Maria als Tempel der Weisheit

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Seminar: Maria, Tempel der Weisheit und Heil der Kranken
Teil I:
Maria, Tempel der Weisheit
1.Vortrag: Das Geheimnis der Weisheit
„Das hat uns die Gospa gleich gesagt, dass sie nichts Besonderes ist.“ Diese Worte
der Seher-Kinder im ersten deutschen Fernsehfilm über die Marien-Erscheinungen
in Medjugorje klingen wundervoll unbekümmert – und doch stellen sie uns eine
ganze Reihe von Fragen.
Maria ist nichts Besonderes, sie eine von uns, ein Mensch wie wir, eine Frau unter
Frauen. Das hören wir gern. Aber ist sie deswegen tatsächlich nichts Besonderes,
wie sie von sich selber sagt?
Jesus, Marias Sohn, ist der Sohn Gottes, er ist ganz Mensch und ganz Gott. Aber
durch wen ist Gott Mensch geworden? Er ist Mensch geworden durch Maria. In der
Botschaft des Engels heißt es: „Heiliger Geist wird über dich kommen und die Kraft
des Höchsten dich überschatten“ (Lk 1,35). Maria ist ohne Erbsünde geboren, sie ist
die Unbefleckte, die Immaculata. Nur dadurch konnte sie Jesus empfangen vom
Heiligen Geist, nur dadurch konnte Gott Mensch werden. Jesus, Marias Sohn, ist „in
allem uns gleich außer der Sünde“. Auch Maria ist in allem uns gleich – außer der
Sünde. Um auf die Fragen zu antworten: Maria ist eine von uns, sie ist Mensch unter
Menschen. Aber sie ist nicht Gott. Sie ist die Immaculata. Darin besteht ihre
Einzigartigkeit.
Im 12. Kapitel der Offenbarung des Johannes ist es die Frau, die nicht durch ihre
Kraft, sondern durch ihre Reinheit den mächtigen Drachen, das Symbol der Gewalt
und des Bösen, überwindet: „Dann erschien ein großes Zeichen am Himmel: eine
Frau, mit der Sonne bekleidet; der Mond war unter ihren Füßen und ein Kranz von
zwölf Sternen auf ihrem Haupt. Sie war schwanger“ (Offb 12,1). Die Kirchenväter
sehen in diesem Zeichen Maria, schwanger mit Jesus, dem Sohn Gottes: „Und sie
gebar einen Sohn, der alle Völker mit eisernen Zepter weiden wird. Und ihr Kind
wurde zu Gott und zu seinem Thron entrückt“ (Offb 12,5). Sonne und Mond bedeuten
die Fülle der Gnaden Gottes, die zwölf Sterne stehen für die zwölf Stämme Israels
oder für das Gottesvolk insgesamt – also für uns alle.
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In der christlichen Tradition gilt Maria als die neue Eva als Urbild der Frau. Die Frau
aber hat Gott erschaffen aus dem Mann. Im Buch Genesis lesen wir: „Da sprach
Gott, der Herr: es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist. Ich will ihm eine Hilfe
machen, die ihm ebenbürtig ist. (…) Aber eine Hilfe, die dem Menschen ebenbürtig
war, fand er nicht. Da ließ Gott, der Herr, einen tiefen Schlaf auf den Menschen
fallen, sodass er einschlief, nahm eine seiner Rippen und verschloss ihre Stelle mit
Fleisch. Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte,
eine Frau und führte sie dem Menschen zu. Und der Mensch sprach: Das endlich ist
Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch! Ischa (Frau) soll sie
genannt werden, denn vom isch (Mann) ist sie genommen“ (Gen 2,18-23).
Für uns gewöhnungsbedürftig ist nicht nur die Art, wie Gott die Frau aus dem Mann
schuf, sondern auch das Verb, mit dem er die Frau geschaffen hat: er „baute“ sie. Im
biblischen Hebräisch sind die Verben für „schöpfen“ und „bauen“ sehr ähnlich. Gott
ist nicht nur der Schöpfer, sondern als solcher auch der Handwerker, der Baumeister,
der Künstler, der Architekt. Er hat ein neues, andersartiges „Gebäude“ geschaffen,
ein Lebewesen, das dem Mann ebenbürtig ist. Von der Erschaffung des Menschen
als Gebäude werden wir noch öfter hören, etwa wenn von Maria als „Tempel der
Weisheit“ die Rede sein wird.
Als Tempel galt Maria schon sehr früh. Diesen Ausdruck hat die Urkirche aus der
jüdischen Tradition übernommen. Der Apostel Paulus sagt: „Wisst ihr nicht, dass ihr
Tempel Gottes seid und der Geist Gottes in euch wohnt?“ (1 Kor 3,16). Weil von
Gott geschaffen, ist jeder Mensch „Tempel Gottes“ und „vom Geist Gottes bewohnt“.
Der heilige Papst Johannes Paul II. sagt, wenn Gott einem Klumpen Lehm seinen
Atem einhaucht, um den lebendigen Menschen daraus zu schaffen, dann haucht er
ihm sein Innerstes ein, seinen göttlichen Geist. Maria, die Immaculata, aber ist in
besonderem Maße vom Geist Gottes bewohnt, sie ist „der allerreinste Tempel des
Erdkreises“, wie der syrische Kirchenvater Jakob von Batnä im 6. Jahrhundert sagt
(Gedicht über die allerreinste Jungfrau).
Zweifellos ist hier Maria als Tempel der Weisheit oder Wohnung des Geistes Gottes
gemeint. In der frühen Kirche hatte man eine gewisse Zurückhaltung gegenüber
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dem Wort und Begriff „Weisheit“, denn im Alten Testament stellt sich die Weisheit
als eine der geheimnisvollsten und vielgestaltigsten Wirklichkeiten dar.
Zunächst aber ein kurzer Überblick über die drei Teile unserer Seminarreihe, er kann
uns helfen, den Weg und das Ziel unseres Vorhabens besser zu verstehen. Bei der
kaum noch überschaubaren Vielzahl der Werke über Maria scheint es ein Abenteuer,
noch etwas Neues über Maria sagen zu wollen. Wir wollen auch nichts Neues
sagen, nur einige weniger bekannte und in Vergessenheit Aspekte ihres Daseins
auffrischen, die gerade für unsere Zeit der Verunsicherung und Verängstigung vieler
Gläubigen, sowie der Verrohung und der Verdrehung unserer Sprache ihre
Wichtigkeit haben können. Im ersten Seminarteil, der heute beginnt, wollen wir
versuchen, uns Maria als Tempel der Weisheit anzunähern – und dadurch vor allem
das Geheimnis der Weisheit im Alten Testament zu ergründen.
Im zweiten Seminarteil wollen wir Maria als die eucharistische Frau kennen lernen.
Dieser ungewohnte Ausdruck stammt aus der letzten Enzyklika des heiligen Papstes
Johannes Paul II, sozusagen aus seinem geistlichen Testament. Es geht um die
Ganzhingabe Marias: ohne ihr Ja zur Botschaft des Engels, ohne ihren Glauben an
die Empfängnis durch den Heiligen Geist, ohne die Hingabe ihres Leibes zur
Menschwerdung Gottes, hätte es weder Leben noch Tod des Gottessohnes
gegeben: es hätte keine Einsetzung der Eucharistie geben können, keine heilige
Kommunion an seinem Leib und Blut - und keine Erlösung von unseren Sünden.
Unser neues Leben, das Leben in Fülle verdanken wir nicht nur Gott und Gottes
Sohn Jesus, sondern auch Maria, seiner Mutter.
Damit ist der Inhalt des dritten Seminarteils als das Ziel unsres Weges bereits
angedeutet: durch die Ganzhingabe ihres Lebens wird Maria zum Heil der Kranken.
Nicht nur unsere körperlichen und seelischen Schmerzen und Behinderungen
werden durch Maria geheilt, sondern vor allem unser ständiges geistliches Versagen
durch die Sünde. Als Tempel der Weisheit und als eucharistische Frau soll uns
Maria zum Heil der Kranken werden.
Zum Verständnis der Einheit der drei Seminarteile sind einige Vorbemerkungen
notwendig. Wie ihr Sohn Jesus, der Sohn Gottes, ist und bleibt Maria zeitlos: von den
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Kirchenvätern und von der christlichen Tradition wird sie häufig schon in den
Gestalten des Alten Testaments gesehen oder. Man nennt diese Vor-Bilder oder
Voraus-Bilder Marias im Alten Testament typós, die Vollendung in Maria selbst ist
dann der antitypós.
Die zweite Vorbemerkung kann uns zum besseren Verständnis des Gesagten helfen.
Wir hatten gehört, um die Frau aus der Rippe des Menschen zu „bauen“, musste
Gott die Seite des Mannes öffnen. Diese Leben spendende Öffnung findet sich
immer wieder in der Heiligen Schrift, man nimmt sie darum gern als typós für Marias
Öffnung, Jesus, den Sohn Gottes vom Heiligen Geist zu empfangen. Beschränken
wir uns hier auf wenige Beispiele: Als das jüdische Volk auf seiner
Wüstenwanderung zu verdursten droht, gibt Gott dem Mose einen Stab, mit dem er
auf einen bestimmten Felsen schlagen soll. Durch die Öffnung entströmt dem Felsen
inmitten der Wüste Leben spendendes Wasser (vgl. Num 20,11). Der Apostel Paulus
sagt dazu: „Der Felsen, der sie begleitete, aber war Christus“ (1 Kor 10,4). – Mit
Marias Ja zur Botschaft des Engels öffnet sie sich für die Leben spendende
Empfängnis Jesu durch den Heiligen Geist. Am Kreuz Jesu öffnet sich seine Seite,
aus der Leben spendende Ströme von Blut und Wasser fließen, die Kirchenväter
sehen darin die Sakramente der Kirche. Schließlich wird durch das geöffnete Herz
Marias unter dem Kreuz noch einmalneues Leben gespendet. Der heilige Irenäus
von Lyon sagt, Maria habe Jesus zweimal geboren, in Betlehem den physischen
Leib, und durch die Wehen des Mitleidens unter dem Kreuz den mystischen Leib: die
Kirche. Diese Aussage, dass Maria unter dem Kreuz zur Mutter der Kirche wird,
bezieht sich auf die Worte Jesu: „Frau, siehe, dein Sohn!“ und „Siehe deine Mutter!“
Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich“(Joh 19,26 f). Diese Worte
des sterbenden Jesus gelten als die Leben spendende Gründung der Kirche.
Die dritte Vorbemerkung, die eng mit der ersten und zweiten zusammenhängt,
bezieht sich auf das Zeitverständnis der Heiligen Schrift. Für uns ist die
chronologische oder konsekutive Wahrnehmung der Zeit selbstverständlich, die
biblischen Bücher aber sind von einem simultanen Zeitbegriff geprägt wie etwa
unsere Träume, in denen sich die Generationen munter vermischen. Das heißt
praktisch, auch historisch weit voneinander entfernte Geschehnisse werden immer
gleich aktuell wahrgenommen. Eine gute Erklärung des Unterschieds zwischen
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konsekutiver und simultaner Zeit-Wahrnehmung findet sich in einem der bekannten
Gespräche der drei Rabbiner. Der erste Rabbi, der gern eine These vertritt, sagt:
„Und es sprach der König Salomo zum König Saul…“ Der zweite Rabbi, der immer
eine Antithese parat hat, fährt dazwischen: „Das geht doch gar nicht, die beiden
lebten doch zu ganz verschiedenen Zeiten!“ Und der dritte Rabbi, der immer um eine
Synthese bemüht ist, sagt: “Na und?“
Aber kommen wir damit zum Kern unseres ersten Vortrags: das Geheimnis der
Weisheit. Wir hatten es schon gehört: der Begriff der Weisheit im Alten Testament
erweist sich als überaus geheimnisvoll: bald ist sie eine begehrte Tugend, bald eine
geliebte Person, bald göttlich, bald menschlich, häufig weiblich, zuweilen auch
männlich. Dazu kommt die Wirkmächtigkeit der Weisheit: zuweilen bleibt offen, ob
Maria der Tempel ist, der die Weisheit in sich trägt, oder ob die Weisheit der Tempel
ist, der Maria in sich trägt.
Im Alten Testament erscheint die Weisheit als eine Wirklichkeit, die immer und
überall gegenwärtig ist, auch wenn sie durchaus nicht immer sichtbar ist. Das mag
der Grund dafür sein, dass die Autoren des Buches der Sprichwörter es weitgehend
der Weisheit überlassen, sich selbst darzustellen: „Der Herr hat mich geschaffen als
Anfang seines Weges, vor seinen Werken in der Urzeit“ (Spr 8,22). Aber nicht nur
vor der Schöpfung, auch während der Erschaffung der Welt ist die Weisheit an der
Seite des Schöpfers gegenwärtig: „ Als er den Himmel baute, war ich dabei, (…)als
er die Fundamente der Erde ausmaß, da war ich als geliebtes Kind bei ihm. Ich war
seine Freude Tag für Tag und spielte vor ihm allezeit“ (Spr 8,27 ff). Als Kind Gottes
aber weiß die Weisheit, was sie will: „Ihr Kinder, hört auf mich! Selig, die auf meine
Wege achten. Hört die Mahnung und werdet weise, lehnt sie nicht ab! (…) Wer auf
mich hört, findet Leben und erlangt das Gefallen des Herrn“ (Spr 8,32 ff).
Aber nicht nur als Kind Gottes stellt sich die Weisheit dar, sondern auch als Hausfrau
– und hier ist es nicht schwer, sie als typos von Maria zu sehen: „Die Weisheit hat
(…) ihren Tisch gedeckt (…) Zu den Unwissenden sagt sie: Kommt, esst von meinem
Brot und trinkt von dem Wein, den ich mischte! Lasst ab von der Torheit, dann bleibt
ihr am Leben und geht auf dem Weg der Einsicht!“ (Spr 9,1 ff).
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Weil die Weisheit auch als Hausfrau die Vertraute Gottes bleibt und zugleich göttliche
und menschliche Züge trägt, haben auch die materiellen Gaben, zu denen sie
einlädt, die geistliche Qualität ihrer Worte: „Ich unterrichte den Weisen, dass er noch
weiser wird; belehre den Gerechten, damit er dazulernt!“ (Spr 9,9 f).
Zu ihrer Verkündigung des Wortes Gottes gehört die Weite ihres Herzens und ihre
weitgehende Unabhängigkeit von Zeit und Raum: Bald ist die Weisheit unterwegs in
himmlischen Höhen, bald schlägt sie Wurzeln im Tempel zu Jerusalem: „Ich ging aus
dem Mund des Höchsten hervor als Erstgeborene aller Schöpfung. Ich wirkte, dass
den Himmeln ein unvergängliches Licht aufging und umhüllte wie ein Nebel die
ganze Erde. Ich schlug in den Höhen mein Zelt auf, und mein Thron stand auf einer
Wolkensäule. Den Kreis des Himmels umschritt ich allein, und in der Tiefe der
Abgründe ging ich umher. Auf den Wogen des Meeres und auf der ganzen Erde (…)
suchte ich Ruhe (…) Vor Ewigkeit und von Anfang an hat er mich erschaffen, und bis
in Ewigkeit vergehe ich nicht. Im heiligen Zelt diente ich ihm (…) in der Stadt, die er
ebenso liebt, ließ er mich Ruhe finden, in Jerusalem“ (Si 24,3 ff).
Mit dem „heiligen Zelt“ ist offenbar der Tempel in Jerusalem gemeint: In der Stadt,
die Gott ebenso liebt. findet die Weisheit Ruhe. Wo aber begegnet sie uns zum
ersten Mal in menschlicher Gestalt? Nachdem Abraham in ein Land gezogen war,
„das ich dir zeigen werde" (Gen 12,1) und dort Kämpfe gegen eine ganze Reihe von
Königen zu bestehen hatte, erscheint ihm ein geheimnisvoller König von Salem
namens Melchizedek: „Er brachte Brot und Wein heraus, er war nämlich ein Priester
des höchsten Gottes. Er segnete ihn und sprach: "Gesegnet sei Abraham von dem
höchsten Gott, der Himmel und Erde erschaffen hat" (Gen 14,19). Wer ist dieser
geheimnisvolle König Melchizedeck, der gleichzeitig göttliche und menschliche Züge
hat? Und wo lebt er? Nach Psalm 76,3 sieht die jüdische Tradition und der
Hebräerbrief in dem Wort "Salem" eine Bezeichnung für die heilige Stadt Jerusalem.
Damit aber wird Mechizedek, übersetzt "Mein König der Gerechtigkeit", zum Vor-bild
des Messias, also auch zum Vorläufer Jesu und seiner Mutter Maria. Im
Hebräerbrief lesen wir über Melchizedek: „Dieser Melchisedek, König von Salem
und Priester des höchsten Gottes (…), dessen Name König der Gerechtigkeit
bedeutet, und der auch König von Salem ist, das heißt König des Friedens, der
vaterlos, mutterlos und ohne Stammbaum ist, ohne Anfang seiner Tage und ohne
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Ende seines Lebens, ähnlich dem Sohn Gottes: dieser Melchisedek bleibt Priester für
immer“ (Hebr 7,1 ff). Die Kirchenväter gehen noch einen Schritt weiter als der
Hebräerbrief. Einige von ihnen meinen, in Melchizedek ist der Sohn Gottes vorabgebildet, und also in den Gaben von Brot und Wein, die Abraham von ihm
empfängt, eine Vorausbedeutung des eucharistischen Opfers. Wir können auch
sagen, die geheimnisvolle Gestalt des Melchizedek verkörpert erstmalig die Weisheit.
Wir werden noch sehen, dass es eine durchgehend enge Beziehung der Weisheit zu
den Messias-Königen gibt.
Damit aber ist etwas ganz Entscheidendes ausgesagt nicht nur über das Geheimnis der
Weisheit, sondern auch für die Geschichte der Beziehungen zwischen der Frau, dem Brot
und dem Wein: Durch die gleichzeitig göttliche und menschliche Gestalt des Melchizedek
werden die Gaben von Brot und Wein erstmals als Gaben Gottes deutlich, als Gaben des
Lebens in Fülle und als Segnungen wie später in der Eucharistie.
Merkwürdig: auch wenn uns die Weisheit als immer und überall unterwegs begegnet, so
scheint sie doch – wenn auch in vielerlei Gestalt - auf Jerusalem und den Tempel
konzentriert zu bleiben. Die Texte über Melchisedek, den geheimnisvollen König von
Salem, der nicht nur die Messias-Könige voraus-abbildet, sondern ganz offensichtlich
auch die Weisheit verkörpert, enthalten nirgendwo das Wort „Weisheit“. Fragen wir, wo die
Weisheit zum ersten Mal ausdrücklich in der Bibel erscheint, so stoßen wir wieder auf die
Einwohnung Gottes, dieses Mal aber noch nicht im Tempel von Jerusalem, sondern im
Offenbarungszelt. Als die Einwohnung Gottes in der Wüste kann es als die mobile
Vorstufe des Tempels gelten. Im Buch Exodus lesen wir: „Der Herr sprach zu Mose: „Lass
für deinen Bruder Aaron heilige Gewänder der Ehre und der Würde anfertigen. Rede mit
allen Sachkundigen, die ich mit dem Geist der Weisheit erfüllt habe, sie sollen Aarons
Gewänder anfertigen, damit er geheiligt sei und mir als Priester dient!" (Ex 28,1 ff).
Die Sachkundigen – also nicht nur die Schneider! – sollen Aarons Priester- Kleider mit
dem Geist der Weisheit anfertigen, damit Aaron als Priester in der Weisheit geborgen ist.
Zu diesen „Sachkundigen“, die Gott mit Weisheit erfüllt hat, gehört auch der Erbauer des
Heiligtums: „Der Herr sprach zu Mose: "Ich habe Bezalel (…) beim Namen gerufen und ihn
mit dem Geist Gottes erfüllt, mit Weisheit und Verstand und Kenntnis für jede Arbeit“(Ex
31,1ff). Der Name Bezalel aber bedeutet „Der vom Herrn Überschattete ". Damit zeigt sich
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eine deutliche Parallele zur Botschaft des Engels, von der wir ausgegangen sind: als
Erbauer des Offenbarungszeltes, das der Einwohnung Gottes dient, ist Bezalel der vom
Herrn Überschattete, als die Jesus vom Heiligen Geist Empfangende ist Maria die von der
Kraft des Höchsten Überschattete. Wie Gott im Offenbarungszelt Wohnung nimmt, so wird
Gottes Sohn in Maria wohnen.
Versuchen wir zusammenzufassen. In dem Bemühen, uns dem Geheimnis der Weisheit
anzunähern haben gesehen, vollkommen werden wir dieses Geheimnis nie ergründen. In
ihrer Selbstoffenbarung sagt die Weisheit, sie ginge aus dem Munde Gottes hervor. Damit
versteht sie sich als Wort Gottes. Während der Schöpfung ist sie gegenwärtig als Kind
Gottes (andere Übersetzungen haben: als Vertraute oder Geliebte Gottes), damit zeigt sie
sich in ihren zugleich göttlichen und menschlichen Zügen. Als Hausfrau deckt sie den
Tisch und bietet die Gaben von Brot und Wein, gleichzeitig damit aber auch das Wort
Gottes als geistliche Nahrung. Von den Kirchenvätern wird der Tempel der Weisheit oft
genug als typós für den Leib der Jungfrau Maria verstanden. Im nächsten Vortrag wollen
wir die Weisheit vor allem in ihren weiblichen Zügen erleben. In ihrer Offenheit wird sie
noch deutlicher zur „Verwandten“ der Jungfrau Maria.
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Seminar: Maria, Tempel der Weisheit und Heil der Kranken
Teil I:
Maria, Tempel der Weisheit
2.Vortrag: Die Weisheit hat den Tisch gedeckt
Im ersten Vortrag hatten wir uns dem Geheimnis der Weisheit angenähert, vor allem
ihren gleichzeitig göttlichen und menschlichen Zügen. In diesem zweiten Vortrag
wollen wir die Weisheit in ihren weiblichen Zügen kennen lernen, mit denen sie auch
den Männern zu Hilfe kommen kann, besonders den Messias-Königen. Damit wird
die Weisheit in ihren verschiedenen Gestalten noch deutlicher zum typós von Maria
und Jesus, den sie als den Messias geboren hat.
Maria ist und bleibt die einzige, die als Jungfrau vom Heiligen Geist empfangen hat.
Dennoch ist diese einzigartige Empfängnis nicht „vom Himmel gefallen“: es gibt nicht
wenige Vorläufer-Geschichten, in denen die Empfängnis zwar auf die natürliche
Weise, gleichwohl aber durch die geheimnisvolle Hilfe eines Dritten, zustande kam.
Wir können beginnen mit der Geburt von Kain und Abel durch die Beziehung von
Adam und Eva. Schon hier macht Eva deutlich, dass es ohne die Hilfe eines Dritten
keine Geburt gegeben hätte: „Der Mensch erkannte Eva, seine Frau, sie wurde
schwanger und gebar Kain. Da sagte sie: Ich habe einen Mann vom Herrn erworben“
(Gen 4,1 f). In dieser Aussage wird klar: auch wenn Adam der Kindsvater von Kain
ist, dann weiß Eva als Mutter doch sehr genau, wer der Schöpfer dieses Kindes ist,
von dem sie es - durch ihr Gebet - „erworben“ hat, nämlich vom Herrn.
Mit anderen Worten: Mit der Ausnahme von Marias Empfängnis durch den Heiligen
Geist gibt es kaum eine Empfängnis, keine Schwangerschaft und keine Geburt in
der Heiligen Schrift, die nicht durch die Eheleute mit der Hilfe eines Dritten zustande
gekommen wäre. Auffallend dabei ist die Zahl der als unfruchtbar geltenden
Ehefrauen, die dann doch noch, nämlich durch eine Hilfe, schwanger geworden sind.
Dieser geheimnisvollen Hilfen sind so viele, dass wir uns hier auf einige wenige
Beispiele beschränken müssen. Immer wird es dabei um die Leben spendende Rolle
der Weisheit gehen.
Beginnen wir mit der kinderlosen Ehe von Abraham und Sara. Abraham ist hundert
Jahre alt und Sara ist neunzig. Sie erhalten den Besuch von drei Pilgern (vgl. Gen
10
18,1- 15). Ohne sie zu kennen, lädt Abraham sie zum Essen ein: Brot wird
gebacken, ein Kalb wird geschlachtet und gebraten. Nach dem Essen wird Sara von
den Pilgern gesagt, in einem Jahr wird sie einen Sohn gebären. Und Sara wird
tatsächlich einen Sohn bekommen: „Ist denn beim Herrn etwas unmöglich?“ (18,14)
Im Buch Genesis heißt es über diese Begegnung: „Der Herr erschien Abraham“
(18,1); die Kirchenväter sehen in den drei Pilgern das Vor-Bild der heiligen
Dreieinigkeit - und in den Gaben von Brot und Fleisch das Vor-Bild der heiligen
Eucharistie. In seiner ebenso hochherzigen wie großzügigen Gastfreundschaft hat
Abraham nicht nur Gott aufgenommen, sondern auch die Leben spendende
Weisheit.
Weniger bekannt als das Gastmahl bei Abraham ist die Geschichte der Mutter des
Simson, des letzten Richters von Israel, von dem das Buch der Richter erzählt (vgl.
Ri 13-16). Simsons Mutter, die nicht mit Namen genannt wird, ist mit einem Mann
namens Manoach verheiratet. Sie gilt als unfruchtbar. Sie empfängt einen
geheimnisvollen Herrenbesuch – und danach gebiert sie Simson, der nazir werden
soll, ein dem Herrn Geweihter: er darf sich nicht die Haare schneiden und keine
berauschenden Getränke zu sich nehmen, nicht einmal Trauben essen (vgl. Num 6).
Was aber hat es mit dem geheimnisvollen Herrenbesuch auf sich? Und wie kam
Manoachs Frau daraufhin zu ihrem Sohn? Zunächst wird diese Frau auf die
Besonderheit des Lebensstils ihres Sohnes vorbereitet: Sie soll sich schon vor der
Geburt an das neue Leben anpassen. Der Text sagt: "Dieser Frau erschien der
Engel des Herrn und sprach zu ihr: Du bist unfruchtbar und hast kein Kind
bekommen. Nun aber sei auf der Hut: Trinke keinen Wein und nichts Berauschendes
und iss nichts Unreines. Denn du sollst empfangen und einen Sohn gebären. Das
Schermesser soll nicht auf sein Haupt kommen, denn das Kind wird ein nazir Gottes
sein von Mutterleib an" (Ri 13,3).
Wie reagiert die Frau auf diese geheimnisvolle Botschaft? Als erstes verständigt sie
ihren Ehemann! Sie sagt: "Ein Gottesmann ist zu mir gekommen. Er sah aus wie der
Engel Gottes" (Ri 13,6). Und sie erzählt dem Ehemann von der Besonderheit des
Kindes, das sie empfangen und gebären soll. Wie aber reagiert der überraschte
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Ehemann? Er betet zu Gott, sein Bote soll noch einmal kommen. Das tut der
Gottesmann tatsächlich. Aber er kommt nicht wie gewünscht zum Ehemann!
Sondern er kommt wieder zu dessen Frau, als sie allein ist auf dem Feld. Und wieder
läuft die Frau zu ihrem Ehemann. Der will nun selbst mit dem geheimnisvollen Gast
reden. Manoach, der Ehemann, ist so überzeugt, dass es sich nicht um einen
Nebenmann handelt, sondern um einen Gottesmann - wenn nicht gar um Gott selbst!
In einer Art frommer Panik ruft er: "Wir sind des Todes, denn wir haben Gott
geschaut!" (Ri 13,22)
Für Manoachs Frau geht es bei dieser Begegnung um eine Entscheidung für das
Leben. Sie antwortet ihrem Mann: " Wenn der Herr uns hätte töten wollen, dann hätte
er uns jetzt nicht solche Dinge hören lassen". Der Text sagt weiter: "Und die Frau
gebar einen Sohn, und sie nannte ihn Simson, der Herr segnete ihn und der Geist
des Herrn begann ihn umzutreiben" (Ri 13,24).
Auch wenn der Text diskret bleibt, so dürfen wir doch annehmen, trotz aller
Begegnungen von Manoachs Frau mit dem Gottesmann ist es ihr Ehemann
Manoach, der der Vater ihres Kindes wurde. Aber wir sollen offenbar aus der
Begegnung lernen, welche Beziehung für Manoachs Frau die intensivere ist. Bei aller
Gottesfurcht läßt sich Manoach keine echte Gottesbegegnung schenken. Er lässt
sich nicht ergreifen und erfüllen wie seine Frau. Für ihn bleibt Gott derjenige, durch
dessen Anblick der Mensch sterben muss. Auch wenn er der Vater Simsons
geworden ist, kann man kaum von einer echten Beziehung zu seiner Frau sprechen,
und deswegen auch nicht von einer Partnerschaft – Manoach fehlt einfach jene
Gottesbeziehung, von der sich seine Ehe-Beziehung hätte prägen lassen können.
Ob die Weisheit nun in der Gestalt des Gottesmannes zu Manoachs Frau geschickt
wurde oder ob sie in dieser Frau schon gegenwärtig war – sie hat den Tisch gedeckt
und mit der Geburt Simsons neues Leben gespendet.
Vertrauter als die Geschichte von der unerwarteten Erscheinung des Richters
Simson ist uns die geheimnisvolle Empfängnis und Geburt des Gottesmannes
Samuel durch seine Mutter Hanna, die ebenfalls als unfruchtbar galt. Denn auf dem
Danklied der Hanna für diese Spendung neuen Lebens durch die Geburt Samuels
beruht das Magnifikat Marias. Wie aber wurde das Unmögliche möglich in Hannas
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Leben? Ihr Mann Elkana hatte zwei Frauen. Die eine, Penina, hatte mehrere Söhne,
die andere, Hanna, hatte kein einziges Kind. Elkana aber liebte Hanna mehr als
Penina, darum versuchte er sie zu trösten: "Warum ist dein Herz betrübt? Bin ich dir
nicht mehr wert als zehn Kinder?" (1 Sam 1,8). Hanna aber lässt sich nicht
abspeisen durch den Trost ihres Mannes: „Nachdem man in der Halle (des Tempels
von Shilo) Mahl gehalten hatte, stand Hanna auf und trat vor den Herrn" (1 Sam 1,9).
Hanna betete zwar leise, aber doch so inständig, dass der Tempelpriester Eli, einer
der Söhne Elkanas, sie für betrunken hält und zur Rede stellt ob ihres ungehörigen
Benehmens im Tempel (vgl. 1 Sam 1,13f). Auf ihre Rechtfertigung hin wird sie von Eli
gesegnet – und empfängt einen Sohn, den sie dem Herrn weiht: „Alle Tage, die er
lebt, soll er dem Herrn überlassen sein" (1 Sam 1,28). Sie gibt ihm den Namen
Samuel ("der Name des Herrn ist über ihm"). Auf die menschlich nicht erklärbare
Geburt Samuels folgt jener Lobgesang der Hanna auf die Allmacht Gottes und seine
unergründliche Weisheit: "Der Herr macht arm, und er macht auch reich, er erniedrigt
und er erhöht. Aus dem Staube richtet er die Schwachen auf und zieht die Armen
aus dem Schmutz, um ihnen unter Fürsten einen Platz zu geben" (1 Sam 2,7f).
In dieser ganzen Begebenheit wird deutlich, auf welche Weise Hanna durch ihr Leben der
Weisheit einen Tempel errichtet, in dem ihr Sohn als Prophet des Herrn lebt. Und mehr
noch: sie selbst ist dieser Tempel der Weisheit, aus dem ihr Sohn als Erwählter Gottes
und Wegbereiter der Messias-Könige hervorgeht.
Denn durch Samuel bricht eine neue Etappe in der Geschichte des Gottesvolkes an.
Solche Anfänge neuer Etappen durch die Leben spendenden Gaben der Weisheit, meist
die Gaben von Brot und Wein, sind nicht ungewöhnlich und setzen sich in der Geschichte
der Messias-Könige fort. Wenn auch nicht immer ausdrücklich, so spielen Frauen dabei oft
eine heilbringende Rolle. Begnügen wir uns hier mit zwei Beispielen: mit der Rolle der
Frauen und der Weisheit im Leben der Könige Saul und David.
Auf eine Offenbarung salbt der Gottesmann Samuel den ersten König von Israel: „Samuel
nahm das Öl und goss es über Sauls Haupt aus, erküsste ihn und sprach: "Hiermit hat
dich der Herr zum Fürsten über sein Erbteil gesalbt. Du sollst über das Volk des Herrn
herrschen" (1 Sam 9,27-10,1). Weil Saul auf das Wort Gottes von dem Gottesmann
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Samuel gesalbt wird, erhält diese Salbung einen sakralen Charakter. Saul wird damit zum
ersten Messias-König Israels.
Was nun geschehen wird, ist nach den Worten Samuels ein "Zeichen von Gott" für den
neuen König Saul: "Drei Männer werden dir begegnen, die zur Gottesstätte nach Bet-el
hinaufziehen. Der eine trägt drei Böckchen, der andere drei Laibe Brot und der dritte einen
Schlauch Wein. Sie werden dich begrüßen und dir zwei Laibe Brot anbieten. Und du sollst
sie von ihnen annehmen" (1 Sam 10,3f). Zum Beginn seiner Herrschaft empfängt der erste
Messias-König Israels von den drei Gottespilgern die für die Gottesstätte Bet-el
bestimmten Gaben von Brot und Wein.
Die Kirchenväter sehen in den drei Pilgern die heilige Dreieinigkeit und in den Gaben von
Brot und Wein Vorzeichen der Eucharistie. Der Heilige Geist (griechisch: pneuma) wurde
in der Frühzeit der Kirche häufig als weiblicher Part der Dreieinigkeit gesehen; imit den
drei Pilgern ist also die Weisheit mit Gott zur Gottesstätte auf dem Weg, um dem
frischgesalbten Messias-König Saul den Tisch mit den Gaben Brot und Wein zu decken.
Nach den vielen Schwierigkeiten, die sich für König Saul durch die Nichtbeachtung von
Gottes Geboten ergaben (vgl. 1 Sam 15,10 ff), kommen wir zu seinem Nachfolger, dem
Messias-König David, in dessen Leben die Beziehungen zu den Frauen und zur Dame
Weisheit eine besondere Rolle spielten. Auch der Schafhirt David wird zunächst von dem
Gottesmann Samuel gesalbt: "Der Geist Gottes aber kam über David von jenem Tage an
und weiterhin" (1 Sam 16,13). Bald darauf wird David zu seinem Vorgänger Saul gesandt,
von dem der Geist Gottes gewichen war. Und was bringt David dem Saul als Trost und
Stärkung zur Umkehr mit? "Fünf Brote, einen Schlauch Wein und ein Ziegenböcklein" (1
Sam 16,20). Also genau jene Leben spendenden Gaben, die Saul schon am Anfang
seiner Herrschaft von den drei Pilgern empfangen hatte!
Brot und Wein als gegebene oder empfangene Gaben erweisen sich während des ganzen
Lebens des Messias-Königs David als Zeichen seiner göttlichen Berufung. Und oft genug
ist dabei auch die "Dame Weisheit" in ihren verschiedenen Verkörperungen nicht weit.
Beschränken wir uns hier auf wenige Beispiele. Besonders eindrücklich ist Davids
Begegnung mit Abigajil, die ihn durch ihre Weisheit vor Blutschuld bewahrt. König David
ist voller Zorn auf einen reichen, aber ungerechten Mann namens Nabal, er will ihn töten
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samt seinem Gefolge. Als David mit seiner Armee schon im Anmarsch auf den Besitz des
Nabal ist, empfängt ihn dessen Frau Abigajil mit "zweihundert Broten, zwei Schläuchen
Wein und noch mehr (vgl. 1 Sam 25,18). Mit den Gaben von Brot und Wein hält Abigajil
König David und seine Leute davon ab, sich auf Nabal zu stürzen. „Da sprach David zu
Abigajil: Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels, der dich heute mir entgegen gesandt hat.
Gepriesen sei deine Weisheit, und gepriesen seist du selbst, die mich davon abgehalten
hat, Blutschuld auf mich zu laden und mir mit eigener Hand Recht zu verschaffen" (1 Sam
25,32 f). Ende gut, alles gut: „Die Bosheit des Nabal hat der Herr auf ihn selbst
zurückfallen lassen“, Nabal stirbt durch Gottes Hand - und Abigajil, lies die Dame
Weisheit, „zog den Boten Davids nach und wurde seine Frau“ (1 Sam 25,39 ff).
Bemerkenswert an diesem Text ist nicht nur die Beziehung von Weisheit, Brot und Wein,
sondern die daraus erfolgte Bewahrung vor der Sünde. Durch ihre Demut hält Abigajil
den König nicht nur von einem Blutbad ab, sondern bewirkt seine totale Umkehr: Der
zornentbrannte David wird so sanftmütig, dass er Abigajil, die Witwe seines Feindes, zur
Frau nimmt!
Es gibt noch weitere Beziehungen zwischen dem Messias-König David und der Weisheit.
Im 2. Buch Samuel heißt es über David und seinen Einzug mit der Bundeslade, also mit
der Gegenwart Gottes in den Tempel von Jerusalem: "David und das ganze Haus Israel
tanzten vor dem Herrn mit aller Macht" (2 Sam 6,5). Und wenig später sagt David von sich
selbst: "Vor dem Herrn tanze ich. Beim Leben des Herrn, der mich zum Fürsten über Israel
einsetzte, ja vor dem Herrn will ich tanzen" (2 Sam 6,21).
Aber auch ein König David wird älter. Jedes Tanzen vor dem Herrn, Schlagen von
Schlachten und Erobern von Frauen hat einmal ein Ende. Das 1.Buch der Könige beginnt
mit den Worten: „König David war alt und hochbetagt, auch wenn man ihn in Decken
hüllte, wurde ihm nicht mehr warm“(1 Kön 1,1). Die engsten Vertrauten des Königs aber
wissen, welche Art Wärme ihrem Herrn das Herz erwärmt – und den Körper dazu.
Entsprechend erteilen sie Weisung an ihre Untergebenen: „Man suche für unseren Herrn,
den König, ein unberührtes Mädchen, das ihn bedient und pflegt. Wenn es an seiner Seite
schläft, wird es unserem Herrn, dem König, warm werden“ (1 Kön 1,2). Nach einigem
Suchen wird man tatsächlich fündig: „Man suchte nun im ganzen Land Israel nach einem
schönen Mädchen, fand Abischag in Schunem und brachte sie dem König. Das Mädchen
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war überaus schön. Sie pflegte den König und bediente ihn, doch der König erkannte sie
nicht“ (1 Kön 1,3).
Wer ist dieses überaus schöne unberührte Mädchen? Und was hat sie am Hofe des
Königs zu tun – außer an seiner Seite zu schlafen, um ihn zu wärmen? Wir hatten es
schon gehört: Die Bibel liebt es, ihre Bücher mit entstehenden Partnerschaften zu
beginnen. Diese weisen zumeist über sich selbst hinaus, sie werfen ein verheißungsvolles
Licht auf den weiteren Verlauf der Geschichte. Was aber will uns die Beziehung zwischen
dem uralten König und dem blutjungen Mädchen sagen? Zunächst: Durch die Gegenwart
dieses einfachen Mädchens am Hofe des Königs wird alles Gewohnte zum Extrem. Das
aber heißt in der Bibel häufig: Hinter der Schönheit, die ins Auge fällt, verbirgt sich ein
Geheimnis, das mindestens so schön ist.
Ein erstes Extrem ist schon die Einleitung: Damit der König die nötige Wärme
bekommt, lassen seine Vertrauten an der Seite des Hochbetagten ein überaus
schönes unberührtes Mädchen schlafen – und sie bleibt unberührt, was der Text
nicht ungesagt läßt. Zweites Extrem: weil eine Schönheit aus der Nähe nicht
genügt, sucht man im "ganzen Land Israel", bis man fündig wird im hohen Norden,
Schunem liegt in der Nähe von Nazaret. Aber damit nicht genug: Als „Mädchen für
alles“ am Hofe des Königs verkörpert Abischag in ihrer Einfachheit eine Reihe
extremer Paradoxe: sie gerät in das innerste Zentrum der Macht, sie wirkt mit bei der
Nachfolge des Messias-Königs, sie hat einen entscheidenden Einfluss auf die
Geschichte ihres Volkes.
Und nicht das geringste Paradox: All das Unmögliche wird auf die einfachste Weise
möglich. Sobald Abischag in der Gegenwart Davids auftaucht, erwacht der
Hochbetagte zu neuem Leben. Seine Nachfolge entscheidet sich wie von selbst: der
Messias-König David wird seinen Sohn Salomo zu seinem Nachfolger wählen - und
nicht seinen ältesten Sohn Adonija, der sich ohne Wissen des Vaters bereits als
neuer König von Israel ausgerufen hat und entsprechend feiern lässt. David selbst
wird seinen Sohn Salomo zum König salben – und kann in Ruhe sterben.
Frage: Welche Rolle spielt Abischag, die Jungfrau aus Schunem, bei dieser
Nachfolgeregelung der Messias-Könige in Jerusalem? Durch ihre Gegenwart
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erwacht der Hochbetagte zu neuem Leben. Durch das Aufleben des sterbenden
Königs hat die Jungfrau Abischag seinen Sohn Salomo als Nachfolger geboren.
Mehr noch: Durch den neuen Messias-König hat sie ihrem Volk eine neue Zukunft
geschenkt. Als eine aus dem Volk mit hat sie dem Volk neues Leben gespendet.
Aber noch aus einem weiteren Grund stellt Abishag die lebenspendende Liebe des
Volkes zu dem sterbenden König David dar. Sehr früh schon hat die jüdische
Schriftauslegung Abischag, die Schunamit, in Verbindung gebracht mit Schulamit,
der Geliebten des Hohhenlieds. Um das Hohelied für den Kanon der biblischen
Bücher zu bewahren, haben die jüdischen Schriftgelehrten erklärt, es handle sich
bei dieser Dichtung mit ihren vielen erotischen Bildern nicht um die menschliche
Liebe, sondern um die Liebe Gottes zu seinem Volk Israel. Schulamit oder Abischag,
die Schunamit, steht also für die lebenspendende Liebe des Volkes Israel zu seinem
Gott. Ähnlich sagten die Kirchenväter – zur „Rettung“ des Hohenlieds für den
christlichen Kanon der Heiligen Schriften – es handle sich bei diesem Buch nicht nur
um menschliche Beziehungen, sondern um die Liebe Christi zur Kirche oder anders
gesagt um die Liebe Jesu zu Maria.
Um kurz zu machen: Die Verwandtschaft von Abischag und Maria besteht in ihrer
Leben spendenden Jungfräulichkeit.
Fassen wir zusammen: Das Geheimnis der Weisheit offenbart sich durch
vielgestaltige Zeichen. Zeichen. Als Tempel der Weisheit können auch menschliche
Gestalten solche Zeichen sein. Immer werden sie sich auszeichnen durch ihre Leben
spende Fruchtbarkeit.
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Seminar: Maria, Tempel der Weisheit und Heil der Kranken
Teil I:
Maria, Tempel der Weisheit
3.Vortrag: Die Zeichen der Weisheit
Im ersten Vortrag hatten wir uns dem Geheimnis der Weisheit angenähert. Wir hatten
gesehen, wie sich dieses Geheimnis in vielgestaltigen Zeichen offenbart. Im zweiten
Vortrag hatten wir erkannt, dass sich die Weisheit auch in menschlichen Personen
offenbaren kann. Zu den häufigsten Zeichen der Weisheit aber gehören die Gaben
von Brot und Wein in der Verbindung mit dem Wort Gottes.
Brot und Wein gelten in der Bibel als Grundnahrungsmittel. Als solche stehen sie als
Symbol für alles, was der Mensch zum Leben braucht. Die Weisheit hat nicht nur den
Tisch gedeckt mit den Gaben von Brot und Wein, sie bezeichnet sich selbst auch
gern als „aus dem Mund Gottes hervorgegangen“. Deswegen kann auch das Wort
Gottes als Zeichen der Weisheit geltenrden, es kann dem Menschen als geistliche
Nahrung dienen.
Durch die Globalisierung ist es heute möglich, frische Nahrungsmittel an jedem Ort
zu jeder Zeit zu beziehen. Das ist einerseits erfreulich, denn es kann zur Gesundheit
der Menschen beitragen, aber andererseits auch schade, denn durch die Art seiner
Ernährung lebt der Mensch weitgehend unabhängig von den Jahreszeiten. Er verliert
den Sinn für den naturgegebenen Rhythmus von Aussaat, Reifung, und Ernte der
Früchte - und damit für die Zeichenhaftigkeit der Gaben und auch für Freude und
Dankbarkeit über die Schöpfung als Zeichen von Gottes Weisheit und Liebe.
In den Liturgien der großen christlichen Feste wie Weihnachten, Ostern und
Pfingsten wird der Mensch zwar reichlich mit der geistlichen Nahrung des Wortes
Gottes versorgt, aber an den Vielzahl der Hymnen und Gebete finden sich kaum
noch Dankbarkeit und Freude für die Gaben der Schöpfung, an deren Ernte die
liturgischen Feste erinnern durch Jahreszeiten, in denen man sie feiert.
Wie kam es zu diesem Verlust der Erinnerung – und damit zur weitgehenden
Orientierungslosigkeit über den Sinn und die Ursprünge dieser Feste? Die
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christlichen Hochfeste haben ihre Wurzeln sämtlich in den großen jüdischen
Wallfahrtsfesten. Diese gehen alle auf landwirtschaftliche Feste zurück, in denen das
Volk seinem Gott für die Gaben der Schöpfung dankt. Darum sind die jüdischen
Feste an bestimmte Jahreszeiten, nämlich an die Erntezeiten der verschiedenen
Früchte, gebunden und die Christen haben diese Zeiten übernommen, auch wenn
sich Inhalt und Zielsetzung dieser Feste verändert haben.
Nehmen wir als Beispiel das Hochfest von Pfingsten. In der christlichen Liturgie ist
Pfingsten das Hochfest des Heiligen Geistes: als Gabe der Liebe Gottes können sich
Menschen aus verschiedenen Völkern, Kulturen und Sprachen miteinander
verstehen -und dadurch wird als Zeichen die Gabe der Einheit der Kirche offenbart.
Dieses christliche Hochfest geht aus dem jüdischen „Wochenfest“ hervor, in dem
man das Gesetz des Mose als Gabe Liebe Gottes lobt und preist. Freude und Dank
für das Gesetz aber gehen auf das Dankfest für die Erstlingsfrüchte zurück, die man
ebenfalls als Gabe Gottes geerntet hat.
Am deutlichsten wird die Verwurzelung der christlichen Feste in der jüdischen
Liturgie durch die Eucharistie, die aus dem jüdischen Pessachfest entstanden ist.
Pessach kommt vom hebräischen Verb passach (vorübergehen): der Todesengel
wurde von Gott zu jeder ägyptischen Erstgeburt gesandt, ging aber an den Häusern
der Hebräer vorüber (vgl. Ex 12,16). Auf diese Weise wurde Pessach zum Fest der
Befreiung Israels (genauer: der Hebräer) aus der Knechtschaft Ägyptens. Pessach
geht ebenfalls auf ein landwirtschaftliches Fest zurück, genauer auf zwei FrühlingsFeste: ein Hirten- und ein Bauern-Fest der Erstlingsgaben der Böcke und der Gerste.
In der aktuellen Fassung der Eucharistie ist die Zeichenhaftigkeit der Gaben der
Schöpfung noch erhalten. In der Gabenbereitung heißt es: „Gepriesen bist du, unser
Gott, Schöpfer der Welt. Du schenkst uns das Brot, die Frucht der Erde (bzw. den
Wein, die Frucht des Weinstocks) und der menschlichen Arbeit. Wir bringen dieses
Brot (diesen Kelch) vor dein Angesicht, damit es uns das Brot des Lebens (der Kelch
des Heiles) werde. Gepriesen bist du in Ewigkeit, Herr, unser Gott.“ Nach der
Wandlung der Gaben von Brot und Wein in Leib und Blut Christi und der heiligen
Kommunion der Gläubigen an diesen Gaben spricht der Priester ein ganz
entscheidendes Gebet, das die Gläubigen nie zu hören bekommen, weil der Priester
es nach den Vorschriften „leise“ Sprechen soll (und es hoffentlich auch spricht!):
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„Was wir mit dem Munde empfangen haben, Herr, das lass uns mit reinem Herzen
aufnehmen, und diese zeitliche Speise werde uns zum Heilmittel der Unsterblichkeit.“
Dieses Gebet geht auf den heiligen Märtyrer-Bischof Ignatius von Antiochien im
ersten Jahrhundert zurück; es erbittet die zeichenhafte Gabe unserer Heilung,
genauer unseres Heils, durch den Übergang von der „zeitlichen Speise“ zu einem
neuen, dem ewigen Leben.
Diese Gebete aus der Eucharistie können uns helfen, die geheimnisvolle Gegenwart
der Weisheit in ihren Zeichen besser zu verstehen. Deckt die Weisheit den Tisch mit
den zeitlichen Speisen von Brot und Wein, so sind diese Gaben weit mehr als
körperliche Nahrungsmittel. Mit dem Wort Gottes als Zeichen der Weisheit
verbunden spenden sie neues Leben. Aber das gilt nicht nur für Brot und Wein. Die
Weisheit offenbart sich in vielerlei Zeichen. Wir kennen alle den Ausdruck
„salomonisches Urteil“- aber wissen wir, woher er stammt und was genau damit
gemeint ist, das heißt durch welche Zeichen der Weisheit hier neues Leben
gespendet wird? Es lohnt sich, den biblischen Text zu betrachten, der diesem Wort
zugrunde liegt (vgl. 1 Kön 3,16). Zwei Prostituierte kommen zum König Salomo und
bitten ihn um einen Rechtsspruch. Mit einem Abstand von drei Tagen hat jede von
ihnen ein Kind geboren. Die eine behauptet, die andere habe im Schlaf ihr Kind
erdrückt und es dann ihr untergeschoben und sich selbst das lebende Kind
genommen. Der König soll nun entscheiden, welches Kind welcher Mutter gehört.
Der König lässt sich ein Schwert bringen und befiehlt, das lebende Kind zu teilen,
damit jede Frau die Hälfte bekomme. Da ruft die Mutter des lebenden Kindes: "Mit
Verlaub, mein Herr, gebt ihr (der anderen) das Kind und tötet es nicht. Denn in ihr
loderte die Liebe zu ihrem Kind mächtig auf". Die andere dagegen rief: "Es soll weder
mein noch dein sein, zerteile es, Herr. Darauf nahm der König das Wort und sagte:
Gebt jener das Kind und tötet es nicht. Denn sie ist die Mutter" (1 Kön 3,26f).
Hier wird durch die Weisheit eines Menschen der Tod eines anderen Menschen
vermieden und dadurch neues Leben gespendet. Die Gaben von Brot und Wein als
Zeichen der Weisheit haben wir häufig als Symbol des Wortes Gottes erlebt. Hier
aber steht das Schwert für das Wort Gottes. Und das Wort Gottes scharf wie ein
Schwert finden wir noch öfter in der Heiligen Schrift. Nehmen wir als Beispiel nur die
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Worte des Propheten Simeon zu Maria, der Mutter Gottes bei der Darstellung Jesu
im Tempel
gern, weil er kaum noch mit der Botschaft zu tun hat: „Danach verließ sie der Engel“
(Lk 1,28). Was soll dieser Satz? Steht er nur da, um die Episode abzuschließen?
Oder hat er doch eine Bedeutung? Vom Zeitpunkt dieser Botschaft über die Geburt
Jesu bis zum Beginn seiner öffentlichen Wirksamkeit, in der sich die Ankündigungen
des Engels nach und nach bewahrheiten, vergehen neun Monate plus dreißig Jahre.
diese ganze Zeit wurde das Vertrauen Marias auf die Wahrheit Botschaft des Engels
auf die Probe gestellt. Wie viel man von Jesus, den der Engel nicht und darf, sondern
Sohn Gottes und, halten konnte hatte die hochschwangere Maria er schon in
Bethlehem erfahren, wo er wie gesagt von den eigenen Verwandten abgelehnt und
ausgestoßen wurde bevor er noch geboren war.
Was man von Jesus, dem von Maria geborenen Sohn Gottes und von seiner Mutter
Maria, die ihn bis unter das Kreuz begleitet in Israel hielt, erfahren wir am besten von
Hans Urs von Balthasar aufgrund seiner Lektüre der Evangelien Hans Urs von
Balthasar schreibt: „In Kana sah man Maria mit den materiell Armen. Hier (in der
Szene, in der Jesus sagt, wer seine Brüder und Schwestern sind) sieht man sie mit
den geistig Armen. Diese "Brüder" ...ärgern sich über Jesu extravagantes Benehmen
und halten ihn für geistesgestört... Man muß sich Maria unter diesen Leuten
vorstellen! Sie denkt nicht daran, ihnen zu widersprechen, auch nicht sich von ihnen
abzusetzen als eine, die alles besser weiß. Sie hört sich dieses Gerede tagtäglich
an, möglicherweise auch Vorwürfe, daß sie ihn nicht besser erzogen und ihm solche
Flausen in den Kopf gesetzt hat. Sie gehört zur Sippe. Die Makellose gehört zum
Klan der Sünder, der "Sitz der Weisheit" gehört zur bodenlosen Dummheit der
Menschen. Man muß diese Gevatterschaft unter sich beraten hören, wie man diesem
Unfug ein Ende macht. Zunächst beschließt man, eine Expedition zu schicken, die
sich die Dinge einmal selber anschauen wil1, man schleppt die Mutter mit. Aber die
Ankömmlinge blitzen ab, selbst da man Jesus meldet, seine Mutter sei da. Die Sippe
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zählt nicht mehr, es geht Jesus um eine ganz andere Familie: Die der Glaubenden
und den Willen Gottes Ausführenden. Man kann sich denken, was die Gesellschaft
auf dem Heimweg geredet haben mag. Es ist doch wohl daraufhin ...., daß die
Familie zum Beschluß kommt: er gehört interniert. Und es bleibt nicht bei bloßen
Worten, man geht zu Tätlichkeiten über: "Die Seinigen machten sich auf, ihn zu
ergreifen, denn sie sagten: "Er ist von Sinnen". Maria lebt in ihrer Mitte ... Maria hebt
sich von der Gruppe nicht ab. Sie bleibt so unscheinbar, daß die Synoptiker (die drei
ersten Evangelisten) sie unter den frommen Frauen am Kreuz überhaupt nicht
bemerken. Mehrere werden mit Namen genannt, sie nicht. Vielleicht steht sie,
zusammen mit Johannes für sich, von den andern entfernt, verdeckt in der Menge".
Soweit von Balthasar (Maria für heute, 60ff).
Und weiter schreibt von Balthasar über Maria und Josef: ..."Armut" im
Zusammenhang mit den übrigen Seligpreisungen verstanden, ist schmerzliche
Entbehrung, sie steht in einer Linie mit Hunger, Tränen, Verfolgung. Vom Alten
Testament her ist dies offensichtlich. Aber die Lehre der Armut wird im Neuen
Testament zur aufklaffenden und damit raumschaffenden Wunde. Das intimste wird
aufgestochen und das Letzte, was sich darin barg, rinnt aus: etwas Blut und Wasser.
Das ereignet sich am toten Leib Jesu, während "das Schwert, das dein Herz
durchdringen wird", sich in den lebendigen Leib der Mutter einbohrt und ihr
schlagendes Herz bloßlegt; beide Herzen werden Zufluchtsstätten, in der die Sünder
sich ebenso bergen können wie im Mittelalter die verfolgten Verbrecher bei den
Altären bestimmter Kirchen. "In tua vulnera absconde me. Verstecke mich in deinen
Wunden". Solche Zufluchtsstätten kommen durch Ausbluten zustande, und wenn zu
diesem Behuf ein Longinus seine Lanze leihen kann, die wahre Waffe ist "das Wort
Gottes, schärfer als jedes zweischneidige Schwert" und tiefer eindringend als ein
menschliches Messer es kann: "bis zur Scheidung von Seele und Geist" (Hebr 4,12).
Im Gekreuzigten wird die Seele, die stirbt, geschieden vom Geist der Sendung, der
geneigten Hauptes ausgehaucht wird: zum Vater und zur Kirche hin, in der
mitleidenden Mutter, deren "Seele die Größe des Herrn preist" und deren "Geist über
Gott, meinen Retter, jubelt", dringt das Schwert zwischen Preis und Jubel hindurch:
der Jubel wird mit dem Geist in Gott entrückt, es bleibt die Seele zurück, die in der
Szene der Kreuzabnahme nur noch im tiefsten Dunkel, in der äußersten Schwäche
das preisende Jawort seufzen kann. Hier und nicht anderswo ist für die Sünder – ob
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Unterdrücker oder weinende Unterdrückte – Bergung... Das größere Leid ist es, das
birgt und damit tröstet. Nicht durch beschwichtigende Worte, nicht durch
Versprechen, daß es besser wird, sondern einfach dadurch, daß der tiefere Schmerz
als solcher immer noch und erst recht preist, wie aus einem zerbrochenen
Salbengefäss ein stärkerer Duft entströmt. Es bleibt ein unlüftbares Geheimnis, wie
die ... Not einer Mutter mittenhinein verklärt wird in den Preis ihrer Verklärung. Ihr
Herz bleibt so offen wie das ihres Sohnes, der ja immerfort im eucharistischen Mahl
sein Herzblut darreicht: "Mein Blut ist wahrhaft ein Trank, wer es nicht trinkt, hat das
Leben nicht in sich". Man darf das vom Schwert durchbohrte Herz der Mutter, das
sich allen Armen als das ärmere anbietet, nicht fern von dem ihres Sohnes
ansiedeln, auch wenn sein Offenstehen sich nur als ein Hinweis auf die unendliche
Öffnung des seinen zum Vater hin versteht. "Ich bin die Tür", sagt er; sie sagt nur:
"Ich bin die Magd, was er euch sagt, das tut". (H. U. von Balthasar, Maria für heute,
Herder 1987; 63f).
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