,
sowie die Wahrnehmung
von
Eigenheiten in ihrem jeweiligen Kontext für Fachkräfte wichtig, um Jugendliche mit einer
BPS verstehen und fördern zu können.
2.4.4 Entwicklungsaufgaben im Jugendalter
Gegenstand
der Entwicklungspsychologie
ist die Veränderung
und Stabilität
von
menschlichen Verhaltensweisen und Erleben über die gesamte Lebenszeit hinweg. Sie
beschreibt diese, um allgemeingültige Verläufe und Bedingungen von Entwicklung
identifizieren
und Zusammenhänge
Vorhersagen
getroffen
und
erklären zu können. Daran ansetzend
Unterstützungsmöglichkeiten
angebracht
können
werden
(vgl.
Grob/Jaschinski 2003, S.1f). Ein Konzept der Entwicklungspsychologie, welches konkrete
Anforderungen beschreibt, die im Jugendalter individuell bewältigt werden müssen
formulierte Havighurst 1953. Seine Inhalte sind heutzutage nach wie vor relevant. Es
beschreibt eine wechselseitige Beeinflussung von Individuum und Umwelt und entspricht
damit dem modernen Verständnis der Entwicklungspsychologie (vgl. Grob/Jaschinski 2003,
S.32). Im Folgenden werden jene Entwicklungsaufgaben weiter ausgeführt, die auch von
weiteren Autoren als relevant erachtet wurden.
24
Havighurst definiert Entwicklungsaufgaben als typische Anforderungen, die ungefähr zu
einem bestimmten
Lebensabschnitt
entstehen
und deren erfolgreiche
Bewältigung
Voraussetzung für spätere Entwicklungsaufgaben ist und zum „Glücklichsein“ verhilft.
Kann die Aufgabe nicht bewältigt werden, kann dies in „Unglücklichsein“, gesellschaftlic he r
Missbilligung und Schwierigkeiten mit späteren Anforderungen münden (vgl. Havighurs t
1953,
S.2).
Diese
Definition
schließt
drei
Elemente
mit
ein,
aus
welchen
Entwicklungsaufgaben hervorgehen können: die biologischen Veränderungen des Köpers,
kulturelle und gesellschaftliche Erwartungen, sowie individuelle Werte und Ziele (vgl.
Havighurst 1953, S.4; Dreher/Dreher 1985, S.56).
Als erste Entwicklungsaufgabe beschreibt Havighurtst den Aufbau neuer und reiferer
Beziehungen zu Gleichaltrigen beiderseitigen Geschlechts. Dabei kommt der Peer-Group
einer besonderen Bedeutung zu, in welcher Jugendliche Erfahrungen austauschen können
und sich in der Ablösung
vom Elternhaus
und der Weiterentwicklung
zu einer
selbstständigen Persönlichkeit unterstützen können (vgl. Havighurst 1953, S.111). Bei dem
Aufbau reiferer Beziehungen geht es darum Mädchen als Frauen und Jungen als Männer
anzusehen,
gemeinsam zielgerichtet zu arbeiten und die Leitung einer Gruppe zu
übernehmen ohne dabei zu dominieren (ebd.). Die Übernahme der Geschlechterrolle
beschreibt Havighurst als Aufgabe, eine weiblich oder männlich sozial akzeptierte Rolle zu
übernehmen und zu erlernen (ebd. S.115). Die dritte Entwicklungsaufgabe nach Havighurs t
beinhaltet zu lernen, den eigenen Körper zu akzeptieren und ihn effektiv zu nutze n.
Damit
beschreibt
er insbesondere
eine psychische
Verarbeitung
der physische n
Veränderungen, bei welcher Jugendlichen sich immer wieder miteinander vergleichen, sich
einem bestimmten Schönheitsideal angleichen wollen und sich fragen, ob sie normal sind.
Anforderungen sind aber auch an einen guten Umgang mit dem Körper und den sexuelle n
Tendenzen gestellt (vgl. Havighurst 1953, S.10f.). Mit der Ablösung von den Eltern, sowie
anderen Erwachsenen und dem Erlangen einer emotionalen Unabhängigkeit ist eine
weitere
Entwicklungsaufgabe
erfolgreich
bewältigt.
Dabei geht
es um dreierle i
Komponenten: Jugendliche sollen sich aus der kindlichen Abhängigkeit zu ihren Eltern
befreien und selbstständig werden. Sie sollen eine emotionale Beziehung, in Form der
Zuneigung, zu ihren Eltern entwickeln, die frei von Abhängigkeit ist und sie sollen einen
respektvollen Umgang zu weiteren Erwachsenen erlernen (vgl. Havighurst 1953, S.123). Die
fünfte Entwicklungsaufgabe ist das Erlangen einer ökonomischen Unabhängigkeit (ebd.
S.127). Die sechste Entwicklungsaufgabe im Jugendalter beinhaltet die Vorbereitung auf
25
eine berufliche Karriere. Dazu gehört nach Havighurst zunächst die Auswahl eines Berufs,
der den eigenen Fähigkeiten und Interessen entspricht und weiter die Vorbereitung auf
diesen, durch den Erwerb von Kenntnissen und die Einschlagung des entsprechende n
Bildungsweges (vgl. Havighurst 1953, S.128f.). Die Vorbereitung auf Heirat und ein
Familienleben ist als siebte Entwicklungsaufgabe genannt: Dabei geht es darum eine
positive Einstellung zu einem späteren eigenen Familienleben und Kindern zu gewinnen und
relevante Kenntnisse zu erwerben (ebd. S.133f.). Die achte Entwicklungsaufgabe beinhalte t
die Entwicklung von intellektuellen Fähigkeiten und zivilen Kompetenzen (ebd. S.136).
Als „krönenden“ Abschluss der Adoleszenz sieht Havighurst die Erreichung der letzten
beiden Entwicklungsaufgaben: Die neunte Entwicklungsaufgabe beinhaltet das Anstreben
und Erreichen eines sozial verantwortlichen Verhaltens. Dies geschieht durch die
Teilnahme als verantwortlicher Mensch im Gesellschaftsleben, sowie der Übernahme darin
vorherrschender Werte und Normen. Die zehnte zielt darauf, dass Jugendliche eigene Werte
und ein ethisches Bewusstsein, welche das eigene Verhalten leiten, erwerben. Werte und
Vorstellungen, die zu realisieren sind, sollen ausgebildet und angestrebt werden. Ebenso
erfolgt eine Verortung des Individuums in der Welt, im Verhältnis zu den Mitmenschen und
zu den eigenen Idealen. Diese sollen in einem harmonischen Verhältnis zusammenspie le n
können (vgl. Havighurst 1953, S.147).
Dreher und Dreher bewerten diese Entwicklungsaufgaben nach eigener Untersuchung mit
Jugendlichen als weiterhin relevant, fügen aber drei weitere Anforderungen hinzu:
•
Aufnahme und Aufbau intimer Beziehungen
•
Entwicklung der Identität
•
Erarbeitung einer Zukunftsperspektive (vgl. Dreher/Dreher 1985, S.64).
3
2.4.5 Jugendliche mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung und ihre
Entwicklungsaufgaben
Im Folgenden Abschnitt werden jene Entwicklungsaufgaben auf die BPS bezogen, für die
sich störungsspezifische Besonderheiten ergeben.
Die Beziehungsgestaltung von Personen mit einer BPS zeichnet sich durch eine hohe
Intensität aus, gleichzeitig wechselt diese zwischen Idealisierung und Entwertung (vgl.
Aufgrund verschiedenster gesellschaftlicher Entwicklungen („lebenslanges Lernen, Selbstgestaltung des
Lebens, verlängerte Ausbildungszeit und veränderte Familienstrukturen“) haben sich einige Anforderungen
inhaltlich verändert (Grob/Jaschinski 2003, S.21)
3
26
Armbrust/Link 2016, S.45). Liegt diese bereits im Jugendalter vor, dürfte die Ausbild ung
von reifen
Beziehungen
zu Gleichaltrigen,
sowie die Entwicklung
einer neuen
Beziehungsqualität zu den Eltern Jugendliche erschwert sein. Die Entwicklung einer
Geschlechterrolle, sowie die Akzeptanz des eigenen Körpers stellen weitere bedeutende
Entwicklungsaufgaben in der Lebensphase Jugend dar. Mit der Entwicklung einer positive n
Körperidentität haben Menschen mit BPS Schwierigkeiten: Ihr negatives Selbstbild
überträgt sich hierbei auf die Körperwahrnehmung und verzerrt diese. Betroffene schämen
oder ekeln sich für ihren Körper, für zu dick oder zu dünn sein, obwohl ihr Körper in der
Realität anders aussieht. Daraus kann ein starkes Stressgefühl entstehen, dass unbewusst und
unkontrolliert dissoziative Zustände entstehen lässt und der eigene Körper nicht mehr
gespürt wird (z.B. Hungergefühl bleibt aus, Koordinationsstörungen) (vgl. Armbrust/Link
2015, S.61f.). Die Übernahme der Geschlechterrolle könnte insofern eine Herausforder ung
darstellen, da Werte und ideelle Vorstellungen stark schwanken. Diese Verunsicherunge n
beziehen sich auch auf die sexuelle Orientierung (vgl. Fischer/Kaess 2016, S.44). Aufgr und
der fehlenden eigenen Sicherheit werden häufig die Ideale der zugehörigen Gruppe
übernommen (vgl. Armbrust/Link 2015, S.62f.) – aus dieser Perspektive kann davon
ausgegangen werden, dass Jugendliche vermutlich ihr biologisches Geschlecht anerkennen
und
die
Geschlechtsrolle
(Funktionszustände).
in
der
vom
Das spannungsreiche
Kontext
erwarteten
Verhältnis
zwischen
Weise
ausfülle n
dem Erfüllen
der
Erwartungen und dem „Wahren[n] Selbst“ (Unsicherheit + andere Bedürfnisse) führt häufig
zu einem Zusammenbruch, welcher von psychosomatischen Symptomen begleitet ist (vgl.
Armbrust/Link 2015, S.31f.).
Das Erlangen einer emotionalen Unabhängigkeit (im Rahmen des Ablösungsprozesses vom
Elternhaus) stellt für Jugendliche vermutlich ein schwieriges Unterfangen dar. Denn ein
zentrales Symptom der BPS ist die emotionale Instabilität, welche sich häufig auf zwei Arten
zeigt: durch Stimmungsschwankungen und Impulsivität (vgl. Armbrust/Link 2015, S.43f.).
Stimmungswechsel treten schnell auf, sind für Mitmenschen häufig unerwartet und halten
nicht lange an. Häufig stehen dabei negative Gefühle, wie Wut, Trauer oder Angst im
Vordergrund (vgl. Kaess/Brunner 2016, S.47). Jugendliche mit einer BPS berichten häufig
von risikoreichen Verhaltensweisen und einer verminderten Impulskontrolle. Dies zeigt sich
beispielsweise in Essattacken, dem Ausprobieren von Drogen, exzessivem Shopping oder
das sich in Gefahrensituationen Begeben (Klettern an hohen Gebäuden, Diebstahl…). Als
27
Intentionen hierfür wird häufig benannt, dadurch negative Emotionen loszuwerden oder
betäuben zu wollen (vgl. Fischer/Kaess 2016, S.45).
Ein weiteres bedeutendes Symptom der BPS im Jugendalter ist die Selbstverletzung und
Suizidalität. Die Jugendlichen fügen sich Selbstverletzungen zu, um Anspannung abzubauen
oder negative Emotionen zu beenden. Häufig findet dies in nicht-suizidaler Form durch
Ritzen mit Rasierklingen oder Cuttern an unterschiedlichen Körperstellen statt. Andere
Formen können Verbrennungen, Schläge oder Kopfstöße gegen die Wand darstellen. Im
Anschluss daran berichten sie von Scham- und Schuldgefühlen, sowie einer inneren Leere.
Häufig wird auch von Selbstmordandrohungen und in einigen Fällen von tatsächlic he n
Suizidversuchen berichtet (ebd. S.46).
Die Bewältigung der beiden Entwicklungsaufgaben Vorbereitung auf eine beruflic he
Karriere, sowie auf ein zukünftiges Familienleben könnten durch die Instabilität in der
Identität (Kapitel 2.4.3) sowie durch die Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehunge n
(Kapitel 2.4.9) beeinflusst sein. Die Festlegung auf ein Berufsbild, ohne sich der eigenen
Fähigkeiten und Interessen sicher zu sein, sowie eine positive Einstellung zum
Familienleben, ohne sich der eigenen Werte und Wunschvorstellungen sicher zu sein, stellt
Jugendliche mit einer BPS vor eine doppelte Herausforderung. Die achte bis zehnte
Entwicklungsaufgaben beschreiben den Erwerb intellektueller Fähigkeiten und eines
eigenen Wertesystems, sowie das Erreichen eines sozial verantwortlichen Verhaltens.
Beschreibungen hierzu, die auf die BPS bezogen sind, bestehen in der wissenschaftlic he n
Literatur nicht. Forschungen und Ratgeber konzentrieren sich überwiegend auf die zentrale n
Aspekte: die emotionale, interaktionale Instabilität und jene in der Identität. Es kann
vermutet werden, dass diese Symptome auch auf diese Entwicklungsaufgaben einen eher
negativen Einfluss haben: beispielsweise kann das negative Selbstbild hinderlich sein sich
neuen Herausforderung zu stellen und dadurch neue Kompetenzen zu erwerben. Kaess und
Brunner beschreiben hier lediglich, dass Begabungen und Eigenschaften von Jugendlic he n
mit BPS als nicht konstant wahrgenommen werden (vgl. Fischer/Kaess 2016, S.44). Die
Teilhabe kann durch die Schwierigkeit Beziehungen zu halten gefährdet sein, ebenso ist die
Ausbildung eines ethischen Bewusstseins vor dem Hintergrund der ideellen Verunsicher ung
gehemmt. Die letzten Entwicklungsaufgaben stellen Parallelen zu der Individuation und
Integration der Sozialisationstheorie dar.
Zusammenfassung:
Die
Symptomatik
der
BPS
kann
die
Bewältigung
der
28
Entwicklungsaufgaben im Jugendalter zusätzlich erschweren. Wie oben ausgeführt kann
dies beinahe jede Entwicklungsaufgabe betreffen. Da die Bewältigung eine positive Basis
für weitere Anforderungen darstellt und zur günstigen Entwicklung beiträgt, gilt es diese
Bedarfslage in der Betreuung von Jugendlichen zu beachten und dem gerecht zu werden.
2.4.6 Bindungsentwicklung im Jugendalter
Die Bindungstheorie nimmt an, dass Erfahrungen mit Bezugspersonen im Kindheitsalter in
internalen Arbeitsmodellen organisiert werden und relativ stabil vorliegen. Diese interna le n
Arbeitsmodelle beeinflussen
den Umgang mit Emotionen,
das Verhalten
und das
Zusammenspiel von Emotion und Kognition und werden in der Ausgestaltung von
Beziehungen, sowie der Handlungsfähigkeit in herausfordernden Situationen sichtbar (vgl.
Zimmermann 1994, S.10).
Bowlby bezeichnet Bindung als ein „affektives Band“ (Bowlby 2008,S.23), diese stellt eine
überdauernde emotionale Beziehung zu einer Bezugsperson dar, von welcher das Kinder
annimmt, Schutz und Unterstützung zu erhalten (vgl. Schleiffer 2009, S.27). Mit Bindung
einher
geht
das „Bindungsverhalten“
in Form von organisierten,
vorbestimmte n
Verhaltensweisen, welche auf ein anderes Individuum gerichtet werden und darauf zielen,
Nähe (und dadurch Schutz) herzustellen. Bowlby geht davon aus, dass in jedem Lebensalter
ein Bindungsverhalten vorliegt. Das Muster dieses Verhaltens ist geprägt von den
Lebensbedingungen, den bisherigen Bindungserfahrungen, dem Geschlecht und dem Alter
(vgl. Bowlby 2008, S.23). Es wird mit fortschreitender Entwicklung in Verhaltenssyste me n
organisiert, welche Vorstellungsmodelle von der Umwelt und der eigenen Person beinhalte n
(ebd., S.24) und dazu dienen, die Interaktionen mit der Bezugspersonen zu planen,
vorherzusagen und zu interpretieren. Die Bindungstheorie spricht hier von interna le n
Arbeitsmodellen
(vgl.
Jungmann/Reichenbach
2011,
S.16).
Komplementär
zum
Bindungsverhalten zeigen Bezugspersonen ein Fürsorgeverhalten, mit welchem sie auf die
Verhaltensweisen des Kindes reagieren. Ainsworth beschreibt unterschiedliche Qualitäte n
von Bindung und internalen Arbeitsmodellen, die sich aus diesem Zusammenspiel ergeben
(Ainsworth/Witting
2008, S.143). Während
in ängstlich
erlebten Situationen
das
Bindungssystem aktiviert ist (Bowlby 1987, S.24) zeigt das Kind in sicher erlebten
Situationen
ein
Explorationsverhalten
und
erkundigt
die
Umwelt
(vgl.
Jungmann/Reichenbach 2011, S.18).
29
Erstmals
untersuchte
Bindungsorganisation
Zimmermann
(= internale
im
Rahmen
Arbeitsmodelle)
einer
Längsschnittstudie
von Jugendlichen.
die
Bei den 44
Jugendlichen konnte keine Kontinuität in der Bindung zwischen dem zweiten und
sechzehnten Lebensjahr festgestellt werden, jedoch ergab sich eine gewisse Stabilitä t
zwischen der Bindungsorganisation im zehnten und den internalen Arbeitsmodellen im
sechzehnten Jahr (vgl. Zimmermann 1994, S. 138). Dadurch entsteht Hoffnung auf eine
Veränderbarkeit und eine Korrigierbarkeit von internalen Arbeitsmodellen, wobei die
gewisse Stabilität vom zehnten bis zum sechzehnten diese deutlich einschränke n.
SeiffgeKrenke beschreibt im Jugendalter ein „Bindungsloch“ (2004, S.167), in welchem
keine konstanten Bindungsmuster vorliegen, und sieht darin die Chance, neue Erfahrunge n
zu sammeln und andere Bindungsmuster auszubilden (vgl. Seiffge-Krenke 2004, S.171). Die
Bindungstheorie geht von einer gewissen Stabilität der internalen Arbeitsmodelle aus: bei
der Aufnahme neuer Beziehungen wird ein ihnen entsprechendes Verhalten gezeigt und eine
bestimmte Reaktion der Bezugsperson erwartet, herausgefordert und interpretiert (vgl.
Zimmermann 1994, S.20).
Es ist davon auszugehen, dass die Bindungsqualität in vielen Bereichen der Entwicklung
eine Rolle spielt: so beispielsweise in der psychischen, sozialen und kognitiven Entwicklung,
in der Gestaltung von Beziehungen und in der Entwicklung eines Selbstkonzeptes (vgl.
Schleiffer 2009, S.51f.). Neben den Auswirkungen von internalen Arbeitsmodellen auf die
Entwicklung wird die Bedeutung der Beziehung zu Eltern, Peer-Group und Partnern im
Jugendalter beschrieben.
Nach Schleiffer gilt es in dieser Entwicklungsphase des Jugendalters, die richtige „Balance
zwischen Exploration und Bindung zu bewahren“ (Schleiffer 2009, S.56).
Die Familie stellt auch im Jugendalter weiterhin eine zentrale Sozialisationsinstanz dar: sie
fungiert als Bezugspunkt für die Identitätsentwicklung, stellt den Lebensmittelpunkt dar und
sichert Unterstützungsleistungen. In ihr finden Lernprozesse statt, insbesondere solche zur
Beziehungsgestaltung und Interaktion, die von den Jugendlichen interpretiert und auf spätere
Beziehungen übertragen werden. Erfahrungen werden hier auch auf indirektem Wege
gewonnen: über die Beziehungsgestaltung der Eltern, die Lebensführung in der Familie und
durch die Handlungsmöglichkeiten der Familie im sozialen Kontext (vgl. Walper u.a. 2015,
S.364; 381). Die Peer-Group kann als weitere Sozialisationsinstanz angesehen werden. Sie
erfüllt zweierlei Funktionen: in der Beziehung zu Gleichaltrigen können soziale
Kompetenzen (Fähigkeit zur Kooperation, Verständnis und die Anwendung von Regeln und
30
Moral) erlernt werden. Daneben erbringen
Peer-Groups eine Unterstützungs-
und
Bindungsleistung, die eine sichere Basis für Lernerfahrungen und die Bewältigung von
aktuellen Anforderungen darstellt. Das Erlangen von Anerkennung und einer Statuspositio n
in einer Gemeinschaft ist im Jugendalter in einer Peer-Group verortet (vgl. Schmidt-Dente r
2005, S.130-132). Sexuelle Beziehungen fördern die Autonomie- und Identitätsentwicklung
des Jugendlichen. Sexuelle Erfahrungen können ausgelebt und geschlechtsrollenspezifis c he
Verhaltensweisen ausprobiert werden. Daneben erfüllen sie ähnliche Funktionen wie die der
Peer-Group: sie bieten Bindung, Unterstützung und den Erwerb von sozialen Fähigkeite n,
sowie einer Statusposition (ebd. S.134-136). Die Schule oder Ausbildungsstelle stellt einen
wichtigen Lebensbereich dar, in welchem der Erwerb von Wissen, einer Arbeitshaltung,
einer kognitiven Ausrichtung und die Entwicklung eines Selbstkonzepts, Selbstwert- und
Leistungserlebens und der Selbstwirksamkeit stattfindet. Wichtige Voraussetzungen für die
Teilhabe am Gesellschaftsleben im Erwachsenenalter werden hier gelegt (vgl.
Adam/Breithaupt-Peters 2010, S.191).
2.4.7 Jugendliche mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung und ihre
Beziehungsgestaltung
Jugendliche mit einer BPS berichten häufig von einer hohen Intensität in ihren Beziehunge n
zu Bezugspersonen (vgl. Fischer/Kaess 2016, S.42). Häufig erfolgt in diesen ein Wechsel
zwischen Idealisierung und Entwertung durch den Jugendlichen, sie dienen als Methode um
das Nähe-Distanz-Verhältnis
zu
regulieren
(vgl.
Armbrust/Link
2015, S.45-47).
Nachvollziehbar fasst Hofmann diesen Umstand auf: „Einerseits fällt eine ängstliche Suche
nach Nähe, Bestätigung, Schutz und Halt auf, andererseits dominiert eine massive Angst vor
Nähe, Enttäuschung, vor dem Gefühl, abgelehnt und zurückgestoßen zu werden“ (2002,
S.33). Jugendliche erzählen von häufigen On-Off-Beziehungen, davon sich schnell (auch
sexuell) auf Menschen einzulassen, die sie erst kürzlich kennengelernt haben. Oft sind auch
Abhängigkeiten in Beziehungen zu finden, welche Missbrauchserfahrungen begünstige n
und zu einem Teufelskreis aus weiterer Traumatisierung und negativem Selbstbild führen
(vgl. Fischer/Kaess 2016, S.42f.). Junge Borderline-Patienten berichten davon, dass sie
andauernd unter einem inneren Leere-Gefühl leiden, das im ganzen Körper spürbar ist und
zu einem starken Anspannungszustand führt, welcher über selbstverletzendes Verhalten
vorübergehend beendet werden kann (ebd., S.47). Durch Kontaktherstellung wird das
Leeregefühl verdrängt, weshalb die Nähe zu einer anderen Person angestrebt wird. Dies kann
31
auf dysfunktionale, manipulative und dramatische Weise oder auch auf offene und
konstruktive Art geschehen (vgl. Armbrust/Link 2015, S.46). Eine solche facettenreic he
Beziehungsgestaltung zeigt sich in allen Lebensbereichen: in der Familie oder Partnerschaft,
bei Freunden, bei Alltagsbekanntschaften und bei Fachkräften (ebd. S.50-60). Als Gründe
hierfür sind auch Schwierigkeiten in der sozialen Wahrnehmung und der Objektkonstanz
aufzuführen: Betroffene sind sensibler gegenüber den Emotionen anderer Menschen und
erkennen diese besser, beziehen sie jedoch direkt auf sich. Zudem können sie nicht zwische n
Kritik am Verhalten und Kritik an der eigenen Person unterscheiden. Jugendliche mit BPS
haben Schwierigkeiten
eine
Beziehung,
bei Abwesenheit
der Bezugsperson,
zu
verinnerlichen und als real wahrzunehmen, sie zeigen eine Verunsicherung darüber, ob die
Beziehung weiterhin besteht (Objektkonstanz) (ebd., S.48f.). Auffallend ist auch eine
„borderlinetypische Hypersensibilität“, eine Fähigkeit die emotionale Verfassung und
„Schwächen“ von Bezugspersonen innerhalb kürzester Zeit zu erfassen. Jugendlic he prüfen
und testen die Bindungsangebote, ob sie gehalten werden und erfahren durch ihr Verhalten
häufig, dass dies eben nicht der Fall ist und zu einer Überzeugung des nicht liebenswert seins
führt (vgl. Hofmann 2002, S.182f.).
Diese ausführlichen Erläuterungen beschreiben Motive für das Verhalten der Jugendlic he n
ihren Mitmenschen gegenüber und erklären, wieso die Beziehungsgestaltung für Personen
mit BPS eine Herausforderung darstellt. Diese besteht in allen Beziehungen und ist
hinsichtlich vieler Bereiche problematisch. Die Integration in die Gesellschaft und in
Gruppen kann erschwert sein, was damit einhergehen könnte, nicht vollständig von der
Funktion der Sozialisationsleistungen zu profitieren. Dadurch könnte die Peer-Group
beispielsweise nur eine geringe Unterstützungsleistung darstellen, der Status in der Gruppe
könnte niedriger sein als gewünscht und der Kompetenzerwerb erschwert werden. Sexuelle
Beziehungen könnten kurzlebig sein, sich auf den sexuellen Kontakt beschränken (wie oben
beschrieben) und nicht die Qualität einer Bindung annehmen. Konflikte können sich auch
im familiären Alltag ergeben, dennoch ist hier von einer hohen Unterstützungsleistung,
sowie Lernerfahrung auszugehen. Zudem ist die Ablösung von den Eltern ein schwierige r
Prozess, weil die Distanz ebenso wie viel Nähe von den Jugendlichen schlecht ausgehalte n
werden (vgl. Armbrust/Link 2015, S.51). Es muss betont werden, dass Jugendliche mit BPS
in gleichem Maße von einer Beziehung profitieren, wie andere Jugendliche und darin
durchaus Kompetenzen zeigen und entwickeln. Beispielsweise werden die Jugendlichen in
32
Freundschaftsbeziehungen als sozial, fürsorglich und begeisterungsfähig beschrieben (vgl.
Armbrust/Link 2015, S.54).
Hofmann geht von pathogenen internalen Arbeitsmodellen bei Jugendlichen mit einer BPS
aus, die negativ erlebte und traumatische Erfahrungen beinhalten und auf Bezugsperso ne n
angewandt werden (vgl. Hofmann 2002, S.181). Diepold liefert mit einer Untersuchung mit
190 „Borderline-Kindern“ Ergebnisse, wonach häufig eine Trennung von einer der ersten
Bindungspersonen vorlag: nur ein Drittel lebte bei beiden Elternteilen, ein Viertel der Kinder
war in der Heimerziehung, in Pflegfamilien oder durch eine Adoption fremduntergebrac ht
(vgl. Diepold 1995, S.272). Gravierend ist dies, weil diese internalen Arbeitsmodelle eine
Einflussgröße für die psychische, soziale und kognitive Entwicklung, sowie für die
Ausgestaltung von Beziehungen und für die Entwicklung eines Selbstkonzeptes darstelle n.
Es erfordert eine weitreichendes Fachwissen und eine hohe Reflexivität, um der
Idealisierung und Entwertung adäquat begegnen zu können (vgl. Armbrust/Link 2015, S.58).
Zusammenfassung: Die Beziehungsgestaltung zu unterschiedlichen Bezugsgruppen ist für
Jugendliche
wesentlich,
um Unterstützungsleistungen
zu erhalten,
Kompetenzen
zu
erwerben, eine Statusrolle zu erlangen, sexuelle Erfahrungen zu machen und damit in ihrer
Autonomieentwicklung fortzuschreiten. Jugendliche mit einer BPS haben Schwierigkeite n
Beziehungen zu gestalten, weshalb ihre Teilhabe verringert oder gefährdet sein kann. Zudem
wird bei ihnen ein eher ungünstiges internales Arbeitsmodell vermutet, welches neben der
Beziehungsgestaltung auch Einfluss auf die psychische, soziale und kognitive Entwicklung
hat. Hinweise für die Veränderbarkeit dieser Arbeitsmodelle bestehen, Fachkräften kommt
hierbei eine bedeutende Rolle zu.
3. Jugendliche mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung in der
Jugendhilfe
Im ersten Kapitel wurden ausführlich die Symptome einer BPS beschrieben und auf die im
Jugendalter anstehenden Anforderungen und Veränderungen bezogen. Daran anknüpfe nd
erfolgt
in
diesem
Kapitel
die
Erarbeitung
von
„entwicklungsfördernde n
Lebensbedingungen“, welche die Jugendlichen mit einer BPS im Rahmen eines stationäre n
Jugendhilfesettings in ihrer Persönlichkeitsentwicklung bestmöglich unterstützen und
fördern. Zunächst stelle ich drei Ansätze zur Betreuung von Jugendlichen mit BPS in der
stationären Jugendhilfe dar und greife Ergebnisse von Studien zu Schutzfaktoren im
Jugendalter, sowie der Wirksamkeit der Jugendhilfe auf. Die Entwicklung eines eigenen
33
Ansatzes, der entwicklungsförderliche Lebensbedingungen für Jugendliche mit einer BPS in
der stationären Jugendhilfe beinhaltet, schließt an die gewonnenen Erkenntnisse im ersten
und zweiten Kapitel an. Aus diesem Ansatz lassen sich auch die Kriterien herausbilde n,
anhand
welcher
drei ausgewählte
Konzeptionen
von Betreuungssettings
auf ihre
Angemessenheit/Eignung für die Unterbringung von Jugendlichen mit BPS geprüft werden
sollen.
3.1 Modelle für die Betreuung von Jugendlichen mit einer
BorderlinePersönlichkeitsstörung in der Jugendhilfe
Die Modelle unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Auslegung der psychischen Störung und
ihrer konzeptionellen Ausrichtung, gemeinsam ist ihnen der Bezug zur stationäre n
Jugendhilfe.
3.1.1 Das mehrdimensionale Hilfekonzept nach Adam und Peters
Adam und Peters entwickelten ein mehrdimensionales Hilfekonzept, welches Ansätze für
eine stationäre Hilfe beschreibt (vgl. Adam/Peters 2003, S.133). In der Kombination von
pädagogischen und therapeutischen Ansätzen sehen sie die Möglichkeit, Ressourcen des
Jugendlichen zu aktivieren und ihm neue Entwicklungschancen eröffnen zu können (ebd.,
S.135). Der pädagogische Alltag stellt einen Ort dar, an welchem soziale und emotiona le
Erfahrungen gewonnen werden können. In ihm entfaltet sich auch das „therapeutis c he
Milieu“, als eine zu neuen Herausforderungen ermutigende Umgebung, die auch den Zugang
zu therapeutischer Unterstützung erleichtert (vgl. Adam/Peters 2003, S. 136f.).
Mit den pädagogisch-therapeutischen Zielsetzungen werden Fördermöglichkeiten auf
mehreren Ebenen aufgeführt. Um den Jugendlichen nicht durch zu viele Angeboten einer
Überforderung auszusetzen, müssen diese individuell ausgewählt und zeitlich abgestimmt
werden (ebd. S.138). Diese Zielsetzungen können als sogenannte „entwicklungsförder nde
Lebensbedingungen“ aufgefasst werden, ihre Umsetzung kann auf unterschiedliche Weise
geschehen und können in diesem Rahmen nicht weiter ausgeführt werden. Ein Rückbezug
auf diese erfolgt im Kapitel 3.3.1.
34
Abb. 1: pädagogische-therapeutische Zielsetzungen (vgl. Adam/Breithaupt-Peters 2010,
S.140)
3.1.2 Die multimodale Betreuung nach Hofmann
Hofmann beschreibt für die Betreuung von Jugendlichem mit einer BPS einen Ansatz der
multimodalen Betreuung (vgl. Hofmann 2002, S.226), welcher in seiner Forderung zur
interdisziplinären Kooperation dem mehrdimensionalen Hilfekonzept ähnelt. Hofmann
begreift das Störungsbild der BPS primär als emotionale Regulationsstörung, aus welcher
Schwierigkeiten in der Beziehungsgestaltung entstehen. Er geht davon aus, dass der
individuellen inneren Stabilisierung eine äußere Stabilisierung in der Betreuungsstruktur
vorauszusetzen
ist. Ziel der Betreuung muss es demnach sein, Bedingungen der
Stabilisierung zu schaffen, die für den Jugendlichen nachvollziehbar sind, eine konstante
35
Bindung ermöglichen und dadurch Chancen auf Veränderungen bieten (vgl. Hofmann 2002,
S.226f.).
Hofmann formuliert in diesem Rahmen ein Konzept des „haltenden und aushaltende n
Bindungsangebots“
(2002,
S.232)
und
legt
diesem
notwendige
strukturelle
Rahmenbedingungen der Einrichtung zugrunde:
•
Professionalität durch Fachwissen, sowie Supervision
•
Eine dezentrale Betreuung in Kleingruppen für Jugendliche mit BPS
•
Eine Ein-zu-Eins-Betreuung durch motivierte Mitarbeiter
•
Möglichkeit der kurzzeitigen Einzelbetreuung als Krisenintervention…
(ebd.,
S.232f.)
Mit den Prinzipien „Halten“ und „Aushalten“ formuliert Hofmann in Anlehnung an Dulz
und Schneider Bedingungen, die eine Grundlage für eine Beziehungsgestaltung mit
Jugendlichen mit BPS legen. Demnach beschreibt das „Halten“ eine Kompetenz und innere
Grundhaltung des Betreuers, dem Jugendlichen bedingungslosen Schutz und Liebe entgegen
zu bringen. Diese „sichere Basis“ ermöglicht es, internale Arbeitsmodelle zu korrigieren und
darüber ihre Identität und Ressourcenentwicklung verändern zu können (vgl. Hofmann 2002,
S.229). Komplementär dazu stellt das „Aushalten“ nach Hofmann eine Eignung der
Betreuungsperson
dar. Diese müssen die Fähigkeit
besitzen,
die Bedürfnisse
der
Jugendlichen erkennen und adäquat darauf reagieren zu können (in Anlehnung an
Ainsworth). Ebenso sind die Fähigkeit der Selbstreflexivität (Reflexion und Differenzier ung
eigener und fremder Bedürfnisse, in Anlehnung an Fonagy) und individuellen Grenzsetzung
(im Sinne der Nähe-Distanz-Regulierung), sowie emotionale Zuwendung und Motivatio n
eine Voraussetzung (ebd. S.230f.).
3.1.3 Die Systemischen Arbeitsweisen nach Natho
Natho formuliert konkrete Arbeitsempfehlungen für die Betreuung von Jugendlichen mit
BPS im stationären Jugendhilfebereich und baut diese auf systemischen Annahmen auf (vgl.
Natho 2002, S.223). Demnach ist eine Störung zirkulär in einem System4 organisiert und ist
primär über soziale Beziehungen zu betrachten. Störungen sind zudem eng verknüpft mit der
4
Somit beeinflussen die Betreuungspersonen, sowie die Mitbewohner mit dem eigenen Verhalten auch das
Verhalten des Jugendlichen mit BPS und können zu Veränderungen beitragen (vgl. Natho 2015, S.74).
36
verinnerlichten Wirklichkeitskonstruktion, die ein jedes Individuum über sich selbst, sowie
über sein Umfeld und zwischenmenschliche Beziehungen ausbildet (ebd., S.78).
Laut Natho setzt die Verbesserung der Lebensqualität, sowie die Förderung der sozialen
Integration im Rahmen der Heimerziehung zwei Grundannahmen voraus: Die Vernetzung
von Unterstützungsangeboten, welche auf die Ressourcen des Jugendlichen abgestimmt
sind, ist für den Hilfeverlauf entscheidend. Die Grenzen eines Systems sind zu wahren, da
sie eine schützende Funktion besitzen: das heißt, nicht immer sind alle gewünschte n
Veränderungen möglich (2002, S.223), stattdessen bedarf es einer „vorwurfsfreie n,
geduldigen Begleitung“ (Natho 2002, S.224).
Folgende Handlungsmöglichkeiten für die pädagogische Arbeit mit Jugendlichen einer BPS
im Kontext der stationären Erziehungshilfe werden von Natho empfohlen:
•
„Störungsdiagnostik“ (Natho 2002, S.224)
•
„soziografische Diagnostik“
•
„Notfall- und Rückfallplanung“ (ebd. S.225)
•
„Umgang mit Suizidalität“ (ebd. S.226)
•
„vorausschauendes Handeln“
•
„dauerhaft feste Bezugspersonen“
•
„stabile Erzieherpersönlichkeit“ (ebd. S.227)
•
„klientenzentriertes Erziehungskonzept“ (ebd. S.228)
•
„Sicherstellung der sozialen Unterstützung und Begleitung“
•
„Kooperation und Wertschätzung der Eltern“ (ebd. S.229)
•
„Teamberatung, Supervision und Fortbildungen“ (ebd. S.230)
•
„Vernetzung“ (ebd. S.231)
•
„Beratung“ (Natho 2002, S.232)
Auch diese Arbeitsempfehlungen können nicht ausführlicher dargestellt werden, sie werden
in die weitere Ausarbeitung einfließen.
Zusammenfassung: Stark vereinfacht liegt der Schwerpunkt des mehrdimensiona le n
Hilfekonzepts auf der Anpassung der Betreuungsstrukturen auf den individuellen Bedarf und
einer engen Kooperation mit den Bezugssystemen. Die multimodale Betreuung betont
insbesondere die Beziehungsarbeit,
die Konstanz und Eignung der Fachkräfte. Die
systemischen Arbeitsweisen legen Wert auf den sozialen Kontext (innerhalb und außerhalb
der Einrichtung) und auf die Wechselwirkung von Interaktionen.
37
3.2 Der aktuelle Forschungsstand
Bisher existieren keine Studien, die sich mit der BPS in der Jugendhilfe auseinandersetze n.
Eine Annäherung an relevante Forschungsbefunden für die weitere Ausarbeitung erfolgt
deshalb über Wirksamkeitsstudien der Jugendhilfe und über Schutzfaktoren im Jugendalte r.
3.2.1 Wirksamkeitsstudien in der Jugendhilfe
In der Jugendhilfe bestehen eine Reihe von Einzelfallstudien, die nach Wirkfaktoren für den
Erfolg oder Misserfolg einer Jugendhilfemaßnahme fragen. Dabei ist es nicht möglich, eine
genaue Korrelation zwischen einer bestimmten Maßnahme und einem bestimmten Effekt
herzustellen, dennoch können Fallstudien Zusammenhänge aufzeigen und begründen (vgl.
Wolf 2007 S. 5). Wolf betrachtet 12 Einzelfallstudien und stellt übereinkomme nde
Ergebnisse dar. Als wichtige Indikatoren für eine „erwünschte … Wirkung“ einer
Jugendhilfemaßnahme können folgende angesehen werden (ebd., S.39):
-
die Passung/Geeignetheit
der Struktur
der Jugendhilfemaßnahme
für
den
Jugendlichen
-
die Partizipation der jungen Menschen und ihrer Sorgeberechtigten
-
die Qualität der pädagogischen Beziehung
-
eindeutige Strukturen, die eine Orientierung ermöglichen
-
Verständnis und Respekt gegenüber den individuellen Erfahrungen und darin
ausgebildeten Deutungs- und Handlungsmustern
-
Unterstützung in der Veränderung der Beziehungsqualität zwischen dem
Jugendlichen und seinen Eltern (auch im Sinne einer Ablösung)
Von nur zwei Studien übereinstimmende entwicklungsfördernde Faktoren sind:
-
Das Setzen von Erziehungszielen, die realistisch sind
-
Die Netzwerkarbeit
-
Die „Lebensqualität in der Einrichtung“ (Wolf 2007 S.39)
3.2.2 Schutzfaktoren im Jugendalter
Konzepte von Risiko- und Schutzfaktoren formulieren (Wahrscheinlichkeits-) Vorhersagen
darüber, wie Einschränkungen und psychische Störungen entstehen, verlaufen und welche
38
Interventionen
daran ansetzen können (vgl. Bengel u.a. 2009, S.25). Der Begriff
Schutzfaktoren umfasst Faktoren, die die Entwicklung von Störungen vermindern, den
Aufbau von Ressourcen erleichtern und sich allgemein positiv auf die Entwicklung
auswirken. Sie können in personale, familiäre und soziale Schutzfaktoren kategorisier t
werden (ebd., S. 23f.). Ihre Wirkung ist abhängig vom Kontext, dem Alter des Kindes oder
Jugendlichen
und den vorliegenden
Risikofaktoren
(ebd.; S.48). Die Bielefelde r
Invulnerabilitätsstudie benennt Schutzfaktoren in der Jugendhilfe. Untersucht wurden 146
Jugendliche in der stationären Erziehungshilfe, ihre Zuordnung erfolgte in zwei Gruppen:
der „resilienten Gruppe“ und der „hochauffälligen Risikogruppe“ (Bender/Lösel 1997,
Lösel/Bender 1994, 1999 in Begel u.a. S.38). Beide Gruppen zeigten einen hohen
„objektiven Risikoindex“, welcher die lebenszeitlichen Belastungen erfasst (Trennung der
Eltern, Vernachlässigung, Schulschwierigkeiten…). Der „subjektive Risikoindex“, welcher
die subjektiv erfahrene Belastung der Jugendlichen beschreibt, zeigte einen deutlic he n
Unterschied zwischen den beiden Gruppen. Über diesen Vergleich arbeiteten Bender und
Lösel Schutzfaktoren für Jugendliche aus belasteten Verhältnissen heraus (ebd., S.39).
Als personale Ressourcen beschrieben sie: flexible Temperamentsmerkmale, Intellige nz,
ein positives Selbstbild, seltener erlebte Hilflosigkeit, leistungsbezogene Motivation und ein
Selbstwirksamkeitserleben, gute schulische Leistungen, aktive Bewältigungsstrategie n,
psychische Akzeptanz der Heimbetreuung, ein realistisches Zukunftsbild.
Soziale Ressourcen: die Existenz einer außerfamiliären festen Bezugsperson, sowie eines
sozialen
Netzwerkes,
Zufriedenheit
mit
der erlebten
Unterstützung,
Erleben
des
„Erziehungsklimas […] als sozial-emotional“ günstig (Lösel/Bender 1994 in Bengel u.a.
2009, S.39).
Die Ergebnisse dieser Studie weisen sehr ähnliche Befunde zu anderen Untersuchungen über
Risiko- und Schutzfaktoren, z.B. der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey, auf (vgl. Bengel
u.a.
2009,
S.46)
und
können
deshalb
trotz
des
zeitlich
zurückliegenden
Untersuchungszeitraums als relevant betrachtet werden. Zudem ist sie die einzige Studie zu
Schutzfaktoren im Heimkontext.
39
3.2.3 Wirksamkeit der Jugendhilfe bei „stark belasteten“ Jugendlichen
Die Jugendhilfe-Effekt-Studie untersuchte die Wirksamkeit 5 von Jugendhilfemaßnahme n
und bezog sich dabei sowohl auf Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität. Damit wurde
erstmals
auch der Einfluss
von Strukturmerkmalen
der Einrichtungen
und deren
Auswirkungen erfasst (vgl. Macsenaere 2002, S.100, 118f.), auf welche folgend Bezug
genommen wird.
Autoren fassen die Ergebnisse der Jugendhilfe-Effekt-Studie folgendermaßen zusamme n:
Die Jugendhilfe-Effektstudie
befand für „stark belastete“ Jugendliche
bei solchen
Einrichtungen einen positiven Effekt, die neben der sozialpädagogischen Ausrichtung auch
klinisch orientiert
waren. Zudem sind insbesondere solche Jugendhilfe-Maßnahme n
besonders erfolgreich, in denen ein großes Leistungsangebot vorliegt, interdisziplinä re
Mitarbeiter zusammenarbeiten und eine Ausrichtung sowohl an der Symptomreduktion, als
auch der Förderung von Ressourcen vorliegt. Weiterhin spielten eine lange Zeitdauer, sowie
die Kooperation mit den Eltern und gute Schulleistungen eine wichtige Rolle (vgl.
Breithaupt-Peters/Dufner 2012, S.373). Der Fachlichkeit und Qualität der Arbeit kommt im
gesamten Hilfeverlauf eine hohe Bedeutung zu, ebenso spielt die Kooperation mit dem
Jugendlichen, sowie die mit seinen Eltern eine wichtige Rolle (vgl. Schmidt 2002a, S.33,44).
Diese Ergebnisse werden von der Jugendhilfe-Effekt-Studie auch benannt (ebd., S.33,44).
Zu beachten gilt dabei jedoch der vergleichende Aufbau, zwischen unterschiedlichen
Jugendhilfe-Betreuungsformen
(Tagesgruppe,
Heimerziehung,
Erziehungsbeistandschaften…), der in diese Ergebnisse mit einfließt (vgl. Macsenaere 2002,
S.70).
3.3 Ansätze für die sozialpädagogische Praxis
In diesem Kapitel erfolgt die Formulierung „entwicklungsfördernder Lebensbedingunge n“
für Jugendliche mit einer BPS in der stationären Jugendhilfe. Dabei wird Bezug genomme n
auf das Kapitel 2.4 (Entwicklung im Jugendalter), auf die Inhalte der dargestellten Modelle,
ergänzender Literatur und die vorgestellten Studien. Zu den „entwicklungsfördernde n
Lebensbedingungen“ zähle ich demnach sowohl institutionelle Rahmenbedingunge n,
Die Wirksamkeit bezieht sich auf Veränderungen in der „Gesamtauffälligkeit des Kindes“, der
„psychosozialen Belastung im Umfeld des Kindes“ und des „psychosozialen Funktionsniveau“ des Kindes (
Holm 2002, S.157f.). Insofern beschreibt der Erfolg eine Jugendhilfe in erheblichem Maße die
Persönlichkeitsentwicklung des Jugendlichen, weshalb Wirkfaktoren der Jugendhilfe zugleich
Einflussfaktoren auf die Entwicklung darstellen.
5
40
Handlungsweisen und Haltungen der Fachkräfte, als auch konkrete Unterstützungs- und
Förderleistungen.
3.3.1 Die Ausarbeitung „entwicklungsfördernder Lebensbedingungen“
Die vorausgegangenen Kapitel konnten aufzeigen, dass die Symptomatik der BPS häufig mit
der Beschreibung der Instabilitäten im emotionalen und interaktionellen Bereich, sowie
bezogen auf die Identität zusammengefasst wird. Diese Instabilitäten beeinflussen die
Entwicklung und unterschiedliche
Lebensbereiche.
Sie wirken insbesondere in der
Jugendphase in der Verbindung mit den zu bewältigenden Entwicklungsaufgaben, der
intensiven Phase der Sozialisation und der Bindungsentwicklung einschränkend. Daraus
ergeben sich für diese Jugendlichen spezifische Bedarfslagen. Es ist erforderlich, dass die
Jugendhilfe an diesen spezifischen Bedarfen ansetzt, um die Persönlichkeitsentwicklung zu
fördern und die Teilhabe am Gesellschaftsleben zu bewahren oder zu ermöglichen.
Unter der Bezeichnung „entwicklungsfördernde Lebensbedingungen“ für Jugendliche mit
einer BPS innerhalb der stationären Jugendhilfe können fünf Ziele oder auch übergeordnete
Aufgaben zusammengefasst werden.
•
Die Stabilisierung
•
Die Beziehungsgestaltung
•
Die Alltagsstrukturierung
•
Der Kompetenzerwerb
•
Die Teilhabe
Ihnen zugrunde gelegt sind die abschließend formulierten personellen und institutione lle n
Rahmenbedingungen.
Die Grundprinzipien der sozialpädagogischen Arbeit in der Jugendhilfe gelten auch für die
Betreuung von psychisch erkrankten Jugendlichen. Auch die Soziale Arbeit mit Kindern und
Jugendlichen mit einer psychischen Störung wird von den Fachkräften als eine „reflektie rte
Beziehungsarbeit“ beschrieben, die darauf ausgerichtet ist, eine dem Entwicklungssta nd
entsprechende Teilhabe in der Gesellschaft zu ermöglichen. Als Kernkompetenzen sind eine
an der Lebenswelt orientiere Fallarbeit, sowie das Fallverstehen benannt. Die Arbeitsweise
ist an Ressourcen und Problemlösungen orientiert, „Interventionsstrategien umfasse n
Beraten, Begleiten, Unterstützen, Informieren und Kompensieren“ (Denner 2008, S.291),
41
dabei wird die Partizipation und entwicklungsentsprechende eigene Verantwortung der
Jugendlichen gewahrt (ebd.).
Stabilisierung
Wie bereits geschildert sind Symptomatiken der BPS Stimmungsschwankungen und die
Impulsivität. Bereits kleinste Auslöser oder minimale Anforderungen können zu einem
Umschwung oder emotionalen Ausbruch führen (vgl. Fischer/Kaess 2016, S.47). Zur
Regulation von negativen Emotionen oder bei Anspannungszuständen wenden Jugendlic he
mit BPS auch selbstverletzendes Verhalten an (ebd. S.46). Die Lebensphase des Jugendalter s
stellt zahlreiche Anforderungen und birgt eine Reihe von Veränderungen: es bedarf der
Bewältigung unterschiedlicher Entwicklungsaufgaben, der Herstellung eines gelingende n
Verhältnisses zwischen Persönlichkeitsausbildung und Integration in die Gesellschaft, sowie
einer veränderten Beziehungsgestaltung (siehe Kapitel 2.4). Diese Anforderungen können je
nach Ausprägung der Störung, personellen und sozialen Ressourcen, Krisen auslösen,
weshalb zunächst eine Stabilisierung stattfinden muss.
Die Reduzierung
der Symptome ist außerdem die Voraussetzung dafür, dass die
Jugendlichen ihre Kompetenzen erweitern können (vgl. Schmidt 2002b, S.519).
Maßnahmen zur Stabilisierung beziehen sich sowohl auf das Individuum, als auch auf das
Umfeld. Sie schaffen einen Schonraum, der dennoch zu bewältigende Anforderungen stellt
und dadurch eine Weiterentwicklung ermöglicht. Mögliche Beispiele hierfür sind eine
vorübergehende Reduzierung des Unterrichtsumfangs, sowie eine Elternarbeit, die familiä re
Verstrickungen verstehbar macht. Vorbesprechungen mit der Familie zu Wochenenden und
Heimfahrten, sowie einer Tagesstrukturierung können helfen, Konflikten und Eskalatio ne n
innerhalb der Familie vorzubeugen. Eine Erfassung jener Faktoren, die vom Jugendlic he n
als Stressor empfundenen werden, ist dazu hilfreich – Adam und Peters beschreiben hierfür
ein „differentialdiagnostische[s], neuropsychologische[s] Verfahren“ (Adam/Peters 2003, S.
140). Eine Diagnostik
bzw. ein Austausch mit psychiatrischen Fachkräften bietet
Sozialpädagogen auch die Möglichkeit, bestimmte Verhaltensweisen aus einer anderen
Perspektive zu deuten und zu hohe Erwartungen zu vermeiden. Unerlässlich ist die
zusätzliche sozialpädagogische Diagnose, die neben den wichtigsten Daten und der
Biografie auch interaktionelle Zusammenhänge erfasst (vgl. Natho 2002, S.224f.). Zur
Stabilisierung verhelfen auch sogenannte „sichere Orte“, sie stellen Orte oder Bedingunge n
dar, die einem Jugendlichen Sicherheit bieten und die er bei starker emotionaler Belastung
42
aufsuchen kann (vgl. Streeck-Fischer 2014, S.274). Eine enge Kooperation mit einer
Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) ist auch im Rahmen der Krisenintervention, bei
Suizidäußerungen, einer Therapieanbindung oder einer medikamentösen Behandlung
gefordert. Der Ortswechsel durch eine kurzfristige Aufnahme in die KJP (bei akuter
Suizidgefahr) kann den erlebten Stress des Jugendlichen verringern. Allerdings muss die
Heimkehr
in das Jugendhilfesetting
gesichert
sein und kann dadurch auch eine
bindungsfördernde Wirkung haben. In Fällen der übermäßigen, andauernden Eskalatione n,
tatsächlicher Suizidgefahr und gehäuften emotionalen Ausbrüchen kann es sinnvoll sein,
medikamentös zu begleiten (vgl. Breithaupt-Peters/Dufner 2012, S.374f.). Im Alltag können
Anzeichen für einen Krisenverlauf sichtbar werden. Fachkräften kommt hier die Rolle zu,
Krisen auslösende Situationen zu meiden und Anspannungen abzubauen. Ein Druckaufba u
oder die Begrenzung sozialer Nähe sind meist nicht zielführend, Grenzen müssen deshalb
maßvoll gesetzt werden (vgl. Natho 2002, S.227). Zudem ist eine Stabilität im Kontext
(Betreuungsstrukturen, Fachkräfte, Absprachen) wesentlich, um eine innere Stabilisier ung
des Jugendlichen zu erreichen (vgl. Hofmann 2002, S.226f.).
Neben den aufgezählten
Methoden und Strukturen,
vermitteln auch viele weitere
Bedingungen den Jugendlichen Sicherheit und Stabilität. In diesem Rahmen können
lediglich Ansätze dargestellt werden.
Beziehungsgestaltung
Die Beziehungsgestaltung stellt für Jugendlichen mit einer BPS häufig eine Herausforderung
dar: ein zu viel an Nähe scheint genauso schwer aushaltbar, wie zu viel Distanz. Störungen
in der Emotionsregulation führen zu einer Aktivierung von Prozessen der Spaltung,
Idealisierung,
Identifizierung
und Abwertung
gegenüber
den Bezugspersonen
(vgl.
Hofmann 2002, S.229; vgl. Armbrust/Link 2015, S.47). Zudem wird ein Zusammenha ng
zwischen internalen Arbeitsmodellen und der BPS, sowie deren Veränderbarkeit im
Jugendalter
vermutet.
Durch die Wiederholung
der erlernten
Beziehungsgestaltung
gegenüber den Fachkräften besteht somit die Chance auf korrigierende
Bindungserfahrungen. Die Qualität der internalen Arbeitsmodelle beeinflussen wesentliche
Aspekte
der
Entwicklung
(z.B.
soziales
und
emotionales
Erleben,
Kommunikationsverhalten) (siehe Kapitel 2.4.6). Den Fachkräften kommt in dieser
Beziehungsgestaltung eine hohe Bedeutung zu. Zudem stellt die Qualität der pädagogische n
43
Beziehung ein wichtiger Indikator für die positive Entwicklung des Jugendlichen dar (vgl.
Wolf 2007 S.39).
Als personelle Voraussetzung zur Beziehungsgestaltung mit Jugendlichen mit BPS
beschreibt Hofmann eine Haltung der bedingungslosen Akzeptanz, sowie Fähigkeiten zur
Selbstreflexivität, zur Nähe-Distanz-Regulierung, zur emotionalen Zuwendung und die
Kompetenz, die Bedürfnisse der Jugendlichen erfassen zu können (vgl. Hofmann 2002,
S.229-231). Fachkräfte benötigen aber auch Geduld, ein professionelles und stabiles
Selbstbewusstsein und Konfliktbereitschaft. Denn einige Jugendliche brauchen viel Zeit, um
sich auf ein Beziehungsangebot einlassen zu können, das auch konflikthafte und belastete
Situationen übersteht (vgl. Natho 2002, S.228; vgl. Adam/Peters 2003, S.143). Die
Beziehung zu den Betreuern wird dann zur „sicheren Basis“, die eine Korrektur internaler
Arbeitsmodelle und darüber eine Ressourcen- und Identitätsentwicklung ermöglicht (vgl.
Hofmann
202, S.229). Zur Beziehungsausbildung
benötigt
es eine Konstanz zu
Bezugspersonen (vgl. Natho 2002, S.227; Hofmann 2002, S.227). Eine durch feste
Bezugspersonen vermittelte Sicherheit im Beziehungsfeld ermöglicht dem Jugendlic he n
auch, Gefühle zu zeigen und die eigenen Anteile an der Beziehungsgestaltung zu erkennen
(vgl. Natho 2002, S.227). Dies kann im stationären Jugendhilfesetting beispielsweise über
ein Bezugsbetreuersystem angestrebt werden: Jugendliche haben dann eine Bezugsperso n,
an die sie sich mit ihren Anliegen wenden können und die den Kontakt zu Familie und Schule
hält (vgl. Adam/Peters 2003, S.142). Die Beziehungsgestaltung sollte sich am Bedarf des
Jugendlichen orientieren, von der Fachkraft sollten aber klare Grenzen gezogen werden (vgl.
Natho 2002, S.228). Der „handelnde Umgang“ ist ein wesentlicher Bestandteil, über den
eine Beziehung
zum Jugendlichen aufgebaut werden kann:
In der gemeinsa me n
Bewältigung von alltäglichen Anforderungen ist es dem Jugendlichen möglich, neue
Erfahrungen und Kompetenzen zu sammeln, gleichzeitig entsteht durch die geteilte
Erfahrung ein Bezug zueinander (vgl. Adam/Peters 2003, S. S.143). Für einen bewussten
und unbelasteten Umgang mit psychisch kranken Jugendlichen bedarf es auch der reflexive n
Auseinandersetzung mit den eigenen Vorstellungen zu Gesundheit, Krankheit, psychisc he n
Störungen und Erfahrungen, sowie darauf bezogene Ängste (vgl. Denner 2008, S.295). Dies
spricht auch für die Entwicklung einer Grundhaltung gegenüber den Jugendlichen. Diese ist
in einigen Einrichtungen an jenen der dialektisch behavioralen Therapie für Jugendlic he
(DBT-A) orientiert (vgl. Schmid 2008, S.197), welche der DBT nach Linehan entspricht und
auf alle Beteiligten bezogen wird (vgl. Miller in Kristin von Auer 2016, S.80). Die DBT
44
nach Linehan ist gekennzeichnet durch eine dialektische Grundhaltung, welche um ein
ausgeglichenes Verhältnis von Akzeptanz und Veränderung bemüht ist und Fähigkeiten, als
auch Defizite der Patienten berücksichtigt. Die akzeptierende, nicht-wertende Grundhaltung
nimmt die Person so an wie sie ist und fokussiert die positiven Aspekte. Veränderunge n
werden dann angestrebt, wenn sie einen Vorteil für den Patienten bedeuten und
unerwünschte Verhaltensweisen verbessert werden können (vgl. Linehan 1996, S.81).
Nicht nur die Beziehungsgestaltung zu den Mitarbeitern in der Jugendhilfe eröffnet Chancen
auf positive Bindungserfahrungen. Diese können auch in dem Umgang mit Jugendlichen aus
der Wohngruppe, Freunden, der Schule, einem Therapeuten und auch der Familie gemacht
werden. Die besondere Chance aus der Beziehungsgestaltung zu Sozialarbeitern ergibt sich
dadurch, dass diese über ein bindungstheoretisches Wissen und eine diesbezüglic he
Sensibilität verfügen. Auffälliges oder unangebrachtes Verhalten wird dadurch besser
verstehbar und kann mit früheren Erfahrungen, einer verzerrten Wahrnehmung oder nicht
kommunizierten Wünschen zusammenhängen – die entsprechende Reaktion der Fachkraft
darauf ist überdacht und nicht von Emotionen geleitet (vgl. Schleiffer 2009, S.252-254).
Alltagsstrukturierung
Stimmungsschwankungen und Impulsivität, die Fokussierung auf Misserfolge und starre
Verhaltensmuster können die tägliche Lebensgestaltung erschweren und bereits geringe
Anforderungen in einen Konflikt münden lassen (vgl. Adam/Breithaupt-Peters 2010, S.145).
Eine Alltagsstrukturierung schafft Orientierung, zeigt klar die Freiheiten und Grenzen auf
und macht es den Jugendlichen möglich, den Alltag als vorhersehbar und verlässlich zu
empfinden, sich an ihm zu orientieren (vgl. Adam/Peters 2003, S.144). Strukturierung des
Alltages ermöglicht es den Jugendlichen stabile, wiederkehrende Erfahrungen zu machen,
sich als selbstwirksam zu erleben und dies in ihr Selbstbild zu integrieren (vgl. Egel/Strutzke
2008, S.96). Strukturen können sich dabei auf den Tages- und Wochenablauf (Schulbeginn,
feste Mahlzeiten, Bettgezeiten, Gruppenabend), auf Gruppenregeln (Putzdienste, keine
Gewalt, Medien-Zeiten) oder aber auch in einem weiteren Sinne die Kooperation mit den
Eltern oder das Team betreffen (ebd. S.89-95). Die Tagesstrukturierung muss das richtige
Maß enthalten, sie sollte nicht überfordern, aber auch nicht zu viel Leerlauf bieten. Auch
Wochenenden und Urlaubszeiten sollten strukturierende Elemente enthalten. Die
Entwicklung einer Normalität, im Sinne des sich Orientierens an Werten und Zielen,
45
erleichtert die Bewältigung von alltäglichen Anforderungen und ermöglicht eine
Kompetenzerfahrung (vgl. Armbrust/Link 2015, S.74).
Jugendliche mit BPS gelingt nicht immer eine „normale“ Realitätsverarbeitung: Störungen
können zeitweilig vorliegen und sich auf das Selbstbild, das Umfeld und die eigenen
Handlungsmöglichkeiten
beziehen
(siehe Kapitel 2.4.3). Insbesondere dann, wenn
Anforderungen nicht bewältigt werden können und ein Erfolgserlebnis ausbleibt, greifen sie
auf „Abwehrmechanismen“ oder auf unrealistische Bilder zurück. Es ist die Aufgabe der
Fachkräfte einen „Realitätsbezug im Hier und Jetzt“ (Adam/Breithaupt-Peters 2010, S.145)
herzustellen.
Das bedeutet eine angemessene Situation zu finden, um realitätsfe r ne
Wünsche, Fantasien (sowohl negative, als auch positive) zu relativieren und ihnen die
vorliegenden und faktischen Gegebenheiten und Anforderungen entgegenzusetzen (ebd.,
S.145f.).
Kompetenzerwerb
In diesem breit gedachten Ziel wird die Weiterentwicklung des Jugendlichen durch den
Erwerb und den Ausbau von Fähigkeiten, als auch durch die Ausbildung eines Selbstbilde s
zusammengefasst.
Die Symptome einer BPS sind vielfältig, weshalb Jugendliche neben alterstypisc he n
Kompetenzen (beispielsweise soziale Fähigkeiten) auch störungsspezifische Kompetenzen
(etwa Strategien
zur Vorbeugung selbstverletzenden Verhaltens)
erwerben müssen.
Jugendliche formen ihre Persönlichkeit selbst im Sozialisationsprozess und sind dabei auf
die Bewältigung der Entwicklungsaufgaben, sowie personale und soziale Ressource n
angewiesen. Problematisch ist eine anhaltende Verunsicherung der eigenen Identität, die den
Sozialisationsprozess mit beeinflusst und sich in Unsicherheiten bezogen auf die eigenen
Fähigkeiten, Interessen, Werte und Ideale äußert. Von diesen Unsicherheiten tangiert ist
auch die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben, insbesondere jene zur Entwicklung einer
Zukunftsperspektive (Beruf, Familie), zur Ausbildung intellektueller, sozialer Fähigkeite n
und eines Wertesystems, sowie die Erlangung der emotionalen Unabhängigkeit (siehe
Kapitel 2.4). Jugendliche mit einer BPS haben hier also spezifische Bedarfe: sie benötigen
Unterstützung in der Weiterentwicklung eines Selbstbildes, von Fähigkeiten und unter
Umständen Hilfe bei der Bewältigung alterstypischer Anforderungen (beispielswe ise
schulischer Anforderungen). Die Ermöglichung von Erfolgserlebnissen, die Förderung von
Interessen
und
Ressourcen,
sowie
das
Erlernen
von
alternativen
Denk-
und
46
Handlungsweisen, sowie Wertvorstellungen können pädagogische Angebote darstellen, die
diesen spezifischen Bedarfen der Jugendlichen gerecht werden.
Die Ermöglichung von positiven (neuen) Erfahrungen in Situationen oder mit Mitmensc he n
und deren Verinnerlichung
können zu mehr Selbstvertrauen
und einem besseren
Lebensgefühl führen. Dies kann beispielsweise über eine neue Aktivität oder einen
erlebnispädagogischen Tag gelingen. Dabei spielt auch die indirekte Verinnerlichung
positiver Bilder, über das Verhalten Jugendlicher oder Erwachsener unter- oder zueinande r
eine Rolle, da diese für den Jugendlichen als Vorbild für das eigene Verhalten dienen
können. Neben der Erschließung neuer Bereiche, um solche Erfahrungen zu machen, gilt es
auch die Beziehung zu bisherigen Bezugspersonen oder bisherige Bezugssysteme (wie
beispielsweise der Schule) umzugestalten, um auch in diesem Setting neue, positive
Erfahrungen
zu
ermöglichen
(vgl.
Adam/Peters
2003,
S.145f.).
Auch
eine
Interessensförderung ist wesentlich: darüber können die Jugendlichen aktiviert werden und
Erfolgserlebnisse,
Anerkennung
und Akzeptanz durch Mitmenschen
erfahren (ebd.,
S.152f.). Die Ressourcenorientierung ist ein wesentliches Merkmal in der Sozialen Arbeit
mit psychisch erkrankten Menschen (vgl. Denner 2008, S.291). Fachkräfte können dabei
insbesondere personale und soziale Ressourcen fördern (vgl. Natho 2015, S.288), welche
vielfältig vorliegen und als Schutzfaktoren wirksam werden können. Ihnen kommt damit ein
bedeutender Einfluss auf eine gelingende Persönlichkeitsentwicklung zu. Unter Rückbezug
auf
die
Studie
von
Selbstwirksamkeitserleben,
Bender
und
Lösel
stellen
aktive Bewältigungsstrategien
ein
positives
und Motivation
Selbstbild,
personale
Ressourcen im Erziehungshilfekontext dar.
Jugendliche mit einer BPS haben individuelle Verhaltensweisen entwickelt, die für sie einen
Zweck erfüllen, in anderen Kontexten nicht zielführend sind und als „unangemess e n“
bewertet werden (siehe Kapitel 2.2.2). Aufgabe der Begleitung der Jugendlichen ist es, ihnen
zu mehr Spielraum im Handeln, Denken und Wahrnehmen zu verhelfen. Unangemess e ne
Verhaltens- und Denkschemata müssen dazu im Alltagsbezug und an konkreten Situatio ne n
hinterfragt und relativiert werden. Diese Prüfung sollte in einer gemeinsamen Reflexion mit
dem Jugendlichen erfolgen und eine gemeinsame Suche nach Alternativen sollte daran
anschließen. Dabei gilt zu beachten, dass diese Verhaltensweisen einen Sinn erfüllen und
dadurch auch für Sicherheit/ Entlastung sorgen und nicht immer direkt ersetzt werden
können (vgl. Adam/Peters 2003, S.162). Gleichzeitig gilt es persönliche Verhaltens- und
Denkweisen und damit verbundene Erfahrungen zu respektieren und nachzuvollziehe n.
47
Dieser Aspekt wurde (oben beschrieben) als wichtiger Indikator in Wirksamkeitsstudien zur
Jugendhilfe identifiziert (vgl. Wolf 2007 S.39).
Auch die Werte, Vorstellungen und Gewohnheiten von Jugendlichen können sehr
unterschiedlich zu jenen in gesellschaftlichen Bezugssystemen sein und dadurch die
Weiterentwicklung (beispielsweise im schulischen oder beruflichen Bereich) erschweren.
Ein pädagogischer Anspruch sollte darauf zielen, dem Jugendlichen nachvollziehbar zu
vermitteln,
welche Werte und Vorstellungen im Allgemeinen bestehen. Dies kann
beispielsweise über die Vorbildfunktion geschehen oder auch über bewusst inszenier te
Aktivitäten, wie Gruppengespräche oder Filme, Bücher, die das Mitgefühl, Verantwortung
oder eine Auseinandersetzung damit anregen (vgl. Adam/Peters 2003, S.155). Um die
sozialen Kompetenzen und Wahrnehmung explizit zu schulen, gibt es unterschiedlic he
Angebote, therapeutischer oder schulischer Art (ebd.).
Durch die bei BPS vorliegende emotionale Instabilität können sowohl Sozialisatio n,
Bindungsentwicklung, als auch die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben erschwert sein
– ebenso kann dies Einschränkungen in Bezugssystemen nach sich ziehen. Zur Beendigung
von Zuständen der negativen Emotionen oder starker Anspannung fügen Jugendliche sich
Selbstverletzungen zu (siehe Kapitel 2.4). Ein gelingender Umgang mit Emotionen sollte
erlernt werden. Die pädagogische
und therapeutische
Arbeit kann hierbei in der
Verbesserung kommunikativer und sozialer Kompetenzen, in dem Umgang mit emotiona le r
Anspannung und durch Therapie, sowie Psychoedukation unterstützen.
Die Verbesserung der kommunikativen und sozialen Kompetenz können im Gruppenallta g
angestrebt werden: Soziale Situationen stellen Lernfelder dar. Beispielsweise können
Konflikte mit Mitbewohnern oder Betreuern gemeinsam reflektiert und dadurch soziale
Kompetenzen
erweitert
werden (vgl.
Adam/Breithaupt-Peters
2010, S.155). Auch
Verhaltensweisen zur Problemlösung, sowie Bewältigungsmuster sollten bewusst gefördert
werden, damit alltägliche Anforderungen und die Erfüllung der Entwicklungsaufgaben für
die Jugendlichen möglich sind. Misserfolgen,
Zurückweisungen oder realitätsfer ne n
Illusionen wird dadurch vorgebeugt. Insbesondere im pädagogischen Alltag und im
Gruppengeschehen können neue Situation ausprobiert und Fähigkeiten erweitert werden,
beispielsweise in der gemeinsamen Auswahl einer Wochenendaktivität. Möglich sind auch
auf das Individuum abgestimmte Fördermaßnahmen, zum Abbau von Defiziten oder der
Stärkung von Ressourcen. Daneben besteht die Chance, Strategien zur Problemlösung und
Bewältigung in einer Therapie zu erlernen (vgl. Adam/Peters 2003, S.154).
48
Eine Therapie/ psychotherapeutische Behandlung bietet einen geschützten Rahmen, in
welchem Jugendliche Fertigkeiten erlernen (hier als Beispiel die DBT-A): Hierbei geht es
um den Kompetenzerwerb zur Regulation von Emotionen, zur Gestaltung der Interaktione n,
zur „Selbstwertregulation“ und das Erlernen von Achtsamkeit. Ein wesentlicher Bestandteil
zu Beginn einer Therapie besteht darin Skills (Kompetenzen zum Umgang mit Stress) zu
erlernen (vgl. Armbrust/Link 2015, S.152f.). Die Psychoedukation ist ein weiterer wichtige r
Aspekt
einer
therapeutischen
Begleitung:
Psychoedukation
beschreibt
eine
Wissensvermittlung bezogen auf die psychologischen Zusammenhänge der Störung.
Armbrust und Link betonen hierbei, dass es nicht um das reine Vermitteln von Wissen geht,
sondern darum, ein grundlegendes, auch individuelles, Krankheitsverständnis und eine
Achtsamkeit hierfür zu entwickeln (ebd. S.138f.).
Die Entwicklung von Handlungsstrategien zum Umgang mit selbstverletzendem Verhalten
und suizidalen Äußerungen können den Fachkräften in der Jugendhilfe Sicherheit vermitte ln
(vgl. Natho 2002, S.225f.). Die Betreuer müssen bei Selbstverletzungen einen guten
Mittelweg finden zwischen angemessener emotionaler Zuwendung und Versorgung
(Möglichkeit der Wiederholung bei zu geringer Zuwendung) und zu starker emotiona le r
Zuwendung
(Möglichkeit
der Wiederholung,
da starke
emotionale
Zuwendung/
Aufmerksamkeit, Verstärker-Effekt). Allgemein gesprochen sollte dem Jugendlichen vor
selbstverletzendem Verhalten und zur Vermeidung dessen viel Aufmerksamkeit geschenkt
werden, auch bei einem inadäquaten Ausdruck dessen. Und im Anschluss an ein
selbstverletzendes Verhalten sollte eine sachliche Versorgung, Routine im Vordergrund
stehen (vgl. Schmid 2008, S.205f.). Wie im Kapitel zur Stabilisierung beschrieben bedarf es
in diesen Fällen einer engen Kooperation mit psychiatrischen Fachkräften, möglic he
Krisenauslöser sollen frühzeitig erfasst und mögliche Interventionsstrategien vorab im Team
ausgearbeitet werden. Es kann geschlussfolgert werden, dass Mitarbeiter in diesem Rahmen
ein Störungswissen, eine hohe Fachlichkeit, sowie institutionelle Unterstützung durch
Supervision oder Angebote zur Psychohygiene benötigen.
Teilhabe
Die Teilhabe von Jugendlichen an den unterschiedlichen Lebensbereichen ist ein wichtiger
Aspekt der Persönlichkeitsentwicklung.
In den Sozialisationsinstanzen
Schule und
Ausbildungseinrichtung erfolgt ein Kompetenzerwerb, welcher eine wichtige Grundlage für
das spätere Erwerbsleben bildet. Zudem fallen in diesem Umfeld Entwicklungsaufgaben an:
49
die Vorbereitung auf den Beruf, die Ausbildung von Beziehungen zu Gleichaltrigen und
einer ersten Partnerschaft. Vermutlich werden hier auch Kontakte geknüpft, aus denen sich
Peer-Groups herausbilden
können, welche wiederum wichtige
Funktionen
für die
Entwicklung erfüllen. Insbesondere die Schwierigkeiten in der Beziehungsgestaltung, aber
auch die Instabilität im Bereich der Emotion und Identität führen zu „schlechte re n
Startbedingungen“ der Jugendlichen in den Bezugssystemen (siehe Kapitel 2.4).
Die Jugendhilfe kann einen Teil dieses Förderungsbedarfes sicherlich durch die Förderung
der individuellen Kompetenzen (insbesondere der sozialen und kommunikativen, sowie die
Strategien zur Problemlösung) auffangen. Dennoch bedarf es auch einer Anpassung der
Bezugssysteme oder ihrer Rücksichtnahme auf die spezifischen Bedürfnisse der
Jugendlichen.
Adam und Peters sprechen sich für individualisierte Schulverhältnisse aus (beispielswe ise
eine Schule für Erziehungshilfe), da dadurch die Bedingungen des Lernens abgestimmt
werden können.
Dies betrifft sowohl die Methodengestaltung, als auch die personelle
Ausstattung (kleine Unterrichtsklassen), die Vernetzung und die Möglichkeiten einer
Krisenintervention (vgl. Adam/Peters 2003, S.197). Um dem Integrationsgedanke n der
Jugendhilfe gerecht zu werden sollten zunächst der Erhalt einer Beschulung an einer
Regelschule und eine enge Kooperation angestrebt werden. Grundlage sind regelmäß ige
Gespräche. Die Jugendhilfeeinrichtung stellt hierfür einen festen Ansprechpartner und
informiert die Schule bei Bedarf über wichtige Themen des Jugendlichen. Die Lehrkräfte
wiederum informieren die Betreuer bei Schwierigkeiten in der Schule. Halten diese
Probleme an, sind gemeinsame Lösungswege zu finden (vgl. LVR/LWL 2008, S.19). Nach
§35a Absatz 3 beziehen sich Leistungen der Eingliederungshilfe auch auf Hilfen im
schulischen Bereich und jene der Ausbildung.
6
Die Familie bleibt auch in der Jugendphase eine wichtige Sozialisationsinstanz für
Jugendliche, gleichzeitig findet ein Ablösungsprozess statt (die Bindungsqualität ändert
sich), welcher die Autonomieentwicklung fördert. Die Borderline-typische Instabilität in
zwischenmenschlichen
Beziehungen
wird
auch
im
Familienalltag
deutlich:
die
Beziehungsgestaltung ist vermutlich schwierig, konfliktbesetzt und ambivalent (siehe
Kapitel
2.4.6; 2.4.7).
Vermutet
wird
zudem,
dass zur
Ablösung
„ungünstige
6
Diese Ausführungen sind ebenfalls auf Ausbildungsbetriebe zu beziehen. Wenn folgend von einer
Kooperation mit der Schule gesprochen wird, schließt diese auch Kooperationen mit Ausbildungsstätten mit
ein.
50
Bindungsverhältnisse“ verarbeitet werden müssen (vgl.
Günder 2011, S.240). Die
Fachkräfte der Jugendlichen müssen hier ansetzen und mit den Eltern kooperieren (auch
gefordert nach §27 Abs.1). Die Ausgestaltung der Elternarbeit kann hinsichtlich ihrer
Zielsetzung und Form variieren, ist jedoch im Einzelfall nach der Bedarfslage des
Jugendlichen auszurichten (ebd. S.241). Eine Kooperations- und Vertrauensbasis zwische n
Fachkräften und Eltern vermittelt Jugendlichen zudem das Gefühl, dass die Eltern hinter den
Entscheidungen und der pädagogischen Arbeit der Jugendhilfeeinrichtung stehen. (vgl.
Adam/Peters 2003, S.224). Anliegen einer Elternarbeit könnte zunächst sein, die
Zusammenhänge der familiären Krisen nachvollziehbar zu machen und ein erweitertes
Problemverständnis zu erreichen (vgl. Adam/Peters 2003, S.218).
Der Heimkontext ist (aktuell) für den Jugendlichen das primäre Bezugssystem. Er setzt sich
zusammen aus den Verhaltensweisen der Betreuer, aus der Gruppendynamik und aus den
institutionellen Rahmenbedingungen der Einrichtung (vgl. Natho 2015, S.240). Die Gruppe
stellt dabei einen „Lebens- und Erfahrungsort“ dar, welcher hohe Anforderungen an die
einzelnen Jugendlichen stellt, der aber auch soziales Lernen ermöglicht (vgl. Dimmig/Spä th
1986, S.170). Literarische Erörterungen zu den Auswirkungen der Symptomatik auf die
Gruppendynamik gibt es keine, das Klima der Lebensqualität der Einrichtung wird aber als
Wirkfaktor benannt. Wesentlichen Einfluss auf eine günstige Entwicklung hat auch das
Erziehungsklima und die Qualität der Beziehung zwischen Jugendlichen und Betreuern (vgl.
Wolf 2007 S.39; Lösel/Bender 1994 in Bengel u.a. 2009, S.39).
Die Einbindung der Jugendlichen in Vereine und eine Kooperation ermöglicht Kontakt zu
Gleichaltrigen und Teilhabe. Hierauf kann in dieser Arbeit nicht weiter eingegangen werden.
Personelle Rahmenbedingungen
Aus der spezifischen Symptomlage der Bordeline-Persönlichkeitsstörung ergeben sich
besondere Bedarfslagen der Jugendlichen, welche eine entsprechende Fachlichkeit der
Betreuer voraussetzen. Dies wurde bereits im Zusammenhang mit der Beziehungsgestaltung
erläutert, soll aber aufgrund des bedeutenden Einflusses auf die Persönlichkeitsentwicklung
(Jugendhilfe-Effekt-Studie) genauer erläutert werden (siehe Kapitel 3.2.3).
Denner fasst vier Arten von Kompetenzen zusammen, die Fachkräfte im Umgang mit
psychisch kranken Kindern und Jugendlichen, als notwendig betrachten:
•
„Sachkompetenz …“
51
•
„Methodenkompetenz …“
•
„Teamkompetenz … “
•
„Selbstreflexionskompetenz und Psychohygiene“ (Denner 2008, S.292)
Das Verfügen über Sachkompetenz bedeutet Kenntnisse über die Symptomatik, Ausprägung
und den Verlauf psychischer Störungen zu besitzen und das pädagogische Handeln und die
Beziehungsgestaltung entsprechend auf die Bedarfe des Kindes abstimmen zu können. Dies
beinhaltet
beispielsweise
die Eigenständigkeit,
das Beziehungs-Bedürfnis
und die
Notwendigkeit zusätzlicher Hilfen einschätzen zu können. Dabei orientieren sich die
Betreuer an dem Individuum und greifen in der Beurteilung auf das Wissen eben typischer
Verhaltensweisen, und Beziehungsmuster von psychischen Störungen zurück (vgl. Denner
2008, S.292). Sachkompetenzen verhelfen zu einem Umgang mit Jugendlichen, der sich
durch Reflexivität, adäquates Reagieren und Handlungsfähigkeit auszeichnet.
Mit
Methodenkompetenz
Kompetenzen
beschreibt
durch zusätzliche
Denner
die
Qualifizierung
Ausweitung
und Fortbildung.
der methodisc he n
Hierzu
gibt es
unterschiedliche Angebote, von therapeutischen Strategien (beispielsweise die DBT-A) bis
hin zur kreativen Techniken (Theaterpädagogik), welche die pädagogische Arbeit bereichern
können. Nicht ersetzbar ist das wesentliches Medium der sozialpädagogischen Arbeit: die
„reflektierte Beziehungsgestaltung im Alltag“ (Denner 2008, S.294) – im Sinne eines
Beziehungsangebots, welches die darin erfahrbaren Erlebnisse kommunizierbar macht (ebd.
S.294).
Die Arbeit mit psychisch kranken Kinder und Jugendlichen zeichnet sich durch die
Zusammenarbeit
mit
Fachkräften
anderer Professionen
aus (ebd. S.294). Diese
Zusammenarbeit erfordert Kommunikationskompetenzen, Motivation, Wissen über die
Möglichkeiten
und
Grenzen
des eigenen
Leistungsangebotes,
sowie
jenes
der
Bezugssysteme und eine Selbstreflexivität (vgl. Dulle 2011, S.166). Die Fähigkeit zur
Selbstreflexion ist in der Arbeit mit psychisch kranken Kindern und Jugendlichen wesentlic h
und eine Grundkompetenz in der Jugendhilfe. Auch Professionelle bringen ihre frühere n
Bindungsmuster in die Beziehung zu den Jugendlichen mit ein, dadurch können auch sie zu
interaktionellen Konfliktmustern beitragen. Fachkräfte müssen demnach ein reales Bild von
sich selbst, ihrer eigenen Beziehungsgestaltung haben (vgl. Stemmer-Lück 2004, S.229) und
eigene Anteile an Beziehungskonflikten reflektieren können. Diese beiden Kompetenzen
sind auch vor dem Hintergrund der Spaltungstendenzen („gute“ und „böse“ Betreuer) der
52
Jugendlichen mit einer BPS wesentlich, die eine Aufarbeitung im Team voraussetzt, um eine
tatsächliche Spaltung zu vermeiden (vgl. Girnth 1995, S.162).
Fachkräfte brauchen in der Arbeit mit Jugendlichen mit einer BPS Geduld, Vertrauen in die
eigenen professionellen
Fähigkeiten,
Kraft und Motivation,
welche Erlebnisse des
VerletztWerdens und der Enttäuschung überstehen. Auch eine stabile Persönlichkeit, sowie
die Fähigkeit zur flexiblen Gestaltung von Beziehungen sind gefordert (vgl. Adam/Peters
2010, S.144; Natho 2002, S.228). Adam und Peters berichten, dass insbesondere solche
Bezugspersonen von Ehemaligen positiv in Erinnerung behalten wurden, die sich durch
klares und strukturierendes Handeln, der Ausrichtung an pädagogischen Grundsätzen und
Werten und durch Verstand und Lebensfreude auszeichneten (vgl. Adam/Peters 2003,
S.143f.).
Institutionelle Rahmenbedingungen
Laut der Jugendhilfe- Effekt-Studie spielen strukturelle Rahmenbedingungen der Einrichtung
eine bedeutende Rolle. Als förderlich
bezeichnet wurden insbesondere ein breites
Leistungsspektrum, eine klinische Orientierung (vgl. Schmidt 2002 S.545).
Unter der klinischen Ausrichtung werden psychotherapeutische, heilpädagogische und
diagnostische Maßnahmen beschrieben (vgl. Macsenaere 2002 S.109). Inwieweit diese über
die Einrichtung, im Gruppenalltag oder durch Kooperation ermöglicht werden, wurde nicht
benannt. Eine Kooperation mit der KJP ist in diesem Rahmen denkbar und aus bereits
beschriebenen Gründen erforderlich. Dabei sollten die Art der Zusammenarbeit und
gemeinsame Ziele zu Beginn der Hilfsmaßnahme abgestimmt werden (Schmidt 2012 in
Schmidt 2014 S.30). Ebenso sind die Einstellung und das Vorbereiten auf Krisensituatio ne n
und der Umfang des Einbezugs der KJP in diesem Konzept frühzeitig erforderlich (vgl.
Schmid 2014, S.29f.).
Die Einschätzungen zur Geeignetheit der Betreuungssettings für seelisch behinderte
Jugendliche gehen auseinander. Aus diesem Grund fordern einige für Jugendliche mit einer
seelischen Behinderung kleine, gut strukturierte und mit einem guten Betreuungsschlüsse l
versehene Einrichtungen (vgl. Girnth 1995, S.163). Andere Autoren sehen keinen
Unterschied zwischen der Erziehungs- und Eingliederungshilfe, da in beiden Hilfefor me n
eine Beteiligung, Integration und Orientierung an der individuellen Bedarfslage umgesetzt
werden. Daraus ergeben sich auch keine Besonderheiten für die Betreuung von Jugendlic he n
53
mit einer BPS (vgl. Blumberg/Apitzsch 1995, S.164f.). Wiederum andere Autoren
favorisieren borderline-spezialisierte Betreuungssettings und schreiben ihnen Vorteile zu
(vgl. Schmid 2008, S.202). Adam und Peters plädieren für flexible Betreuungssettings, im
Sinne einer auf den Einzelfall angepassten Betreuungsstruktur, welche es ermögliche n,
Ressourcen des Jugendlichen oder seines Umfeldes besser zu nutzen. (vgl. Adam/Peters
2003, S.21f.). Für Letzteres sprechen die Befunde der Jugendhilfeforschungen, welche ein
großes Leistungsangebot der Einrichtungen, sowie die Passung der Struktur zu den Bedarfen
des Jugendlichen als positiven Wirkungsaspekt begreifen (siehe Kapitel 3.2).
Die Fachkräfte sind in der Jugendhilfe zahlreichen Belastungen ausgesetzt. Dies ergibt sich
beispielsweise aus der gemeinsamen Aufarbeitung von traumatischen Erlebnissen der
Jugendlichen
oder
der
Übertragung
krisenhafter
Beziehungsmuster
auf
die
BetreuerJugendlichen-Beziehung. Die Einrichtung sollte für ihre Mitarbeiter Möglichkeite n
bereithalten, um diese Belastungen zu verarbeiten und zu minimieren. Der Erwerb von
Fachwissen oder die professionelle Anleitung können solche Möglichkeiten darstelle n.
Teambesprechungen dienen der Entlastung, dem Austausch und der gemeinsamen Reflexio n
und wirken sich auf die Zufriedenheit und Handlungsfähigkeit der einzelnen Fachkräfte aus.
Entscheidend ist dabei eine offene Kommunikation, sowie eine akzeptierende Grundhaltung
unter Kollegen (vgl. Denner 2008, S.295f.). In der Supervision sind die Besprechunge n
durch eine professionelle, meist externe Fachkraft angeleitet und können sich auf einen
konkreten Fall oder auf das Team beziehen. Dadurch kann das pädagogische Handeln
distanzierter und ohne einen sofortigen Druck zu Handeln reflektiert werden (ebd. S.297).
Die Hilfeplanung ist ein wichtiger Bestandteil der Jugendhilfe. Im Rahmen dieser gilt es die
psychische
Störung
sozialpädagogischen
auf mehreren
Bedarfslage
Ebenen mitzudenken:
und
bei der Ermittlung
dem Förderungsbedarf
in Schule
der
oder am
Ausbildungsplatz (vgl. Schmid 2014, S.29f.). Eine Kooperation mit allen Beteiligten auf
Augenhöhe trägt zum Gelingen der Hilfemaßnahmen bei. Ein gemeinsam erarbeitetes
Verständnis der psychischen Störung, sowie Arbeitshypothesen sind hierfür erforderlic h
(vgl. Breithaupt-Peters/Dufner 2012, S.375).
3.3.2 Darstellung entwicklungsfördernder Lebensbedingungen
Die Zusammensetzung der entwicklungsfördernden Lebensbedingungen ergibt sich aus der
theoretischen
Auseinandersetzung im vorherigen
Kapitel unter Rückbezug
auf die
dargestellten Studien.
54
In der Betreuung von Jugendlichen mit einer BPS sind stabilisierende Elemente wichtig.
Diese sind abhängig davon, was das Individuum als Stressor empfindet. Voraussetzung ist
also zunächst eine Art Diagnose. Zur Stabilisierung beitragen können beispielsweise die
Reduzierung
des
Unterrichts,
die
Elternarbeit,
die
Alltagsstrukturierung,
eine
Kontextstabilität und „sichere Orte“. Die Kooperation mit der KJP und eine Professionalitä t
der Betreuer dienen der Vorbeugung einer Krise und gleichzeitig einem adäquaten und
schnellen Reagieren im Falle einer Krise.
Die
qualitative
Beziehungsgestaltung
zu
den Fachkräften
stellt
eine
weitere
entwicklungsfördernde Lebensbedingung dar. Für Jugendliche mit einer BPS ergibt sich
darin die Chance auf eine korrigierende Bindungserfahrung.
Die Ausgestaltung der
Beziehung muss sich an den Bedürfnissen des Jugendlichen orientieren. Im handelnden Tun
kann Vertrauen und Beziehung aufgebaut werden, zusätzlich bedarf es einer gewissen
Beziehungskonstanz.
Die Bezugsperson
muss sich
durch eine hohe Fachlichke it
auszeichnen: fachliches Wissen und Handeln ist ebenso bedeutend wie eine positive
Grundhaltung und die persönliche Eignung. Wirksamkeitsforschungen in der Jugendhilfe
haben die Qualität der pädagogischen Beziehung als wesentlichen Faktor für den Verlauf
der Hilfe ausgemacht.
Entwicklungsförderlich wirkt auch eine Alltagsstrukturierung. Eine solche Strukturier ung
kann sich auf den Tags- und Wochenablauf beziehen und auf die Gruppenstruktur allgeme in.
Sie sollte eine Normalität und Orientierung bieten und weder überfordern, noch zu viel
Leerlauf bieten. Klare Strukturen, die zur Orientierung verhelfen sind ein wichtiger Indikator
für eine günstige Entwicklung der Jugendhilfemaßnahme. Zudem sollten Fachkräfte im
pädagogischen Alltag auf mögliche verzerrte Wahrnehmungen und Denkweisen achten und
ihnen in angemessener Art und Weise realistischere Bilder entgegensetzen.
Die Kategorie Kompetenzerwerb
umfasst eine Reihe von entwicklungsförder nde n
Lebensbedingungen. Dazu gehört es, Situationen für Erfolgserlebnisse zu ermögliche n.
Diese können im pädagogischen Alltag, durch Erschließung neuer Interessens- und
Lebensbereiche
(Vereine)
oder durch die Umgestaltung
bisheriger
Bezugssyste me
ermöglicht werden. Wichtig ist es zudem, Interessen und Ressourcen (besonders personale
und soziale) des Jugendlichen freizulegen und zu fördern. Die Entwicklung neuer
angemessener Verhaltensweisen,
sowie Wertvorstellungen können Jugendliche unter
Anleitung im sozialpädagogischen Alltag erreichen: an konkreten Situationen können
unangemessene Verhaltensweisen oder Werte hinterfragt und es kann gemeinsam nach
55
Alternativen gesucht werden. Ebenso ist eine bewusste Inszenierung über Medien und einer
Auseinandersetzung damit möglich. Die Verbesserung der sozialen und emotiona le n
Kompetenzen, ebenso wie der Problem- und Bewältigungsstrategien ist in soziale n
Situationen und Anforderungen des Gruppenalltags in Begleitung der Fachkräfte möglic h
und für die Jugendlichen wichtig. Als weitere entwicklungsfördernde Lebensbedingung
können eine therapeutische Behandlung und damit verbundene Psychoedukation gesehen
werden. Der Umgang mit selbstverletzendem Verhalten sollte ein Mittelmaß zwische n
Zuwendung und Routine darstellen. Hierdurch können eine Reihe der von Bender und Lösel
beschriebenen personalen Ressourcen freigelegt und gefördert werden, welche sich
nachweislich
positiv
auf die Entwicklung
auswirken.
Die Ausrichtung
auf eine
Symptomreduktion und den Aufbau von Ressourcen wird ebenfalls als positiver Wirkfaktor
angesehen.
Weitere entwicklungsfördernde Lebensbedingungen fallen unter die Kategorie Teilhabe.
Eine enge Kooperation mit der Schule, welche bei Bedarf individuelle Lösungswege zur
Beschulung der Jugendlichen anstrebt, ist ideal. Sollte dies nicht möglich sein, können
Alternativen (wie die Schulen für Erziehungshilfe) in Betracht gezogen werden. Eine
Elternarbeit ist wesentlich und auch für den Jugendlichen von großer Bedeutung. Die
inhaltliche und formale Ausgestaltung sollte sich vorranging an dem Bedarf des
Jugendlichen ausrichten. Die Netzwerkarbeit, sowie die Unterstützungsleistungen zur
Beziehungsgestaltung des Jugendlichen mit seinen Eltern gelten als förderliche
Wirkfaktoren. Gute
schulische
Leistungen
stellen Schutzfaktoren
in
der Persönlichkeitsentwicklung dar. Einen Einfluss hat auch der Heimkontext. Ein
förderlich erlebtes Erziehungsklima gilt als Schutzfaktor, die Lebensqualität in der
Einrichtung als Wirkfaktor.
Personelle Rahmenbedingunge n können den Entwicklungsverlauf eines Jugendlic he n
wesentlich beeinflussen. Eine hohe Fachlichkeit ist in der Bedarfsorientierung, der
Beziehungsgestaltung, sowie der Arbeit in interdisziplinären Teams gefragt. Fachkräfte
sollten sich durch Sach-, Methoden-, Team- und Selbstreflexionskompetenz, sowie der
Fähigkeit zur Psychohygiene auszeichnen. Zusätzlich spielen ihre Stabilität, Lebensfreude
und ihre Grundhaltung gegenüber den Jugendlichen eine entscheidende Rolle. Eine hohe
Fachlichkeit
in
pädagogisch-therapeutischen
Interaktionen
stellt
einen
positive n
Einflussfaktor auf die Entwicklung dar.
56
Einen Einfluss auf die Entwicklung der Jugendlichen mit einer BPS haben auch die
strukturellen Rahmenbedingungen. Eine zu sozialpädagogischen Ansätzen ergänzende
klinische Orientierung ist förderlich und in ihrem positiven Einwirken belegt. Die klinis c he
Ausrichtung kann unterschiedlich vorliegen und erfordert eine Kooperation mit der KJP.
Wie die Betreuungssettings bestmöglich gestaltet sind, im Sinne der Gruppengröße, dem
Betreuungsverhältnis und dem Betreuungssetting, wird unterschiedlich beurteilt und kann
daher nur auf Vor- und Nachteile untersucht werden. Flexible Betreuungssettings können als
entwicklungsförderlich
angesehen werden. Dafür spricht auch der Wirkfaktor der
Passung/Geeignetheit der Jugendhilfemaßnahme für den Jugendlichen, sowie des großen
Leistungsspektrums.
Die
Betreuungspersonen
brauchen
Qualifizierungs-
und
Entlastungsangebote: dazu gehören im Minimum Fortbildungen, Teamsitzungen und
Supervision.
3.3.3 Darstellung der Vergleichskriterien
Stabilisierende Elemente sind in der Betreuung von Jugendlichen mit BPS wichtig. Diese
können jedoch sehr vielseitig sein und können nicht aus einer Konzeption herausgele se n
werden, weshalb diese nicht als Prüfkriterien fungieren.
• Fachlichkeit und Grundhaltung der Betreuer
Die Fachlichkeit (Qualifizierung + Eignung) der Betreuungspersonen, sowie ihre Haltung
bezogen auf psychische Störungen und das Menschenbild werden als Kriterium abgefragt.
Eine innere positiv eingestellte Haltung zu einer psychischen Störung beeinflusst den
pädagogischen Umgang und sollte in der Arbeit mit Jugendlichen mit einer BPS vorlie ge n.
Das spezifische Störungsbild der BPS erfordert eine hohe Fachlichkeit, damit pädagogische s
Handeln zielführend ist und wirksam werden kann.
• Beziehungsgestaltung
Dieses Kriterium erfasst das Betreuungsverhältnis in der Jugendhilfeeinrichtung, also wie
viele Jugendliche von einem Betreuer begleitet werden. Daraus kann auch abgelesen werden,
wie die Beziehungskonstanz zu den Jugendlichen gestaltet ist. Weiterhin soll in diesem
Kriterium auch mitgedacht werden, ob Jugendliche in diesem Rahmen korrigiere nde
Bindungserfahrungen erleben können.
Aus der Darstellung der entwicklungsförderlichen Lebensbedingungen wird deutlich, dass
57
Jugendliche mit einer BPS eine gewisse Konstanz zu den Bezugspersonen und die
Betreuungspersonen
eine
hohe
Fachlichkeit
benötigen,
um
korrigiere nde
Bindungserfahrungen zu ermöglichen.
• Alltagsstrukturierung
Dieses Kriterium erfasst die Strukturierung des Alltags und des pädagogischen Handelns.
Eine Strukturierung kann durch fixe Tagespunkte (z.B. gemeinsames Essen), Regeln (z.B.
Bettgehzeiten) und Anforderungen (z.B. Putzdienste) erfolgen.
Für Jugendliche mit einer BPS ist eine solche Strukturierung mit dem Ziel der Ermöglic hung
von Orientierung, Entlastung und Sicherheit wesentlich. Dennoch bedarf die Strukturier ung
auch einen individuellen Spielraum, um Krisen und Eskalationen zu vermeiden.
• Unterstützungsleistungen zum Kompetenzerwerb
Hierunter fallen alle Unterstützungsangebote, die sich direkt auf das Individuum beziehen
und auf seine Weiterentwicklung zielen. Dazu gehören solche zur Symptomreduktion und
zur Ressourcenförderung
Der Bedarf für Jugendliche mit einer BPS ergibt sich hier insbesondere aus dem Einzelfa ll.
Die Jugendhilfeeinrichtung
muss
hierfür
personelle
und
strukturelle
Kapazitäten
bereithalten, welche für Symptomreduktion, Kompetenzerweiterung und eine
Ressourcenorientierung geeignet sind.
• Klinische Orientierung und Kooperation mit der KJP
Dieses Kriterium fragt nach dem Vorliegen und der inhaltlichen Ausgestaltung der
Kooperation zu einer KJP. Eine therapeutische Begleitung der Jugendlichen kann durch
einen externen, einen der Einrichtung angegliedertem Therapeuten erfolgen oder als
Leistungsangebot im Pädagogischen- und Gruppenalltag integriert sein. Ebenso werden in
diesem
Kriterium
Absprachen
zur
Krisenintervention
erfasst,
sowie
die
psychiatrische/psychologische Anleitung des Betreuungspersonals.
Eine klinische Ausrichtung, im Sinne therapeutischer, heilpädagogischer und diagnostisc her
Hilfeleistungen, unterstützt die Entwicklung von Jugendlichen mit BPS positiv. Inwieweit
und zu welchem Zeitpunkt Jugendliche mit einer BPS eine psychiatrische Beratung brauchen
und möchten ist einzelfallabhängig.
Möglichkeiten,
um diese möglichst zeitnah zu
installieren, müssen von der Einrichtung angestrebt werden. Im Falle einer akuten Krise
(akute Selbst- oder Fremdgefährdung) muss die Möglichkeit zur befristeten Aufnahme in
58
die KJP bestehen. Die fachliche Unterstützung aus psychologischer und psychiatrisc he r
Sichtweise (durch Fortbildung, Supervision, einen Fachdienst) ist in der Arbeit mit
Jugendlichen mit einer BPS induziert und wesentlich.
• Kooperation mit den Eltern und der Schule
Dieses Kriterium fragt nach Art und Umfang der Kooperation mit der Herkunftsfamilie,
sowie der Schule des Jugendlichen.
Eine fachliche Begleitung der Beziehungsgestaltung zu den Eltern ist für Jugendliche mit
BPS wichtig. Zur bestmöglichen schulischen Förderung bedarf es einer engen Absprache
mit der Schule, bezogen auf den individuellen Förderbedarf und dessen Umsetzung in beiden
Bezugssystemen.
• Unterstützungsleistungen der Einrichtung
Unter diesem Kriterium werden institutionelle Rahmenbedingungen zusammengefasst, die
die Arbeit mit psychisch kranken Jugendlichen positiv fördern können. Darunter falle n
Entlastungs- und Fortbildungsangebote für Mitarbeiter, die Vernetzung und Kooperation mit
anderen Bezugsorganisationen und flexible Betreuungsstrukturen.
Jugendliche mit einer BPS haben spezifische Bedarfslagen, welche nicht alleine durch die
Mitarbeiter aufgefangen werden können, sondern kontextueller Ressourcen bedürfen.
4. Der Blick in die Praxis: die Betreuung von Jugendlichen mit einer
Borderline-Persönlichkeitsstörung in unterschiedlichen
Betreuungssettings
Im Folgenden werden die Konzeptionen der sozialtherapeutischen Wohngruppe Nehren der
Martin-Bonhoeffer-Häuser, die therapeutische Wohngruppe Cramergasse des STEP e.V.
und die JuMeGa Gastfamilien auszugsweise dargestellt. Diese werden auf die gebildeten
Kriterien bezogen und hinsichtlich des Vorliegens der entwicklungsfördernden
Lebensbedingungen
beurteilt.
Abschließend
folgt
ein
Vergleich
dieser
drei
Betreuungssettings.
4.1 Die sozialtherapeutische Wohngruppe Nehren
In der sozialtherapeutischen
Jugendwohngruppe
Nehren können sechs Kinder,
Jugendliche und junge Volljährige bis zum 27ten Lebensjahr betreut werden (vgl. MBH …
59
2010, S.3f.). Die Wohngruppe soll als „gute[r] und verlässliche[r] Ort“ dienen, welcher eine
soziale und pädagogische Betreuung beinhaltet und bei Bedarf durch therapeutische oder
psychiatrische Angebote ergänzt wird (ebd., S.2). Die Aufnahme von Jugendlichen mit
psychischen Störungen und einem hohen Hilfebedarf ist in maximal in drei Fällen möglic h
und von der Gruppenkonstellation abhängig zu machen (ebd., S.5, 18). Rechtsgrundl a ge
sind der §§ 27, 34, 35a und 41 SGB VIII (ebd., S.0).
Die Fachlichkeit und Grundhaltungen der Betreuer: Die Mitarbeiter der Wohngruppe
Nehren besitzen (überwiegend) eine sozialpädagogische Ausbildung und sollten über
„personelle Qualitätsstandards“ verfügen. Diese beschreiben Fähigkeiten zur Ausbild ung
belastbarer
Beziehungen
und
ihre
Nähe-Distanz-Gestaltung,
zur
Teamarbeit
und
Selbstreflexion und zur Anwendung fachlichen Wissens. Die Fachkräfte sind offen für
Weiterbildungen, Supervision, sowie Schichtarbeit. Sie verfügen über ein ausgeprägtes
Bewusstsein für Qualität und sind sensibel, belastbar, flexibel, zuverlässig und fähig zu
Organisieren. Ihre Arbeit wird unterstützt durch die wöchentlichen Teambesprechungen, die
regelmäßige Beratung durch den Fachdienst oder die Bereichsleitung, sowie durch
Supervision
(ebd., S.6). Die Grundhaltung
der Betreuer orientiert
sich an einem
humanistischen Menschenbild, sowie der demokratischen Weltsicht. Sie respektieren und
schätzen die Jugendlichen und ihre Familien; eine Ressourcenorientierung und die
Förderung von Stärken sind dabei wesentlich (ebd., S.2).
Die Mitarbeiter der Wohngruppe Nehren verfügen über eine sozialpädagogische Ausbildung
und sind fachlich qualifiziert. Neben dieser fachlichen Eignung wird auch von einer
persönlichen Eignung gesprochen: die Eigenschaften belastbar, sensibel und flexibel sollen
vorliegen. Über das Verfügen von Hintergrundwissen zu psychischen Störungen, der damit
verbundenen Symptomatik, ihre Ausprägung und deren Verlaufsmuste r, wird in der
Konzeption keine Auskunft gegeben. Somit kann vermutet werden, dass eine solche
spezifische Qualifizierung zunächst nicht vorliegt (oder nur im Rahmen des Grundwisse ns
über unterschiedliche psychische Störungen) und eher im Einzelfall Wissen erworben wird
(z.B. über den Fachdienst, die angegliederte Kinder- und Jugendpsychotherapeutin). Die
beschriebene humanistische Orientierung,
Wertschätzung und Ressourcenorientier ung
stellen eine innere Haltung dar. Das Individuum wird in seiner Einzigartigkeit und mit
seinen Stärken wertgeschätzt.
Die Beziehungsgestaltung:
Eine Begleitung
der Jugendlichen
erfolgt
durch vier
sozialpädagogische Fachkräfte. Diese werden unterstützt durch Anerkennungspraktikante n
60
(Jugend- und Heimerzieher) und duale Studenten (Soziale Arbeit) (ebd., S.6). Die
Verantwortung für die Bedarfe und die Unterstützung des einzelnen Jugendlic he n
übernimmt
das Team gemeinschaftlich
(ebd., S.8). In der Konzeption
wird eine
„erzieherische Auseinandersetzung“ beschrieben: Zuwendung und Verständnis sollen dem
Jugendlichen entgegengebracht werden. Die Fachkräfte streben eine sichere Bindung zu den
Jugendlichen an und ermöglichen darin Projektions- und Konflikterfahrungen (ebd., S.9).
Das Betreuungsverhältnis in Nehren ist wohngruppen-typisch durch Schichtarbeit und damit
durch einen Betreuungswechsel gekennzeichnet. Dadurch ist von einer geringeren, aber
gewissen
Beziehungskonstanz
auszugehen.
Dennoch
stellen
die
Mitarbeiter
der
Wohngruppe Bindungspersonen dar und ermöglichen (im Zusamme nhang mit Fachlichke it
und persönlicher Eignung) korrigierende Bindungserfahrungen (vgl. Schleiffer 2009,
S.257).
Die Alltagsstrukturierung: Der Tages- und Wochenablauf ist durch regelmäßige Aufstehund Essenszeiten, sowie vorgegebene Ausgangs- und Hausaufgabenzeiten strukturier t.
Zusätzlich geben Aufgaben und Regeln, wie beispielsweise Putz- und Kochdienste einen
Rahmen vor (ebd., S.8f.).
Die Wohngruppe Nehren bietet Jugendlichen sowohl durch Verbindlichkeiten im
Tagesablauf,
als
auch
durch
konkrete
Aufgabenverteilungen
und
Regeln
Orientierungspunkte. Da sich diese Vorgaben auf gewöhnliche Anforderungen im Alltag
und ein Zusammenleben beziehen, kann davon ausgegangen werden, dass genüge nd
Spielraum für die Verwirklichung individueller Interessen bleibt. Die Konzeption betont,
dass es sich bei der Alltagsstrukturierung nicht um ein „starres Gebilde“ handelt, sondern
auch
individuellen
Aushandlungen
unterliegt
(ebd., S.9). Damit
erfüllt
die
Alltagsstrukturierung sowohl das Ziel der Orientierung und Entlastung, als auch des
individuellen Spielraums, um unterschiedlichen Bedarfslagen gerecht zu werden und Krisen
zu vermeiden.
Der Kompetenzerwerb: Die Jugendwohngruppe Nehren zielt darauf ab, die persönliche n
Stärken und die Hilfe zur Selbsthilfe zu fördern. Die Erarbeitung einer schulisc he n
Perspektive und die Integration in das Schul- und Gemeinschaftsleben werden angestrebt
und durch Hausaufgabenhilfe,
Entwicklung
Auswirkungen,
sowie individuelle
eines adäquaten Umgangs
sowie die Milderung
mit
Fördermaßnahmen
der psychischen
realisiert.
Störung
von Entwicklungsdefiziten
Die
und ihren
im emotionale n,
psychosozialen, kognitiven und körperlichen Bereich werden unterstützt. Über das Erlernen
61
sozialer Kompetenzen im Gruppenkontext, sowie die Anbindung in Freizeitvereine wird
zudem die soziale Integration in die Gesellschaft sowie die Übernahme von Verantwortung
für das eigene Verhalten gefördert (vgl. MBH … 2010, S. 3f., 9f.).
Aus dieser Beschreibung wird eine Ressourcenorientierung, sowie die Kompensation von
Entwicklungsverzögerungen erkennbar. Gleichzeitig sollen alterstypische Fertigkeite n
ebenso wie der Umgang mit der psychischen Störung erlernt werden. Eine Unterstützung im
Alltag im Wohngruppenkontext ist ebenso gegeben, wie die Förderung und Anbindung in
anderen Lebensbereichen (Schule/Freizeit). Es ist davon auszugehen, dass hierfür genüge nd
personelle und strukturelle Möglichkeiten der Realisierung zur Verfügung stehen.
Die Kooperation mit der KJP: Die, der Einrichtung
Jugendtherapeutin
bietet
ein
Diagnoseverfahren,
zugehörige,
Beratungsgespräche
Kinder- und
und
eine
„psychotherapeutische Krisenintervention“ an. Auch externe psychotherapeutische
Angebote unterschiedlichster Art (beispielsweise Gestalt- oder Verhaltenstherapie) können
bei Bedarf genutzt werden (ebd., S.15). Weiterhin besteht eine Zusammenarbeit mit der KJP
in Tübingen und ein Beratungsangebot für die Sozialpädagogen durch den therapeutisc he n
Fachdienst (ebd., S.15, S.7).
Strukturelle und personelle Ressourcen für eine psychiatrische Begleitung der Jugendlic he n
sind somit durch die internen und externen Möglichkeiten vorhanden. Dadurch kann eine
psychiatrische Unterstützung nach Bedarf und zeitnah angestrebt werden, lange Wartezeite n
bei externen Fachkräften könnten beispielsweise durch die einrichtungsinterne Kinder- und
Jugendtherapeutin aufgefangen werden. Hervorzuheben ist auch die Möglichkeit der
Krisenintervention. Inwieweit die Zusammenarbeit mit der KJP eine begrenzte, stationäre
Krisenintervention ermöglicht bleibt unklar. Die Beratung der Mitarbeiter durch den
Fachdienst könnte dazu dienen, dass die Betreuer an psychiatrischem und psychologisc he m
Fachwissen gewinnen, Verhaltensweisen aus unterschiedlichen Perspektiven deuten können
und dadurch zusätzliche eigene Handlungsmöglichkeiten gewinnen.
Die Kooperation mit der Schule, den Eltern und dem Arbeitgeber: Eine gute
Kooperation mit Institutionen im schulischen, auszubildenden und beschäftigenden Bereich
wird angestrebt. Diese beinhaltet die Abstimmung des Förderbedarfs, die Festlegung von
Zusammenarbeitsformen, regelmäßigen Informationsgesprächen, begleitende Hilfen und die
Teilnahme an Schulveranstaltungen (ebd., S.11f). Lern- und Motivationsangebote erfolge n
im Gruppenalltag und bei Bedarf sind individuelle Fördermaßnahmen möglich (ebd., S.10).
Die Elternarbeit hat zum Ziel die Eltern als Bezugspersonen zu stärken, einen Konsens über
62
die pädagogische Arbeit zu finden, die Beziehung zwischen Familie und Jugendliche n,
sowie familiäre Erziehungsbedingungen zu klären und fördern. Zur Verwirklichung erfolge n
regelmäßige Gespräche, die Unterstützung des Jugendlichen in der Kontaktpflege, die
Planung
gemeinsamer
Eltern-Kind-Aktivitäten,
die Vor- und
Nachbereitung
von
Heimfahrten, Hausbesuche durch die Mitarbeiter und die Teilnahme der Eltern bei Festen,
sowie ihre Mitwirkung bei wichtigen Entscheidungen. Im Einzelfall kann dies durch
Gruppen und Trainings für Eltern (ebd., S.12f.) oder das Modul der „intensive[ n]
(systemische[n]) Eltern- und Familienarbeit“ (MBH … 2002, S.18) ergänzt werden.
Eine gute schulische Begleitung besteht somit sowohl im Wohngruppenleben
(Hausaufgabenhilfe,
Vorbereitung
auf Arbeiten),
sowie im Schulalltag
(Erkennen
Förderbedarf, Informationsgespräche). Individuellen Bedarfen kann durch zusätzlic he
Unterstützungsleistungen, als auch die Anpassung der schulischen Rahmenbedingunge n
begegnet werden. Dies ist aus den IZL-Beschreibungen zur „besonderen Förderung im
schulischen und Ausbildungsbereich“ zu entnehmen/ interpretieren (ebd. S.20). Die
Elternarbeit der Wohngruppe Nehren umfasst die fachliche Begleitung und Verbesserung
der Eltern-Kind-Beziehung und -Kommunikation, fördert die Mitwirkung der Eltern im
Hilfeprozess und kann bezogen auf den Einzelfall weiter ausgebaut werden (Modul
Elternarbeit).
Die Unterstützungsleistungen
der Einrichtung:
Die Einrichtung
der Martin-
BonhoefferHäuser unterstützt die Betreuer der Wohngruppe Nehren durch eine extern
geleistete
Supervision, externe und interne Fortbildungsangebote und den fachlichen Austausch, sowie
Verfahren zur Qualitätsentwicklung. Eine vernetzende Zusammenarbeit erfolgt sowohl
innerhalb
der Einrichtung
(z.B. Bereichsbesprechungen),
als auch außerhalb
(z.B.
Projektgruppen). Eine Vernetzung und Kooperation mit Jugendämtern, Institutionen im
Stadtteil, der Hochschule und der KJP ist ebenfalls gegeben (ebd., S.6f.). Das zweite
Leistungsmodul kann für Jugendliche mit einer psychischen Störung ergänzend beantragt
werden und umfasst zusätzliche Leistungen, die den Symptomen und einer individuelle re n
Beziehung gerecht werden. Ebenso können im Hilfeplan individuelle Zusatzleistungen (IZL)
vereinbart werden, welche „therapeutische, heilpädagogische und sozialpädagogische“
Angebote, eine intensivere Elternarbeit oder eine spezielle Förderung in schulischen und
ausbildungstechnischen Belangen beinhalten können (ebd., S.18-20).
63
Die institutionellen Rahmenbedingungen der Martin-Bonhoeffer-Häuser halten zahlreic he
Entlastungs- und Qualifizierungsangebote für die Mitarbeiter der Wohngruppe bereit. Die
Vernetzungen im Stadtteil und mit wichtigen Kooperationspartnern ermöglichen einen
leichteren Zugang zu Ressourcen. Ergänzende IZL, sowie Module ermöglichen es, den
individuellen Bedürfnissen der Jugendlichen mit entsprechenden Angeboten gerecht zu
werden.
Fachlich
ausgebildete
und
durch
die
Einrichtung
unterstützte
WohngruppenMitarbeiter, sowie kontextuelle Rahmenbedingungen bieten die Möglichke it
individuelle Bedarfslagen erfüllen zu können.
Welches Betreuungssetting (Gruppengröße, Betreuungsverhältnis und -art) für Jugendlic he
mit BPS am Förderlichsten
ist kann nicht gesagt werden. Dies ist insbesondere
zurückzuführen auf die herausfordernde Beziehungsgestaltung, in welcher zu viel Nähe für
sie ebenso schwer auszuhalten ist wie zu viel Distanz (siehe Kapitel 2.4.7). Die Wohngruppe
Nehren entspricht in ihrem Betreuungssetting jenem der in der Literatur beschriebene n
Wohngruppen.
Die Vorteile in dieser Betreuungsform liegen
in der Fachlichke it,
Professionalität und der kollegialen Beratung. (vgl. Fachgruppe Erziehungsstellen der IGFH,
2004, S.49). Nachteile ergeben sich aufgrund der Organisationsmerkmale: das Leben in einer
größeren Gruppe (mit anfangs fremden Personen), der Betreuerwechsel aufgrund des
Schichtdienst, weniger Einzigartigkeit zugunsten einer Gleichbehandlung der Jugendlic he n
und die Gefahr der Stigmatisierung (vgl. Freigang/Wolf 2001, S.91-102).
4.2 Die therapeutische Wohngruppe Cramergasse
Die therapeutische Wohngruppe Cramergasse stellt eine Übergangseinrichtung der
Jugendhilfe dar, welche eine pädagogische und therapeutische Betreuung anbietet. Sie
nimmt acht Jungen und Mädchen im Alter von 13 bis 18 Jahren nach einer stationären (oder
bei ambulanter) Behandlung in der Kinder- und Jugendspsychiatrie auf, wenn diese zunächst
einer Wiedereingliederung bedürfen (vgl. STEP … 2002, S.2f.). Voraussetzungen für eine
Betreuung in der Wohngruppe Cramergasse ist eine Schul-, Arbeits- und Gruppenfähigke it,
die Mitarbeit der Eltern und die ambulante Begleitung durch einen psychiatrisc he n
Fachdienst (ebd., S.4-6). Angaben über zugrundeliegende Rechtsnormen bestehen keine.
Die Fachlichkeit und Grundhaltungen der Betreuer: Die Prüfung der pädagogische n
Vorgehensweise und der Methoden geschieht im Team in Form von Reflexion und
kollegialer Beratung, ebenso wie der Supervision (ebd., S.6). Der therapeutische Fachdienst
berät das Team. Regelmäßige Fortbildungen sind gefordert (ebd. S.8). Die Grundhaltung des
64
Betreuungspersonals soll sich durch eine „ganzheitliche Sichtweise des Individuums
innerhalb seines gesellschaftlichen Kontextes“ (STEP … 2002, S.2) auszeichnen. Darunter
fällt die Annahme,
dass Jugendliche nach Autonomie und gleichzeitig nach einer
Zukunftsperspektive, im Sinne eines „Platzes in der Gesellschaft“ streben (ebd.). Die
Betreuer arbeiten nach einem Betreuungsplan und orientieren sich in ihrem Handeln an
einem dynamischen Konzept, welches äußere Rahmenbedingungen, die verbalen
Äußerungen und die Verhaltensweisen der Jugendlichen als Zusammenspiel versteht (ebd.
S.6).
Daraus kann geschlussfolgert werden, dass die Fachkräfte in ihrer Ausbildung und
praktischen Tätigkeit über sozialpädagogisches Grundwissen und Handlungskompetenz
verfügen. Weiter können über Supervision, die Begleitung des Fachdienstes und
Fortbildungen allgemein, sowie störungsspezifische Kenntnisse der Umgang mit BPS im
Alltag erlernt und reflektiert werden. Auf die persönliche Eignung können in diesem
Rahmen keine Rückschlüsse gezogen werden. Dennoch ist von einer hohen Fachlichkeit
und auch
psychologischem
auszugehen,
da
und
psychiatrischen
Wissen
dieses
Jugendhilfeangebot eine Übergangseinrichtung zur Wiedereingliederung ist. Insofern kann
von einem (zusätzlichen) fachlichen Schwerpunkt (in Supervision, im Fachdienst + den
Fortbildungen) auf spezielle Bedarfe der Jugendlichen ausgegangen werden. Zudem
beeinflusst ihre ganzheitliche Sichtweise und die Wahrnehmung der Umweltbedingunge n
den Umgang mit den Jugendlichen positiv.
Die Beziehungsgestaltung: Die Jugendlichen in der Cramergasse werden von fünf
pädagogischen
Fachkräften
betreut,
welche durch eine Haushaltskraft
und einen
Fachhochschul- oder Sozialpädagogik-Studenten unterstützt werden (ebd., S.8). In der
Wohngruppe wird nach einem Bezugsbetreuersystem gearbeitet. Dies beinhaltet einen
Einzelkontakt einmal pro Woche (2h) zwischen Bezugsbetreuer und Jugendlichen. Zudem
ist der entsprechende Betreuer zuständig für die Zusammenarbeit mit der Schule/ dem
Arbeitgeber, den therapeutischen Fachkräften und der Kooperation mit den Eltern (ebd., S.67).
Das
Betreuungsverhältnis ist
durch die
wohngruppen-spezifische
Schichtarbeit gekennzeichnet von einem Wechsel an Bezugspersonen, andererseits schafft
die Zuordnung zu einem festen Betreuer eine gewisse Beziehungskonstanz. Hervorzuheben
ist der wöchentliche Einzelkontakt, der dem Jugendlichen exklusive Zeit mit „seinem
65
Betreuer“ gibt und durch seine Regelmäßigkeit unter Umständen einen sicheren Bezug
schaffen kann. Eine offene Frage bleibt, wie die Zuordnung von Jugendlichen zu den
Bezugsbetreuern erfolgt und ob diese immer gelingend sein kann, sollte diese vom Team
vorgegeben sein. Zu
Bedenken gilt auch, dass der Umgang mit und die Verantwortung für einen Jugendlichen mit
einer BPS meist eine Herausforderung darstellt und die Bezugsperson dafür geeignet sein
sollte.
Diese Eignung
hängt
von der Persönlichkeit,
der Fachlichkeit
und
den
Grundhaltungen der Betreuer ab. Die Fachlichkeit und Beziehungskonstanz ermöglichen den
Jugendlichen korrigierende Bindungserfahrungen. Es gilt zu beachten, dass die Wohngruppe
Cramergasse eine (in der Regel) auf zwei Jahre befristete Jugendhilfeform darstellt, woraus
sich ein Beziehungsabbruch oder eine Veränderung dieser (Nachbetreuung) nach dieser Zeit
ergibt.
Die Alltagsstrukturierung:
Über die Alltagsstrukturierung werden keine konkreten
Angaben gemacht. Regelmäßige Termine stellen der wöchentliche Einzelkontakt (ebd., S.6),
sowie gemeinsame Gruppenaktivitäten dar (ebd., S.7). Zudem erfolgt die Bewirtschaftung
in der Wohngruppe gemeinschaftlich (ebd.).
In diesem Zusammenhang kann eine gewisse Alltagsstruktur vermutet werden. Dies ergibt
sich aus dem Schulbesuch (ablesbar aus der Voraussetzung der Beschulbarkeit), sowie
regelmäßigen
Betreuungskontakten
und
Gruppenaktivitäten.
Sowie
aus
der
gemeinschaftlichen Bewirtung, die Vorgaben oder Absprachen zu gemeinsamen Mahlzeite n
und Verteilungen
eines Spüldienstes und des Einkaufs implizieren.
Aussagen zur
Angemessenheit der Strukturierung und darüber, ob genügend individueller Freiraum
vorhanden ist, können nicht gemacht werden.
Der Kompetenzerwerb: Jugendliche werden in der Betreuung in ihren personalen und
sozialen Fähigkeiten gefördert. Es erfolgt die Erarbeitung einer Perspektive hinsichtlic h
Beschulung und Beruf, sowie die Unterstützung beim Erwerb lebenspraktischer Fähigkeite n
und die Verbesserung der Fähigkeit zur Freizeitgestaltung (ebd., S.4). Weiter wird die
Auseinandersetzung mit der psychischen Störung, der gesellschaftlichen Realität und
Konflikten in der Familie angestrebt. Weiter Hilfeleistungen beziehen sich auf die
Autonomieentwicklung und die individuelle therapeutische Begleitung (ebd., S.6).
In der konzeptionellen Beschreibung wird erkennbar, dass sowohl der Erwerb alterstypisc her
als auch störungsspezifischer Kompetenzen angestrebt wird. Dies ist abzulesen aus der
Beschreibung „Auseinandersetzung mit der psychischen Störung“. Beispielsweise könnte
66
mit dem Jugendlichen erarbeitet werden, in welchen Situationen er besonders emotiona l
reagiert oder welche Strategien bei emotionaler Anspannung hilfreich sind, um einer
möglichen Selbstverletzung vorzubeugen. Mit der Förderung sozialer und personaler
Kompetenzen geht vermutlich auch eine Ressourcenorientierung einher, diese wird in der
Konzeption aber weniger betont, der Schwerpunkt scheint mehr auf der Autonomie Entwicklung (und dem Ausgleich von Entwicklungsdefiziten) zu liegen.
Die Kooperation mit der KJP: Die Konzeption der Wohngruppe Cramergasse zielt auf eine
enge Kooperation mit den psychiatrischen Fachärzten, an welche die Jugendlic he n
angebunden sind. Zudem erfolgt ein regelmäßiger fachlicher Austausch mit der KJP
Nürnberg (ebd., S.6). Über den therapeutischen
Fachdienst
können „Einzel-
und
Familientherapien“, sowie Angebote für Gruppen eingeholt werden (Pro Woche und
Jugendlichem zwei Stunden) (ebd., S.8).
Es kann davon ausgegangen werden, dass die Mitarbeiter durch diese Anbindung an
psychiatrischem
und
psychologischen
Fachwissen
gewinnen,
Verhaltensweise n
möglicherweise (zusätzlich) aus einer anderen Perspektive bewerten können und dadurch in
einigen Situationen in der Praxis mehr Handlungsspielraum besitzen. Offen bleibt ob die
Kooperation zur KJP auch eine zeitlich begrenzte, aber flexible stationäre Kriseninterventio n
ermöglicht. Zu beachten gilt auch, dass die Anbindung an einen psychiatrischen Facharzt
eine Aufnahmevoraussetzung ist. Insofern stellt diese auch ein Ausschlusskriterium dar für
Jugendlichen, die trotz vorherigem stationären Aufenthalt (noch) nicht bereit für eine
ambulante fachliche Begleitung sind.
Die Kooperation mit den Eltern, der Schule und dem Arbeitgeber: Der Kontakt zu
Schule und Arbeitgeber erfolgt über den Bezugsbetreuer (ebd., S.6). Ist die Schulfähigke it
nicht gegeben, können alternativ in einem individuellen, befristeten Förderangebot solche
Kompetenzen erworben werden (vgl. STEP … 2002, S.5). Der Bezugsbetreuer leistet auch
die monatlichen und (für die Personensorgeberechtigten) verpflichtenden Elterngespräc he.
Eltern werden dadurch in die Betreuung mit einbezogen, Erwartungen werden formulier t
und der Verlauf der Betreuung, sowie der Elternkontakte reflektiert. Weiterhin werden
Seminare und Nachmittag für Eltern veranstaltet, Hausbesuche angestrebt, gemeinsa me
Aktionen mit den Jugendlichen und die Angebote zur Teilhabe am Gruppenlebe n
(beispielsweise über das Wochenende) organisiert.
Im Bedarfsfall kann auch eine
Familientherapie erfolgen.
67
Somit besteht auch im schulischen Bereich die Möglichkeit individuellen Bedarfslage n
durch ein alternatives Angebot gerecht zu werden. Die Ausgestaltung dieses Förderangebots
zu kennen wäre spannend hinsichtlich von Exklusions- und Inklusionsüberlegunge n.
Inwieweit eine Veränderbarkeit der Schule oder des Ausbildungsplatzes möglich ist, wird
nicht klar. Die Wohngruppe Cramergasse leistet eine intensive Elternarbeit. Eine fachlic he
Reflexion der Beziehung zwischen Eltern und Jugendlichem ist ebenso gegeben, wie die
Mitwirkung, Teilhabe und der Austausch mit anderen Eltern. Die Verpflichtung der
monatlichen Elterngespräche kann ebenfalls zu einem Ausschlusskriterium werden für
solche Familien, die dazu nicht in der Lage sind oder der Hilfemaßnahme negativ
gegenüberstehen.
Die Unterstützungsleistungen der Einrichtung :
Die Einrichtung „STEP e.V.“ bietet
regelmäßige Fortbildungen, Teambesprechungen, Supervision und die Begleitung durch
einen
Fachdienst
an
(ebd.,
S.8).
Zudem
ermöglicht
sie
„flexible
ambulante
Betreuungsformen“, die auf individuelle Bedürfnisse abgestimmt werden und zeitgleich zur
stationären Betreuung, sowie im Anschluss daran in Anspruch genommen werden können
(ebd., S.7).
Die institutionellen Rahmenbedingungen von STEP e.V. bieten den Mitarbeitern der
Cramergasse Entlastungs- und Qualifizierungsangebote. Ebenso ermöglichen sie auf den
individuellen Hilfebedarf abgestimmte Betreuungssettings. Somit können auch in diesem
Jugendhilfeangebot spezifische Bedarfslagen der Jugendlichen durch kontextuell geeigne te
Settings, als auch durch gut ausgebildetes und unterstütztes Fachpersonal aufgefange n
werden.
Wie beschrieben kann schwer beurteilt werden, welche Gruppengröße und Beziehung zu
Betreuern für Jugendliche mit einer BPS förderlich sind. Die therapeutische Wohngruppe
Cramergasse ähnelt in gewissem Maße dem Modell der Intensivgruppe, durch eine stärker
therapeutische
Orientierung,
sowie
ihre
Ausrichtung
auf
einen
„Wiedereingliederungsbedarf“ und somit einem zusätzlichem Entwicklungsbedarf der
Jugendlichen.
Ihr Setting ist Wohngrupppen-typisch. Dadurch ergeben sich für die
therapeutische Wohngruppe Cramergasse
dieselben Vor- und Nachteile wie für die
Wohngruppe Nehren. Hinzu kommen die Vor- und Nachteile einer Intensivgruppe. Die
Vorteile sind in einer kleineren Gruppengröße, einer höheren Personalausstattung und einer
spezifischen Weiterqualifizierung der Mitarbeiter zu finden (vgl. Knuth 2013, S.145). In der
68
Cramergasse
liegt
vermutlich
letzteres
vor. Nachteilig
ist hier
die Gefahr
der
Vernachlässigung von Ressourcen und Fähigkeiten, sowie eine erhöhte
Stigmatisierungsgefahr (vgl. Blumenberg/Apitzsch 1995, S.165).
4.3 JuMeGa Gastfamilien
JuMeGa bietet für „besonders entwicklungsbeeinträchtigte und seelisch behinderte ältere
Kinder, Jugendliche und … junge Volljährige“ (JuMEGa … 2011 S.4) die Betreuung in
einer
Gastfamilie
an, welche von einem
Fachdienst
begleitet
wird.
In diesem
Jugendhilfeangebot werden die „Alltagskompetenz der Gastfamilien mit der professionelle n
Kompetenz des JuMeGa Fachdienstes“ verbunden (ebd., S.12). In der Regel wird
ausschließlich ein Jugendlicher in eine Gastfamilie aufgenommen (vgl. JuMeGa … 2011,
S.11). Voraussetzung hierfür ist der Wunsch des Jugendlichen in eine Familie zu dürfen,
seine Geeignetheit und das Ausgeschlossen-Sein der Rückkehr in die Herkunftsfamilie (ebd.,
S.6). Die rechtliche Grundlage stellen §33 in Verbindung mit §35a SGB VIII dar.
Die Fachlichkeit und Grundhaltungen der Betreuer: Die Gasteltern benötigen keine
professionelle Ausbildung, sie werden durch den Fachdienst hinsichtlich ihrer Aufgabe der
Vollzeitpflege eingeschätzt (Gespräch, Hausbesuch, Teamreflexion) und vom Jugendamt
genehmigt (ebd., S. 7f.). Sie werden durch die Mitarbeiter des Fachdienstes begleitet, zu
Beginn in einem wöchentlichen Hausbesuch und durch Telefonate. JuMeGa hebt die
familiären Ressourcen zur Lebensbewältigung, sowie die Alltagskompetenz der Gasteltern
hervor (ebd. S.7,9). Jährlich findet ein Fachtag für die Gastfamilien statt (ebd., S.13). Der
Fachdienst setzt sich aus Sozialpädagogen und Sozialarbeitern zusammen, eine „kollegia le
Supervision“ findet einmal die Woche statt, monatlich kommt eine weitere Supervision mit
einer externen Supervisorin hinzu (ebd., S.5). Die Fachkräfte sind jederzeit (in Form der
privaten Telefonnummer) erreichbar (ebd., S.9, 12). Die Haltung der Fachkräfte beschreibt
eine Wertschätzung des Individuums in seiner Einzigartigkeit und die Achtung der
Verschiedenartigkeit von Menschen mit Behinderungen als Bereicherung für das Leben
(Leitbild der Arkade zietiert durch JuMEGa … 2011, S.1).
Über das fachliche (sozialpädagogisches) Grundwissen und Kenntnisse zu psychische n
Störungsbildern der Gasteltern kann keine Aussagen gemacht werden – sie können
vorliegen,
müssen aber nicht.
Die Gasteltern
greifen
im Familienleben
auf ihre
Alltagskompetenz und eigene Ressourcen zurück. Professionelles Fachwissen kommt ihnen
in Form der Begleitung durch den Fachdienst zu. Es ist denkbar, dass dadurch in Form von
69
Beratungsgesprächen und Telefonaten eine Reflexion des Erziehungsalltags stattfinde t,
sowie die Sichtweise und die Handlungsmöglichkeiten erweitert werden können. Vorsichtig
zu betrachten sind, im Zusammenleben mit Jugendlichen mit BPS, die Häufigkeit der
Beratungsgespräche, welche nur zu Beginn jede Woche stattfinden und später auf nur
monatliche Gespräche reduziert werden können. Positiv zu bewerten ist hingegen die „Rund
um die Uhr Erreichbarkeit“ der Fachkräfte und die Möglichkeit, in Krisen zwei bis drei
Beratungsgespräche pro Woche einzufordern. Dadurch können Gasteltern in Krisenzeite n
oder bei Konflikten schnell fachliche Hilfe/Rückmeldung einholen. Über die Grundhaltung
der primären Bezugspersonen (Gasteltern) wird in der Konzeption keine Auskunft gegeben.
Es kann vermutet werden, dass die Familie den jungen Menschen mit ihren Eigenheite n
positiv gegenübersteht, da sie sich für die Aufnahme eines Jugendlichen mit einer
psychischen Störung entschieden haben. Es ist Aufgabe des Fachdienstes falsche Motive, im
Sinne des Strebens nach finanzieller Bereicherung, einer Bewerberfamilie zu erkennen und
diese entsprechend nicht als Gastfamilie anzuerkennen (Die Aufnahme eines Jugendlic he n
mit psychischer Störung in eine Gastfamilie wird mit dem vierfachen des übliche n
Pflegesatzes vergütet.) (vgl. JuMEGa … 2011, S.14 ).
Die Beziehungsgestaltung: Die Gastfamilien-Form kann sehr unterschiedlich ausfalle n,
Lebensgemeinschaften sind ebenso möglich wie Teilfamilien (ebd., S.7). Jede Familie
betreut einen Jugendlichen (ebd., S.11). Die Zuteilung erfolgt durch den Fachdienst, eine
bestmögliche
Passung
wird
hier
angestrebt
und
dabei wird
besonders auf die
Familienstruktur, das Beziehungsverhältnis, die Alltagsgestaltung, die Werte und das soziale
Umfeld geachtet und dies mit den Bedarfen des Jugendlichen verglichen (vgl. 8f.). Durch
Mitarbeiter des Fachdienstes erfolgen monatliche bis wöchentliche Hausbesuche und
Telefonate (ebd., S.5, 12).
Das Gastfamilienmodell von JuMeGa ist durch eine enge Betreuung durch konstante
Bezugspersonen gekennzeichnet (den Gasteltern oder einem Elternteil). Es besteht also eine
hohe Bezugskonstanz. Zudem handelt es sich um eine familiäre Unterbringung: die
Gasteltern übernehmen eine fürsorgliche Elternrolle und keine Berufsrolle, Versorgung und
das gemeinsame
Erleben
stehen hier im Vordergrund
(vgl.
Trede 2014, S.22).
Schwierigkeiten einer solch engen Betreuung können emotionale Verstrickungen darstelle n
(ebd.), die sich aufgrund des fehlenden Abstandes und der ambivalenten Verhaltensweise n
der Jugendlichen mit BPS (Idealisierung und Abwertung) ergeben (siehe Kapitel 2.4.7). Als
entwicklungsförderliche Lebensbedingung für Jugendliche mit BPS wurde eine hohe
70
Fachlichkeit der Mitarbeiter beschrieben. Diese Fachlichkeit ist im Falle der Gasteltern nicht
unbedingt vorhanden (was eine persönliche Eignung und gute Erziehung nicht ausschließt),
zudem besteht die Gefahr der emotionalen Verstrickung. Es ist fraglich und vermutlic h
einzelfallabhängig, ob in diesem Rahmen korrigierende Bindungserfahrungen möglich sind.
Die Alltagsstrukturierung: ist in der Konzeption nicht beschrieben. Sie wird sich
vermutlich durch die familiäre Alltagsgestaltung, die Gewohnheiten und Bedürfnisse der
Familienmitglieder ergeben. Im Rahmen der Aufnahme könnte es, je nach Familie, auch zur
Aushandlung kommen, welche Gewohnheiten und Regeln beibehalten werden oder für alle
gelten. Die Strukturierung ergibt sich hier auf dem Familiensetting und der gelebten
„Normalität“ (Trede 2014, S.22).
Der Kompetenzerwe rb: Die Einbindung in der Familie ermöglicht es dem Jugendlic he n
Normalität
freigelegt
zu erfahren,
und
gefördert
dadurch sollen „Entwicklungspotenziale“ des Jugendlic he n
werden.
Jugendliche
sollen
verpasste,
auch
kindlic he,
Entwicklungen nachholen und emotional reifen. Die familiären, zwischenmenschlic he n
Beziehungen ermöglichen eine Lernumgebung, in welcher der zwischenmenschlic he
Umgang geübt werden kann. Zudem wird unmittelbare Konsequenz auf das Verhalten durch
gleichbleibende Bezugspersonen erfahrbar (ebd., S.9f.). In der Familie können die
individuellen Bedarfe der Jugendlichen flexibel aufgefangen werden (ebd., S.9).
Der Familienalltag stellt somit einen besonders geschützten Rahmen und eine intensive
Begleitung dar, wodurch individuelle Kompetenzen erworben und Entwicklungsdefizite
aufgeholt werden können. Die enge Betreuung ist somit eine Ressource, die insbesondere
den Kompetenzerwerb in hohen Maße ermöglicht. Fraglich bleibt jedoch, inwieweit auf
spezifisch und mit der BPS zusammenhängende Bedürfnisse oder Bedarfslagen eingegange n
werden kann, da hierüber ggf. kaum Wissen vorliegt. Ein solches könnte aber über den
Fachdienst, sowie der Beratung durch die KJP, vermittelt werden.
Die Kooperation mit der KJP: Die Kooperation zu der KJP in der Region wird durch den
Fachdienst geleistet. Hierüber sind Kriseninterventionen und Beratungen aus kinder- und
jugendpsychiatrischer Sicht möglich (ebd., S.14).
Eine Kooperation zur KJP liegt demnach vor. Inwieweit dadurch eine psychiatrisc he/
therapeutische Behandlung für einen Jugendlichen zeitnah erreicht werden kann, bleibt
unklar. Positiv hervorzuheben ist die stationäre Krisenintervention, die über den Fachdienst
organisiert werden kann und in einigen Krisenfällen auch als Entspannung und Entlastung
71
für Gastfamilie und Jugendlichen dienen kann. Die Möglichkeit der Beratung aus kinder und jugendpsychiatrischer Sicht ermöglicht die fachliche Unterstützung der pädagogische n
Gastfamilien-Arbeit.
Die Kooperation mit der Schule, den Eltern und dem Arbeitgeber: Der Fachdienst
übernimmt die Kooperation mit den Lehrkräften, sowie die Suche und Vermittlung der
Schul- und Ausbildungsplätze. Alle organisatorisch anfallenden Aufgaben in diesen
Bereichen
werden von den Sozialarbeitern
durchgeführt
(ebd., S.13). Auch die
Zusammenarbeit mit den Herkunftsfamilien wird über den Fachdienst geleistet. Diese
beginnt im Vorfeld der Unterbringung, strebt eine vertrauensvolle Beziehung an und
wertschätzt die Eltern in ihrer primären Elternrolle. Weiterhin erfasst die Elternarbeit die
regelmäßige Information der Eltern über die Entwicklung des Jugendlichen, die Vermittlung
bei Konflikten und bei Bedarf die Begleitung von Umgängen oder Besuchen bei der
Gastfamilie. Die Fachkräfte sind für die Herkunftseltern jederzeit telefonisch erreichbar
(ebd., S.13).
Vermutlich
ist eine Hausaufgabenbegleitung,
sowie eine Prüfungsvorbereitung
im
Gastfamilienalltag oder in Form von Nachhilfeangeboten abgedeckt. Zudem können bei
Bedarf über den Fachdienst zusätzliche schulische Unterstützungsmaßnahmen per IZL
organisiert werden. Dadurch kann von einer sehr individuellen, auf die konkreten Bedarfe
des Jugendlichen abgestimmten Unterstützung im schulischen Bereich ausgegangen werden.
Eine Zusammenarbeit mit den Eltern ist in diesem Jugendhilfesetting gegeben. Sie wird nicht
durch die primären Bezugsbetreuer, sondern den Fachdienst geleistet. Eine Vertrauensbas is,
sowie die Teilhabe der Eltern scheint besonders wichtig – dies ist daraus zu schließen, dass
Eltern jederzeit den Fachdienst kontaktieren können und Besuchskontakte bei den leiblic he n
Eltern, aber auch bei der Gastfamilie zu Hause stattfinden. Die Reflexion von familiä re n
Konflikten, sowie die Arbeit an der Beziehungsgestaltung zwischen Jugendlichen und Eltern
wird nicht erwähnt.
Unterstützungsleistungen der Einrichtung: Wesentliches Unterstützungselement ist der
beschriebene Fachdienst und im Einzelfall der Austausch mit der KJP. JuMeGa bietet
zusätzlich einen jährlichen Fachtag an (ebd., S.13). Weitere Qualifizierungsangebo te
bestehen nicht. Ergänzt werden kann die Unterbringung in den Gastfamilien durch IZL und
Integrationsleistungen. IZL umfassen Auszeiten für den Jugendlichen in Form einer
erlebnispädagogischen Leistung oder der begrenzten Betreuung in einer anderen
Gastfamilie.
Ebenso
können
Hilfen
durch
Patenfamilien
und
schulische
72
Unterstützungsmaßnahmen geleistet werden. Integrationsleistungen beschreiben die zeitlic h
befristete Begleitung eines Jugendlichen im Rahmen der Rückkehr in die Herkunftsfamilie
oder der Verselbstständigung (ebd., S.15).
JuMeGa bietet mit den intensiven Zusatzleistungen und den Integrationsleistungen die
Möglichkeit individuelle Settings für spezifische Bedarfe zu formen. Durch die oben bereits
erwähnte flexible
Möglichkeit der Inanspruchnahme
des Fachdienstes kann dieses
Jugendhilfesetting spezifischen Bedarfslagen durch die individuelle Gestaltung der Hilfe
gerecht werden. Unterstützungs- und Qualifizierungsangebote bestehen in den oben
beschriebenen Formen und könne flexibel ausgelegt werden.
Da das Gastfamilien-Modell in seinem Betreuungssetting einer Vollzeitpflege entspricht,
sind die Vorteile (wie teilweise erwähnt) in den konstanten Bezugspersonen, dem
geschützten familiären Rahmen und der „Normalität“ zu finden. Nachteile, die sich aus
dieser Nähe und Präsenz der Bezugspersonen ergeben, sind emotionale Verstrickungen und
weniger Ressourcen im Umgang mit einer Krise (vgl. Trede 2014, S.22). – letzteres kann
jedoch teilweise durch den Fachdienst aufgefangen werden.
4.4 Vergleich der drei Betreuungssettings
Etwas zugespitzt formuliert zeichnen sich die Wohngruppe Nehren durch eine starke
Bedarfsorientierung, die
therapeutische
Wohngruppe
Cramergasse durch
eine Bedarfsorientierung und eine klinische Orientierung und die Gastfamilie JuMeGa
durch Beziehungsarbeit aus.
Die Betreuungssettings der Wohngruppe Cramergasse und Nehren zeichnen sich beide durch
eine hohe Fachlichkeit aus. Ihre Teams setzen sich zusammen aus sozialpädagogisc h
ausgebildeten Fachkräften, regelmäßige Supervision und Fortbildungen sind in beiden
Einrichtungen gefordert. Beide Teams werden durch einen therapeutischen Fachdienst
beraten, ob dies regelmäßig oder nur bei Bedarf geschieht, ist den Konzeptionen nicht zu
entnehmen. In der Wohngruppe Cramergasse kann eine zusätzliche fachliche Ausrichtung
hinsichtlich psychologischem und störungsspezifischem Wissen, aufgrund ihres Klientels
und der therapeutischen Ausrichtung, vermutet werden. Die Gasteltern im JuMeGa Modell
besitzen nicht unbedingt eine sozialpädagogische Qualifizierung, dies wird aber teilweise
durch eine Qualifizierung des Fachdienstes kompensiert.
73
Die Beziehungskonstanz
ist
in der Gastfamilie
JuMeGa,
aufgrund
der festen
Bezugspersonen (den Gasteltern) am höchsten. Danach folgt die Wohngruppe Cramergasse,
die dem durch Schichtarbeit bedingten häufigen Betreuungswechsel wöchentliche
Einzelkontakte und die Bezugsbetreuung entgegensetzt. Nach zwei Jahren erfolgt jedoch ein
Abbruch oder eine Beziehungsveränderung, da diese Jugendhilfe nicht für die Dauer gedacht
ist. Am geringsten ist die Beziehungskonstanz in der Wohngruppe Nehren, aufgrund des
Schichtwechsels und keiner festen Bezugsbetreuung, sowie keiner fest eingeplante n
Einzelkontakte. Aber auch hier ist von einer (wenn auch geringeren) Konstanz auszugehe n,
da die vier hauptamtlichen Mitarbeiter die Jugendlichen durchgängig und über einen
längeren Zeitraum hinweg betreuen. Dem Thema der Mitarbeiter-Fluktuation kann in diesem
Rahmen nicht nachgegangen werden, dies wird deshalb nicht miteinbezogen. Zudem können
über das IZL-Modul für psychisch erkrankte Jugendliche Einzelkontakte organisiert werden.
Inwieweit eine sehr enge Betreuung oder eher mittelmäßige Konstanz zu Bezugsperso ne n
(Familie/Wohngruppe) für Jugendliche mit einer BPS geeignet und förderlich ist, kann nicht
beurteilt werden. Eine Konstanz zu Bezugspersonen ist jedoch Voraussetzung für den
Aufbau einer Beziehung und somit auf korrigierende Bindungserfahrungen.
Die Beziehungsgestaltung kann demnach in der Wohngruppe Cramergasse als am
„idealsten“ betrachtet werden (innerhalb der zwei Jahre), da sie der in den Kriterien
formulierten Kombination aus Fachlichkeit und Beziehungskonstanz am ehesten gerecht
wird
und
sich
dadurch
für
die
Jugendlichen
Möglichkeiten
auf korrigiere nde
Bindungserfahrungen ergeben. Auch die Wohngruppe Nehren ermöglicht korrigiere nde
Bindungserfahrungen,
aufgrund
ihrer
Fachlichkeit
und
dem
Vorliegen
von
Beziehungskonstanz, wenn auch in einem geringeren Maße als in den anderen beiden
Jugendhilfesettings. Inwieweit korrigierende Bindungserfahrungen in der Gastfamilie
JuMeGa möglich sind, bleibt fraglich, da hier zwar eine sehr hohe Konstanz aber
möglicherweise wenig Fachlichkeit der primären Bezugspersonen (der Gasteltern) und die
Gefahr der emotionalen
Verstrickung
vorliegen.
Vermutlich
ist das Erleben von
korrigierenden Erfahrungen stark abhängig von der Persönlichkeit der Gasteltern (, Konflikt und Reflexionsbereitschaft, Einfühlungsvermögen, Erholungsmöglichkeiten…) und der
Persönlichkeit des Jugendlichen (bisherige Erfahrungen, Verhaltensweisen, Ängste…).
Lediglich in der Konzeption der Wohngruppe Nehren wird die Alltagsstrukturie rung
explizit benannt. Die Struktur besteht aus Regelmäßigkeiten im Tages- und Wochenablauf,
sowie Aufgaben und Regeln.
Gleichzeitig wird ihr Aushandlungscharakter benannt.
74
Demnach
schafft
diese Strukturierung
Orientierung
und Verlässlichkeit
und kann
gleichzeitig auf individuelle Bedarfslagen angepasst werden. Sie entspricht somit diesem
Kriterium und wird zu einer entwicklungsfördernden Bedingung. Die Alltagsstrukturier ung
in der Wohngruppe Cramergasse wird kaum beschrieben, regelmäßige und verpflichte nde
Termine deuten aber auf eine Struktur hin. In der JuMeGa Gastfamilie kann von einer der
Familie eigenen Tagesstruktur ausgegangen werden, welche sich durch ihre Normalitä t
auszeichnet.
Unterstützungsleistungen zum Kompetenzerwerb werden in den Konzeptionen der
Wohngruppe Nehren und Cramergasse ausführlich beschrieben. Ein bewertender Vergleic h
ist hier, aufgrund des nicht-spezifischen Kriteriums und Unterschieden der Konzeptionen in
ihrer
Ausführlichkeit
schwierig.
Der
Vergleich
unterliegt
deshalb
auch
Interpretationsspielräumen. Die Förderungen der Wohngruppe Nehren erscheint geeignet:
Unterstützt
werden
Jugendliche
in
ihrer
Entwick lung
hinsichtlich
dem Erwerb
alterstypischer Fähigkeiten, als auch einen geeigneten Umgang mit der BPS und/ oder damit
auftretenden Symptomen. Eine Förderung erfolgt sowohl im Wohngruppenalltag, als auch
in anderen Bezugssystemen und ist auf den individuellen Bedarf ausgerichtet. Eine
Ressourcenorientierung
wird
ebenso
deutlich,
wie
die
Kompensation
von
Entwicklungsverzögerungen. Auch in der Wohngruppe Cramergasse werden Jugendlic he
in dem Erlernen unterschiedlicher Fähigkeiten, sowie im Umgang mit den Symptomen der
BPS begleitet. Die Ressourcenorientierung ist vermutlich gegeben, wird aber weniger
deutlich erwähnt. Die Formulierung lässt eine stärkere Ausrichtung auf den Förderbedarf
(Entwicklungsdefizite) vermuten. Die Gastfamilie JuMeGa zeichnet sich durch eine
Bedarfsorientierung und den geschützten Rahmen aus, durch welche Kompetenzerwe rb,
sowie der Ausgleich von Entwicklungsdefiziten möglich sind und flexibel unterstützt
werden können.
Ein adäquater Umgang
bzw. das Auffangen
störungsspezifisc he r
Verhaltensweisen und Bedarfslagen ist aufgrund des fehlenden Fachwissens möglicherwe ise
erschwert, könnte aber durch die fachliche Begleitung und die mögliche Beratung durch die
KJP teilweise kompensiert werden (beispielsweise der Umgang mit selbstverletzende m
Verhalten).
Alle drei Betreuungssettings verfügen über eine Kooperation mit der KJP. Dennoch
beschreibt nur JuMeGa die stationäre Krisenintervention in der KJP als eine Möglichkeit, in
den anderen beiden Konzeptionen wird darüber nichts geschildert. Im Vergleich der beiden
Wohngruppen wird deutlich, dass in beiden Settings die Möglichkeit zur therapeutisc he n
75
Begleitung der Jugendlichen besteht. In der Wohngruppe Nehren liegen diese intern und
extern über Kooperationen vor und werden bedarfsorientiert genutzt, in der Wohngruppe
Cramergasse ist sie vorausgesetzt. Beide können auf einen therapeutischen Fachdienst zur
Beratung zurückgreifen, jener der Wohngruppe
Cramergasse steht mit einer hohen
Stundenanzahl pro Woche zur Verfügung und bietet therapeutische Maßnahmen in einem
Gruppen- und Einzelsetting an. Besonders hervorzuheben ist für die JuMeGa Gastfamilie n
die mögliche Beratung durch die KJP bei spezifischen Fragestellungen. Wie günstig diese
unterschiedlichen Strukturen für Jugendliche sind, ist vermutlich abhängig von der
Ausprägung und Schwere ihrer BPS. Für Jugendliche mit einer sehr ausgeprägte n
Symptomatik ist die stärker klinische Orientierung vermutlich passender, als für solche mit
einer geringeren Symptomatik oder Schwierigkeiten in einzelnen Bereichen. Für sie könnte
vermutlich auch die Anbindung in der Wohngruppe Nehren oder der Gastfamilie ausreiche n.
Wichtig ist, dass die Kooperation mit der KJP und eine therapeutische Beratung in allen drei
Betreuungsformen (wenn auch unterschiedlich ausgeprägt) vorliegen.
Eine Kooperation mit der Schule wird in allen drei Betreuungssettings unterhalten. Auch
kann in allen Jugendhilfemaßnahmen die Unterstützung im schulischen Bedarf an der
individuellen Bedarfslage ausgerichtet werden. Am geeignetsten erscheinen die Ansätze der
Wohngruppe Nehren und JuMeGa: Die Kooperation der Wohngruppe Nehren umfasst das
Erarbeiten
gemeinsamer
Informationsgespräche
und
Ziele
die
und
Teilnahme
Kooperationsformen,
an
schulischen
regelmäß ige
Veranstaltunge n.
Unterstützungsleistungen werden im Wohngruppenalltag erbracht und können auch in die
schulischen
Rahmenbedingungen
(in Form von IZL) integriert
werden, sie sind
bedarfsorientiert. Auch die JuMeGa-Konzeption ermöglicht IZL im schulischen Bereich. In
den Gastfamilien können schulische Bedarfslagen vermutlich sehr individuell und flexibe l
aufgefangen werden. Die Konzeption der Wohngruppe Cramergasse beschreibt für fehlende
Kompetenzen zur Beschulung ein alternatives Förderangebot, weiter beschrieben wird es
jedoch nicht. Somit kann in allen Jugendhilfemaßnahmen die Unterstützung im schulisc he n
Bedarf an der individuellen Bedarfslage ausgerichtet werden. Diese der Wohngruppe Nehren
und der JuMeGa Gastfamilien setzen auch in der Schule selbst an und zielen vermutlic h
darauf einen Verbleib an der Regelschule zu ermöglichen.
Auf eine Kooperation mit den Herkunftseltern wird in allen Konzeptionen Wert gelegt.
Diese der Wohngruppe Cramergasse und der Wohngruppe Nehren zeichnen sich durch ihre
Vielfältigkeit und Bedarfsorientierung aus. Reflexion, Aufarbeitung und die Veränderung
76
der Beziehungsgestaltung zum Jugendlichen (Gespräche, Familientherapie) werden mit
Teilhabemöglichkeiten der Eltern am Leben ihres Jugendlichen (Gruppenwochenende n,
Aktivitäten) und Austauschmöglichkeiten mit anderen Eltern (Elternseminare) kombinier t.
Die Wohngruppe Nehren bietet zusätzlich ein Modul der systemischen Elternarbeit an. Die
monatlichen Gespräche sind für die Eltern der Jugendlichen der Wohngruppe Cramergasse
verpflichtend. Die Zusammenarbeit des JuMeGa-Settings mit den Eltern ist besonders
gekennzeichnet durch ein Vertrauensverhältnis (zum Fachdienst) und kann bei Konflik te n
auf Krisengespräche und begleitete Umgänge ausgeweitet werden. Im Vergleich wird
deutlich, dass sich die Elternarbeit der Wohngruppen durch ihre vielfältigen fachlic he n
Angebote
(Familientherapie,
systemische
Elternarbeit,
Seminare)
von
jener
des
JuMeGaSettings unterscheidet. Diese kommen insbesondere auch den Eltern zu Gute. Die
Ansätze der Wohngruppe Nehren erscheinen am Geeignetsten, da sie vielfältig und
bedarfsorientiert sind und keine zwingende Verpflichtung für die Eltern darstellen, was auch
ein Ausschlusskriterium darstellen kann.
Unterstützungsleistungen der Einrichtung sind im Falle der Wohngruppe Nehren breit
gefächert: Entlastungs- und Qualifizierungsleistungen, Vernetzung, IZL und ergänzende
Module werden angeboten. Ein Modul bezeichnet „Intensivpädagogische Leistungen für
Kinder und Jugendliche mit psychischen Erkrankungen“ (MBH … 2002, S.18) und
beinhalten symptombezogene Leistungen sowie Einzelkontakte zu Bezugspersonen. Die
Einrichtung
der
Wohngruppe
Cramer
ermöglicht
ebenfalls
Entlastungs-
und
Qualifizierungsangebote und zusätzlich flexible Betreuungssettings. JuMeGA bietet einige
Unterstützungs- und Qualifizierungsleistungen (Fachdient, KJP, Fachtage, IZL in einer
anderen Gastfamilie), bleibt damit aber hinter jenen der Wohngruppen zurück. Die
Einrichtung zielt auf passende, flexible Betreuungssettings. In unterschiedlichen Ansätzen
können Jugendhilfeangebote durch Zusatzleistungen individuell ausgerichtet werden,
welches in allen drei Betreuungssettings möglich ist. Der Unterschied der Wohngruppen zu
der Gastfamilie liegt in den Angeboten zur Weiterbildung und Entlastung. Diese liegen in
der Art und Zielsetzung der Betreuungsformen. Die Arbeit der Pflegefamilien sind nicht auf
eine Fachlichkeit der primären Bezugspersonen ausgelegt – sie sollen in erster Linie als
Persönlichkeiten auftreten und in privater Umgebung erziehen. Vor diesem Hintergr und
77
betrachtet bieten die Einrichtung JuMeGa vergleichsweise viel Unterstützungsleistung,
insbesondere durch die bedarfsorientierte Beratung des Fachdienstes.
7
Zusammenfassend liegen in der Konzeption der Wohngruppe Nehren ein Großteil der
geforderten Kriterien für die Betreuung von Jugendlichen mit einer BPS vor. Zu bemänge ln
ist die vergleichsweise geringe Betreuungskonstanz. Hier wären eine Bezugsbetreuung und
reguläre Möglichkeiten zu einem Einzelkontakt wünschenswert. Zusätzlich bedarf es einer
Absprache und Planung mit der KJP bezüglich einer stationären Krisenintervention. Auch
in der Konzeption der Wohngruppe Cramergasse werden die meisten der beschriebene n
Kriterien erfüllt. Kritisch zu sehen bleibt der Beziehungsabbruch aufgrund der Ausrichtung
als eine Übergangseinrichtung. Zu kurz kamen in der Beschreibung die
Alltagsstrukturierung, die Ressourcenorientierung und die Kooperation in der Schule – wie
diese in der Praxis inhaltlich vorliegen, wäre spannend zu erfahren. Der wesentlic he
Unterschied zwischen der Wohngruppe Cramergasse und der Wohngruppe Nehren liegt in
der stärkeren klinischen Orientierung der erstgenannten, sowie ihrer zeitlichen Begrenzung
und Ausrichtung auf „Unterstützung zur Wiedereingliederung“.
Auch das Gastfamilien-Modell von JuMeGa erfüllt die meisten Kriterien. Kritisch zu sehen
ist hier insbesondere die Beziehungsarbeit, welche gleichzeitig den positiven Aspekt der
hohen Bezugskonstanz erfüllt. Dennoch ist in der engen Betreuungsform in Kombinatio n
mit der vermutlich nicht vorliegenden Fachlichkeit (im Sinne einer pädagogischen oder
therapeutischen Ausbildung) die Gefahr der emotionalen Verstrickung erhöht, sowie die
Chance auf korrigierende Bindungserfahrungen geringer. Diese Nachteile ergeben sich für
die Betreuung von Jugendlichen mit BPS und aus ihren spezifischen Verhaltensweisen bzw.
Bedarfslagen, weshalb diese Betreuungsform weniger geeignet erscheint. Dennoch ist sie für
jene mit einer gering ausgeprägten Symptomatik und einer Weiterentwicklung im Anschlus s
an andere Jugendhilfemaßnahmen denkbar.
4.5) Drei weiterführende Hypothesen
In diesem Vergleich ist erkennbar, dass alle drei Betreuungssettings einen Großteil der
Beurteilungskriterien
(Beziehungsarbeit,
Fachlichkeit
+ Grundhaltung
der Betreuer,
Alltagsstrukturierung, Unterstützung beim Kompetenzerwerb, Kooperation mit der KJP,
7
Bisher bestehen im Pflegekinderwesen wenige Standards. Häufig bestehen wenige Kapazitäten um
Beratungs- und Unterstützungsleistungen, die über die Vermittlung, die Begleitung in Krisenzeiten und den
Hilfeplangesprächen hinausgehen, zu ermöglichen (vgl. DJI 2011, S.453).
78
Kooperation mit der Schule/ Eltern, Unterstützungsleistungen der Einrichtung) erfüllen. Sie
unterscheiden sich hinsichtlich der Qualität und Quantität dieser Leistungen, als auch
hinsichtlich der Betreuungsformen, Ansätze und Schwerpunkte.
Im
Rahmen
dieser
theoretischen
Ausarbeitung
können
drei
Hypothesen
zu
Jugendhilfesettings und Jugendlichen mit einer BPS aufgestellt werden:
•
Übliche Wohngruppensettings können den spezifischen Bedarfen der Jugendlic he n
mit BPS gerecht werden, sofern die Hilfestruktur offen für individuelle Anpassunge n
ist,
eine
therapeutische
Beratung
der
Mitarbeiter
stattfindet
und
Kooperationsbeziehungen vorliegen
•
Spezifisch ausgelegte Jugendhilfesettings sind bei starker Ausprägung und Schwere
der Borderline-Symptomatik geeignet
•
Pflegefamilien sind nur bei geringer Symptomatik oder nach einer deutliche n
Weiterentwicklung im Anschluss an eine andere Jugendhilfemaßnahme denkbar
Das Beispiel der Jugendwohngruppe Nehren veranschaulicht, dass ein Betreuungssetting für
alle „Jugendhilfefälle“ offen sein und gleichzeitig individuellen Bedarfslagen der
Jugendlichen mit einer BPS zu einem sehr großen Teil gerecht werden kann. Das Beispiel
der Jugendwohngruppe Cramergasse zeigt spezialisierte Unterstützungsleistungen (Einze lund
Gruppentherapie,
psychologisches
vorschulische
Fachwissen
Förderung)
der Betreuer
auf,
und
vermutlich
was Jugendlichen
ein
mit
zusätzlic h
größeren
Entwicklungsverzögerungen oder einer stärkeren Symptomatik zu Gute kommt. Das
Beispiel der JuMeGa Gastfamilie verdeutlicht die Vorteile der Familienpflege, macht aber
auch die Grenzen der Familienpflege im Umgang mit Jugendlichen mit BPS sichtbar.
5. Fazit
Das Thema dieser Arbeit behandelte die Betreuung von Jugendlichen mit einer BPS in der
stationären Jugendhilfe. Ziel dabei war es, günstige Entwicklungsbedingungen für
Jugendliche mit einer BPS herauszuarbeiten und zu beurteilen, inwieweit stationäre
Jugendhilfeeinrichtungen diesen entsprechen.
Die Grundlagen im zweiten Kapitel beschreiben, dass die BPS ein sehr heterogenes
Erscheinungsbild auszeichnet, bereits im Jugendalter als Verdachts-Diagnose gestellt wird
und dass über Behandlung vermutlich eine Symptomreduktion erreicht werden kann.
79
Auffällige Verhaltensweisen können sich auch als ein Bewältigungsversuch belasteter
Lebensbedingungen darstellen und sind somit kontextabhängig. Das Fallbeispiel der Lisa M.
verdeutlichte diese Kontextabhängigkeit, sowie eine Veränderung von
Entwicklungschancen über die Gestaltung des Kontextes. Im Jugendalter ergeben sich im
Rahmen der Sozialisation, der Entwicklungsaufgaben und der Bindungsentwicklung
spezifische Anforderungen und Veränderungen, mit denen Jugendliche umgehen müssen.
Aufgrund
der
Symptomatik
der
BPS
(den
Instabilitäten
im
emotionale n,
zwischenmenschlichen Bereich und bezogen auf die Identität) können sich zusätzlic he
Herausforderungen
und
Schwierigkeiten,
sowie
verminderte
Teilhabechancen
für
Jugendliche mit BPS ergeben. Diese sind abhängig von der Ausprägung der Störung, aber
auch in besonderem Maße beeinflusst durch den sozialen Kontext und damit verbundene
Ressourcen. Aus diesem Grund kommt den Betreuungssettings der stationären Jugendhilfe,
im Falle einer Unterbringung dort eine wesentliche Bedeutung zu.
Da keine Studien zu Jugendlichen mit BPS in der stationären Jugendhilfe bestehen, erfolgte
die Ausbildung entwicklungsfördernder Lebensbedingungen über die Grundlagen in Kapitel
zwei, den vorgestellten Betreuungs-Modellen und Studien zu Wirk- und Schutzfaktoren in
der Jugendhilfe.
Entwicklungsfördernde Lebensbedingungen für Jugendliche mit BPS
sind: stabilisierende Elemente, eine gelingende Beziehungsgestaltung, welche Chancen auf
korrigierende Bindungserfahrung ermöglicht und eine angemessene Alltagsstrukturierung.
Darunter fallen auch die Ermöglichung von Erfolgserlebnissen, die Interessensförder ung,
Rahmenbedingungen zum Erwerb alternativer Verhaltensweisen, Werte,
Bewältigungsstrategien, eine therapeutische Behandlung und ein angemessener Umgang mit
Selbstverletzungen (zusammengefasst unter Kompetenzerwerb). Unterstützungsleistung zur
Teilhabe fördern die Persönlichkeitsentwicklung und sind insbesondere in einer Kooperation
mit der Schule und den Eltern gefordert. Diesen entwicklungsfördernden konkreten
Unterstützungsleistungen und der Gestaltung des pädagogischen Alltags liegen personelle
(Fachlichkeit, persönliche Eignung) und strukturelle (klinische Orientierung, flexib le
Betreuungssettings) Rahmenbedingungen zugrunde. Aus ihnen erfolgte die Ableitung der
Beurteilungskriterien, anhand welcher die drei beschriebenen Konzeptionen hinsichtlic h
ihrer Passung, sowie Geeignetheit für die Betreuung von Jugendlichen mit einer BPS
verglichen wurden.
Der Vergleich der Betreuungssettings ergab, dass alle drei die Mehrzahl der Kriterien
erfüllen, sich aber hinsichtlich dieser Ausgestaltung deutlich unterscheiden Das Beispiel der
80
Wohngruppe Nehren verdeutlichte, dass auch nicht spezialisierte Wohngruppensettings der
spezifischen Bedarfslage eines Jugendlichen
mit BPS entsprechen können. Hierfür
wesentlich ist ein großes Leistungsspektrum, welches nach Bedarf gestaltet werden kann (in
Form von Individualität im pädagogischen Alltag, Modulen, IZL, Einzelkontakten). Ebenso
sollte eine therapeutische Begleitung des Teams ermöglicht werden (Vermittlung von
Kenntnisse über typische Verhaltensweisen, die Beziehungsgestaltung und möglic he
Ursachen der BPS), um eine Reflexivität, eine Handlungssicherheit und ein adäquates
Verhalten
in
der Arbeit
mit
diesen
Jugendlichen
zusätzlich
zu
unterstütze n.
Kooperationsbeziehungen zur KJP und den Eltern sind wichtig, sollten frühzeitig angestrebt
und auch auf Rückschritte
des Jugendlichen vorbereitet sein. Die Vermittlung in
Jugendhilfesettings, die stärker klinisch orientiert und spezifischer auf Jugendliche mit
größeren Entwicklungsbedarfen ausgerichtet sind, kann für Jugendliche mit einer breiteren
Ausprägung und tieferer Schwere der BPS sinnvoll sein. Denn hier sind die Fachkräfte
entsprechend
weiterqualifiziert
und
die
Rahmenbedingungen
(Therapieanbindung,
therapeutische Angebote im Alltag) dafür ausgelegt (Beispiel Wohngruppe Cramergasse).
Die Betreuung
von Jugendlichen
mit einer BPS birgt aufgrund
Bezugspersonen und keiner (geforderten)
der konstanten
Fachlichkeit die Gefahr der emotiona le n
Verstrickung und ist darum kritisch zu betrachten. Sie könnte im Einzelfall für Jugendlic he
mit BPS passend sein, wenn die Symptomatik sehr gering vorliegt und die Familie dieser
Aufgabe gewachsen ist.
Die Schlussfolgerungen des bewertenden Vergleichs wurden bewusst als Hypothesen
formuliert, da sie im Zusammenhang stehen mit der Schwerpunktlegung der Arbeit auf die
Sozialisations-,
Entwicklungs-
und
Bindungstheorie,
sowie
den
vorgestellte n
Betreuungsmodellen und Studien. Eine Passung des Betreuungssettings zu den Bedarfen des
Jugendlichen muss im Einzelfall geprüft werden. Weiterhin bedarf es auch der vermehrte n
reflexiven
und
empirischen
Auseinandersetzung
mit
diesem
Thema,
um
dem
sozialpädagogischen Handeln fachliches Hintergrundwissen zugrunde zu legen.
81
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Zimmermann, P. (1994): Bindung im Jugendalter: Entwicklung und Umgang mit aktuellen
Anforderungen. Diss. Regensburg.
XIII
Ehrenwörtliche Erklärung
„Ich versichere hiermit, dass ich meine Bachelorarbeit mit dem Thema: „Jugendliche mit
einer Borderline-Störung in der Jugendhilfe – ein Vergleich unterschiedlicher stationärer
Betreuungssettings“ selbstständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Quellen
und Hilfsmittel benutzt habe. Ich versichere zudem, dass die eingereichte elektronis c he
Fassung mit der gedruckten Fassung übereinstimmt.“
_______________________
_____________________________________
Ort, Datum
Unterschrift
XIV
Anhang: Hilfepläne und Konzeptionen
Teamvorlage Jugendamt K.
Seite 1 – 9
(aus datenschutzrechtlichen Gründen hier entfernt)
Tischvorlage MBH
Seite 1 – 4
(aus datenschutzrechtlichen Gründen hier entfernt)
Konzeption sozialtherapeutische Wohngruppe Nehren
Seite 1 – 20
Konzeption therapeutische Wohngruppe Cramergasse
Seite 1 – 8
Konzeption JuMeGa Gastfamilien
Seite 1 - 16
XV
Konzeption
Sozialtherapeutische Jugendwohngruppen
Martin-Bonhoeffer-Häuser
1. Fachliche Orientierungen und pädagogische Grundhaltungen ................ 2
2. Leistungsangebot der stationären Außenwohngruppen ........................... 3
3. Auftrag und Zielsetzung ........................................................................... 3
4. Zielgruppen ............................................................................................. 4
5. Qualitätsstandards ................................................................................... 5
6. Struktur- und Grundelemente der pädagogischen Alltagsgestaltung ....... 7
7. Rahmenleistungen der Einrichtung ........................................................ 16
8. Leistungsmodule und individuelle Zusatzleistungen .............................. 18
9. Kontakt .................................................................................................. 20
Stand: Juli 2010
Martin-Bonhoeffer-Häuser
Seite 2
1. Fachliche Orientierungen und pädagogische Grundhaltungen
Die stationäre Betreuung von Kindern und Jugendlichen in Wohngruppen war und ist die Keimzelle
unserer Einrichtung. Aus einem studentischen Alternativprojekt zur Heimerziehung der frühen
siebziger Jahre (Tübinger Jugendwohngruppen) gründete sich im Jahr 1974 der Tübinger Verein
für Sozialtherapie bei Kindern und Jugendlichen e.V., um für die damals in den Gruppen lebenden
Kinder und Jugendlichen geeignete Lebens- und Betreuungsverhältnisse und für die Einrichtung
den nötigen stabilen Rahmen zu schaffen.
Der Begriff „Sozialtherapie“ weist heute wie vor 30 Jahren darauf hin, dass sozial benachteiligte,
in ihrer Entwicklung und Bildung gehinderte junge Menschen ein Milieu brauchen, das sie
aufnimmt, annimmt, fördern und herausfordern will – und zwar vorwiegend mit sozialen und
pädagogischen Mitteln, denen sich therapeutische, heilpädagogische und psychiatrische
unterstützend anschließen können. Prägender Gedanke für die vollstationäre Heimerziehung der
Einrichtung war das Geborgenheit und Sicherheit bietende „Nest“ und der „gute und verlässliche
Ort“ in Form von dezentral organisierten, kleinen, entstigmatisierenden, weitgehend autonomen
Wohngruppen, in denen die Kinder und Jugendlichen mit aller Kraft und Kreativität in ihrer
psychischen, sozialen und intellektuellen Entwicklung gefördert und herausgefordert werden.
Dieser Zielstellung sehen wir uns auch heute noch verpflichtet.
Im Mittelpunkt unserer Arbeit stehen die einzelnen Kinder und Jugendlichen. Unser oberstes Ziel
ist es, ihnen durch geeignete Beratungs-, Betreuungs-, Hilfe- und Erziehungsleistungen im
Zusammenwirken mit ihren Familien die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen
sowie auf dem Weg zu einer eigenverantwortlichen und mündigen Persönlichkeit zur Seite zu
stehen.
Um dies zu verwirklichen sind Respekt, Wertschätzung und die Orientierung an den Stärken und
Ressourcen der Kinder, Jugendlichen und Familien wichtige Grundhaltungen in unserer Arbeit.
Wir verstehen unsere Arbeit nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung zu den Familien. Wir
sehen und respektieren deren Bedeutung für die Entwicklung jedes einzelnen Kindes und
Jugendlichen.
Gestützt wird unsere pädagogische Praxis zum einen durch einen demokratischen Grundkonsens
und ein humanistisches Menschenbild, an denen sich unsere Arbeit messen lässt. Zum anderen
orientiert sich die Weiterentwicklung unserer Arbeit an sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen und
fachpolitischen Innovationen.
Die Arbeit der Martin-Bonhoeffer-Häuser ist darauf ausgerichtet, in der Betreuung auf
gesellschaftliche Integration und soziale Teilhabe hinzuwirken. Die Hilfe setzt an den Fähigkeiten
und Ressourcen der betreuten Kinder, Jugendlichen und Familien an und wirkt damit präventiv
und nachhaltig zugleich. Der Einzelne und sein Schicksal verlangen mehr Beachtung und
Rücksicht als die Interessen der Institution. Die dezentrale Struktur der Einrichtung und die
Integration der verschiedenen Angebote ins Lebensfeld bzw. das Gemeinwesen sind dafür ein
wichtiger Garant.
Wir sehen uns in den ambulanten Leistungsstrukturen unserer Einrichtung gefordert im
Zusammenwirken mit dem örtlichen Träger, der Stadt und den Gemeinden, eine regionale
Infrastruktur pädagogischer Hilfe- und Betreuungsangebote mitzugestalten. Die Zielstellung
flexibler, bedarfsgerechter und wohnortnaher Hilfen gilt ebenso für unsere stationären Angebote,
die wir in gemeinsamer Planung mit dem öffentlichen Träger weiter entwickeln.
Martin-Bonhoeffer-Häuser
Seite 3
2. Leistungsangebot der stationären Außenwohngruppen
Die Martin-Bonhoeffer-Häuser verfügen über 4 dezentrale, in das Wohnumfeld einbezogene,
gemischtgeschlechtliche Wohngruppen. Jeweils 6 Kinder und Jugendliche werden von
sozialpädagogischen Fachkräften an 365 Tagen im Jahr begleitet, gefördert und unterstützt.
Die Wohngruppen befinden sich in Nehren,
Kappelstraße 5
Tübingen, Katharinenstraße 53
Tübingen, Gartenstraße 129
Waldenbuch, Goethestraße 15
Ein weiteres stationäres Angebot für Kinder im Alter von 8 bis ca. 14 Jahren bietet unser
familienintegratives Projekt „Fips“. Dort werden 6-8 Kinder stationär in Verbindung mit intensiver
Elternarbeit begleitet. In besonderen Fällen (z.B. Geschwisterkonstellationen) können auch
jüngere Kinder aufgenommen werden. Dieses Gruppenangebot befindet sich in
Tübingen, Paulinenstraße 1
Die fachliche Arbeit in den Wohngruppen basiert auf den Regelungen des Sozialgesetzbuches
Achtes Buch (KJHG), § 2 Abs.2 Ziffer 4, 5 und 6. Anspruchsberechtigt sind die
Personensorgeberechtigten. Die Unterbringung in einer der Wohngruppen erfolgt als stationäre
Erziehungshilfe in einer Einrichtung über Tag und Nacht nach § 34 KJHG, § 35a Abs. II Ziffer 4
KJHG (Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche) und § 41 KJHG (Hilfe
für junge Volljährige).
Darüber hinaus besteht im Bedarfsfall und auf gezielte Nachfrage hin die Möglichkeit zur
Inobhutnahme gem. § 42 KJHG von Kindern und Jugendlichen als Krisenintervention oder als
Clearingauftrag.
3. Auftrag und Zielsetzung
Durch die Verbindung von Alltagserleben, pädagogischer Arbeit und therapeutischen Angeboten
auf der Grundlage kontinuierlicher Hilfeplanung (§ 36 KJHG) erhält der junge Mensch Hilfe und
Förderung zur ganzheitlichen Stärkung seiner psychosozialen Persönlichkeit und Kompetenz
bis zur Rückkehr in seine Familie zur Fortsetzung der Hilfe in einer weiterführenden Hilfeform
(z.B. Betreutes Jugendwohnen) zur Verselbstständigung nach Verlassen der Wohngruppe zur
Wiedereingliederung in das vorherige Lebensfeld (§ 35a KJHG)
Mit diesem Auftrag verbinden sich insbesondere Ziele wie
Vermittlung von Sicherheit durch einen strukturierten Alltag
Mobilisierung der individuellen
Persönlichkeitsentfaltung
Stärken
des
jungen
Menschen,
Förderung
der
Abbau oder Kompensation von Störungen und Defiziten im Bereich emotionaler,
psychosozialer, kognitiver und körperlicher Entwicklung
Martin-Bonhoeffer-Häuser
Seite 4
Förderung der Fähigkeit, sich vor gefährdenden Einflüssen zu schützen Abbau
von Benachteiligungen, Hilfe zur Selbsthilfe
schulische bzw. berufliche Integration sowie soziale Integration ins Gemeinwesen Förderung
der Erziehungsbedingungen im Elternhaus und/oder im familiären Umfeld
Entwicklung von Lebens- und Zukunftsperspektiven
Förderung des Erhalts und der Entwicklung der Bezüge außerhalb der Einrichtung
Verantwortungsübernahme für das eigene Verhalten
Sich als konstruktives Mitglied dieser Gesellschaft begreifen
Auseinandersetzung mit der eigenen „Behinderung“ und Lernen eines adäquaten Umgangs
mit dieser (§ 35a)
Die Besonderheit der Wohngruppe als „Lebensort“ beinhaltet, dass die Kinder und Jugendlichen
Unterstützung und Förderung in allen wichtigen Lebensbereichen erfahren. Möglicherweise
können so schwierige und traumatische Erfahrungen verarbeitet werden. Die Leistungen umfassen
daher die Gesamtheit aller Förderungsmöglichkeiten (Alltag, Gruppe und Lebenswelt, Bildung und
Schule, Auseinandersetzung mit der Herkunftsfamilie, Therapie) um die Kinder und Jugendlichen
auf ein möglichst selbst bestimmtes und eigenverantwortliches Leben vorzubereiten.
4. Zielgruppen
Das Angebot unserer stationären Wohngruppen richtet sich an Kinder, Jugendliche und junge
Volljährige im Sinne des § 7 KJHG, bei denen eine dem Wohl des jungen Menschen
entsprechende Erziehung und Entwicklung nicht gewährleistet ist. Voraussetzung ist, dass sich
die Beteiligten in der gemeinsamen Hilfeplanung nach § 36 KJHG auf diese Hilfeform geeinigt
haben. Sie ist u.a. angezeigt, wenn sich aufgrund von Beziehungsabbrüchen, Vernachlässigungs und/oder Missbrauchserfahrungen Erziehungsdefizite und Auffälligkeiten im Entwicklungs-,
Verhaltens- und im emotionalen Bereich manifestiert haben.
Diese äußern sich erfahrungsgemäß häufig in Form von negativem Selbstwertgefühl, geringer
Konfliktfähigkeit und Belastbarkeit, Störungen im Sozial-, Arbeits- und Leistungsverhalten,
insbesondere Schulversagen, Schulschwänzen und Schulverweigerung, Verwahrlosung, (Auto-)
Aggressionen, Depressionen bis hin zur Suizidgefährdung, Delinquenz, Verhaltensauffälligkeiten
im Zusammenhang mit Suchtproblematiken (Drogen, Esssucht, Medien, Konsum etc.),
(psychosomatischen) Erkrankungen, Problemen bei der Identitätsfindung, insbesondere auch
aufgrund kultureller Prägungen bei Kindern aus Migrationsfamilien.
Zur Zielgruppe gehören auch seelisch behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte
Kinder und Jugendliche (§ 35a SGB VIII). Krankheitsbilder sind u.a.: Neurosen (Angststörungen,
Phobien, psychosomatische Beschwerden), Essstörungen (Bulimia nervosa, Anorexia nervosa,
Adipositas), Borderline-Störungen, Zwangserkrankungen oder Erkrankungen mit psychotischen
Anteilen. Um eine ausreichende und gezielte Stützung und Förderung der besonders belasteten
Jugendlichen zu gewährleisten, sind für diese Zielgruppe sehr individuelle, auf die Symptome
bezogene Beziehungsangebote notwendig, die im Rahmen des Moduls II „Intensivpädagogische
Leistungen für Kinder und Jugendliche mit psychischen Erkrankungen und besonderem
Erziehungsbedarf“ zusätzlich erbracht werden können und im Hilfeplan zu vereinbaren sind.
Für junge Menschen die der besonderen individuellen Betreuung „im Vorfeld einer Anordnung zur
geschlossenen Unterbringung“ bedürfen, halten wir das Modul III vor. Durch gezielte intensiv- und
individualpädagogische Unterstützung kann die Wohngruppe eine tragfähige und offene
Alternative im Vorfeld einer Anordnung zur geschlossenen Unterbringung gewähren. Hilfreich wirkt
hierbei die durch eine richterliche Weisung verfügte Unterbringung.
Martin-Bonhoeffer-Häuser
Seite 5
Die Aufnahme von jungen Menschen mit psychiatrischem Hintergrund und besonders intensivem
Jugendhilfebedarf ist in allen vier Gruppen möglich, muss jedoch in Abhängigkeit zur jeweils
aktuellen Gruppenkonstellation im Einzelfall verantwortlich geprüft und abgewogen werden. Die
ausführlichere Beschreibung der beiden Leistungsmodule ist unter Punkt 8 „Individuelle
Zusatzleistungen und Module“ aufgeführt. Die damit verbundenen Leistungen sind der Anlage
„Leistungsmodule und Individuelle Zusatzleistungen für die Stationären Wohngruppen der
MartinBonhoeffer-Häuser“ zu entnehmen.
5. Qualitätsstandards
5.1. Fachliche Qualitätsstandards
Zu den fachlichen Qualitätsstandards der in § 34 KJHG genannten Erziehungshilfen gehören das
Angebot eines attraktiven, altersgemäßen Umfeldes
Kontinuität durch grundsätzliche Öffnung der Wohngruppen an 365 Tagen im Jahr (eine
kurzzeitige Schließung kommt nur in Betracht, wenn alle Gruppenmitglieder unter dem
Gesichtspunkt der Förderung der notwendigen Außenbeziehungen ohne negative Folgen
beurlaubt werden können. Dies wird im Einzelfall geprüft, vorbereitet und abgesichert)
ein verlässlicher und vertrauensbildender Bezugsrahmen in Verbindung mit tragfähigen
Beziehungen als Voraussetzung zur Entfaltung der Persönlichkeit der Kinder und Jugendlichen
biographisches Fallverstehen mit systemischer Methodik, bspw. Genogrammarbeit
regelmäßige reflektierende Fallbesprechung im Team mit Fachberatung durch die
Bereichsleitung bzw. durch den Fachdienst
gezieltes, geplantes pädagogisches Setting und Lernarrangements
die Beteiligung des jungen Menschen entsprechend seines Entwicklungsstandes an allen ihn
betreffenden Entscheidungsprozessen
die Einbeziehung der Familie in die pädagogische Arbeit und auf den Bedarf abgestimmte
Eltern- und Familienarbeit
die Integration und Vernetzung von pädagogischer Alltagsgestaltung, gezielter Individual- und
Gruppenpädagogik, sozialem Lernen, schulischer Förderung und therapeutischer Hilfe die
Differenzierung in Einzel- und Kleingruppenbetreuung die Zusammenarbeit mit anderen
Fachdisziplinen und Institutionen wie Kinder- und Jugendpsychiatrie, psychosomatischen
Kliniken, Gerichten, Jugendgerichtshilfe, Polizei
5.2. Personelle Qualitätsstandards
In den vier Gruppen arbeiten überwiegend sozialpädagogisch ausgebildete Fachkräfte
(DiplomPädagogInnen,
Diplom-SozialpädagogInnen,
Jugendund
HeimerzieherInnen,
Erzieherinnen) mit Berufs- und Lebenserfahrung. Sie verfügen über ein hohes Maß an
Fähigkeiten zur Entwicklung und Ausgestaltung von tragfähigen Beziehungen
Konfliktbereitschaft und Konfliktkompetenz
Fähigkeiten, die Balance zwischen erforderlicher Nähe und professioneller Distanz durch
Klarheit und Standfestigkeit zu schaffen
Reflexionsvermögen,
Organisationstalent
Sensibilität,
Belastbarkeit,
Verlässlichkeit,
Flexibilität
und
Martin-Bonhoeffer-Häuser
Seite 6
Fähigkeiten zur Teamarbeit mit reflektierender Fallarbeit und Erziehungsplanung
Bereitschaft zur Supervision, Fort- und Weiterbildung
Bereitschaft zur Nacht- und Sonntagsarbeit
Qualitäts- und Leistungsbewusstsein
Fähigkeiten zur praktischen Umsetzung von fachtheoretischem Wissen
Die Teams werden ergänzt durch ErzieherInnen im Anerkennungsjahr und PraktikantInnen der
ausbildenden (Fach-) Hochschulen (Bachelor of Arts). Diese werden – im Sinne einer von der
Einrichtung ausgeübten Verantwortung für die Ausbildung von Nachwuchskräften – professionell
über die Dauer der Ausbildungsphase von qualifizierten und erfahrenen KollegInnen der
Wohngruppen begleitet und angeleitet.
5.3. Institutionelle Qualitätsstandards
Zur Förderung und Stärkung der persönlichen und fachlichen Kompetenz jedes/r einzelnen
Mitarbeiters/In werden folgende Standards gesetzt bzw. Unterstützungsformen angeboten, die in
Einklang mit dem Selbstverständnis der Einrichtung stehen:
definiertes und beschriebenes Leistungsangebot auf der Basis einer handlungsleitenden
Konzeption
zielorientiertes Arbeitssystem der Hilfeplanung, Hilfegestaltung, Reflexion und
Dokumentation gegenseitige kollegiale Praxisberatung im Rahmen der wöchentlichen
Teambesprechungen regelmäßige Fachberatung durch die Bereichsleitung bzw. durch den
Fachdienst regelmäßige externe Supervision
Vernetzung
durch Arbeit
in internen
(Bereichsbesprechungen, ArbeitsQualitätsentwicklungsgruppen) und externen Gremien (regionale PlanungsProjektgruppen, Jugendbüro, etc.)
und
und
Förderung
der Teilnahme an externen Fortbildungen, Fachveranstaltungen und
konzeptionellen Arbeitskreisen
Förderung durch Angebote von Inhouse-Fortbildungen (Systemisches Arbeiten, VideoHomeTraining, Umgang mit schwierigen und traumatisierten Jugendlichen)
Förderung der Vorbereitung, Durchführung und Teilnahme an internen Fachveranstaltungen
wie Fachforen, Fallwerkstätten, Fachabenden…
Qualitätsentwicklungs- und Qualitätssicherungssystem mit klaren Regelungen für
Schlüsselprozesse der pädagogischen Praxis (Qualitätshandbuch, Schutzauftrag §
Rufbereitschaft, Verhalten in Krisen und Konflikten), Leitlinien zur Supervision, Leitlinien
Fort- und Weiterbildung, Umgang mit Beschwerden, Evaluation, System
leistungsorientierten Bezahlung, …)
die
8a,
zur
der
Ausbildungsförderung, Personalgewinnung und –bindung Dienstund Fachaufsicht durch die Bereichsleitung
intensive Zusammenarbeit mit den belegenden Jugendämtern, mit Landesjugendamt und
Fachverbänden (DPWV u.a.)
enge Kooperation mit den PartnerInnen im Bezugsfeld des
Stadtteils oder Gemeinwesens als konzeptionelle Grundlage und im Sinne der Jugendhilfeplanung
Verbindung mit Wissenschaft, Lehre und Forschung, aktive Mitarbeit in Seminaren der
Hochschule
Martin-Bonhoeffer-Häuser
Seite 7
Zusammenarbeit mit der Tübinger Kinder- und Jugendpsychiatrie und ortsansässigen Kinderund Jugendlichen-PsychotherapeutInnen
6. Struktur- und Grundelemente der pädagogischen Alltagsgestaltung
6.1. Aufnahmeverfahren und Eingangsdiagnostik
In einem zeitlich und inhaltlich festgelegten Verfahren werden Voraussetzungen, Möglichkeiten
und Bedingungen für eine evtl. Aufnahme geklärt sowie erste Kooperationsformen mit den
Beteiligten abgesprochen. Die nachfolgenden Prozessschritte sind vereinbart und haben sich
bewährt:
(1)
Telefonische Anfrage durch den Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) des zuständigen
Jugendamtes, in Einzelfällen auch durch die Jugendhilfeeinrichtung, in welcher der/die
Jugendliche bisher untergebracht ist.
(2)
Anforderung von Unterlagen in Form von Berichten, Hilfeplänen, Lebensdaten,
Zeugnissen etc. durch die Bereichsleitung der Martin-Bonhoeffer-Häuser
(3)
Das Erstgespräch findet in unserer Einrichtung statt unter Beteiligung von jungem Mensch,
Familie und anderen wichtigen Bezugspersonen, Jugendamt, Bereichsleitung und
MitarbeiterInnen der Wohngruppe mit dem Ziel über unsere Möglichkeiten zur Hilfe zu informieren
mehr über den Jugendlichen, seine Schwierigkeiten und sein bisheriges Lebensfeld zu
erfahren ein besonderes Augenmerk auf mögliche Risiken wie Suchtgefährdung,
Aggressionspotential und psychische Erkrankung richten zu können
die Motivation des Jugendlichen und der Eltern zu eruieren und unsere Erwartungen an die
Mitwirkung der/des Jugendlichen und der Eltern mitzuteilen
den Bedarf an konkreter Hilfe einschätzen zu können erste
Hilfemöglichkeiten gemeinsam abzustimmen
Im Anschluss an das Erstgespräch besteht die Möglichkeit zur Besichtigung der in Betracht
kommenden Wohngruppe.
(4)
Die Aufnahme wird bei Konsens aller Beteiligten als ein Ergebnis des Erstgesprächs
vereinbart. Die Aufnahme ist verknüpft mit einer vereinbarten Erprobungszeit, in deren Rahmen
gemeinsame Ziele konkretisiert werden. Hierbei wird besonderer Wert auf einen engen Dialog mit
den Jugendlichen gelegt.
Der junge Mensch lernt während dieser Anfangszeit die Mitbewohnerinnen und die
Betreuerinnen der Wohngruppe kennen und gewinnt einen Einblick in die Regeln, Pflichten,
Verbindlichkeiten, Möglichkeiten und Perspektiven der Hilfe
Die Aufnahme ist mit dem Besuch der ortsansässigen relevanten Schule, einer
Praktikumsstelle oder eines Ausbildungsbetriebs verbunden
Zur diagnostischen Abklärung stellt sich der junge Mensch bei der Kinder- und
Jugendlichentherapeutin der Einrichtung vor
Zum Ende der Probezeit findet ein Auswertungsgespräch mit dem jungen Menschen und dem
Team, ggf. zusätzlich mit der Bereichsleitung, statt, um die Erfahrungen zu reflektieren und
mögliche Besonderheiten oder Bedingungen für den weiteren Verlauf der Hilfe festzulegen
Martin-Bonhoeffer-Häuser
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6.2. Pädagogische Betreuung im Alltag
Die Alltagsbewältigung und Alltagsgestaltung ist zentrales Leistungsmerkmal stationärer
Erziehungshilfe. Geregelte Strukturen wie das morgendliche Aufstehen, der Schul- bzw.
Ausbildungsbesuch, die regelmäßigen Mahlzeiten, die festgelegten Ausgeh- und Zubettgehzeiten,
die Betreuungszeiten bei Hausaufgaben, die Mitwirkung bei Einkauf und Kochen, die Übernahme
von Putz- und Wäschediensten sichern die Grundbedürfnisse des jungen Menschen und
unterstützen die Kinder und Jugendlichen, die täglichen Anforderungen und Aufgaben bewältigen
zu lernen.
Gestaltete Beziehungen in einem auf Zeit angelegten Bezugssystem, ein von gegenseitiger
Achtung geprägter Umgang mit MitbewohnerInnen und BetreuerInnen sowie eine ansprechende
Wohnatmosphäre bieten das Lern- und Übungsfeld für die Entwicklung einer eigenständigen und
eigenverantwortlichen Lebensführung.
Die alltagspädagogische Betreuung der Kinder und Jugendlichen in den Wohngruppen wird „rund
um die Uhr“ im Schicht- und Wechseldienst durch die Mitarbeiterinnen geleistet.
Sie bringen sich mit ihrer gesamten Persönlichkeit in die Erziehungsarbeit ein. Durch Offenheit,
Ehrlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Zuverlässigkeit und Beharrlichkeit in der täglichen
Auseinandersetzung werden sie für die Kinder und Jugendlichen glaubwürdig. Dies ist
unverzichtbare Voraussetzung für die Ausgestaltung von tragfähigen und vertrauensvollen
Beziehungen. Auf dieser Grundlage übernehmen sie ganzheitlich die gemeinsame Verantwortung
für die Belange des Alltages der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen.
Aufgrund der sorgfältigen Auseinandersetzung mit der individuellen Biographie im Kontext der
Familiengeschichte und den vorherrschenden Familienmustern, durch Erwerb von
systematischem Wissen mittels genauer Beobachtung des Kindes/Jugendlichen in seinen
Lebensfeldern und der Beurteilung seines Verhaltens sowie durch Erkennen der Notlagen können
notwendige und geeignete Hilfen zur Stützung und Förderung der Kinder und Jugendlichen
angeboten werden. Hierbei wird bewusst die Festlegung auf spezielle therapeutische Schulen und
Methoden vermieden zugunsten eines offenen Konzepts, das den lebensweltorientierten und
systemischen Blick auf die Gesamtzusammenhänge einschließt.
Die sozialpädagogische Betreuung umfasst sehr unterschiedliche Elemente:
(1) Strukturierung des Tages- und Wochenablaufs in einem gemeinsamen und verbindlichen
Zeitrahmen:
Regelmäßig wiederkehrende Weck-, Mahl-, Lern-, Ausgeh- und Zubettgehzeiten geben den
Kindern und Jugendlichen Orientierung, Sicherheit und einen überschaubaren Rahmen.
(2) Erzieherische Auseinandersetzung mit den Kindern und Jugendlichen:
Durch persönliche Zuwendung und Verständnis fühlen sich die Kinder und Jugendlichen von
Erwachsenen angenommen, finden Vertrauen und gewinnen emotionale Sicherheit
Die BetreuerInnen übernehmen durch ihr Verhalten wichtige
Vorbildfunktion
Sie beraten die Kinder und Jugendlichen und geben Interpretationshilfen, welche dazu dienen,
Probleme neu einschätzen und aufarbeiten zu können
Durch Regeln und Grenzsetzungen erhalten die Kinder und Jugendlichen einen schützenden
und Sicherheit bietenden Rahmen, in welchem sie sich auf eine entwicklungsfördernde Weise
erfahren können. Regeln sind in einem für jede Wohngruppe speziell ausgearbeiteten
Regelwerk beschrieben. Trotz der notwendigen Verbindlichkeit ist dieser vorgegebene
Rahmen kein starres Gebilde. Er kann aufgrund von Lernfortschritten, wachsender Kompetenz
und zunehmender Verantwortungsfähigkeit individuell angepasst und erweitert werden. Die
Betreuerinnen befinden sich in einem ständigen Aushandlungsprozess m it den Kindern und
Jugendlichen. Bedürfnisse, Wünsche und Vorstellungen werden hinterfragt, diskutiert und
immer wieder neu bewertet
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Regeln sind sinnlos ohne für die Jugendlichen transparente, durch das Team kontinuierlich
reflektierte Konsequenzen im Fall des Verstoßes. Die Art der Reaktion orientiert sich an dessen
Schwere, der Einsichtsfähigkeit und Kooperationsbereitschaft der Jugendlichen, ihrer
Vorgeschichte und aktuellen Situation
Die pädagogischen Mitarbeiterinnen stellen sich für Projektion und Reibung zur Verfügung, so
dass die Jugendlichen mit authentischen und empathischen Erwachsenen auf der Basis
gesicherter Beziehungen und Bindungen sich erproben und die eigene Stärke messen können.
Dies gibt Orientierung, stärkt das Selbstwertgefühl und fördert die Selbständigkeit.
(3) Individuelle Förderung jedes einzelnen Kindes und Jugendlichen:
Im kognitiven, (lebens-)praktischen, kreativen, sportlichen, musischen, praktisch-handwerklichen,
grob- und feinmotorischen, körperlichen sowie im emotional-expressiven Bereich erhalten die
Kinder und Jugendlichen Unterstützung durch Motivierung, Anleitung, Förderung und
Anerkennung. Vertrauen und Sicherheit in die eigenen Fähigkeiten werden gewonnen und
Schwächen sowie Ängste können erkannt, kompensiert und abgebaut werden.
(4) Auseinandersetzung mit Impulsen, Stimmungen, Bedürfnissen und Interessen der Kinder
und Jugendlichen im Kontext der Gruppe:
Die Einbindung des/der einzelnen Jugendlichen in die Gruppe ist maßgeblicher Bestandteil des
pädagogischen Konzepts.
Durch das Erleben der Gruppe und die Auseinandersetzung der einzelnen mit ihr werden
soziale Fähigkeiten wie „sich mitteilen“, „argumentieren“, „durchsetzen und sich
zurücknehmen“, „produktives Streiten“ und vieles mehr geübt und gelernt. Im Tagesablauf gibt
es feste Zeiten in denen sich die Gruppe trifft. Hier wird Dampf abgelassen, Schulstress
abgebaut, über unterschiedliche Themen diskutiert und der weitere Tagesablauf geplant
In regelmäßigen Abständen findet der Gruppenabend/-tee statt, die Teilnahme ist für alle
Jugendliche und MitarbeiterInnen verpflichtend. In diesem Rahmen werden Konflikte
aufgedeckt und bearbeitet, Regeln und Abläufe ausgehandelt, die Gruppendynamik analysiert
und anhand von z.B. Rollenspielen oder spezifischen Projekten aufgearbeitet. Hier werden
auch zukünftige Alltagsaktivitäten, der Speiseplan, besondere Ereignisse der einzelnen
Jugendlichen, Freizeitaktivitäten wie z.B. die nächste Gruppenfreizeit geplant oder auch
einfach ein entspannter gemeinsamer Abend verbracht. Durch das „Wohnen unter einem
Dach“ werden soziale Fertigkeiten und Verhaltensweisen wie gegenseitige Rücksichtsnahme
und ein achtsamer Umgang mit den anderen erlernt und gefördert
(5) Hausaufgabenbetreuung und schulische Förderung:
Die Kinder und Jugendlichen erhalten gezielte individuelle Unterstützung in Form von Lern- und
Motivierungshilfen. Bei Bedarf werden individuelle Lernzeiten vereinbart, die konzentriertes Lernen
ohne störende Einflüsse von außen ermöglichen sollen. Während der täglichen
Hausaufgabenbewältigung in (Klein-)gruppen oder durch Einzelförderung werden Defizite erkannt,
Lernfortschritte überprüft und geeignete Förderungsmaßnahmen wie zusätzliche EinzelLerntermine bei anstehender Klassenarbeit oder zur Prüfungsvorbereitung durchgeführt. Im
Rahmen von EinzelFörderunterricht werden qualifizierte LehrerInnen vermittelt, um größere
Lücken im Unterrichtsstoff zu bearbeiten. Die MitarbeiterInnen pflegen intensiven Kontakt zu allen
Schulen und Ausbildungsstätten der Kinder und Jugendlichen und treffen Abs prachen für eine
enge Kooperation. Sie nehmen an den Elternabenden und Schulveranstaltungen teil, auch
gemeinsam mit den Eltern, die durch diese Form von aktiver Mitwirkung in die Verantwortung für
ihr Kind genommen werden.
(6) Gesundheits- und Hygieneerziehung:
Die jungen Menschen werden individuell, abhängig vom jeweiligen Entwicklungsstand, zu
regelmäßiger Zahn-, Körper- und Kleiderpflege angeleitet.
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Nach sorgfältiger Einschätzung kann eine Eingangsuntersuchung zeitnah nach Aufnahme
vereinbart werden. Prophylaktische Termine bei Haus-, Zahn- und Facharzt sind obligatorisch. Im
Krankheitsfall findet eine enge Kooperation mit dem zuständigen (Haus-) Arzt statt. Die
Versorgung mit gesunder Ernährung, das Augenmerk auf ausreichende Bewegung in frischer Luft
mit funktioneller und der Witterung entsprechender Kleidung und Schuhwerk und generell die
Vermittlung einer gesunden Lebensführung tragen zu einer das Wohlbefinden fördernden
körperlichen und geistigen Entwicklung bei.
(7) Altersgemäße, die Interessen und individuelle Begabung berücksichtigende
Freizeitgestaltung:
Die Kinder und Jugendlichen erhalten Anregung und Unterstützung zur sinnvollen
Freizeitgestaltung. Sie dient zum Ausgleich und zur Entspannung, als Ventil zum
Aggressionsabbau, zur Körperwahrnehmung und Selbsterfahrung. Sportliche und
gesellschaftliche Aktivitäten, Ausflüge und Besichtigungen werden individuell oder in der Gruppe
geplant, organisiert und durchgeführt. Zum Engagement für im Gemeinwesen tätige Einrichtungen
und Vereine wird unter dem Gesichtspunkt der Wichtigkeit der Außenbeziehungen besonders
motiviert.
Die jährlich durchgeführten Freizeiten mit der Gesamtgruppe dienen den Kindern und
Jugendlichen zur Erholung und als Übungsfeld. Sie werden in Planung, Vorbereitung, Gestaltung
und Reflexion der gemeinsam verbrachten Zeit miteinbezogen. Im Gegensatz zum Schichtdienst
ist eine Personalkonstanz über einen längeren Zeitraum möglich, welche für die notwendige
Sicherheit in fremder Umgebung und in unbekannten und verunsichernden Situationen sorgt.
Gerade in der Ferienzeit oder in der freien Zeit an Wochenenden werden oft besondere Aktivitäten
(Klettern, Schwimmen) und Projekte (Medien-, Kunst-) durchgeführt. Freie Zeit soll aber auch für
Erholung und Regeneration zur Verfügung stehen. Außerdem gibt sie den MitarbeiterInnen
Aufschluss darüber, inwieweit die Jugendlichen selbst in der Lage sind, ihre Freizeit allein oder
gemeinsam mit anderen zu gestalten.
Durch die gemeinsame Vorbereitung und Gestaltung von Festtagen im Jahreskreis mit der
Vermittlung von Ritualen (Weihnachten, Ostern) und im Rahmen von Festen aufgrund eines
persönlichen Anlasses (Geburtstag, Konfirmation/Firmung, Verabschiedung einer Jugendlichen
oder einer Mitarbeiterin aus der Wohngruppe) erfahren viele der Kinder und Jugendlichen eine
neue positive Weise des Feierns. Hierdurch werden Beziehungen besonders gepflegt und vertieft
und gegenseitige Wertschätzung wird zum Ausdruck gebracht.
(8) Gestaltung des Wohnumfeldes und der Gruppenatmosphäre:
Im Wissen um den Zusammenhang von Sauberkeit und Freundlichkeit und innerer Befindlichkeit
wird auf eine Atmosphäre Wert gelegt, in der sich die Jugendlichen, aber auch MitarbeiterInnen
und Gäste wohl fühlen können. So werden anhand von gemeinsamen Aktivitäten und Projekten
Haus, Hof und Garten gepflegt und ansprechend gestaltet, so dass die BewohnerInnen das Gefühl
von einem eigenen „Zuhause“ bekommen. Der junge Mensch übernimmt eine besondere
Verantwortung für die Ordnung und Sauberkeit seines Zimmers.
(9) Soziale Kontakte, Freunde:
Zu einem gesunden und zufriedenen Leben gehören gute Freunde und gute soziale Kontakte. Da
viele Jugendliche oft aus einem sie schädigenden Umfeld kommen, legen die MitarbeiterInnen
Wert darauf, die Freunde der Jugendlichen kennen zu lernen. Sind die Kontakte konstruktiv und
sozial förderlich, sind sie gern gesehene Gäste im Haus und werden in das Alltagsgeschehen der
Gruppe einbezogen. Sie dürfen beispielsweise mitessen, in der Gruppe übernachten und an
Gruppenaktivitäten teilnehmen.
Martin-Bonhoeffer-Häuser
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6.3. Förderung und Kooperation im Schul- und Ausbildungsbereich
Förderung, Begleitung und Unterstützung in den Bereichen Schule, Ausbildung und Beschäftigung
erfolgen durch die gezielte Erarbeitung der schulischen und beruflichen Perspektive unter
Einbeziehung
und
mit
kontinuierliche
Zusammenarbeit
der
verschiedenen
KooperationspartnerInnen wie Schule, Berufsberatung, Ausbildungsbetrieb und Arbeitsstelle. Der
Einbindung der Familie kommt hierbei eine wichtige Rolle zu.
Externe Schulen oder Ausbildungsbetriebe sind wichtige PartnerInnen, die zum Gelingen der
Maßnahme beitragen. Eine gute Kooperation hilft allen beteiligten Institutionen, den
Besonderheiten der pädagogischen Versorgung des/der Jugendlichen gerecht zu werden.
Sie umfasst
bei Neuaufnahme in die Wohngruppe Begleitung, Vorstellung und Anmeldung des
Kindes oder Jugendlichen in Schule oder Ausbildungsbetrieb, um den Förderbedarf mit den
Unterrichts- bzw. Ausbildungszielen abzustimmen
Vereinbarungen von Formen der Zusammenarbeit, um bei auftretenden Schwierigkeiten
(ZuSpät-Kommen,
Schuleschwänzen,
Nichterledigung
der
Hausaufgaben,
Disziplinarverstösse etc.) sofort intervenieren zu können
regelmäßigen Informationsaustausch mit den an der Ausbildung beteiligten Personen und
Betrieben im Rahmen von Elternsprechstunden und Elternabenden zur Überprüfung von
Entwicklungs- und Lernfortschritten und zur Vermeidung bzw. Lösung von Krisen. Wenn
möglich sollte eine konstante Ansprechperson in der Wohngruppe für die
KooperationspartnerInnen erreichbar sein
Teilnahme an Schulaktivitäten (Schulveranstaltungen, Feste, Projekte etc.) für eine gute
Einbindung des Kindes/Jugendlichen in seine Schule
Initiierung und Vermittlung von berufsbegleitenden Hilfen (Praktika, Förderlehrgänge etc.)
Hilfe bei der Entscheidungsfindung bzgl. der weiteren Schul- bzw. Berufsausbildung (z.B.
Rückversetzung, Schulwechsel, Umschulung, Vorstellung bei der Berufsberatung, etc.).
6.4. Kooperation und Arbeit mit der Familie bzw. mit den Sorgeberechtigten
Die Eltern- und Familienarbeit wird grundsätzlich vor dem Hintergrund einer wertschätzenden
Haltung gegenüber den Familienmitgliedern geleistet. Voraussetzung für eine gelingende
Zusammenarbeit ist das Interesse und die Motivation der Beteiligten und deren Einbindung in die
pädagogische Arbeit unserer Einrichtung. Ein wichtiges Ziel der Eltern- und Familienarbeit ist es,
die Betroffenen nicht auszugrenzen und Konkurrenz zu den „Professionals“ auszuschließen. Die
Familie wird über die Arbeit der Wohngruppe informiert um evtl. vorhandene Ängste,
Unsicherheiten, Vorbehalte und Vorurteile gegenüber der Institution „Heim“ abzubauen. Ein
Kennenlernen des Lebensortes der Herkunftsfamilie des/der Jugendlichen durch einen
Hausbesuch eines/r MitarbeiterIn der Wohngruppe im Rahmen der Aufnahme kann zusätz lich für
mehr Transparenz sorgen.
Im Hinblick auf eine mögliche Rückführung des Kindes oder Jugendlichen kommt der Arbeit mit
den Eltern bzw. der Herkunftsfamilie eine große Bedeutung zu. Auch wenn eine Rückführung nicht
in Betracht kommt, sind Auseinandersetzung, Klärung, Auflösung alter Problematiken sowie
Planung mit der Familie notwendig, um diese in ihrer Bedeutung als Bezugspersonen zu erhalten
und zu stärken.
Zur allgemeinen Zusammenarbeit und Kontaktpflege mit der Herkunftsfamilie gehören (laut
Rahmenvertrag § 6 Abs. 2 b) insbesondere die Gestaltung der Aufnahmesituation und der Hilfe/Erziehungsplanung unter aktiver Einbeziehung der Bezugspersonen aus dem Herkunftssystem
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die Unterstützung der Kinder/Jugendlichen bei Telefon- und Briefkontakten das
Initiieren gemeinsamer Aktivitäten, Alltagshandlungen und Freizeitunternehmungen
Kontaktpflege bei Besuchen der Herkunftseltern in der Einrichtung die Vor- und Nachbereitung
selbständiger Besuche des Kindes/Jugendlichen in der Herkunftsfamilie
die Teilhabe der Herkunftseltern/-familie an Festen und Feiern des Kindes/Jugendlichen
Über die regelhafte Kontaktpflege hinaus können weitere auf den Erziehungsbedarf abgestimmte
Leistungen der Eltern- und Familienarbeit im Rahmen unseres Modul I (systemische Eltern- und
Familienarbeit) oder als individuelle Zusatzleistung erbracht werden.
Solche Leistungen beinhalten
die Entwicklung eines tragfähigen Erziehungskonsenses
zwischen Wohngruppe und Eltern/ Familie durch die Kontaktpflege ergänzende im Hilfeplan
vereinbarte regelmäßige Elterngespräche und –beratungen (kontinuierliche Beratung der Eltern
auch und gerade bei getrennten Eltern, Erarbeitung der Bereitschaft der Eltern zur
familientherapeutischen Hilfe im Einzelfall, intensive Vorbereitung und Begleitung einer
angestrebten Rückführung in die Familie)
die aktive und intensivierte Beteiligung der Familie
an der Maßnahme unter Berücksichtigung ihrer Ressourcen. Die Eltern sind mitverantwortlich für
das Gelingen der Maßnahme; sie werden nicht nur über die Arbeit in der Wohngruppe informiert,
sondern auch in wichtige Entscheidungen einbezogen, z.B. durch verbindliche Absprachen, durch
Rückbindung der geleisteten Erziehungsarbeit und durch mehr Übernahme und Ausübung von
Verantwortung
vereinbarte Vor-Ort-Besuche der MitarbeiterInnen in der Herkunftsfamilie zum
Kennenlernen des Familiensystems und der häuslichen Verhältnisse
Anamnese und Diagnostik unter Einbeziehung der Familie durch den Fachdienst unserer
Einrichtung
Darüber hinaus können im Bedarfsfall auch Angebote für Elterngruppen, Elterntrainings und
ergänzende Mediationsangebote eingesetzt werden. Die Einrichtung verfügt über
MitarbeiterInnen mit Zusatzqualifikation zum/r Video-Home-TrainerIn.
Die Ausrichtung und Schwerpunktsetzung der intensivierten Eltern- und Familienarbeit sind davon
abhängig, ob eine Rückführung in die Herkunftsfamilie (bei Kindern und vorwiegend jüngeren
Jugendlichen) oder eine Verselbstständigung und damit die Beziehungsklärung zwischen den
Jugendlichen zur Familie bzw. die Auseinandersetzung und Ablösung von der Herkunftsfamilie
geplant sind. Beide Möglichkeiten beinhalten die Ziele
einen möglichst großen Konsens von Eltern und ErzieherInnen über die pädagogischen
Maßnahmen zu schaffen
die Erziehungskompetenz der Eltern zu fördern und die
Erziehungsbedingungen in der Familie zum Wohle des Kindes zu verbessern
die Förderung bzw. Klärung der Beziehung des Kindes bzw. Jugendlichen zu den
Familienmitgliedern (Eltern, Geschwistern etc.) bei Trennung der Eltern eine gemeinsame
Motivation der Eltern hinsichtlich der Maßnahme zu erarbeiten
6.5. Zusammenarbeit mit den zuständigen Jugendämtern
Eine enge Zusammenarbeit mit den im Einzelfall zuständigen MitarbeiterInnen des Jugendamtes
ist für die Hilfeplanung unerlässlich. Gemeinsam mit ihnen wird der gesamte Erziehungsprozess
vom Zeitpunkt der Anfrage in unserer Einrichtung bis zur Beendigung geplant und abgestimmt.
Basis der Erziehungsarbeit ist die Erstellung und Fortschreibung eines Hilfeplans gem. § 36
KJHG
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Im ersten Hilfeplan – teilweise schon im Erstgespräch - werden unter Mitwirkung aller
Beteiligten die Rahmenbedingungen bzw. der Hilfebedarf besprochen und eine erste
Zielsetzung der Unterbringung definiert
Die Fortschreibung des Hilfeplans im halb- bis jährlichen Turnus dient vor allem der
Zielüberprüfung. Im abschließenden Hilfeplan werden die Modalitäten der Entlassung bzw.
Ablösung vereinbart
In Krisensituationen wird das weitere Vorgehen gemeinsam mit dem Jugendamt und den Eltern
abgestimmt
Einrichtung und Jugendamt arbeiten ebenso in Fragen der Eltern- und Familienarbeit sowie mit
anderen an der Förderung des Kindes bzw. an der Unterstützung der Familie beteiligten
Institutionen zusammen
Kooperation mit der wirtschaftlichen Jugendhilfe (Antragstellung für Erstausstattung und
Übernahme von Fahrtkosten…)
Übergreifende Zusammenarbeit mit dem Jugendamt in diversen Arbeitskreisen und bei der
Jugendhilfeplanung
6.6. Internes Krisenmanagement
Die Arbeit in den Wohngruppen stellt hohe Anforderungen an das professionelle Handeln, immer
wieder ist ein sachgerechter und überlegter Umgang mit Konfliktsituationen und in Krisen
gefordert. Krisenhafte Entwicklungen im Betreuungsalltag lassen sich nur bedingt vorhersehen,
sie können jederzeit auftreten. Klare Verfahrensabsprachen gewährleisten daher das
professionelle Handeln der MitarbeiterInnen in Krisen und in kritischen Betreuungssituationen.
(1)
Zum Umgang mit Krisen, Gefährdungssituationen und besonderen Vorkommnissen
gelten einheitliche und verbindliche Vorgehensweisen in der gesamten Einrichtung. In jeder
Dienststelle wird ein Notfallordner vorgehalten, der von den MitarbeiterInnen immer auf dem
aktuellen Stand gehalten wird. Der Notfallordner enthält wichtige Telefonnummern, Adressen und
Verfahrensanweisungen, auf die im Notfall schnell und sicher zugegriffen werden kann. Weitere
Inhalte des Notfallordners sind: „Ablauftabelle zur Krisenintervention und Krisenbearbeitung“, die
interne Regelung der Rufbereitschaft in den (teil-)stationären Betreuungsangeboten und die
Ablaufkette zur Sicherung der Erreichbarkeit von Bereichsleitung/Einrichtungsleitung, ein
„Informationsblatt für Notfälle“ mit wichtigen Basisinformationen zum Kind/Jugendlichen bzw. der
Familie, aktuelle Kopien des Impfbuches und der Krankenversichertenkarte. Nicht zuletzt liegt ein
Raster zur „Dokumentation von krisenhaften oder besonderen Vorkommnissen“ bereit.
Zum Umgang mit Kindeswohlgefährdung gemäß des Schutzauftrages der Jugendhilfe nach § 8a
SGB VIII wurden für die Einrichtung der Martin-Bonhoeffer-Häuser verbindliche Qualitätsstandards
entwickelt. Diese enthalten zusätzlich zu der einschlägigen Vereinbarung mit dem Landkreis
Tübingen
wichtige
verfahrensrelevante
Arbeitshilfen
(Leitfaden,
Ablaufschema,
Einschätzungsbogen). Zur Überprüfung einer vermuteten Kindeswohlgefährdung wurden mehrere
Fachkräfte zu Kinderschutzbeauftragten („insoweit erfahrene Fachkräfte“) bestimmt und
qualifiziert, deren Einsatz von einer übergeordneten Koordinatorin begleitet wird.
Grundsätzlich gilt, dass nach der evtl. erforderlichen Erstversorgung zuerst die
Bereichsleitung/Leitung informiert und mit ihr abgesprochen wird, wer wann welche Personen
informiert. Diese Informationspflicht dient der notwendigen internen Selbstvergewisserung in der
Situation und der abgestimmten Einleitung weiterer Schritte, wie auch einer einheitlichen
Informationspolitik nach innen und außen. Soweit mit der zuständigen Bereichsleitung nicht anders
vereinbart, ist der/die betreffende MitarbeiterIn verpflichtet, den kompletten Vorgang bis zum
Abschluss der oben skizzierten Ablaufschritte auf dem entsprechenden Dokumentationsbogen
festzuhalten. Der Erhebungsbogen zu Krisen und besonderen Vorkommnissen ist nach Abschluss
des Vorgangs zur Ablage zu den Akten zu geben.
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(2)
Meldung besonderer Vorkommnisse beim überörtlichen, örtlichen und
fallzuständigen öffentlichen Träger der Jugendhilfe
Sobald die Einrichtungsleitung über die Situation informiert und die Informationspflicht gegenüber
dem öffentlichen Träger festgestellt wurde, gilt folgender Ablauf:
Einrichtungsleitung oder eine von ihm ausdrücklich beauftragte Person meldet das besondere
Vorkommnis der Heimaufsicht des Landesjugendamtes, der ASD-Leitung des örtlichen
Jugendamtes bzw. der Fall zuständigen Fachkraft des unterbringenden Jugendamtes.
Die Meldung erfolgt bei Ereignissen lebensbedrohlicher Art unverzüglich, in anderen Fällen
spätestens am Folgetag telefonisch oder per Fax.
Zeitnah wird ein ausführlicher Bericht über den Hergang und den professionellen Umgang
(durchgeführte Interventionen) mit der besonderen Situation für die beteiligten Institutionen
erstellt.
6.7. Kooperation mit TherapeutInnen
In Ergänzung zu den sozialtherapeutischen Leistungen, die von den Fachkräften der
Wohngruppen geleistet werden, bedürfen viele Kinder und Jugendliche in stationärer
Erziehungshilfe zur Aufarbeitung und Bewältigung ihrer Biographie einer gezielten und
weitergehenden psychotherapeutischen Begleitung.
Diese kann durch die Kinder- und Jugendlichentherapeutin der Einrichtung oder durch die
Vermittlung an externe TherapeutInnen im Rahmen der Vereinbarung individueller
Zusatzleistungen angeboten werden.
Die Kinder- und Jugendlichentherapeutin unterstützt die Kinder und Jugendlichen und deren
Familien durch diagnostische Abklärung
Beratungsgespräche mit den Kindern und Jugendlichen und ggf. mit deren Eltern
psychotherapeutische Krisenintervention
Durch Gestaltung der Kontaktaufnahme, der ersten Kennenlerntermine und der im Einzelfall
vereinbarten Kooperationsformen unterstützt das pädagogische Fachpersonal den
therapeutischen Prozess. Dieses Kooperationsverständnis wird auch mit bereits vor der Aufnahme
bestehenden therapeutischen Beziehungen, die erhalten werden sollen, umgesetzt.
Die Fachkräfte der Wohngruppen werden durch den Fachdienst beraten und in ihrer Arbeit
unterstützt.
Je nach Erfordernis der Maßnahme wird mit externen PsychotherapeutInnen gearbeitet und
unterschiedliche Therapieformen werden zur zusätzlichen Unterstützung genutzt, z.B. Verhaltens oder Gestalttherapie, psychoanalytische Therapie, Kinesiologie, Hypnotherapie, Musiktherapie.
6.8. Entlassung, Ablösung und Gestaltung der Übergänge
Das Kind oder der/die Jugendliche kehrt nach Beendigung der stationären Erziehungshilfe in aller
Regel entweder in seine/ihre Herkunftsfamilie zurück oder wird bei entsprechendem Alter und
Fähigkeit zur weitgehend selbstständigen Lebensführung im Rahmen von Betreutem
Jugendwohnen (BJW), BJW in Gemeinschaft oder intensiver Einzelbetreuung /ISE) weiter
unterstützt. In Ausnahmefällen kann die Maßnahme ohne Übergang in eine andere
Betreuungsform beendet werden.
Obligatorisch ist ein Abschlusshilfeplan mit allen unmittelbar Beteiligten (Jugendliche/r, Familie,
ASD, Einrichtung) mit kritischer Reflexion und Bewertung des Hilfeverlaufs.
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Die Rückführung in die Herkunftsfamilie wird vorbereitet durch eine Intensivierung der
Elternkontakte mit häufigen Wochenendheimfahrten und längeren Ferienbeurlaubungen der
Jugendlichen. Die Auswertung der Heimfahrten und die Beratungsprozesse werden intensiviert.
Der
Übergang
in
eine
andere
Betreuungsform wird vorbereitet
durch
gemeinsame Planung mit Wohngruppe und übernehmender Fachkraft
„Kennenlerntermin“ mit der neu zuständigen Betreuungsperson und der Vorstellung der
neuen Betreuungsform
ein auf den Bedarf des/der Jugendlichen abgestimmtes
Vermittlungstraining (Üben und Erproben von selbstständigem Aufstehen, Einkaufen, Kochen,
Kontaktaufnahme mit der zukünftigen Betreuungsperson, Auseinandersetzung mit der eigenen
Zukunftsperspektive, etc.)
gemeinsame Wohnungssuche, Unterstützung
beim
Kauf
von
(preiswerten)
Haushaltsgegenständen durch Betreuer der Wohngruppe und durch die neue
Betreuungsperson
Im Falle, dass keine andere Hilfe an die Wohngruppenbetreuung anschließt, besteht die
Möglichkeit zu einer zeitlich begrenzten Nachbetreuung durch eine/n MitarbeiterIn der
Wohngruppe. Die Entwicklungserfolge der Jugendlichen werden nachhaltig gesichert, indem die
vorhandenen und gewachsenen Beziehungen der Jugendlichen zu „ihren“ BetreuerInnen genutz t
und Stabilität und Rückhalt vermittelt werden, um möglichen Überforderungen wirksam zu
begegnen.
7. Rahmenleistungen der Einrichtung
7.1. Planung, Beratung, Reflexion und Dokumentation
diagnostische Abklärung, Anamnese und Prognoseerstellung
Koordination der
Bereichsleitung
Aufnahmeanfragen,
Aufnahmen
und
Notaufnahmen
durch
die
Mitwirkung bei Hilfekonferenzen, Erziehungsplanung
Planung, Organisation und Begleitung des pädagogischen Prozesses (Settings), Vorbereitung
der Ablösung
Kontrolle und Dokumentation der Erziehungsarbeit durch (interne) Protokollierung von
Dienstbesprechungen, Übergaben und Hilfeplangesprächen, Anfertigung von Berichten,
gewissenhafte Aktenführung
Fallbesprechungen in den wöchentlichen Teamsitzungen, 14tägig mit der Bereichsleitung
Praxisbegleitung und -beratung
einrichtungsinterne Therapeutin
durch
Bereichsleitung,
Einrichtungsleitung
regelmäßige Supervision zur Reflexion der Fallarbeit und Klärung von Problemen
Organisation der Zusammenarbeit mit den PartnerInnen im Hilfesystem
intensive Anleitung von PraktikantInnen
Einführung und Anleitung des Zivildienstleistenden fachlicher
Austausch mit anderen Einrichtungen und Arbeitsgruppen
fortlaufende Konzeptionsentwicklung stetige Qualitätsentwicklung
und Evaluation
und
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7.2. Lage, räumliche Gegebenheiten und Versorgungsaspekte
Die betreuten Kinder und Jugendlichen wohnen in Gruppen mit jeweils 6 Plätzen in eigenen
Häusern in Tübingen und Nehren sowie in einem angemieteten Haus in Waldenbuch. Dort können
zusätzlich zwei Jugendliche bzw. junge Volljährige in der Einliegerwohnung mehr Selbstständigkeit
und Eigenverantwortlichkeit einüben.
Durch eine gute öffentliche Verkehrsanbindung können die Jugendlichen ihre sozialen Kontakte
wahrnehmen und die zu besuchende Schule oder Ausbildungsstätte gut erreichen. An jedem der
vier Standorte gibt es eine breite Palette an Beschulungsmöglichkeiten und eine enge Kooperation
mit den örtlichen Schulen und Vereinen.
Alle Jugendlichen verfügen über ein Einzelzimmer. Zur Grundausstattung gehören Bett, Schränke,
Schreibtisch, Sitzgelegenheit, Regale und Zimmerlampen. Die Zimmer werden auch als
Möglichkeit zum Rückzug genutzt, die von den MitbewohnerInnen in besonderer Weise zu
respektieren ist.
Zur Arbeitsausstattung gehören zählt neben den Schulbüchern und den Lernmaterialien die
Möglichkeit am Computer zu lernen und das Internet zu nutzen. Küche, Esszimmer,
Gemeinschafts-, Dienst- sowie Sanitärräumen sowie jeweils ein Garten vervollständigen die
Wohn- und Nutzungsmöglichkeiten der Häuser.
Die Räumlichkeiten werden kind- und jugendgerecht gestaltet. Die Beteiligung der Kinder und
Jugendlichen bei der Einrichtung, Ausgestaltung, und regelmäßigen Renovierung wirkt förderlich
für die Identitätsbildung.
Für eine sinnvolle Freizeitgestaltung stehen den jungen Menschen u.a. Bücher, Spiele,
Tischtennisplatte, Basketballkörbe, Kletterausrüstung, Fahrräder und Schlitten zur Verfügung.
Die Vollverpflegung erfolgt nach ernährungsphysiologischen Erkenntnissen und berücksichtigt
insbesondere die Bedeutung einer jugendgerechten Ernährung (viel Frisches, wenig
Fertigprodukte) für die gesunde Entwicklung des jungen Menschen.
7.3. Hauswirtschaft
Jeder Wohngruppe stehen MitarbeiterInnen der Hauswirtschaft zur Verfügung, welche für
Einkäufe, Vorratshaltung von Lebensmitteln und Dingen des täglichen Bedarfs und für die
Essenszubereitung zuständig sind, ebenso für die Pflege von Haus, Hof und Garten und für
kleinere Reparaturen.
Die Wohngruppen verfügen zur Versorgung der Wäsche über geeignete Räumlichkeiten mit
Waschmaschine und Trockner.
7.4. Leitung und Verwaltung
Die Steuerung und Gesamtverantwortung für die pädagogische Arbeit wird durch die
Bereichsleitung und Einrichtungsleitung und Gruppen bezogen durch die Gruppenleitung
gewährleistet. Darüber hinaus erhalten die pädagogischen Fachkräfte in allen administrativen
Belangen zeitnahe und sachgerechte Unterstützung durch die Zentral-, Personal- und
Bereichsverwaltung. Uns ist es wichtig, dass Verwaltungsabläufe kein Selbstzweck sind, sondern
sich am Leitbild der Einrichtung orientieren und die pädagogische Arbeit qualifizieren helfen.
8. Leistungsmodule und individuelle Zusatzleistungen
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Das Regelangebot in den vier Gruppen kann im Bedarfsfall um Leistungsmodule und individuelle
Zusatzleistungen (IZL) ergänzt werden.
8.1. Leistungsmodule
Gestützt auf unsere Erfahrung in der Arbeit mit besonders belasteten Kindern und Jugendlichen,
mit Blick auf die Dynamik im Herkunftssystem und aus dem sozialtherapeutischen Profil unserer
stationären Wohngruppenarbeit heraus entwickelt, bieten wir aktuell zusätzlich zum Modul
„intensive Eltern- und Familienarbeit“ zwei Leistungsmodule als Hilfepaket für Kinder und
Jugendliche mit sehr spezifischen Belastungen bzw. mit sehr spezifischen Zielstellungen der Hilfe
an. Ihr Einsatz erfolgt auf der Grundlage der Hilfeplanung. Jedes der Module umfasst ein
reflektiertes Umsetzungskonzept, auf dessen Grundlage der koordinierte Einsatz einer größeren
Bandbreite von Einzelleistungen erfolgt.
Modul I: Intensive (systemische) Eltern- und Familienarbeit
Die intensive, auf systemischen Grundlagen basierende Eltern- und Familienarbeit geht über die
regelmäßige, im Hilfeplan abgesprochene allgemeine Zusammenarbeit und Kontaktpflege mit den
Eltern nach § 6 Abs. 2b nach § 78f SGB VIII (RV 2007) hinaus. Sie wird auf den Erziehungsbedarf
abgestimmt und auf dem Hintergrund einer wertschätzenden Haltung gegenüber den Eltern bzw.
der Familie geleistet. Zielgruppe sind Familien, die sowohl motiviert, als auch zeitlich und räumlich
in der Lage sind, intensiv an der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Familie
mitzuarbeiten. Einbezogen sind insbesondere auch Familien in Trennungs- und
Scheidungssituationen. Im Fokus stehen nicht nur Eltern(teile) und das Kind, sondern das gesamte
Familiensystem, also auch Geschwister und andere für die Zielerreichung wichtige Verwandte.
Modul II: Intensivpädagogische Leistungen für Kinder und Jugendliche mit psychischen
Erkrankungen
Für junge Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen und ggf. längerer seelischer Behinderung
(§ 35a SGB VIII) und daraus resultierendem besonderen Erziehungsbedarf bieten die
Wohngruppen eine Übergangsmöglichkeit, um - nicht nur, aber vorwiegend - nach einem
Psychiatrieaufenthalt eine weitere Stabilisierung in nichtklinischer Umgebung erreichen zu können
und entsprechend des individuellen Bedarfs des Kindes/Jugendlichen entwicklungsfördernd zu
wirken. Um das auch pädagogisch vertretbare Gleichgewicht zwischen einem möglichst
„normalen“ Lebensfeld und einer Ansammlung von jungen Menschen mit ausgeprägter
Symptomatik aufrecht zu erhalten, sind maximal drei Plätze pro Gruppe mit solchen Jugendlichen
belegt. Um eine ausreichende und gezielte Stützung und Förderung der besonders belasteten
Jugendlichen zu gewährleisten, sind sehr individuelle Beziehungssituationen und spezifische
Symptom bezogene Leistungen erforderlich.
Modul III: Intensivpädagogische Leistungen für Kinder und Jugendliche im Vorfeld einer
Anordnung zur geschlossenen Unterbringung
Für die Zielgruppe von Kindern und Jugendlichen mit der Notwendigkeit einer sehr individuellen
und intensiven Betreuung im Vorfeld der Anordnung zur geschlossenen Unterbringung bieten wir
ein weiteres Modul an. Zur Zielgruppe gehören Kinder und Jugendliche mit hohem Potential an
Selbst- oder Fremdgefährdung, mit geringen Selbststeuerungs- und Kontrollfähigkeiten, mit
hohem Verweigerungs- und Aggressionspotential, die herumstreunen und nur eingeschränkt den
durch die Wohngruppe vorgegebenen Rahmen akzeptieren (können) oder die aufgrund
richterlicher Weisung nach JGG in stationärer Jugendhilfe untergebracht werden müssen. In
besonderer Weise benötigen Kinder und Jugendliche dieser Zielgruppe sehr individuelle und
individualpädagogische
Betreuungsangebote
um
einer
gestörten
Bindungsfähigkeit
entgegenwirken zu können.
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8.2. Individuelle Zusatzleistungen
Individuelle Zusatzleistungen sind flexible und Hilfeplan gesteuerte Leistungen im Einzelfall, also
unmittelbar einzelnen Kindern und ihren Familien zugeordnete, abgrenzbare und im
Hilfeplangespräch geplante Leistungen. Sie sind nicht Bestandteil des Regelangebotes, sondern
werden im Einzelfall beantragt und vom Kostenträger genehmigt und finanziert.
Im Rahmen der vier Wohngruppen, des Fachdienstes und unserer Gruppen übergreifenden
Dienste können wir insbesondere folgende Leistungen anbieten:
(1) Individuelle therapeutische, heilpädagogische und sozialpädagogische Zusatzleistungen
Intensivpädagogische besondere Leistungen in Krisen (bei akuter Fremd- und Selbstgefährdung)
des jungen Menschen, in welchen das Regelangebot nicht ausreicht, um dem
Erziehungsauftrag (den Erziehungszielen) gerecht werden zu können,
Besondere sozialpädagogische und der Stabilisierung dienende Einzelbetreuung in der
Übergangsphase von Psychiatrie zur Wohngruppe, um dem jungen Menschen zur
Wiedereingliederung in ein „normales“ Leben die erforderliche intensive Stützung und
Auseinandersetzung in allen Lebensfeldern geben zu können oder in der Übergangsphase von
Wohngruppe zurück in die Herkunftsfamilie mit besonderer Beratung und Unterstützung sowohl
des Jugendlichen als auch der Familie
Erlebnispädagogische Angebote und sozialpädagogische Trainingsmaßnahmen.
Therapeutische Hilfen, die unmittelbar den pädagogischen Prozess stützen helfen
Kunsttherapeutische und - pädagogische Angebote in Form von Projekten oder Einzelförderung
Mehrere unserer Fachkräfte verfügen über spezielle Zusatzqualifikationen:
o
Ausbildung, die zur Anleitung von Kletterkursen berechtigt
o
Reittherapeutische Ausbildung für heilpädagogisches Reiten (mit eigenen Pferden) o
Ausbildung zum Präventionstrainer für sexuell übergriffige Jugendliche
(2) Individuelle Zusatzleistungen der Eltern- und Familienarbeit
Individuelle Beratungs- und Unterstützungsleistungen der Herkunftsfamilien im Sinne der
Zielstellungen der Hilfe
Leistungen zur Stärkung der Erziehungskompetenz der Familien, Video-Home-Training
(3) Individuelle besondere Förderung im schulischen und Ausbildungsbereich
schulische Stütz- und Fördermaßnahmen
Maßnahmen zur Sicherung des Schulbesuchs und der Berufsausbildung
Die individuellen Zusatzleistungen werden dort, wo sinnvoll und nötig, von einer hauptamtlichen
pädagogischen Mitarbeiterin der Gruppe geleistet, die für diesen Auftrag durch andere Kräfte
anteilig von ihrem Gruppendienst entlastet wird. Somit muss nicht eine völlig neue und andere
Beziehung aufgebaut werden. Auch wird die Stigmatisierung, dass der/die Jugendliche aufgrund
seiner/ihrer Störung eine zusätzliche Betreuungsperson braucht, verhindert.
In manchen Fällen ist jedoch eine Einzelbetreuung durch eine externe, nicht in der Gruppe
arbeitende Fachkraft sinnvoll. Diese Leistungen können in einem solchen Bedarfsfall auch
ergänzend zu den hauptamtlichen MitarbeiterInnen im Gruppendienst durch entsprechend
qualifizierte Fachkräfte vermittelt und durchgeführt werden.
Martin-Bonhoeffer-Häuser
Seite 19
Umfang und Details der individuellen Zusatzleistungen werden im Hilfeplan festgelegt; in sehr
dringenden Fällen müssen diese besonderen Leistungen auch schnell und unbürokratisch
eingeleitet werden können.
9. Kontakt
Martin-Bonhoeffer-Häuser
Lorettoplatz 30
72072 Tübingen
Tel.: 07071/5671-0 (Zentrale)
Fax: 07071/5671-11
Bereichsleitung für die stationären Wohngruppen:
Hans Schall 07071/5671-12
[email protected] www.mbh-jugendhilfe.de
Therapeutische Wohngruppe für
psychisch erkrankte Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene
KONZEPTION
I. Beschreibung des Trägers
Der Verein „STEP e.V.“ (Sozialpädagogisch-Therapeutische Einrichtungen und Projekte) ist
ein gemeinnützig anerkannter Träger der Jugendhilfe und Mitglied im Deutschen
Paritätischen Wohlfahrtsverband.
Zweck des Vereins ist es, ambulante und stationäre Hilfen gemäß dem Kinder- und
Jugendhilfegesetz (KJHG) für Kinder und Jugendliche zu entwickeln, die nach stationärer oder
ambulanter psychiatrischer Behandlung Unterstützung zur Wiedereingliederung benötigen.
II. Grundlagen der pädagogischen Arbeit
Grundlage unserer pädagogischen Arbeit ist eine ganzheitliche Sichtweise des Individuums
innerhalb seines gesellschaftlichen Kontextes.
Wir gehen von der Grundannahme aus, dass jeder Mensch den Wunsch hat, sich selbst und
seine Bedürfnisse mit seinen Möglichkeiten und seiner Umwelt in Einklang zu bringen. Dies
bedeutet das Streben nach Autonomie mit Sicherung der Lebensgrundlagen (Wohnraum und
finanzielles Auskommen) sowie das Finden einer Zukunftsperspektive und eines Platzes
innerhalb unserer Gesellschaft.
Deshalb stehen im Mittelpunkt unserer pädagogischen Arbeit alle Bezüge, die die Lebenswelt
der Jugendlichen ausmachen, die ihre Persönlichkeitsentwicklung und auch die momentane
Situation beeinflussen. Als Voraussetzung für eine befriedigende Teilnahme am
gesellschaftlichen Leben sehen wir eine angemessene Interaktionskompetenz, d.h. die
Fähigkeit, Bedürfnisse zu äußern und Forderungen zu stellen. Dies beinhaltet außerdem, sich
1
mit anderen Sichtweisen auseinander zusetzen und Kritik annehmen zu können, ohne die
eigene Person in Frage zu stellen. Neben den sozialen Komponenten des gesellschaftlichen
Lebens ist es die zielgerichtete Tätigkeit, die Status und Identität verleiht. Erfahrungsgemäß
bieten diese Bereiche ein breites Konfliktfeld. Pädagogische Interventionen stehen hier stets
im Bezug zur Alltagsrealität und erhalten als Bestandteil der Alltagsbewältigung auch für die
Jugendlichen eine nachvollziehbare Notwendigkeit.
Die großen Veränderungen des Heranwachsens schaffen neue Bedürfnisstr ukturen, deren
Erfüllung neue soziale Rollen abverlangen. Ein Begreifen der Situation der Jugendlichen und
Verständnis für diese fordert die Berücksichtigung der leiblich-seelischen
Reifungsproblematiken verschiedener Entwicklungsstufen, die Grund für große
Anpassungsschwierigkeiten in die Erwachsenenwelt sein können. Gefühle der Verunsicherung
und der
Orientierungsnot, die bereits bei einer normalen, altersgemäßen Entwicklung auftreten,
verstärken sich erfahrungsgemäß beim Klientel der Jugendhilfe durch belastete
Familienstrukturen. Jugendliche aus dem Umfeld der Jugendhilfe suchen nach einer positiven
Selbstdefinition, die Versagensängste überwinden hilft. Die von außen beobachtete
Leistungsverweigerung erweist sich häufig als eine Vermeidungsstrategie, um Misserfolge zu
umgehen.
Ziel der Betreuung ist es, Jugendlichen trotz der Gefährdung durch ihre
Entwicklungsproblematik und ihrer Erkrankung eine zuversichtliche Geborgenheit zu
ermöglichen und sie zu unterstützen, ein positives Selbstbild aufzubauen. Voraussetzung
hierfür ist eine positive, akzeptierende Grundhaltung. Wir wollen durch unsere pädagogische
Arbeit den Jugendlichen Rahmenbedingungen geben, die eine persönliche Orientierung im
gesellschaftlichen Kontext fördern und eine Bewältigung der entwicklungsbedingten Krisen
unter besonderer Berücksichtigung ihrer psychischen Erkrankung ermöglichen.
Wir wollen Brücken bauen zwischen der Forderungswelt der Realität und den subjektiven
Möglichkeiten der einzelnen Jugendlichen.
III. Das Konzept
a) Die Zielgruppe
In die Therapeutische Wohngruppe werden Kinder und Jugendliche im Alter von 13 bis 18
Jahren aufgenommen, die nach einem stationären Aufenthalt in der Kinder - und
Jugendpsychiatrie oder bei ambulanter Behandlung einer besonderen pädagogischen und
therapeutischen Betreuung in einer Übergangseinrichtung bedürfen.
2
Es handelt sich um Kinder und Jugendliche, die aufgrund ihrer Erkrankung, deren Ursachen
oder deren Folgen derzeit nicht in ihrem ursprünglichen Milieu leben können und deren Stand
der Autonomieentwicklung ein selbständiges, eigenverantwortliches Leben (noch) nicht
zulässt. Auch eine Unterbringung in einer der vorhandenen Jugendhilfeeinrichtungen ist
wegen Überforderung der/des Jugendlichen oder wegen fehlender fachlicher Ausstattung
nicht möglich.
Die Erkrankung, insbesondere die Beziehungsfähigkeit, muss sich in einem Stadium befinden,
in dem ein Leben in der Gruppe (Bedingungen und Regeln der Wohngruppe) keine
Überforderung darstellt. Die Jugendlichen müssen bereit sein, schulische und berufliche
Perspektiven zu erarbeiten und umzusetzen. Ihre Schul- bzw. Arbeitsfähigkeit muss dies
zulassen.
Nicht geeignet sind Kinder und Jugendliche, deren psychische Erkrankung durch psychotrope
Substanzen hervorgerufen wurde und bei denen Missbrauchs- und Abhängigkeitssyndrome
fortbestehen, da sie sich nicht von ihrem Konsum distanzieren. Ebenso können Jugendliche
mit ausschließlich schweren Störungen des Sozialverhaltens (insbesondere mit Delinquenz),
mit akuter Suizidalität, mit schweren Entwicklungsstörungen (z.B. hochgradiger Autismus)
und mit intellektuellen Behinderungen als Primärdiagnose nicht aufgenommen werden.
b) Ziele
Unter Berücksichtigung der psychischen Erkrankung sollen die Jugendlichen in der
Therapeutischen Wohngruppe eine Autonomie entwickeln, die ihrem Alter und ihren
Entwicklungsmöglichkeiten entspricht.
Um dieses Ziel zu erreichen, sollen sich die Jugendlichen zunächst psychisch stabilisieren. Mit
ihnen soll eine schulische oder berufliche Perspektive entwickelt, ihre lebenspraktischen
Kompetenzen gesteigert und die Fähigkeit zur Freizeitgestaltung erhöht werden. Ebenso
sollen ihre grundlegenden personalen und sozialen Kompetenzen gefördert werden. Diese neu
erworbene Autonomie soll die Jugendlichen letztlich befähigen, ein gänzlich eigens tändiges
Leben zu führen oder wieder in die Herkunftsfamilie zurückzukehren. Bei Bedarf wird
gemeinsam mit dem Betreuten eine adäquat weiter betreuende Einrichtung gesucht.
c) Aufnahmekriterien und -verfahren
Aufgenommen werden Kinder und Jugendliche beiderlei Geschlechts zwischen 13 und 18
Jahren. Auch junge Erwachsene über 18 Jahren können aufgenommen werden, wenn deren
Entwicklungsalter in diesem Bereich liegt.
Voraussetzungen für die Aufnahme sind:
• Bereitschaft zur Teilnahme an Vorstellungsgesprächen in der Therapeutischen
Wohngruppe und in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Nürnberg
3
• Bereitschaft, einer zielgerichteten Tätigkeit wie Schule oder Arbeit nachzugehen oder die
dafür notwendigen Fähigkeiten zum Beispiel im Rahmen eines Förderprogrammes in
absehbarer Zeit zu erwerben
• Mitarbeit beim Erstellen und Umsetzen eines individuellen Betreuungsplanes
• Akzeptanz der Hausregeln
• in der Regel Zustimmung der Eltern und ihre Bereitschaft zur Mitarbeit
Die Jugendlichen ziehen nach ihrer Entscheidung für die Wohngruppe ein. Nach etwa einer
Woche, wenn sie sich ein umfassendes Bild von der Einrichtung und der Arbeitsweise machen
konnten, sollen die Jugendlichen ihre Entscheidung bestätigen. Erst dann wird der
Betreuungsvertrag mit den Jugendlichen abgeschlossen.
Die Dauer des Aufenthaltes wird von der individuellen Notwendigkeit für das Erreichen der
Ziele bestimmt und im Hilfeplanverfahren geregelt. Der Aufenthalt wird aber für mindestens
ein Jahr angenommen und sollte in der Regel zwei Jahre nicht wesentlich überschreiten.
Bei unter 15jährigen Jugendlichen muss bereits vor der Aufnahme eine Perspektive erarbeitet
werden, wo der oder die Jugendliche nach der Therapeutischen Wohngruppe leben soll.
Zusätzlich muss bei diesen Jugendlichen auf Grund des Alters der pädagogische Mehrbedarf
geklärt werden.
d) Betreuungskonzept
Das Konzept berücksichtigt insbesondere:
1. Die äußeren Bedingungen: Hierzu gehören die Umwelt der Jugendlichen, ihre
Herkunftsfamilie, die soziale Stellung, der bisherige Werdegang usw., aber auch die
rechtlichen Bedingungen, der Erziehungsauftrag und die Persönlichkeiten der
BetreuerInnen mit ihren Sichtweisen und Standpunkten, sowie das pädagogische Konzept
nach dem sie arbeiten.
2. Die verbalen Äußerungen der Jugendlichen, d.h. wie äußern sich die Jugendlichen über
ihre Situation; welche Ziele formulieren sie für sich usw.
3. Die Verhaltensäußerungen der Jugendlichen, d.h. welche Schritte unternehmen die
Jugendlichen zur Erreichung ihrer Ziele; welches Verhalten zeigen die Jugendlichen in
Bezug auf ihre verbalen Äußerungen.
Unter gleichzeitiger und gleichwertiger Einbeziehung dieser drei Faktoren entsteht die
Betreuungsleitlinie (Zentralorientierung). Stimmigkeit und Umsetzbarkeit bilden die
Grundlage für die Handlungsorientierung für die Jugendlichen und Be treuerInnen.
Äußere Bedingungen, verbale Äußerungen und Verhaltensäußerungen sind einer ständigen
Veränderung unterworfen und beeinflussen sich gegenseitig. Sie dürfen nicht isoliert
betrachtet werden. Die dabei immer wieder auftretenden Widersprüche könne n zu
4
konfliktreichen Spannungsfeldern führen. Es handelt sich hier also um ein dynamisches
Konzept, welches fortlaufend überprüft und fortgeschrieben werden muss.
Die Überprüfung unserer methodischen Vorgehensweisen erfolgt durch Reflexion im Team,
kollegiale Beratung und Supervision. Außerdem wird eng mit den behandelnden Ärzten und
Therapeuten kooperiert und es findet ein regelmäßiger Fachaustausch mit der Kinder - und
Jugendpsychiatrie Nürnberg statt.
Mit den Betreuten wird ein Betreuungsplan erstellt. Dieser beinhaltet neben den Zielen der
Jugendlichen die notwendigen pädagogischen sowie ambulanten psychiatrischpsychotherapeutischen Maßnahmen. Voraussetzung für die Betreuung in der Wohngruppe ist
die ambulante Anbindung an einen psychiatrischen Facharzt.
Der Betreuungsplan ist für uns die pädagogische Grundlage im Hilfeplanprozess. In
Anlehnung an diesen wird er kontinuierlich fortgeschrieben.
Wichtige Inhalte der Betreuung sind:
• die Auseinandersetzung mit der eigenen Krankheit und ggf. dem verantwortungsbewussten
Umgang mit Medikamenten
• die Förderung von Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit
• die Vermittlung von lebenspraktischen Fähigkeiten
• die Entwicklung und Durchführung eines individuellen Therapiekonzeptes, z. B. die
Fortführung der in der Klinik geleisteten therapeutischen Arbeit
• das Finden einer Ausbildungsperspektive oder Möglichkeit zur Beschulung
• die Entwicklung von sozialen Kompetenzen, besonders der
Auseinandersetzungsbereitschaft und Abgrenzung in Einzelkontakt und Gruppe
• das Erlernen des Umgangs mit gesellschaftlichen Realitäten
• Hilfen bei der sinnvollen Freizeitgestaltung und dem Entdecken eigener Interessen
• die Arbeit an Konflikten innerhalb der Herkunftsfamilie
Allen Jugendlichen wird ein(e) BezugsbetreuerIn zugeordnet. Diese(r) bietet wöchentlich
einen Einzelkontakt an und ist zuständig für Kontakte zu Therapeuten und Schule bzw.
Arbeitgeber. Der/die BezugsbetreuerIn führt die monatlichen Familiengespräche.
e) Methoden
Die Grundlage der Arbeit mit den Betreuten ist das Schaffen eines therapeutischen Klimas
innerhalb der Wohngruppe. Dies umfasst auch eine verstehende und ganzheitliche Sichtweise
der Kinder und Jugendlichen.
Im Rahmen der Gruppenpädagogik wird das Haus gemeinsam mit den Betreuten
bewirtschaftet und instand gehalten. In der Freizeit werden regelmäßige
5
Gruppenunternehmungen vor allem in den Bereichen Sport und Spiel, Kultur und musischkreative Gestaltung durchgeführt. Darüber hinaus finden erlebnispädagogische Maßnahmen
sowie themenzentrierte und interaktive Gruppenangebote zur Erweiterung der sozialen
Kompetenz statt und es werden Hilfen bei der Gestaltung des alltäglichen Zusammenlebens
gegeben.
Für die Einzelbetreuung stehen in der Regel für jede(n) Jugendliche(n) zwei Stunden pro
Woche zur Verfügung. Die Einzelgespräche und –aktionen dienen der Umsetzung des
individuellen Betreuungsplanes innerhalb oder außerhalb des Hauses. Weiterhin zählen zur
Einzelbetreuung ausführliche Kontakte zur Familie, aber auch zu Schule, Arbeitgeber und
Therapeuten. Darüber hinaus erfolgt eine rechtzeitige Vorbereitung des Auszugs und der
Nachbetreuung. Ein wichtiger Bestandteil der Einzelarbeit ist die schriftliche Dokumentation
des Entwicklungsprozesses und die Transparenz im Team.
Die Betreuung der Familien umfasst Elterngespräche, Elternseminare, gemeinsame Aktionen
mit Jugendlichen und Eltern, Elternnachmittage, bei Bedarf Hausbesuche und das Angebot an
die Familie oder Teile der Familie, für eine begrenzte Zeit, z.B. am Wochenende am
Wohngruppenleben teilzunehmen. Die Elterngespräche sind für die Sorgeberechtigten
verpflichtend und finden regelmäßig alle vier Wochen statt. Ziel dieser Gespräche ist die
Beteiligung der Eltern an der Betreuung ihrer Kinder in der Therapeutischen Wohngruppe.
Darin werden die Eltern über die Entwicklung und Betreuung ihres Kindes informiert,
gemeinsam werden Erwartungen der Jugendlichen, der Eltern und der Einrichtung abgeklärt
und es werden der Betreuungsverlauf und Kontakte zwischen den Jugendlichen und ihren
Eltern reflektiert. Bei Bedarf kann durch den Fachdienst eine Familientherapie angeboten
werden.
f) Ambulante Betreuungsangebote
Um den individuellen Bedürfnissen der Kinder, Jugendlichen, jungen Erwachsenen und ihrer
Familien gerecht zu werden, gibt es über das Angebot der Wohngruppe hinaus auch flexible
ambulante Hilfeformen.
Diese umfassen sowohl Nachbetreuung im klassischen Sinn wie auch pädagogische bzw.
therapeutische Hilfen vor, während oder nach dem stationären Aufenthalt.
Für diese ambulanten Hilfen liegt ein gesondertes Konzept beim Träger vor und wird auf
Anfrage gerne zugeschickt.
IV. Das Haus
Die Kinder und Jugendlichen bewohnen in der Hinteren Cramergasse 20 ein freistehendes
Haus. Neben einem kleinen Garten sind folgende Räumlichkeiten vorhanden:
6
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
vier Doppelzimmer mit Nasszelle
ein Einzelzimmer mit Nasszelle
ein Besucherzimmer, bzw. „Auszugszimmer“ mit Ein-Personen-Küche
ein Wohnzimmer
eine Küche
ein Esszimmer
ein Büro mit Schlafmöglichkeit für die MitarbeiterInnen
ein Mehrzweckraum für Besprechungen, Schulungen und kreatives Arbeiten
ein Hauswirtschaftsraum
ein Badezimmer mit Badewanne
ein Werkraum
V. Das Team
Das Team setzt sich aus fünf pädagogischen Fachkräften im Gruppendienst zusammen, die
die Betreuung an 365 Tagen rund um die Uhr gewährleisten. Von ihnen werden neben allen
üblichen Betreuungsangeboten im Rahmen der Tagesstruktur und der Grundversorgung
Anleitung
im
lebenspraktischen
Bereich,
Förderangebote,
Einzelkontakte,
freizeitpädagogische Angebote und Ferienmaßnahmen sowie administrative Arbeiten geleistet.
Die PädagogInnen werden stundenweise von einer hauswirtschaftlich-lebenspraktischen
Anleiterin und einer(m) Fachhochschul- / Sozialpädagogik- Studentin(en) unterstützt. Zwei
Stunden pro Woche und Betreuter/m steht der therapeutische Fachdienst zur Verfügung. Er
bietet Gruppenangebote sowie Einzel- und Familientherapien an. Darüber hinaus berät der
Fachdienst das Team.
Professionelles zielgerichtetes Handeln und die Belastungen des Betreuungsalltages bei der
Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen machen regelmäßige Fortbildung und eine
eingehende Reflexion der MitarbeiterInnen notwendig. Diese Reflexion findet in Form von
Teamgesprächen, kollegialer Beratung und Supervision statt.
Nürnberg, im Dezember 2002
Dieses Konzept entstand in Anlehnung an das Konzept des VSE Celle „Sich a m Jugendlichen orientieren“ und in Anlehnung
an das Konzept der Therapeutischen Wohngruppe der Heckscher Klinik in München.
7
Arkade e.V., Jugendhilfe JuMeGa ®
Der Verein Arkade ist seit 1977 Trä ger gemeindepsychiatrischer Einrichtungen und s eit 1997 a uch freier Trä ger
der Jugendhilfe. Die sozialpsychiatrische, die gemeindepsychiatrische Grundhaltung aller Bereiche der Arkade
i s t i m Leitbild formuliert.
„Zur Erfül lung ihrer Aufgaben und mit Blick a uf die Bedürfnisse und die Bedürftigkeit der begleiteten Menschen
s orgt Arka de
e.V. für ei ne gemeindenahe Versorgung, für den Aufbau von dezentralen Strukturen, für durchlässige
Hi l feangebote und stellt die Hilfe zur Selbsthilfe in den Mi ttelpunkt.“
Di e Fachdienste der einzelnen Bereiche „haben den Anspruch, den Anderen als einzigartiges Gegenüber wert
zu s chä tzen und a chten die Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen a ls bereichernden Teil der
mens chlichen Vielfalt“. (Aus dem Leitbild der Arkade)
Für den Jugendhilfebereich bedeutet diese Haltung, dass sich die Fachdienste bei der Begleitung von jungen
Mens chen jeweils a uf einen gemeinsamen Prozess einlassen, einen Prozess, der alle Beteiligten mitnimmt. Das
Wohl des jungen Menschen immer i m Blick, richten die Fachdienste i hre Begleitung und Unterstützung
fa l lbezogen und ereignisorientiert a us. Für jeden jungen Menschen wird der Rahmen der Begleitung und die
Ges taltung des Hilfenetzes neu und kreativ entwickelt. Eine Person des Fachdienstes ist während der gesamten
Ma ßna hmendauer für alle beteiligten Menschen und Institutionen Ansprechpartner.
Im Kernbereich JuMeGa ® – Junge Menschen in Gastfamilien – haben sich Spezialisierungen entwickelt. Seit 2008
i ns talliert und begleitet JuMeGa ® für das La ndratsamt Ravensburg Pa tenschaften für Ki nder psychisch kranker
El tern (KIP).
Da s Angebot für schwangere Mä dchen und jugendliche Mütter mit i hren Ki ndern wurde konzeptionell
a us gearbeitet. Neben der Gastfamilienbetreuung hat JuMeGa ® einen Fachdienst für den Bereich Mobile
Jugendarbeit/Streetwork a ufgebaut.
„Bohr
ein
Loch
in den Sand sprich ein Wort
hinein
Inhalt
sei leise
vielleicht
3
Die Gastfamilien 7
1
Das Angebot
4
2
Die Zielgruppe
6
und potentieller Gastfamilie
Die passende Zuordnung von jungem Mens ch
Di e i ntensive Begleitung der Gastfamilie
9
wächst dein
Der Weg i n die Gastfamilie 10
Was eine Gas tfa milie bietet
4
Das Begleitungskonzept
9
12
kleines Vertrauen
Di e Zusammenarbeit mit der Herkunftsfamilie
Jugendpsychiatrie
8
groß
5
13 Di e Zusammenarbeit mit dem Jugendamt
Die Finanzierung
14
Die Unters tützung der Gastfamilien
13
irgendwann
Di e Zusammenarbeit mit der Ki nder- und
12
14
6
Ergänzende Angebote
15
in die Sonne.“
Integrationsleistungen / Nachsorge
15 Individuell abgestimmte Zusatzleistungen
Jugendli che Mütter mi t Kind
7
Fazit
16
a us : „Schmerzvoll l ebendig“ von Konstantin Wecker
(1998 by Verl a g Ki epenheuer & Wi tsch, Köln)
15
16
4
1 Das Angebot
Im Ra hmen unseres Jugendhilfeangebotes JuMeGa ® – Junge
Mens chen in Gastfamilien – vermitteln wir besonders
entwi cklungsbeeinträchtigte und seelisch behinderte ä ltere Kinder,
Jugendliche und auch junge Volljährige mit wenig hoffnungsvollen
Prognos en in Gast- bzw. Pflegefamilien (§33 SGB VIII). Die
Betreuungsverhältnisse werden durch den Fachdienst von JuMeGa ®
i ntensiv begleitet.
Da s Angebot ri chtet sich an junge Menschen, die aus
unterschiedlichsten Gründen i hren bisherigen Lebenszusammenhang
verl a ssen müssen und für die eine Gastfamilie den geeigneten
Ra hmen bieten kann, Beziehungen einzugehen, sich zu stabilisieren
und emotional s owie sozial nachzureifen. Vi ele von i hnen haben
bereits einen oder mehrere s tationäre Aufenthalte in einer Ki nderund Jugendpsychiatrischen Klinik hinter sich. Es ist ein Angebot für
junge Menschen, die entsprechend des § 35a SGB VIII, seelisch
behindert oder von einer s eelischen Behinderung bedroht sind.
JuMeGa ® erweitert die Angebotspalette der Jugendhilfe um eine
krea tive, auf die individuellen Bedürfnisse des jungen Menschen
zugeschnittene Al ternative. Das Angebot bietet dem jungen
Mens chen die Chance, i m Gastfamilienalltag Normalität zu erfahren
und eigene, oftmals ungeahnte Ressourcen in diesem Umfeld zu
a kti vieren.
JuMeGa® bietet eine Perspektive für junge Menschen,
di e a ufgrund i hres Störungsbildes ein engmaschiges, klar s trukturiertes
Betreuungsangebot ohne Bezugspersonenwechsel brauchen.
di e von einem Pl atz ohne Konkurrenz profitieren. die trotz mehrfacher
s ta tionärer psychiatrischer Behandlung i m s ozialen Alltag nicht
zurechtkommen.
di e der emotionalen Nachreifung, des Schutzes und der Begleitung im
Al l tag bedürfen.
Arka de e.V. hält dieses Angebot seit 1997 i n Ravensburg, seit 2003 i n
Ul m, s eit 2006 i n Tuttlingen und s eit 2011 i n Esslingen vor. Wä hrend
der Projektphase von August 1997 bis Ende 1999 wurde JuMeGa ®
wi s senschaftlich begleitet und vom La ndesjugendamt WürttembergHohenzollern i m Rahmen der „Förde-
5
rung neuartiger und beispielhafter Vorhaben in der Jugendhilfe“
unterstützt. Zum Abschluss des Projektes ga ben alle beteiligten
Stel len und Personen im Rahmen der wissenschaftlichen
Begl eitung eine durchweg positive Beurteilung a b. Der
Abs chlussbericht empfiehlt a usdrücklich die Fortführung des
Angebotes und auch seine Ausweitung. Im Mä rz 2000 erhielt
Arka de e.V. den „Förderpreis für hervorra gende Arbeiten im
Di enste des Pflegekindes“ der Stiftung zum Wohle des
Pfl egekindes in Holzminden.
Der Verein Arkade engagiert s ich s eit 1977 i n der a mbulanten
Betreuung von chronisch psychisch kranken erwachsenen Menschen
mi t den unterschiedlichsten Angeboten für diese Klientel. Eines
di eser Angebote ist das BWF – Betreutes Wohnen in Familien. Hier
werden erwachsene, chronisch psychisch kranke
Mens chen in Gastfamilien vermittelt und die entstandenen
Lebensgemeinschaften werden kontinuierlich begleitet. Aus dieser
Tra di tion heraus, i n enger Zusammenarbeit mit der Ki nder- und
Jugendpsychiatrie des Zentrums für Ps ychiatrie – Di e Weissenau –
und dem Kreisjugendamt Ravensburg ist das Angebot JuMeGa ®
ents tanden.
Im JuMeGa ® Fachdienst a rbeiten DiplompädagogInnen,
Sozi alpädagogInnen und SozialarbeiterInnen. Wöchentliche kollegiale
Supervision und monatliche Supervision durch eine externe Fachkraft
unterstützen die Fallarbeit.
2 Die Zielgruppe
JuMeGa ® geht im Grundsatz davon aus, dass es keinen für die
fa mi liäre Betreuung ungeeigneten jungen Menschen gibt.
Al l erdings kann es i m Ei nzelfall möglich sein, dass für einen
s peziellen jungen Menschen kein geeigneter Pl atz in einer
Ga s tfamilie a ngeboten werden kann.
Wir vermitteln junge Menschen,
Lebensgemeinschaften. Es wird bei den Gasteltern keine professionelle
Vorbi ldung vorausgesetzt.
für di e bisherige Jugendhilfemaßnahmen nicht den geeigneten Rahmen
bi eten konnten,
di e i n ihrer bisherigen Pflegefamilie nicht mehr bleiben können, deren
l eibliche Eltern mi t der Erziehungsaufgabe nachhaltig überfordert sind, bei
denen eine psychische Erkrankung diagnostiziert wurde und deren Teilhabe
a m Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt i st.
Bei der Einschätzung der Bewerberfamilien lassen wir
uns von den folgenden Fragen leiten:
Wel che Art von Beziehungsqualität bietet diese Bewerberfamilie?
Werden die Regeln des Zusammenlebens i n dieser Gemeinschaft von
ei nem oder zwei Erwachsenen maßgeblich bestimmt? Ist die Fähigkeit
zu di rektem und konsequentem erzieherischen Handeln gepaart mi t
emoti onaler Wärme?
Is t diese Familie bereit und fähig mit uns zusammenzuarbeiten?
Stel lt die Familie ein Ei nzelzimmer zur Verfügung? Gewährleisten die
zus tä ndigen Erwachsenen die nötigen Anwesenheitszeiten zuhause?
Die konkreten Probleme und Belastungen der jungen
Menschen können sehr vielfältig sein:
Ängs te und Probleme i n sozialen Beziehungen
Verwa hrlosungstendenzen
Schul verweigerung
Depressive und selbstzerstörerische Tendenzen
Es s störungen
Ps ychoti sche Störungen
Pers önlichkeitsstörungen
Erfa hrung mit Suchtmitteln
Sons tige Verhaltensoriginalitäten
Im Grundsatz sind Familien bzw. Lebensgemeinschaften auf Gelingen
a ngelegt und enthalten dementsprechende Ressourcen zur
Lebensbewältigung. Die Aufgabe von JuMeGa ® ist es, diese Ressourcen
und di e Gestalt des zur Verfügung gestellten Pl atzes zu erkennen. In
di esem Sinn leitet die Frage, welcher junge Mensch wohl von diesem
Fa milienplatz profitieren könnte.
Grundsätzliche Voraussetzungen für eine Aufnahme sind:
Ei ne Rückkehr in die Herkunftsfamilie wi rd aktuell als nicht
mögl ich und a uch nicht s innvoll eingeschätzt. Ei ne momentan
l a ufende stationäre Behandlung muss a bgeschlossen sein.
Di e Unterbringung i n einer Gastfamilie muss i n dem speziellen Fall
geeignet erscheinen.
Der junge Mensch muss familienbejahend sein, d.h. die Aufnahme in
ei ne Gastfamilie selbst wünschen.
6
Die Gastfamilien
JuMeGa ® akquiriert Gastfamilien über regionale Medien.
Al s potentielle Gastfamilie ist für JuMeGa ® die ganze Bandbreite a n
fa mi liären Lebensformen denkbar – a uch Teilfamilien und
7
In ei nem ausführlichen Erstgespräch l ernen zwei Mi tarbeiterInnen des
Fa chdienstes eine Bewerberfamilie kennen. Der a nschließende
Ha usbesuch von zwei Mi tarbeiterInnen ermöglicht einen weiteren
Ei nblick i n die Familiensituation und die Lebensumwelt.
Di e Gespräche führen die Mi tarbeiterInnen anhand eines
s ta ndardisierten Leitfadens, der dem Leitfaden für Vollzeitpflege des
La ndratsamtes Ravensburg angeglichen ist.
Al l e Informationen und Ei ndrücke über die Bewerberfamilie und
di e Einschätzung ihrer Ressourcen werden von den jeweiligen
Mi ta rbeiterInnen i n die Team-Besprechung eingebracht und
nochmals gemeinsam beleuchtet. Bleiben nach dieser
Bes prechung Fragen offen, folgen zu deren Klärung weitere
Konta kte mit der Bewerberfamilie.
Jede Bewerberfamilie bekommt eine Informationsmappe
(ebenfalls angeglichen a n die Info-Mappe des Landratsamtes
Ra vensburg), in der es um Regelungen der Vollzeitpflege, um
Rechte und Pflichten von Pflegeeltern und anderes mehr geht.
Di e Bewerberfamilien müssen ein erweitertes polizeiliches
Führungszeugnis und eine ä rztliche
Unbedenklichkeitsbescheinigung des Hausarztes vorl egen und
Die intensive Begleitung der Gastfamilie
da s für die Gastfamilie örtlich zuständige Jugendamt muss die
Unbedenklichkeit bestätigen.
JuMeGa ® bietet den Bewerberfamilien keine speziellen Seminare zur
Vorbereitung auf die Aufnahme eines jungen Menschen an. So
können auch Familien erreicht werden, die keine Übung i n der
s chri ftlichen Bewerbung haben und für die die
Tei lnahme a n einem Seminar eine große Hürde darstellt. Ei ne
Aus wahl a n Gastfamilienmilieus, die nicht dem herkömmlichen
Fa milienbild entsprechen, erhöht die Chance, a uch für s ehr
ungewöhnliche junge Menschen einen passenden Pl atz zu finden.
Denn Familien mit eigenen Grenzerfahrungen und nicht geradlinigen
Bi ographien können häufig besonders verhaltensoriginelle junge
Mens chen erstaunlich gut i ntegrieren. Die Mi lieunähe einer
Ga s tfamilie kann einem jungen Menschen die Integration erleichtern.
JuMeGa ® ersetzt die Vorbereitungsseminare durch zwei
konzeptionelle Stränge – di e passende Zuordnung und die intensive
Begl eitung der Gastfamilie.
Die passende Zuordnung von jungem Mensch
Betreuungsverhältnisses ermöglicht eine prozessorientierte
Qua l ifizierung der Gastfamilie ganz s peziell im Umgang mi t dem
a nvertra uten jungen Menschen. Es lässt sich i mmer nur vermuten,
wi e sich der junge Mensch i n dem Umfeld einer Gastfamilie
verha lten wird, welche Facetten seiner Persönlichkeit wie zum
Vors chein kommen. Ebenfalls lässt sich nur vermuten, wie es den
Ga s tfamilienmitgliedern wirklich i m Alltag mit dem Gast geht, wo
i hre Freuden und Leiden beginnen. Die Begleitung des beginnenden
Prozes ses i m häuslichen
Umfel d, bezogen auf die s pezielle Problematik kann a uf diese Weise ein
Ers a tz für vorbereitende Seminare s ein. Die Anerkennung der
Al l tagskompetenz der Gastfamilie a ls notwendige Ergänzung zu unserer
Fa chkompetenz hilft bei der gemeinsamen Suche nach neuen und
krea tiven Handlungsideen.
Was eine Gastfamilie bietet
und potentieller Gastfamilie
Durch i ntensive Gastfamilienwerbung hat JuMeGa ® in der Regel einen
größeren Pool von freien Gastfamilien zur Verfügung und kann aus
di esem Spektrum die möglichst passende Familie für die Bedürfnisse
des jungen Menschen auswählen.
8
9
Der JuMeGa ® Fachdienst überlegt bei der Zuordnung z.B. sehr genau,
wel che Familienstruktur, welches Wertesystem, welches Umfeld, welches
Verhä ltnis von Nä he und Distanz, welche Art von Al ltagskompetenz der
s pezielle junge Mensch braucht. Unsere Kl ientel bringt eine ausgeprägte
Indivi dualität und auch unterschiedliche Bedürftigkeit mit. Nicht jede
Ga s tfamilie kann jeden jungen Menschen integrieren. Der Umstand, dass
mi ndestens drei MitarbeiterInnen die Bewerberfamilie kennen gelernt
und erl ebt haben, hilft bei der Zuordnung.
Di e enge und zeitnahe (anfangs fi nden wöchentliche Hausbesuche
s ta tt) Begleitung der zuständigen MitarbeiterInnen des JuMeGa ®
Fa chdienstes während der gesamten Dauer des
Di e Vielfalt a n unterschiedlichen familiären Lebenszusammenhängen
bi etet die Chance, ein weitgehend auf die jeweils i ndividuelle
Probl emlage eines jungen Menschen zugeschnittenes Setting
bereitzustellen.
Dem jungen Menschen kann i n einer Familie seinen Bedürfnissen
ents prechend i ndividuell und flexibel begegnet werden. Die
Ga s tfamilie kann dem jungen Menschen die Möglichkeit bieten,
emoti onal nachzureifen, d.h. i m Schonraum der Fa milie a uch noch
ki ndliche Bedürfnisse zu äußern und Entwicklungen nachzuholen.
Di e Gastfamilie ermöglicht enge Führung mit direkten Konsequenzen
von kons tanten Bezugspersonen. Die Gastfamilie kann ein ruhiges,
überschaubares Umfeld für junge Menschen bieten, die ständig
wechs elnden Reizen und Anforderungen durch Gleichaltrige nicht
gewa chsen sind. Die Gastfamilie integriert den jungen Menschen in
i hren normalen Familienalltag. Vorhandene Entwicklungspotentiale des
jungen Menschen können durch die Ressourcen des „Normalen“
a kti viert und entfaltet werden. Die Kommunikationsstrukturen in der
Ga s tfamilie können dem jungen Menschen ein neues Lernfeld im
zwi s chenmenschlichen Umgang bieten.
Der Weg in die Gastfamilie
Di e Aufnahmeanfragen kommen vom zuständigen Jugendamt a n den
Fa chdienst JuMeGa ® . In einem persönlichen Gespräch lernen zwei
Mi ta rbeiterInnen des Fachdienstes den jungen Menschen mit seinen
Wüns chen, Schwierigkeiten, Vorlieben, Abneigungen, usw. kennen.
Da s Bild wird durch Gespräche mit den für den jungen Menschen
bi s her zuständigen Personen a bgerundet.
den geeigneten Rahmen für die Entwicklung des jungen Menschen
bi eten könnte. Ist im Gastfamilienpool ein Familienplatz vorhanden,
der a ller Voraussicht nach den Bedürfnissen und Erfordernissen in
di esem s peziellen Fall entsprechen könnte, wird das weitere
Vorgehen in der Regel recht zügig gestaltet.
Erfa hrungsgemäß ist bei den a ngemeldeten jungen Menschen meist
Ei l e geboten, da der Verbleib a m bisherigen Lebensort gefährdet ist
und möglichst schnell eine Lösung gefunden werden muss.
Es leiten die folgenden Fragen:
Wa s wünscht sich der junge Mensch, a n welche familiäre Struktur und a n
wel ches Umfeld kann er s ich aller Voraussicht nach anschließen?
Wel che Familie könnte an s einer speziellen Eigenart Freude finden?
Wel ches fa miliäre Umfeld kann sein Störungsbild ertragen? Wie könnte s ich
der Besuch von Schule / Ausbildungsstelle gestalten?
Wel che Bedingungen bringt die Herkunftsfamilie mit?
Wi e bei einer Ma ßnahme nach SGB VIII §§ 33, 27 und fol gende
notwendig, muss das anfragende Jugendamt der Zuordnung zu einer
von JuMeGa ® ausgewählten Gastfamilie zustimmen. Nach dieser
Zus timmung kommt es zu einem ersten Kennenlernen von jungem
Mens ch und Gastfamilie. In diesen Prozess des Kennenlernens sind
Herkunftseltern und Jugendamt entsprechend der Notwendigkeit
des Falles einbezogen.
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Da s anfragende Jugendamt kann die von Arkade vorgeschlagene
Ga s tfamilie belegen, wenn der junge Mensch, s eine Eltern und die
Ga s tfamilie zustimmen. Zwischen Arkade und den Gastfamilien
bes teht kein weisungsbefugtes Anstellungsverhältnis.
Pro Ga s tfamilie gehen wir in der Regel nur von einer Belegung a us. Nur
i n s peziell begründeten Fällen können auch weitere Belegungen
s ta ttfinden.
Mi t di esen gesammelten Informationen und Eindrücken versucht der
JuMeGa ® Fachdienst die Gestalt des Gastfamilienplatzes zu erfassen, der
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Das Begleitungskonzept
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Ei n wesentlicher Baustein des Konzeptes ist die Verbindung Die
Al l tagskompetenz der Gastfamilie mi t der professionellenMenschen.
Kompetenz des JuMeGa ® Fachdienstes über die gesamte Die Organisation von
Di enst s teht den Gastfamilien Die Begleitung des jungen Menschen beim
s upervi dierende Ga s tfamilie i n eine andere Gastfamilie oder Wohnform.
Funktion und entwickelt i n der Triade mit den Gastfamilien, den
jungen Menschen und seinen El tern die Strukturen und
Regeln des Familienalltags. Dabei werden weitgehend die
Zus ammenarbeit mit der Herkunftsfamilie des jungen der
jä hrl ichen Fachtagen für die Gastfamilien. La ufzeit der Ma ßnahme. Der
Überga ng aus der mit s einem fachlichen Wissen zur Seite, hat
Die Zusammenarbeit mit der Herkunftsfamilie i m Lebensumfeld der Gastfamilie vorhandenen Möglichkeiten
genutzt.
Ei n Eckpfeiler des JuMeGa ® Konzeptes ist die Zusammenarbeit
JuMeGa ® versteht sich als Gestalter eines Netzwerkes, das
mi t der Herkunftsfamilie. Sie beginnt bereits i m Vorfeld einer um den jungen Menschen geknüpft wird und ist i m Sinne von
Bel egung. Verständlicherweise fällt es manchen Eltern nicht Ca se Management für den gesamten Ablauf der Ma ßnahme
l eicht, ihr Ki nd i n eine fremde Familie zu geben. Dieser
Schri tt zuständig. i s t oft gepaart mi t dem Gefühl des eigenen Versagens und der
Konkurrenz zur Gastfamilie. Gastfamilie und Herkunftsfamilie dürfen bei
der Gestaltung i hres Kontaktes nicht alleingelassen
Die Unterstützung der Gastfamilien umfasst:
werden. Das Erkennen, wie sich der Kontakt zwischen dem
jungen Menschen und den Eltern gestaltet und welche Aufträge Die
i ndividuell a bgestimmte Regelbetreuung: Hausbesuche s i ch darin verbergen, ist wichtige Voraussetzung für die Entwickin ein- bis vi erwöchigen Abständen und zusätzliche Telefon- l ung des
neuen Betreuungsverhältnisses.
kontakte.
JuMeGa ® versucht einen vertrauensvollen Kontakt zu den l eibDie ereignisbezogene Betreuung bzw. Krisenintervention
l i chen El tern aufzubauen und sie in ihrer Funktion als „erste“
(z.B. ges undheitliche Krisen, gravierende Beziehungsprobleme). El tern zu würdigen. Eltern werden regelmäßig über die EntIn diesem Fall können wöchentlich 2-3 Termine vor Ort zus ätzwi ckl ung ihres Kindes informiert. Bei Konflikten übernimmt l ich anfallen, bis das Problem gelöst oder „die Wogen sich
JuMeGa ® die Vermittlung zwischen El tern und
Ga s teltern.
geglä ttet“ haben.
Di e Herkunftseltern können sich bei Fragen und Problemen
®
Ei ne Rund-um-die-Uhr-Erreichbarkeit des gesamten Teams,
jederzeit telefonisch mit JuMeGa in Verbindung setzen. jedoch nicht i m Sinne einer Rufbereitschaft, sondern die FaWenn es sinnvoll erscheint, begleitet JuMeGa ® die Herkunftsmilien verfügen über eine Liste aller priva ten Telefonnummern el tern beim Besuch i n der Gastfamilie oder den jungen
Mender JuMeGa ® MitarbeiterInnen. s chen beim Besuch s einer leiblichen Eltern.
Da s Angebot der organisatorischen Abwicklung aller schulischen und
beruflichen Angelegenheiten. Der Fachdienst sucht
und vermi ttelt geeignete Schul- und Ausbildungsplätze und
Die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt
a rbeitet eng mit Lehrern und Ausbildern zusammen.
Di e Vermittlung notwendiger fachärztlicher und therapeutischerDie
Zus ammenarbeit mit dem Jugendamt beginnt mit Begleitung für den
jungen Menschen.der Vorstellung des jungen Menschen bei JuMeGa ®.
Di e Mi twirkung bei der Hilfeplanung des Jugendamtes sowieDas
Kennenlerngespräch mit dem jungen Menschen findet
enge Kooperation mit psychiatrischen Fachdiensten und ani mmer i n Absprache und in der Regel zusammen mit dem deren Pa rtnern. a nfra genden Jugendamt statt.
Di e Unterstützung bei der Organisation von zusätzlichen über
defi nierten und vom Jugendamt fi nanzierten Zuordnung und erfragt die Zustimmung.
Entl astungs- und Förderleistungen in s peziellen Fällen.
JuMeGa ® bespricht mit dem Jugendamt die getroffene den Hilfeplan
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Ergänzende Angebote
Bei m Kennenlernen von jungem Mensch und Gastfamilie i st
Für junge Menschen, die i n unserem Angebot betreut werden das anfragende Jugendamt selbstverständlich beteiligt.
oder betreut werden s ollen, wurden ergänzende Angebote entNach Aufnahme des jungen Menschen i n die Gastfamilie wird wi ckelt. Alle diese Angebote s ind nicht i soliert a brufbar,
s ondern
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da s zuständige Jugendamt regelmäßig über die Entwicklung informiert.
Ha l bjährliche Hilfeplangespräche finden in der Gastfamilie in
enger Kooperation a ller Beteiligten statt.
Die Zusammenarbeit mit der Kinder- und
Jugendpsychiatrie
Ents prechend der Tra dition von Arkade e.V. und der gemeinsamen
Entwi cklung des Angebotes JuMeGa ® ist eine gute Zusammenarbeit mit
den örtlich zuständigen Ki nder- und
Jugendpsychiatrien gegeben. Diese Kooperation wird vom
JuMeGa ® Fachdienst kontinuierlich gepflegt. Fa chberatungen
für s pezielle Fragestellungen unter Ki nder- und Jugendpsychiat-Auszeiten i m
unkompliziert a ngefragt werden. Auszeitpflege für einen umschriebenen
werden.anderen Gastfamilie.
Pa tenpflegefamilien für junge Menschen, die a ußerhalb der Gastfamilie keinerlei
Finanzierung
i mmer gebunden an das Regelangebot von JuMeGa ® . Die
Fi nanzierung der ergänzenden Angebote wird entsprechend dem Fall
i ndividuell mit dem zuständigen Jugendamt a usgehandelt.
Individuell abgestimmte Zusatzleistungen
Um den Erfa hrungs- und Aktionsradius des jungen Menschen zu
erhöhen, um Entwicklungsimpulse zu geben, um drohende
Es ka lationen zu vermeiden und um Gasteltern i n besonders
bel astungsintensiven Situationen vorübergehend zu entlasten, bieten
wi r für den Einzelfall individuell abgestimmte Zusatzleistungen an.
Di ese umfassen die Organisation und Gestaltung von:
Ra hmen erlebnispädagogischer Ma ßnahmen. ri schem Blickwinkel können
Zei traum i n einer Kriseninterventionen i n der Kl inik können organisiert
fa mi liäre oder verwandtschaftliche Kontakte haben.
Fl a nkierende Unterstützung bei Schulproblemem
Di e Finanzierung der Ma ßnahme erfolgt in der Regel über
§§ 35a i Vm. 33 SGB VIII, 41 iVm. 35a i Vm. 33 SGB VIII.
Integrationsleistungen / Nachsorge
Da s Nachsorgeangebot richtet sich a n junge Menschen, die i n
Die monatlichen Kosten der Maßnahme umfassen:
ei ner Gastfamilie von JuMeGa ® über einen längeren Zeitraum
fa chlich begleitet wurden. Ziel soll s ein, den Tra nsfer der gedie Leistungen für die a ufnehmende Gastfamilie
ma chten Erfahrungen i n das neue Lebensumfeld zu gewährdie
Pers onal- und Sachkosten für Arka de JuMeGa ® l eisten und die Betreuungskontinuität als Brücke beim Überga ng nutzbar zu ma chen.
Ents prechend den besonderen Anforderungen erhält die Gast- Der junge Mensch kann während des Übergangs in die Herfamilie zum jeweils altersentsprechenden Grundbedarfssatz für
kunftsfamilie oder i n ein selbstständiges Wohnen von der/dem den jungen Menschen den 4-fachen Betreuungssatz im Rahmen
bi s dahin zuständigen JuMeGa ® MitarbeiterIn
wei ter betreut der i m jeweiligen Bundesland gültigen Sätze für Vollzeitpflege.
werden.
Di e Personal- und Sachkostenpauschale für Arkade e.V. wurde
Der Umfa ng dieses i n der Regel zeitlich befristeten Nachbemit dem zuständigen Jugendamt Ravensburg verhandelt und
treuungsangebotes ri chtet s ich nach dem Bedarf. Je nach richtet sich a n einem Betreuungsschlüssel von einer Fachkraft
Verei nbarung mit dem zuständigen Jugendamt wird
entweder zu a cht Betreuungsfällen aus. Die momentan gültigen Sätze
über di e Personal- und Sachkostenpauschale von JuMeGa ® entnehmen Sie bitte einer gesonderten
Kos tenaufstellung.oder über die Abrechnung von Fachleistungsstunden finanziert.
Jugendliche Mütter mit Kind
Jugendliche Mütter mit Ki nd werden i m Rahmen des JuMeGa ® Angebotes
ebenfalls i n für sie geeignete Gastfamilien vermittelt und fachlich begleitet.
Jugendlichen Müttern bietet dies die
Cha nce und Möglichkeit, i n einem familiären Umfeld in Geborgenheit und
mi t Anl eitung und Unterstützung ihr Ki nd zur Welt zu bringen, Kompetenzen
für di e Sorge und Erziehung ihres Ki ndes zu entwickeln und gleichzeitig ihren
ei genen schulischen oder beruflichen Weg weiterzuverfolgen.
(vgl . Konzeption Mutter und Kind)
7 Fazit
Ers ta unlich ist, dass s o vi ele Familien bereit sind, sich für diese
a ns pruchsvolle Aufgabe zur Verfügung zu s tellen und dass s ie ihren privaten
Ra um für die Aufnahme eines jungen Menschen öffnen. Die JuMeGa ®
Mi ta rbeiterInnen erleben bei den Gastfamilien großes Engagement, einen
jungen Menschen a uf einem oft nicht einfachen und lan gwierigen Weg zu
begl eiten. Sie zeigen beachtliche Ressourcen, um mit Kri sen und
Rücks chlägen umzugehen und diese mit den jungen Menschen
durchzustehen.
Auch ha t s ich gezeigt, dass junge Menschen mit s chweren seelischen
Verl etzungen Entwicklungspotentiale haben, die sie aktivieren können, wenn
s i e i n einem ihnen entsprechenden Umfeld leben. Offensichtlich finden sie in
di esen konstanten
Bezi ehungsangeboten Halt und Motivation. Ka nn der junge Mensch in einer
Ga s tfamilie Fuß fassen, was sich i n der Regel nach circa einem halben Jahr
zei gt, sind immer wieder erstaunliche Entwicklungen möglich, die sich z.B.
fes tmachen l assen a n regelmäßigem und erfolgreichem Schulbesuch,
Ans ä tzen sozialer Integration und Verselbstständigung.
Sei t dem Jahr 2006 i s t der Name JuMeGa® geschützt und es entstehen
bundesweit Pa rtnerschaften zwischen Trägern, die ebenfalls das JuMeGa ®
Konzept umsetzen. Dieser Anbieterverbund versteht sich als Qualitätszirkel,
der i n einem kontinuierlichen Prozess Qualität sichert und weiterentwickelt.
Zugehörige Unterlagen
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