Schriftenreihe Lizentiatsarbeiten der Universität Fribourg – Departement für Sozialarbeit und Sozialpolitik Patricia Flammer Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen – Prävention in Schule und Sozialer Arbeit Hintergründe sexuellen Kindesmissbrauchs und primärpräventive Arbeit am Ort Schule mit Kindern und Jugendlichen mittels Kooperation von Schule und Sozialer Arbeit Lizentiatsarbeit der Universität Fribourg – Departement für Sozialarbeit und Sozialpolitik. Juli 2005 www.soziothek.ch Sozialwissenschaftlicher Fachverlag «Edition Soziothek». Die «Edition Soziothek» ist ein Non-Profit-Unternehmen des Vereins Bildungsstätte für Soziale Arbeit Bern. Der Verein ist verantwortlich für alle verlegerischen Aktivitäten. Schriftenreihe Lizentiatsarbeiten der Universität Fribourg – Departement für Sozialarbeit und Sozialpolitik In dieser Schriftenreihe werden Lizentiatsarbeiten von Studierenden des Departements Sozialarbeit und Sozialpolitik der Universität Fribourg publiziert, die durch ihre aussergewöhnliche Qualität überzeugen. Patricia Flammer: Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen – Prävention in Schule und Sozialer Arbeit. Hintergründe sexuellen Kindesmissbrauchs und primärpräventive Arbeit am Ort Schule mit Kindern und Jugendlichen mittels Kooperation von Schule und Sozialer Arbeit © 2011 «Edition Soziothek» Bern ISBN 978-3-03796-404-0 Verlag Edition Soziothek c/o Verein Bildungsstätte für Soziale Arbeit Bern Hallerstrasse 10 3012 Bern www.soziothek.ch Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlags ist unzulässig. www.soziothek.ch LIZENTIATSARBEIT eingereicht bei der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg (CH) Departement Sozialarbeit und Sozialpolitik Prof. Dr. Monica Budowski SEXUELLER MISSBRAUCH AN KINDERN UND JUGENDLICHEN PRÄVENTION IN SCHULE UND SOZIALER ARBEIT Hintergründe sexuellen Kindesmissbrauchs und primärpräventive Arbeit am Ort Schule mit Kindern und Jugendlichen mittels Kooperation von Schule und Sozialer Arbeit eingereicht im Juli 2005 durch Patricia Flammer von Zuzwil (SG) LIZENTIATSARBEIT eingereicht bei der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg (CH) Departement Sozialarbeit und Sozialpolitik Prof. Dr. Monica Budowski SEXUELLER MISSBRAUCH AN KINDERN UND JUGENDLICHEN PRÄVENTION IN SCHULE UND SOZIALER ARBEIT Hintergründe sexuellen Kindesmissbrauchs und primärpräventive Arbeit am Ort Schule mit Kindern und Jugendlichen mittels Kooperation von Schule und Sozialer Arbeit eingereicht im Juli 2005 durch Patricia Flammer von Zuzwil (SG) ABSTRACT Die Lizentiatarbeit thematisiert vorbeugende Arbeit gegen sexuellen Kindesmissbrauch, wobei feministisches Gedankengut im Zentrum steht. Sie resümiert praxisleitende Definitionen und Erklärungsansätze sowie Folgen sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen und erstellt eine Arbeitsdefinition. Im zweiten Teil greift sie Definition, Ziele, Zielgruppen, Ebenen sowie den Stand der Primärprävention auf. Vorbeugung wird als interdisziplinäre Aufgabe dargestellt und die Rollen und die Kooperation von Schule und Sozialer Arbeit werden skizziert. Inhaltliche und formale Aspekte primärpräventiver Arbeit mit Heranwachsenden am Ort Schule bilden ein Kernstück der Arbeit. Sexueller Kindesmissbrauch lässt sich als sexualisierte, primär männliche Form der Gewalt von Mächtigeren gegenüber Kindern verstehen, die auf gesellschaftlich-strukturellen, individuell-biographischen und familiären Entstehungsbedingungen fusst. Die Folgen scheinen von der Dauer, dem Grad an Intensität, an Gewaltanwendung, an Vertrautheit zwischen TäterIn und Opfer und an Rückhalt im Umfeld abzuhängen. Emanzipatorische Primärprävention mit SchülerInnen sollte Entwicklungsstand, Alter, Geschlecht und Minoritäten sowie Befähigung, konkrete Informationsvermittlung und Handlungsorientierung berücksichtigen. Im Umfeld der Schule empfiehlt sie sich institutionell zu verankern, als Erziehungshaltung langfristig zu sehen, mit mehr Kooperation zu planen und wissenschaftlich zu evaluieren. Die Lizentiatsarbeit schlägt ein Konzept zur Kooperation zwischen Schulleitung, Lehrkörper, Schulsozialarbeit, Präventionsfachstellen und Eltern vor. Umschlagbild: Internetzugriff am 15.09.2004 unter http://www.artforum.ch/bilder/margotmaier/rot_kind.jpg i INHALTSVERZEICHNIS ABSTRACT ............................................................................................................................... I ABBILDUNGSVERZEICHNIS ............................................................................................ V TABELLENVERZEICHNIS ................................................................................................. V EINLEITUNG .......................................................................................................................... 1 A B C D E EINBETTUNG UND EINGRENZUNG DES THEMAS ................................................................. 1 FORSCHUNGSFRAGEN .................................................................................................................. 5 THEORETISCHER BEZUGSRAHMEN ......................................................................................... 6 METHODISCHES VORGEHEN ...................................................................................................... 8 AUFBAU DER ARBEIT ..................................................................................................................... 9 1. TEIL: THEORETISCHE AUFFASSUNGEN ZUM SEXUELLEN MISSBRAUCH . 11 1. PRAXISLEITENDE DEFINITIONEN VON (SEXUELLER) GEWALT AN KINDERN UND JUGENDLICHEN .............................................................................. 11 1.1. FORMEN VON GEWALT GEGEN KINDER UND JUGENDLICHE ..................................................................11 1.1.1. Strukturelle oder indirekte Gewalt .................................................................................................13 1.1.2. Personale Gewalt in Form physischer Gewalt ...............................................................................14 1.1.3. Personale Gewalt in Form psychischer Gewalt .............................................................................15 1.1.4. Personale Gewalt in Form emotionaler Vernachlässigung ...........................................................15 1.1.5. Personale Gewalt in Form sexueller Gewalt .................................................................................16 1.2. TERMINI FÜR DIE SEXUELLE GEWALT AN KINDERN UND JUGENDLICHEN .............................................16 1.3. KLASSIFIKATION VON DEFINITIONEN ....................................................................................................17 1.3.1. Enge Definitionen...........................................................................................................................18 1.3.2. Weite Definitionen ..........................................................................................................................18 1.3.3. Gesellschaftliche Definitionen .......................................................................................................18 1.3.4. Feministische Definitionen .............................................................................................................19 1.3.5. Entwicklungspsychologische Definitionen .....................................................................................19 1.3.6. Klinische Definitionen ....................................................................................................................19 1.4. MÖGLICHE DEFINITIONSKRITERIEN FÜR DEN SEXUELLEN MISSBRAUCH AN KINDERN UND JUGENDLICHEN .....................................................................................................................................20 1.5. DEFINITIONEN UND ERSCHEINUNGSFORMEN VON SEXUELLEM MISSBRAUCH AN KINDERN UND JUGENDLICHEN .....................................................................................................................................23 1.5.1. Definitionen zum sexuellen Kindesmissbrauch aus der Fachliteratur ...........................................23 1.5.2. Meine Arbeitsdefinition und deren Erläuterung .............................................................................24 2. POTENTIELLE OPFER, TÄTERSCHAFT UND TÄTERSTRATEGIEN .............. 27 2.1. VERMUTETE HÄUFIGKEIT VON SEXUELLEM KINDESMISSBRAUCH ........................................................28 2.2. GIBT ES DAS „TYPISCHE“ OPFER? .........................................................................................................28 2.3. STATISTISCHE SCHÄTZWERTE DER ZUSAMMENSETZUNG DER TÄTERSCHAFT .......................................29 2.4. ASPEKTE DER TÄTERPERSÖNLICHKEIT..................................................................................................31 2.4.1. Gibt es den „typischen“ Täter?......................................................................................................31 2.4.2. Der „Spezialfall“ der pädophilen Täter.........................................................................................33 2.4.3. Frauen als Täterinnen ....................................................................................................................35 2.4.4. Tatort soziale und (heil)pädagogische Einrichtungen ...................................................................37 2.5. PSYCHODYNAMIK DES SEXUELLEN MISSBRAUCHS ...............................................................................39 2.5.1. Das Vorgehen der erwachsenen Täterschaft (Täterstrategien) ......................................................40 2.5.2. Missbrauchsdynamik beim Opfer und kindliche Sexualität............................................................42 2.5.3. Die Rolle der Mütter von Inzestopfern ...........................................................................................44 3. HANDLUNGSORIENTIERTE ERKLÄRUNGSANSÄTZE FÜR DEN SEXUELLEN MISSBRAUCH AN KINDERN UND JUGENDLICHEN .................. 45 3.1 ZWISCHEN MYTHOS UND ERKLÄRUNGSANSATZ ...................................................................................46 3.1.1. Traditionelle Erklärungsmodelle ...................................................................................................47 ii 3.1.2. 3.1.3. Feministische Ursachenmodelle.....................................................................................................50 Feministisches Drei-Perspektiven-Modell sexueller Gewalt gegen Kinder von Brockhaus und Kolshorn ........................................................................................................................................52 3.2. BESTENS GANZHEITLICHES DREIFAKTORENMODELL ÜBER DIE ZUSAMMENHÄNGE SEXUELLEN MISSBRAUCHS ......................................................................................................................................56 3.2.1. Gesamtes gesellschaftliches System ...............................................................................................57 3.2.2. Biographische Faktoren .................................................................................................................58 3.2.3. Familiäre Umstände .......................................................................................................................58 4. FORSCHUNGSRESULTATE ZU DEN FOLGEN FÜR DIE OPFER ...................... 60 4.1. 4.2. 4.3. DAS KONTINUUM VON KURZFRISTIGEN SYMPTOMEN ZU LANGFRISTIGEN FOLGEN...............................61 GESCHÄTZTE HÄUFIGKEIT DER FOLGEN ...............................................................................................62 INTERVENIERENDE VARIABLEN (TRAUMATISIERUNGSFAKTOREN) .......................................................64 2. TEIL: PRAXISLEITENDE PRÄVENTION................................................................... 68 5. (PRIMÄR-)PRÄVENTION DES SEXUELLEN KINDESMISSBRAUCHS ............. 68 5.1. DEFINITION VON PRÄVENTION SEXUELLEN KINDESMISSBRAUCHS .......................................................69 5.1.1. Primärprävention als Vorbeugung und Ursachenbekämpfung ......................................................70 5.1.2. Sekundärprävention als Früherkennung, Intervention und Beratung ............................................71 5.1.3. Tertiärprävention als Therapie und Rückfallbekämpfung ..............................................................72 5.2. KATEGORISIERUNG VON PRIMÄRPRÄVENTIVEN ZIELEN UND KONZEPTEN ............................................73 5.2.1. Traditionelles versus feministisches Modell ...................................................................................73 5.2.2. Gesellschaftlich-strukturelle, institutionelle und personale Wirkdimensionen und Ziele ..............74 5.2.3. Zielgruppen: Täter versus Opfer, Erwachsene versus Kinder .......................................................77 5.2.4. Diesbezügliche Situierung der aktuellen primären Präventionsarbeit in der Schweiz ..................79 5.3. SCHEMATISCHE ZUSAMMENFASSUNG DER DIMENSIONEN DER (PRIMÄR-)PRÄVENTION .......................81 5.4. EXKURS: KRITISCHE GESELLSCHAFTLICHE ASPEKTE DES (PRIMÄR)PRÄVENTIVEN KINDERSCHUTZES ..82 6. PRIMÄRE MISSBRAUCHSPRÄVENTION ALS INTERDISZIPLINÄRE AUFGABE? ...................................................................................................................... 84 6.1. 6.2. PRIMÄRE MISSBRAUCHSPRÄVENTION ALS AUFGABE DER SCHULE? .....................................................86 (PRIMÄR-)PRÄVENTION IM UMFELD DER SOZIALEN ARBEIT: ÖFFENTLICHE UND PRIVATE ANBIETERINNEN IN DER SCHWEIZ ........................................................................................................88 6.3. SCHULSOZIALARBEIT ALS KOOPERATIONSMODELL VON SCHULE UND SOZIALER ARBEIT ....................91 6.3.1. Zum Begriff der Schulsozialarbeit ..................................................................................................92 6.3.2. Ziele und Zielgruppen der Schulsozialarbeit .................................................................................94 6.3.3. Methoden, Aufgaben und Tätigkeiten der Schulsozialarbeit ..........................................................94 6.3.4. Situierung der Schulsozialarbeit in der Schweiz ............................................................................96 6.3.5. Mögliche Einbettung der Missbrauchsprävention in die Schulsozialarbeit? .................................97 7. INHALTLICHE UND FORMALE ASPEKTE DER ARBEIT MIT SCHÜLERINNEN SOWIE KOOPERATION VON SOZIALER ARBEIT UND SCHULE IN DER PRIMÄRPRÄVENTION AM ORT SCHULE ............................. 98 7.1. VORAUSSETZUNGEN FÜR EINE KONSTRUKTIVE KOOPERATION AM BEISPIEL DER LEHRKRÄFTE UND DER SCHULSOZIALARBEIT ............................................................................................................................99 7.2. RAHMENBEDINGUNGEN UND KRITERIEN PRIMÄRPRÄVENTIVER PROJEKTE MIT KINDERN UND JUGENDLICHEN AM ORT SCHULE ........................................................................................................102 7.2.1. Äussere Rahmenbedingungen primärpräventiver Schulprojekte .................................................103 7.2.2. Inhaltliche Kriterien primärpräventiver Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ..........................105 7.2.3. Nutzen bisher praktizierter (amerikanischer) Empowerment-Modelle ........................................111 7.2.4. Diskutierte Kriterien im Überblick...............................................................................................113 7.3. KOOPERATIONSKONZEPT ZUR VORBEREITUNG UND VERANKERUNG DER PRIMÄRPRÄVENTIONSARBEIT AM ORT SCHULE .................................................................................................................................114 7.3.1. Institutionelle Vorbereitung der Prävention und Kooperation ....................................................115 7.3.2. Hilfestellung durch auf Primärprävention spezialisierte Fachleute ............................................119 7.3.3. Rolle der integrierten Schulsozialarbeit .......................................................................................120 7.3.4. Rolle und Vorbereitung des Lehrkörpers .....................................................................................122 iii 7.3.5. Vorbereitung und Einbezug der Eltern ........................................................................................126 7.3.6. Das Kooperationskonzept im Überblick .......................................................................................128 7.4. FEMINISTISCH ABGESTÜTZTE PRIMÄRPRÄVENTIONSARBEIT MIT SCHÜLERINNEN AUS SICHT DES LEHRKÖRPERS ....................................................................................................................................130 7.4.1. Inhalte der (feministisch orientierten) vorbeugenden Arbeit mit Kindern und Jugendlichen am Ort Schule ..........................................................................................................................................131 7.4.2. Einblick in Methoden und Materialien der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ......................139 7.5. MÖGLICHES KOOPERATIVES VORGEHEN (INTERVENTION) BEI INDIZIEN UND VERDACHTSFÄLLEN AUS SICHT DER LEHRPERSON .....................................................................................................................142 7.5.1. Vorgehen bei Verdacht oder Aufdeckung .....................................................................................142 7.5.2. Einbindung in weitere Hilfssysteme der Jugendhilfe: das Vorgehen am Beispiel des Kindesschutzes in Basel ..............................................................................................................145 SCHLUSSTEIL .................................................................................................................... 147 A B MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN DER PRIMÄRPRÄVENTIONSARBEIT MIT KINDERN UND JUGENDLICHEN ...............................................................................................147 RÜCKBLICK AUF DIE FORSCHUNGSFRAGEN UND WEITERER FORSCHUNGSBEDARF ................................................................................................................150 LITERATURVERZEICHNIS ............................................................................................ 155 ANHANG ................................................................................................................................. A EHRENWÖRTLICHE ERKLÄRUNG .................................................................................B iv ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Dimensionen der Gewalt an Kindern und Jugendlichen .............................. 13 Phasen des Aufbaus einer Missbrauchsbeziehung zum Kind (Täterstrategien) ........................................................................................... 42 Traditionelles Erklärungsmodell für sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen (durch Männer)....................................................................... 48 Feministische Erklärungsmuster für sexuelle Gewalt an Frauen (und Kindern) ....................................................................................................... 51 Feministisches Drei-Perspektiven-Modell sexueller Gewalt an Kindern (und Frauen) von Brockhaus und Kolshorn (optische Realisierung durch die Verfasserin der Lizentiatsarbeit) .................................................................. 53 Visualisierung von Bestens ganzheitlichem Dreifaktorenmodell über die Zusammenhänge sexueller Gewalt von Männern gegenüber Kindern (und Frauen) ......................................................................................................... 60 Schema zu den Folgen und Traumatisierungsfaktoren sexuellen Missbrauchs ...................................................................................................................... 66 Übersicht über die betrachteten Dimensionen der Prävention sexuellen Kindesmissbrauchs (kursiv hervorgehoben: Schwerpunkte der Lizentiatsarbeit) ............................................................................................ 81 Kooperationskonzept langfristig angelegter schulischer Missbrauchsvorbeugung: Vorbereitung und Beiträge ausgewählter KooperationspartnerInnen im Überblick .................................................... 129 Zusammenspiel und Einbettung feministisch geprägter Bausteine im Hinblick auf Ziele der primärpräventiven Arbeit mit SchülerInnen (aus Sicht des Lehrkörpers) ......................................................................................... 138 TABELLENVERZEICHNIS Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Übersicht über „objektive“ und „weiche“ Definitionskriterien: ......................... 22 Bekanntheitsgrad der Täterschaft bei Mädchen respektive Jungen (in %) ......... 30 Inhaltliche und formale Kriterien der Primärpräventionsarbeit im Überblick .. 114 Erforderliche LehrerInnenqualifikation und Ausbildungselemente für die Präventionsarbeit ............................................................................................... 123 v EINLEITUNG Während meinem Studium haben mich die Themen sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder sowie Gleichberechtigung von Mann und Frau schon länger fasziniert. Als ich nun in meinem Nebenfach Pädagogik und Pädagogische Psychologie zwei Seminararbeiten schreiben sollte, wollte ich die Gelegenheit nutzen, in einer einzigen, dafür tief greifenden, theoretischen Review-Arbeit zu betrachten, was die Schule mit ihrem Sozialisations- und Bildungsauftrag zur Vorbeugung von sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen beitragen könnte. Beim Schreiben fiel mir immer wieder die Verbindung zwischen Schule und Sozialarbeit auf beziehungsweise die Interdisziplinarität als zentrales Anliegen vorbeugender Arbeit mit Kindern und Jugendlichen im Missbrauchsbereich. Deshalb ergriff ich die Gelegenheit, mein ursprünglich als Doppelseminararbeit gedachtes Werk zur Lizentiatsarbeit im Hauptfach Sozialarbeit und Sozialpolitik um- und auszubauen, und stattdessen in Pädagogik eine andere Arbeit zu verfassen. A EINBETTUNG UND EINGRENZUNG DES THEMAS Zum thematischen Kontext der Primärprävention sexuellen Kindesmissbrauchs: Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen ist eine Form der Kindesmisshandlung und hat eine lange und traurige Tradition in vielen Ländern, so auch in der Schweiz. In den letzten beiden Jahrzehnten wurde sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen vermehrt öffentlich thematisiert. Er scheint dank einer grösseren Sensibilisierung und Enttabuisierung öfters ans Licht zu kommen. Zusätzlich wendet sich nun die Diskussion vermehrt dem Missbrauch im sozialen Umfeld zu, wohingegen früher besonders fremde, pathologische Triebtäter im Fokus waren. Da durch journalistische Medien verzerrte und involvierte Personen stigmatisierende Bilder über sexuellen Kindesmissbrauch vermittelt werden können, ist es wichtig, ihnen mit wissenschaftlichen Publikationen zu begegnen. Studien zur Häufigkeit sind bei diesem Grauzonenthema mit Vorsicht zu geniessen. Internationale Vergleichsstudien lassen laut Bange (1992, 86, 32f) vermuten, dass circa jedes vierte Mädchen und jeder zwölfte Junge sexuell missbraucht wird. Dabei scheinen 60-70 Prozent der Missbrauchsfälle einmalige Übergriffe zu sein. Innerhalb der Familie kommt Ausbeutung offenbar wiederholt vor und zieht sich vielfach über Monate bis Jahre hin. Schätzungsweise ein Drittel der Handlungen besteht aufgrund Banges Studienanalyse in oraler/analer/vaginaler 1 Vergewaltigung, ein Drittel in genitaler Manipulation und ein Drittel in Handlungen wie Zungenküssen/Brustberührungen. Das Durchschnittsalter der Opfer beträgt zehn bis elf Jahre, es sind aber Säuglinge bis circa 16-Jährige betroffen. Auch wenn solche Zahlen nie als sicher angeschaut werden können, scheint doch ein nicht geringer Teil der (weiblichen) Bevölkerung im Verlauf seines Lebens von sexuellen Übergriffen betroffen zu sein. Betrachtet man in Forschungen und Praxisberichten beschriebene mögliche Erklärungen sowie Auswirkungen auf das soziale Verhalten und das psychische Wohl der Betroffenen, so wird offensichtlich, dass das Thema sozialwissenschaftliches Interesse verdient. Es erhielt in verschiedenen psychosozialen Disziplinen, so auch in der Sozialen Arbeit, in den letzten beiden Jahrzehnten einige Bedeutung zugemessen. Besonders feministisch orientierten Fachleuten und ForscherInnen, die sexuellen Missbrauch primär als Machtfrage in einer patriarchalen Gesellschaft sehen, sind die teilweise Enttabuisierung des Themas, ein grösseres Bewusstsein zur Problematik sexueller Ausbeutung – als einer Handlung, die im Wesentlichen nicht durch eine fremde Täterschaft vorgenommen wird – seit den 80er Jahren, eine Vergrösserung des beraterischen Hilfsangebotes für Betroffene sowie aktuelle Beiträge zur Primärprävention zu verdanken; deshalb wird diesen AutorInnen in dieser Lizentiatsarbeit ein besonderes Augenmerk geschenkt. Die Diskussion um den Kinderschutz vor sexueller Ausbeutung findet im interdisziplinären Umfeld verschiedener Fachrichtungen statt. Bemühungen sind beispielsweise in der Sozialarbeit, der Schul-, Heil- und Sozialpädagogik, der Psychologie, der Psychiatrie, der Medizin und im Recht auszumachen. In der Sozialarbeit bewegt sich Prävention1 vorwiegend im Bereich von Intervention/Beratung und Vorbeugung und kann auf personaler, institutioneller oder gesellschaftlichstruktureller Ebene stattfinden. Auf personaler Ebene kann sie sich an die Zielgruppen der (potentiellen) TäterInnen und Opfer, an Kinder wie Erwachsene (auch HelferInnen, Bezugspersonen, Eltern, etc.) wenden. Die Opferberatung für Betroffene (zur Sekundärprävention gehörig) ist in der Schweiz im Vergleich zur vorbeugenden Arbeit (Primärprävention) mehr beachtet und besser ausgestaltet. Des Weiteren scheint sich das Angebot meistens aus der Opferperspektive zu verstehen. Die deutschen Autorinnen Koch und Kruck (2000, 34) machen darauf aufmerksam, dass sich 1 Prävention wird in dieser Arbeit als Überbegriff für vorbeugende, interventionsbezogene/beraterische und therapeutische/rückfallbezogene Arbeit im Missbrauchsbereich verwendet. Dieses Konzept wird im fünften Kapitel erläutert und begründet. Die in diesem Abschnitt anzutreffenden kursiv gedruckten Begriffe werden dort ebenfalls ausführlich beschrieben. 2 die (Primär-)Prävention aktuell nur am Rande mit den Erwachsenen beschäftigt, die TäterInnen sind oder werden können, und mit gesellschaftlichen Bedingungen, die durch Erwachsene mitbestimmt werden. Im Zentrum stünde die Vorbeugungsarbeit mit Kindern, mit Kindern als (potentiellen) Opfern. – Auch in der Schweiz scheinen sich trotz wenigstens konzeptuell und ideell vermehrt vorhandenen Bemühungen, auch mit Erwachsenen und auf Institutionsebene die Thematik anzugehen, in der Praxis mangels politischen Willens doch einfache, kurze Aktionen mit (potentiellen) Opfern durchgesetzt zu haben (siehe auch Meier Rey, 2003; zit. nach Elmer, 2004, 18f). Vorbeugende Arbeit mit Kindern und Jugendlichen im Missbrauchsbereich überlappt sich inhaltlich und methodisch mit einer allgemeinen emanzipatorischen Erziehung, mit der Sexual- und Gesundheitserziehung, aber auch mit Elementen der allgemeinen Gewaltvorbeugung. Primärpräventive missbrauchsbezogene Arbeit muss im Rahmen der Schule – auf den diese Lizentiatsarbeit abstellt – letztlich in Absprache mit diesen anderen verwandten Bereichen geplant und koordiniert werden, um Synergieeffekte zu nutzen und Doppelspurigkeiten und/oder Widersprüchlichkeiten zu vermeiden. Thematische Eingrenzungen für die vorliegende Lizentiatsarbeit: Ich habe mich entschieden, mich innerhalb der Prävention auf die Primärprävention zu konzentrieren, insofern sie überhaupt von der intervenierenden Beratungsarbeit bei vermutetem oder bereits erfolgtem Missbrauch (Sekundärprävention) abzugrenzen ist. Die Abgrenzung fällt dort schwer, wo es um im Voraus erarbeitete Aufdeckungs- und Interventionsstrategien für ein rasches Stoppen eines stattfindenden Missbrauchs geht. Hier scheint mir der Übergang fliessend und deshalb werde ich dem schulischen Vorgehen bei vermutetem oder offenbartem Missbrauch ein Unterkapitel widmen. Meinen primärpräventiven Fokus wählte ich, da ich ideell für wichtig erachte, möglichst vielen Übergriffen zuvorzukommen und missbrauchsbegünstigende Faktoren und Gefahrensituationen zu minimieren, um konkrete Personen gar nicht erst zu Opfern oder zu TäterInnen werden zu lassen. Einige inhaltliche Elemente sind der Primär-, der Sekundär- und der Tertiärprävention sicherlich gemeinsam, da Annahmen zu Entstehungsbedingungen und Hintergründen sexuellen Kindesmissbrauchs und dementsprechende Veränderungskonzepte in die Prävention als Ganzes einfliessen. Der therapeutische Aspekt (Tertiärprävention) wird in dieser Lizentiatsarbeit ausgeklammert, zumal er vorwiegend im Bereich der Psychologie und Psychiatrie anzusiedeln ist. 3 Eine zusätzliche Fokussierung nehme ich vor, indem ich die Primärprävention im Hinblick auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen im Grund- und Sekundarschulalter (obligatorische Schulzeit) aufgreife, welche am besten ausgearbeitet ist. Der Bereich des Vorschulalters wird ausgeklammert, da dort die organisatorischen Umstände separat betrachtet werden müssten; inhaltlich sind aber die Ideen für kleinere Kinder dieselben. – Es würde zu weit führen, die erwachsenbildnerische Ebene (Nicht-TäterInnen) sowie die vereinzelten Bemühungen mit (potentiellen) erwachsenen und jugendlichen Tätern als eigene Themen auch behandeln zu wollen. Zudem ist diese Lizentiatsarbeit im Wesentlichen eine theoretische Literaturreview, und es gibt recht wenige Fachpublikationen zur Vorbeugungsarbeit mit erwachsenen (Nicht-)TäterInnen. Hingegen bedeutet die langfristige Arbeit mit Kindern und Jugendlichen nicht nur Opfervorbeugung, obgleich sie dort ihren Schwerpunkt hat, sondern in gewissem Umfang auch TäterInnen-Primärprävention. Denn die Kinder von heute sind die Erwachsenen (also auch die möglichen TäterInnen) von morgen. Bei einem Teil der Zielgruppe könnte es auch sein, dass sie sich bereits übergriffig verhalten hat, Primärprävention quasi zu spät kommt. Für diese Heranwachsenden hätte die in dieser Lizentiatsarbeit vorgestellte Aufklärungsarbeit möglicherweise die Funktion, einer Verstärkung ihres missbrauchenden Verhaltens vorzubeugen, also eine eher sekundärpräventive Funktion. Jugendliche TäterInnen würden neben diesem Angebot zusätzlich eine auf sie zugeschnittene Beratung und therapeutische Rückfallprävention benötigen, was aber nicht Gegenstand dieser Lizentiatsarbeit ist. Der gewählte Fokus auf diese Zielgruppe soll nicht zur irrigen Annahme verleiten, den Kindern solle also die Verantwortung für ihren Schutz oder dennoch erfahrene sexuelle Gewalt (zum Beispiel bei mangelnder Gegenwehr) zugeschoben werden. Es liegt auf der Hand, dass dem Schutz der Kinder nicht Genüge getan werden kann, wenn sich die Vorbeugungsarbeit auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen beschränkt. Vielmehr müssten besonders die Erwachsenen zur Verantwortung gezogen und auf institutioneller wie gesellschaftspolitisch-struktureller Ebene Ausgangsbedingungen der sexuellen Gewalt überdacht und verändert werden. Diese Wirkungsebenen und Ansprechpartner sollen in diese Arbeit insofern einfliessen, als die Arbeit mit Kindern am Ort Schule (eine weitere Eingrenzung meiner Arbeit, die im folgenden Abschnitt erläutert wird) ohne Bereitschaft und weiterbildende Vorbereitung der Institution Schule und ihrer KooperationspartnerInnen wenig Sinn ergibt. 4 Sozialarbeit kommt in der Auseinandersetzung mit Kindern nicht darum herum, sich der Sozialpädagogik anzunähern, und unter anderem mit der Pädagogik beziehungsweise den Erziehungsinstanzen (Erziehungsberechtigte, Heime und Schulen) zusammenzuarbeiten. Kinder sind fast täglich und über Jahre hinweg in der Schule, weshalb sich der Ort Schule am besten für langfristig angelegte, primärpräventive Bemühungen mit dieser Zielgruppe eignet. Auch die Arbeit in Vereinen und Freizeitorganisationen böte sich an (sollte parallel und koordiniert auch stattfinden), aber dort sind weniger Kinder beteiligt. Möglicherweise nehmen stärker durch innerfamiliären Missbrauch gefährdete Kinder seltener an freizeitpädagogischen und sportlichen (Vereins-)Aktivitäten teil, da solche Familien nicht selten isoliert zu leben scheinen2. Deshalb konzentriere ich mich auf die Primärprävention am Ort Schule und entwerfe dazu ein Konzept der örtlichen Kooperation der Sozialisationsinstanz Schule mit Fachleuten aus dem Umfeld der Sozialen Arbeit. B FORSCHUNGSFRAGEN Hauptfragen: 1. Was kann man unter sexuellem Kindesmissbrauch verstehen und welche Ursachen und Folgen werden in der praxisleitenden Fachliteratur beschrieben? 2. Welche primärpräventiven Möglichkeiten gegen sexuellen Missbrauch birgt die Kooperation von Schule und Sozialer Arbeit am Ort Schule? 3. Welche Kriterien sind in der vorbeugenden Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zu beachten und welche Inhalte lassen sich im schulischen Rahmen vermitteln? Unterfragen: a) Wie werden in praxisleitenden, vorwiegend deutschsprachigen Fachpublikationen Definitionen, Missbrauchsdynamik und Ursachen des sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen dargelegt? Wie kann eine für den Zweck vorliegender Lizentiatsarbeit formulierte Arbeitsdefinition aussehen? Welche Folgen kann sexueller Missbrauch bei den Opfern zeitigen? 2 vgl. Kapitel 3.2.3. 5 b) Was meint Primärprävention im Kontext des sexuellen Kindesmissbrauchs? Welche Konzepte, Ziele, Ebenen und Zielgruppen werden in (vorwiegend deutschsprachigen) Fachpublikationen genannt und wie die diesbezügliche Ausrichtung der (schweizerischen) Praxis beschrieben? c) Ist Missbrauchsvorbeugung eine interdisziplinäre Aufgabe? Inwiefern können (respektive warum sollen) die Schule und die Soziale Arbeit einen Beitrag leisten? d) Welche inhaltlichen und formalen Kriterien lassen sich für die schulische primärpräventive Missbrauchsarbeit mit Kindern und Jugendlichen herauskristallisieren? Welche Inhalte könnten – gestützt auf feministisch orientierte Veröffentlichungen – dabei vermittelt werden? e) Wie könnten Schule und Soziale Arbeit am Ort Schule kooperieren, um Primärprävention für Kinder und Jugendliche vorzubereiten, einzubetten und anzubieten? Welche KooperationspartnerInnen sind dabei zu berücksichtigen? Welche Beiträge könnten die Schulsozialarbeit und auf Primärprävention spezialisierte Fachstellen als zentrale Kooperationspartnerinnen aus dem Umfeld der Sozialen Arbeit leisten? C THEORETISCHER BEZUGSRAHMEN Für meine Arbeit stütze ich mich im Allgemeinen auf Theorien mittlerer Reichweite ab, also auf jene theoretischen, handlungsleitenden Schriften, die heutzutage für die Soziale Arbeit relevant sind, um die Missbrauchsthematik im Hinblick auf die Primärpräventionsarbeit in sozialen und pädagogischen Institutionen theoretisch einzubetten. Aspekt sexueller Missbrauch und Primärprävention: Zur sexuellen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche sollen verschiedene anwendungsorientierte Definitionen (gesellschaftliche, entwicklungspsychologische, klinische,…) und theoretische Erklärungsansätze berücksichtigt werden, vor allem aber traditionelle Ursachenmodelle und feministisch orientierte Ansätze als zwei Gegenspielerinnen herausgearbeitet werden. Die Präventionsdebatte hat in den letzten Jahrzehnten einen grossen Wandel durchlaufen, von der traditionellen Abschreckungsvorbeugung mit dem Bild vom bösen, kranken fremden Mann, der sich an kleinen Mädchen vergreift, hin zur Vorstellung feministisch ausgerichteter AutorInnen, dass sexuelle Gewalt in einer nach wie vor patriarchal strukturierten Gesellschaft wie der unseren beinahe zum „Alltag“ von Frauen und Kindern gehöre. Alltag insofern, weil 6 vorwiegend durchschnittliche Menschen ohne besondere Merkmale zu (vorwiegend männlichen) TäterInnen würden, und weil viele Personen, besonders Frauen, in kleinerem oder grösserem Umfang während ihrer Kindheit auf verschiedenste Formen von Gewalt, auch auf sexuelle Gewalt, stiessen. Aus dieser Betroffenheit als Frauen heraus begannen sich Feministinnen (teils selber Opfer) ab den späten 70er Jahren zugunsten von (potentiellen) Opfern für Prävention einzusetzen. Sie wollten in der Primärprävention sowohl eine Gesellschaftskritik auf struktureller Ebene vornehmen, also am gesellschaftlichen Selbstverständnis rütteln, als auch bei der Hilfe für und der Emanzipation und der Aufklärung von Individuen, Gruppen und Institutionen ansetzen. Am besten ausgearbeitet wurde die konkrete Arbeit mit (potentiellen) Opfern. Hinter den meisten heutigen Primärpräventionskonzepten steckt feministisches Gedankengut. Die ursprünglichen US-amerikanischen Empowerment-Programme (Empowerment als Ermächtigung, Befähigung, psychische Stärkung verstanden) liegen vielen deutschsprachigen Projekten zugrunde. Obwohl feministisches Engagement auch auf einer theoretischen Ebene stattfand, kamen wissenschaftliche Analysen und Studien zur inhaltlichen Gestaltung oder der Effektivität von Programmen mit Kindern und Jugendlichen nur zögerlich auf. Neben feministisch motivierten PraktikerInnen und ForscherInnen sind (kritische) Beiträge zur Primärprävention auch Fachleuten aus dem Bereich des Kinderschutzes (zum Beispiel Kupffer, 1984; Ziegler, 1990, 2004) zu verdanken. In die konkrete Primärpräventionsarbeit mit Kindern und Jugendlichen gegen sexuelle Gewalt fliessen je länger je mehr verschiedene Forschungsbereiche mit ein, auf die man auch in der Literatur zur allgemeinen Gewalt(primär)prävention an Schulen Verweise findet (siehe Dann, 1997, 362-364): viele der von den AutorInnen dargestellten Kriterien, Inhalte und Methoden können aus der Sozialisations-, der Selbstkonzept-, der Kommunikations-, der Geschlechterrollen- und der Erziehungsstilforschung hergeleitet werden und/oder enthalten Anleihen aus dem symbolischen Interaktionismus, aus sozialen Austauschtheorien, aus der sozial-kognitiven Lernforschung und aus dem systemischen Ansatz. Die meisten AutorInnen halten solche Hintergründe aber nicht explizit fest; deswegen und auch wegen der Komplexität dieser einzelnen Forschungsgebiete werde ich darauf verzichten, diese zu erläutern oder an den entsprechenden Stellen in der Arbeit auf den jeweils aufscheinenden Forschungshintergrund zu verweisen, es sei denn, ein/e AutorIn hielt ihn explizit fest. Es geht mir mehr darum, dass man sich hier die vielfältigen theoretisch und empirisch erforschten Gebiete vor Augen hält, welche in die Primärpräventionsentwürfe hineinspielen. 7 Aspekt Kooperation: Zur Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule, in der Literatur fast ausschliesslich in Form der Schulsozialarbeit anzutreffen, findet sich wenig theoretisch fundiertes Material, insbesondere in der Schweiz, wo Publikationen zur Schulsozialarbeit erst seit den 90er Jahren richtig in Schwung gekommen sind. Es gibt verschiedene Ansätze und Modelle, was sie sei und zu leisten habe. Die Literatur beinhaltet oft lediglich Projektbeschreibungen einzelner Schulen, allenfalls mit einer kleinen internen Evaluation, aber meist ohne wissenschaftliche Begleitung. Es fehlt weitgehend eine Metaebene der Reflexion, eine eigentliche Professionalisierung und theoretische Fundierung. (vgl. Drilling, 2001) In der Literatur fand ich keine ausgearbeiteten Konzepte, wie die Kooperation zwischen Sozialer Arbeit und Schule aussehen könnte, wenn man an der Schule Primärprävention im Missbrauchsbereich ansiedeln möchte. Ich werde deshalb versuchen, in einem eigenen Beitrag ein anwendungsorientiertes Konzept der primärpräventiven Zusammenarbeit zusammenzustellen. Dazu nehme ich kooperationsbezogene Publikationen zur Schulsozialarbeit, zur allgemeinen Gewaltprimärprävention an Schulen (bezieht sich vor allem auf SchülerInnengewalt, behandelt sexuelle Gewalt sehr nebensächlich) und zur teilweise vorhandenen interdisziplinären Kooperationspraxis in der Sekundärprävention sexueller Gewalt zu Hilfe. D METHODISCHES VORGEHEN Ich wollte eine theoretische Arbeit oder eine Reviewarbeit verfassen und habe dementsprechend meine Fragestellung innerhalb der mich interessierenden Thematik des sexuellen Kindesmissbrauchs ausgesucht. Da zahlreiche Veröffentlichungen zum sexuellen Missbrauch vorliegen und auch die Primärprävention häufig, aber noch recht chaotisch, diskutiert wird, schien mir eine theoretische Reviewarbeit zu meinem Thema zu passen. Ich verschaffte mir als Erstes eine Übersicht über die aktuelle Missbrauchs- und Primärpräventionsliteratur im deutschen Sprachraum und strukturierte sie. Da aufgrund meiner Fragestellungen die Kenntnisse zu den Hintergründen sexuellen Kindesmissbrauchs helfen sollten, die Primärprävention mit Kindern im Rahmen der Schule zu gestalten, wurde für mich aktuell diskutierte handlungsleitende Forschung zu Definitionen, Ursachen und Folgen von sexueller Ausbeutung an Kindern relevant. Ich verwendete für meine Arbeit empirischwissenschaftliche, praxisnahe sowie anwendungsorientierte theoretische Publikationen. Als 8 Hauptstrang in der Diskussion um sexuellen Kindesmissbrauch und Primärprävention zeichneten sich feministisch orientierte Veröffentlichungen ab. Es ist nicht der Anspruch dieser Lizentiatsarbeit, eine evaluatorische Studie über alle aktuellen, fast nur lokalen (schulischen) Primärpräventionsprogramme mit Kindern in der Schweiz vorzunehmen. Im Zentrum stehen vielmehr zu beachtende inhaltliche und formale Kriterien und Inhalte für eine weiterführende schulische Primärpräventionsarbeit mit Kindern und Jugendlichen, erarbeitet aufgrund publizierter Studien und Fachartikel im (zumeist) deutschsprachigen Raum, vielfach aus den 90er Jahren stammend, die auch auf Tendenzen und Schwächen von bisherigen programmartigen Projekten hinweisen. Wo sich die Lizentiatsarbeit bei den Themen Missbrauch und Primärprävention vorwiegend als strukturierende und fokussierende Literaturreview gestaltet, steht in den Kapiteln zur Kooperation eher ein konstruktiv-kreatives Vorgehen an. Im Verlauf der Lektüre stiess ich des Öfteren auf die Bemerkung, wie wichtig das interdisziplinäre Denken in der Missbrauchsprävention sei, und deshalb wollte ich mich vertieft auf diesen Aspekt einlassen. Da die AutorInnen der Literatur zur Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule die Missbrauchsprävention kaum ansprechen, und die VerfasserInnen der Literatur zur Primärprävention von sexuellem Missbrauch ihrerseits die Kooperation zwischen den beiden Disziplinen lediglich punktuell erwähnen (meistens nur im Zusammenhang mit Interventionen), fühlte ich mich herausgefordert, diesen Teil meiner Arbeit eher kreativ nachdenkend anzugehen. Ich wollte mir überlegen, wo ich aufgrund der von mir studierten Literatur zu Missbrauch, Primärprävention und Kooperation von Schule und Sozialer Arbeit die Schnittmenge der drei sähe. Dies sollte ein Teil meines eigenen Beitrags werden: in einem Konzept zu formulieren, wie im schulischen Rahmen die Kooperation in der primärpräventiven Arbeit gestaltet werden könnte, und welche AkteurInnen dafür von Bedeutung sein könnten. Teils gestützt auf die Literatur werden deren Beiträge und Bedingungen für eine erfolgreiche Umsetzung skizziert. Dies alles soll unter dem Aspekt der institutionellen Vorbereitung und Einbettung der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen betrachtet werden. E AUFBAU DER ARBEIT In einem ersten Schwerpunkt wird sich die Arbeit im ersten Teil ausführlich damit auseinandersetzen, was unter sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen verstanden werden kann, wer ins Missbrauchsgeschehen involviert ist, und was für Formen, Miss9 brauchsstrategien, Ursachen und Folgen in der Fachliteratur beschrieben werden. Dabei sollen verschiedene handlungsleitende theoretische Positionen berücksichtigt werden, wobei dem feministischen Gedankengut ein besonderes Augenmerk geschenkt wird. Der zweite Teil der Arbeit widmet sich der Prävention von sexueller Gewalt. Im fünften Kapitel wird (Primär-)Prävention definiert und vorbeugende Ziele beschrieben. Modelle, Zielgruppen und Ebenen der Primärprävention sowie die diesbezügliche Positionierung der Praxis in der Schweiz werden festgehalten. Ferner schildere ich kritische gesellschaftliche Aspekte der Kinderschutzarbeit. Im sechsten Kapitel wird die Interdisziplinarität der Primärprävention sexuellen Kindesmissbrauchs aufgegriffen und überlegt, wessen Aufgabe Kinderschutz sein könnte. Inwiefern könnte der Schule ein vorbeugender Auftrag zukommen und warum eignet sich dieser Ort für die Primärprävention gut? Ferner zeige ich (primär)präventiv tätige Fachstellen aus dem Umfeld der Sozialen Arbeit auf und beleuchte anschliessend die Schulsozialarbeit, die als zentrales Zusammenarbeitsmodell zwischen Schule und Sozialer Arbeit gilt. Im letzten und zentralsten Kapitel werden in der Literatur beschriebene Bedingungen einer erfolgreichen Kooperation am Beispiel der Schulsozialarbeit und des Lehrkörpers sowie inhaltliche und formale Kriterien für die schulische Primärpräventionsarbeit mit der Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen skizziert und diskutiert. Als hauptsächlichen Eigenbeitrag erstelle ich ein Konzept, das die meines Erachtens für die konkrete Arbeit mit Kindern zentralsten KooperationspartnerInnen benennt: neben der Institution Schule respektive der Schulleitung sind dies der Lehrkörper, Primärpräventionsfachleute, SchulsozialarbeiterInnen und die Eltern. Für jede/n dieser PartnerInnen wird (teils gestützt auf die Literatur) der potentielle Beitrag respektive die Vorbereitung thematisiert. – Ein Kernstück des Kapitels stellt die Beschreibung von konkreten, feministisch abgestützten Inhalten der Primärprävention mit Jugendlichen und Kindern und von Arbeitsmethoden dar, die am Ort Schule angewendet werden können. Da vorbeugende Arbeit eine aufdeckende Wirkung haben kann, wird abschliessend ein Ausblick auf die interventionsbezogene Ebene im schulischen Rahmen geworfen. Im Schlussteil sollen Chancen und Grenzen diskutiert werden, mit Kindern und Jugendlichen primärpräventiv im komplexen, vielschichtigen Missbrauchsbereich etwas zu erreichen. Diese Lizentiatsarbeit wird durch einen zusammenfassenden Ausblick auf die Forschungsfragen und durch Hinweise zum ausstehenden Forschungsbedarf abgerundet. 10 1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen 1. TEIL: THEORETISCHE AUFFASSUNGEN ZUM SEXUELLEN MISSBRAUCH 1. PRAXISLEITENDE DEFINITIONEN VON (SEXUELLER) GEWALT AN KINDERN UND JUGENDLICHEN Es gibt keine einheitliche, allerseits anerkannte Definition von sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen, selbst die Termini sind je nach Fokus des/der Betrachtenden verschieden. Ebenso wenig besteht eine von der Mehrheit der ForscherInnen akzeptierte übergeordnete Theorie, die sexuelle Gewalt als Ganzes erklärt. Dieses Kapitel will als erstes zeigen, was für Arten von Gewalt an Kindern und Jugendlichen in der Literatur beschrieben werden, und danach sollen Termini für den sexuellen Missbrauch vorgestellt, eine Klassifizierung von Definitionen in verschiedene theoretische Positionen vorgenommen und mögliche Definitionskriterien besprochen werden, um anschliessend praxisleitende Definitionen zu sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen vorzustellen. Als Abschluss des Kapitels wird eine eigene Arbeitsdefinition konstruiert, die dem Zweck dieser Lizentiatsarbeit, der Primärprävention mit Kindern und Jugendlichen im Rahmen der obligatorischen Schulzeit, dienen soll. 1.1. Formen von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche Der Begriff der Gewalt ist sehr vielschichtig und es ist schwierig, zu einer Definition zu finden; je nach zum Beispiel Gesellschaft, Kultur, Religion, Individuum, Geschlecht oder Generation kann die Gewalttätigkeit eines Handelns anders eingestuft werden. Einen Ansatz zu wählen, fällt nicht leicht, da es verschiedene Standpunkte mit je gewisser erkenntnistheoretischer Berechtigung gibt. Galtung (1979, 57f) konstruierte eine weithin akzeptierte Definition von Gewalt: „Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle somatische und geistige Wirklichkeit geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung.(…) Gewalt ist das, was den Abstand zwischen dem Potentiellen und dem Aktuellen vergrössert oder die Verringerung des Abstandes erschwert. (…) Mit andern Worten, wenn das Potentielle grösser ist als das Aktuelle und das Aktuelle vermeidbar, dann liegt Gewalt vor.“ Diese Definition ist sehr vage gehalten und sehr weit gefasst. Sie hält fest, dass es um Beeinflussung durch etwas oder jemand geht, und um die Diskrepanz zwischen dem, was etwas oder jemand tatsächlich ist oder aber hätte sein können. Galtung (ebd.) geht dabei davon aus, dass die potentielle Menge an Verwirklichung diejenige ist, die zu erreichen mit 11 1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen einer gegebenen Menge an Einsehen und Hilfsmitteln möglich wäre. Er verweist aber auch auf die Schwierigkeit des Begriffs, wenn man nicht nur im physischen, sondern auch im geistigen Bereich einen Konsens zum realisierbaren Wert finden muss. Galtung (ebd., 59-67) nennt sechs Dimensionen, die sich in seiner Definition verbergen und sich als Dichotomien formulieren lassen, wobei letztere in beliebiger Kombination denkbar seien: - psychische oder physische Einwirkung: Physische Gewalt kann als körperlicher Schmerz, Einschränkung der physischen Möglichkeiten oder der Bewegungsfreiheit gesehen werden; psychische Gewalt hingegen als Reduktion geistiger Möglichkeiten durch Manipulation, Drohung, Lüge, etc. - negative oder positive Beeinflussung: Egal, ob ein Objekt für ein vom Subjekt gewünschtes Verhalten belohnt oder für ein vom Subjekt unerwünschtes Tun bestraft wird, beides kann den Menschen daran hindern, sein Potential zu realisieren. - Gewalt mit oder ohne Objekt: Werden Mittel zur Gewaltausübung erzeugt, so können sie als Androhung den Handlungsspielraum von Menschen beschneiden. - Gewalt mit oder ohne handelnde Person: Wo es eine/n AkteurIn gibt, spricht er von direkter oder personaler Gewalt; wo keine konkrete Person in Erscheinung tritt, von indirekter oder struktureller Gewalt. - Intendierte oder nicht intendierte Gewalt: Seine Definition konzentriert sich nur auf die Folgen, nicht auf die Absichten, da Aktionen gegen strukturelle Gewalt sonst ins Leere tappen könnten. - Manifest oder latent: Manifeste Gewalt ist sichtbar, latente hat sich noch nicht gezeigt. In dieser Typologie erscheint mir für meine Lizentiatsarbeit die Unterscheidung in personale und strukturelle Gewalt die Wesentlichste (siehe Abbildung 1). In der direkten Gewalt richtet sich üblicherweise eine Täterschaft, aus einer oder mehreren Personen bestehend, auf physische oder psychische Art gegen ein oder mehrere Opfer. Diese Gewalt ist meistens sichtbar und oft intendiert; sie kann aber auch latent sein, solange eine Bedrohungssituation noch nicht in eine Handlung umgeschlagen ist, und sie kann auch ohne ein bestimmtes Objekt auskommen. Auf der andern Seite können gesellschaftliche Bedingungen, also kein konkretes Subjekt, strukturell ganze Bevölkerungsgruppen oder auch Einzelne psychisch oder physisch in der Entfaltung ihrer Möglichkeiten beeinträchtigen. 12 1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen Im Kontext der Gewalt gegen Kinder und Jugendliche möchte ich im Folgenden mit Kohler (o.J., 11f) innerhalb der personalen Gewalt noch weitere Formen unterscheiden und skizzieren, nämlich neben der physischen und psychischen Gewalt auch die emotionale Vernachlässigung und die sexuelle Gewalt. Als erstes soll aber strukturelle Gewalt näher definiert werden, wobei ich bei ihr auf eine weitere Aufsplitterung verzichte. In einer Abbildung könnte man diese aufgegriffenen Dimensionen wie folgt darstellen: - mit oder ohne konkretes Objekt - manifest oder latent - intendiert oder nicht intendiert - negative oder positive Beeinflussung - physische oder psychische Gewalt an Kindern und Jugendlichen personal: direkt, mit konkreter handelnder Person strukturell: indirekt, ohne konkrete handelnde Person Nährboden weitere Aufteilung: physische, psychische, emotionale und sexuelle Gewalt Abbildung 1: Dimensionen der Gewalt an Kindern und Jugendlichen 1.1.1. Strukturelle oder indirekte Gewalt Strukturelle Gewalt ist jene, die im Hintergrund einer Gesellschaft abläuft. Sie begünstigt viele andere Formen von Gewalt, so auch die sexuelle oder physische, und sie wird vom gesellschaftlichen System quasi geschaffen und erhalten. Galtung (1979, 62-67) schildert diese Form der Gewalt als ins System eingebaut, was sich in ungleichen Machtverhältnissen und Lebenschancen zeige. Er nennt die Bedingung der indirekten Gewalt zuweilen soziale Ungerechtigkeit. Nicht nur Ressourcen seien ungleich verteilt, sondern auch die Entscheidungsmacht darüber, wer Ressourcen verteilen könne. Dies 13 1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen geschehe oft von den Gewaltbetroffenen unbemerkt, diese Form der Gewalt sei eigentlich statisch und recht stabil. Und je statischer eine Gesellschaft sei, umso unbemerkter vollziehe sich die strukturelle Gewalt. Kohler (o.J., 12) hält fest, dass es hier um ein erweitertes Verständnis von Gewalt geht. Sie entstehe durch den asymmetrisch-hierarchischen Aufbau unserer (westlichen) Gesellschaft und durch die daraus resultierenden Macht- und Abhängigkeitsbeziehungen. Obwohl selber nicht unmittelbar identifizierbar, sei die strukturelle Gewalt Ausgangspunkt für die Gewaltanalyse in Verhältnissen sozialer Ungleichheit. Sie schaffe nämlich den Nährboden für Ungleichheiten, direkte Gewalt und alltägliche Diskriminierungen. Wenn man sich dies im Kontext von Kindern und Jugendlichen vor Augen führt, widerspiegelt sich die strukturelle Gewalt in der schwachen Position der Kinder in unserer Gesellschaft, und zwar in politischer, rechtlicher wie sozialer Hinsicht. Es wird oft über ihre Köpfe hinweg bestimmt, ihre Bedürfnisse und Wünsche werden vernachlässigt, und sie werden unter anderem von Eltern zuweilen als Besitz angeschaut. Das birgt die Gefahr von Grenzverletzungen, von Missachtung der Kinderrechte, von Beeinträchtigungen und von Übergriffen in sich. Von Kohler (ebd.) zitierte Beispiele für diese nicht kinderfreundlichen Lebens- und Entwicklungsbedingungen sind sexistische Berichterstattung, kommerzielle Ausbeutung von Kindern im Internet, Werbung, aber auch unsere mangelnde Gesetzgebung, die körperliche Züchtigung von Kindern nicht explizit verbiete, während es bei Erwachsenen als Tätlichkeit gelte. 1.1.2. Personale Gewalt in Form physischer Gewalt Galtung (1979, 60) unterteilt das Zufügen physischer Schmerzen des Weiteren in biologische Gewalt, die körperliche Fähigkeiten mindere im Vergleich zu ihrem Potential, und physische Gewalt an sich, die verstärkt die kindliche Bewegungsfreiheit begrenze, zum Beispiel Einsperren oder Fesseln. Physische Kindesmisshandlung ist insofern schwer zu definieren, als je nach Kultur und Gepflogenheiten in einer Gesellschaft unterschiedliche Grenzen zwischen „normaler“ Kindererziehung beziehungsweise -massregelung und Gewalthandlungen gezogen werden. Briere (1992, 6f) hält fest, dass Erwachsene in unserer Kultur Kindern zuweilen physischen Schmerz zufügen, um ihr Verhalten zu kontrollieren und sie zurechtzuweisen. Da sei es schwierig zu entscheiden, ob zum Beispiel Schläge auf die Hand mit einem Stock oder eine Ohrfeige bereits als Gewalt zu bezeichnen seien. Trotzdem gebe es Handlungen, die von der 14 1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen Mehrheit der Menschen als körperliche Gewalt eingeschätzt würden: so zum Beispiel das Treten eines Kindes, das ins Gesicht Schlagen mit der Faust oder einem Gegenstand, das Bedrohen mit einer Waffe oder einem Messer, das Beissen, das Zufügen von inneren und äusseren Verletzungen wie Blutungen, Knochenbrüchen, Verbrennungen oder Hirnerschütterungen. Diese körperlichen Gewaltakte seien bei Eltern oft mit psychischer Gewalt gegen ihre Kinder gekoppelt. Dies gilt wohl auch für Akte des Verwahrlosen Lassens, wenn Eltern die nötige Körperpflege, Bekleidung oder Ernährung eines Kindes vernachlässigen, was ich ebenfalls als physische Gewalt sehe. 1.1.3. Personale Gewalt in Form psychischer Gewalt Diese Form ist die vermutlich häufigste, da sie in verschiedenen Intensitätsgraden mit fast allen anderen Gewaltformen gekoppelt vorkommt; entsprechend schwierig lässt sie sich abgrenzen. Sie kann als aus ein- oder mehrmaligen Handlungen bestehend aufgefasst werden, die durch Gleichgültigkeit, Feindseligkeit oder Abweisung gekennzeichnet sind, und die auf einen Angriff auf die kindliche Entwicklung und Autonomie hinauslaufen. (Kohler, o.J., 12) Briere (1992, 8-10) versucht eine ostentative3 Definition, indem er acht Verhaltensweisen von ErzieherInnen oder Eltern beschreibt, die psychische Gewalt darstellten, aber nicht ausschliesslich in psychischem Missbrauch anzutreffen seien: Zurückweisung, Abwertung, Terrorisieren, Isolieren von sozialen Kontakten, Korrumpieren (Kind in antisozialem Verhalten Trainieren, sozial unakzeptable Verhaltensweisen Fördern), Ausnutzen für eigene Bedürfnisbefriedigung, Mangel an notwendiger emotionaler Zuwendung und an Stimulation (Vernachlässigung, zu wenig Liebe Schenken) sowie Unzuverlässigkeit/Inkonsistenz der Eltern (ambivalente Forderungen, inkonsistente Unterstützung). – Diese Liste zeigt, wie schwer eine Einigung zur Definition oder Operationalisierung dieser Gewaltform fallen muss. Es kann zu einer Diskussionsfrage werden kann, was ein Genug an Liebe, ein Zuviel an eigener Bedürfnisbefriedigung, etc. ist. 1.1.4. Personale Gewalt in Form emotionaler Vernachlässigung Dieser Begriff überschneidet sich teils mit der soeben beschriebenen psychischen Gewalt. Schakels (1987; zit. nach Briere, 1992, 11) Definitionsversuch stellt emotionale Vernachlässigung als einen Akt der Unterlassung dar, der häufig das Resultat von elterlicher Ignoranz 3 Ostentative Definitionen versuchen eine möglichst breite Aufzählung der Inhalte. 15 1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen und Gleichgültigkeit sei. Das Kind erhalte nicht genügend emotionale Unterstützung und Stimulation, auch wenn die physische Versorgung durchaus vollständig sein möge. Das Kind werde zum Bespiel lange allein gelassen, man spreche oder spiele nur selten mit ihm, ermutige es nicht. 1.1.5. Personale Gewalt in Form sexueller Gewalt Schliesslich bleibt noch jene Form der Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, auf die diese Lizentiatsarbeit Bezug nimmt, nämlich die der sexuellen Gewalt. Bevor ich handlungsleitende Definitionen und mögliche Erscheinungsformen beschreibe, möchte ich ins Auge fassen, welche Termini dafür in der Fachliteratur verwendet werden, und schliesslich einen für meine Arbeit passenden wählen. 1.2. Termini für die sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen In der Literatur begegnete ich folgenden Termini: sexuelle Ausbeutung von Kindern, sexueller Missbrauch an Mädchen und Jungen, sexuelle Gewalt gegen Kinder, innerfamiliärer sexueller Missbrauch, Inzest, Seelenmord, etc. Warum eine solche Vielzahl von Begriffen? Meinen sie alle in etwa dasselbe? Wo unterscheiden sie sich? Eine begriffliche Klärung zu Beginn einer Arbeit ist zentral. Je nach Zweck derselben braucht man eine strenge Definition, oder aber man will den Gegenstandsbereich möglichst vollständig abdecken. Am Häufigsten traf ich auf die Begriffe sexueller Missbrauch (an/von Kindern) oder sexuelle Gewalt (an/gegen Kinder/n) oder sexuelle Ausbeutung (von Kindern). Diese wurden in der Literatur recht synonym verwendet. Verschiedene AutorInnen setzen durch ihre bewusste Begriffswahl aber unterschiedliche Akzente. Kohler (o.J., 12) meint, der Ausdruck sexuelle Ausbeutung ersetze heute weitgehend den Begriff sexueller Missbrauch, da das Wort Miss-brauch indiziere, dass es auch einen richtigen Ge-brauch eines Kindes gebe. Doch ein Gebrauchen eines Menschen sei per se schon ein Missbrauch. Um dieses missverständliche Wort zu vermeiden, wähle man darum in der aktuellen Diskussion vermehrt den Begriff Ausbeutung, um den Aspekt des Machtmissbrauchs zum eigenen egoistischen Vorteil und die Unterdrückungsmechanismen hervorzuheben. (siehe auch Limita, 2004) Hartwig (1992) verwendet die oben genannten drei häufigsten Begriffe an sich synonym: beim familiären Umfeld spricht sie allerdings eher von Missbrauch; wenn es um die 16 1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen Handlungsabsicht geht, verwendet sie Ausbeutung, und für die Betonung der gesellschaftlichen Bedingungen benützt sie den Terminus Gewalt. Kempe und Kempe (1980, 62; 1984; zit. nach Amann & Wipplinger, 1998a, 18) ihrerseits subsumieren unter sexuellen Missbrauch auch Pädophilie4, Vergewaltigung, Inzest (sexuelle Handlungen zwischen nahen Verwandten) sowie Exhibitionismus (unerwünschtes, sexuell motiviertes Entblössen der Geschlechtsorgane vor andern Menschen), Belästigung, Prostitution und Kinderpornographie. In ihrem Verständnis des Terminus findet man also bereits die breite Palette an Erscheinungsformen oder Handlungen angedeutet, die in der sexuellen Gewalt gegen Kinder vorkommen können. Andere AutorInnen (zum Beispiel Gutjahr & Schrader, 1988) verwenden den Begriff sexueller Missbrauch an Mädchen, um die zumeist weiblichen Opfer hervorzuheben, und „an“ sagen sie zur Betonung der Tatsache, dass die Tat an den Mädchen geschieht, sie nicht eigenaktiv Männer verführen5. Wirtz (1989) betont mit ihrer Begriffswahl Seelenmord den Aspekt der Unmenschlichkeit und der Vernichtung der menschlichen Würde, indem ein Kind nicht mehr so denken und fühlen kann wie andere Kinder. Die Zerstörung der persönlichen und der sexuellen Identität werden in den Vordergrund gerückt. Die Begriffe Inzest und innerfamiliärer sexueller Missbrauch heben im weiter verstandenen Sinne die Tatsache hervor, dass sexuelle Gewalt gegen Kinder sehr oft im sozialen Nahraum durch Verwandte, Bekannte und andere Vertrauenspersonen geschieht. Für diese Arbeit werde ich zumeist den Begriff sexueller Missbrauch (von/an Kindern und Jugendlichen) verwenden und ihn synonym zu sexueller Gewalt (gegen/an Kinder/n und Jugendliche/n) und zu sexueller Ausbeutung (von Kindern und Jugendlichen) setzen, weil das in der Fachliteratur oft so gehandhabt wird. Dennoch soll man die feinen Nuancen im Hinterkopf behalten. 1.3. Klassifikation von Definitionen Amann und Wipplinger (1998a, 20-30) klassifizieren Definitionen von sexuellem Missbrauch einerseits in enge und weite, andererseits in gesellschaftliche, feministische, entwicklungs4 Für die Begriffsklärung von der so genannten „Kinderliebe“ siehe auch Kapitel 2.4.2. Das häufig in der Öffentlichkeit vertretene Bild der Verführung durch Heranwachsende („Lolita-Phänomen“) wird im Kapitel 3.1.1. angesprochen werden. 5 17 1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen psychologische und klinische Definitionen. Gestützt auf diese Autoren werden diese nicht trennscharf gegeneinander abgegrenzten Definitionsklassen im Folgenden erläutert. Sie setzen je andere Schwerpunkte und deuten damit verschiedene dahinter liegende Vorannahmen, theoretische Positionen sowie Erklärungsmodelle für sexuelle Gewalt an. Sie sind oft mit verschieden gearteten ethischen und emotionalen Haltungen verbunden. 1.3.1. Enge Definitionen Sie sind präzise formuliert und wollen sexuellen Missbrauch möglichst von anderen Handlungen abgrenzen. Sie konzentrieren sich auf Handlungen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit beim betroffenen Kind einen Schaden auslösen und sind oft empirischen Forschungsarbeiten zugrunde gelegt, da diese möglichst Nicht-Missbrauchte ausschliessen wollen. Der sexuelle Missbrauch wird in solchen Definitionen vorwiegend als direkter körperlicher Kontakt in Form von oralem, analem oder genitalem Geschlechtsverkehr zwischen TäterIn und Opfer gesehen. 1.3.2. Weite Definitionen Weite Definitionen versuchen hingegen, sexuellen Missbrauch in seinem gesamten Umfang zu erfassen, jede geschlechtliche Handlung zu integrieren, also auch obszönes Anreden, Belästigungen, Exhibitionismus, die Anleitung zur Prostitution und die Herstellung pornographischen Materials. Es sind somit auch Handlungen ohne direkten Kontakt eingeschlossen. – Hier angesiedelte Definitionen geben oft ostentativ die möglichen Missbrauchshandlungen wieder. Das Problem dabei ist, dass eine abschliessende Auflistung nicht möglich ist, dass sie also einer gewissen Willkür unterliegt. Ferner ist an solchen Definitionen auch schwierig, dass neben der eigentlichen Handlung auch die Handlungsintention der Täterschaft zentral ist. 1.3.3. Gesellschaftliche Definitionen Gesellschaftliche Definitionen haben das Machtgefälle zwischen Erwachsenen und Kindern im Fokus, Autoritäts- und Gewaltstrukturen, die der Erwachsene dem Kind gegenüber zur Verfügung hat. Es ist ein Vorteil dieser Klasse, dass der Machtmissbrauch miteinbezogen wird. Es geht um das Machtgefälle, nicht einfach um das Altersgefälle; die gesellschaftlich bedingte Beziehung zwischen Opfer und TäterIn wird thematisiert. Nur aufgrund dieser Kriterien allein lässt sich sexueller Missbrauch aber schwer erfassen. 18 1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen 1.3.4. Feministische Definitionen Feministische Definitionen betonen, dass die Täter(innen) zumeist männlich und die Opfer meistens weiblich sind. Hier wird der sexuelle Missbrauch als Ausnützung eines männlichen Macht- und Autoritätsverhältnisses gesehen, als sexualisierte Gewaltanwendung, die in den patriarchalen Strukturen ihre Wurzeln hat. Das subjektive Erleben des Opfers wird zentral, was eine objektive Erfassung des Missbrauchsgeschehens aber verunmöglicht. Insofern diese Klasse ebenfalls auf ein strukturelles Machtgefälle verweist, ist sie den gesellschaftlichen Definitionen ähnlich. Ein Nachteil ist, dass sie im Extremfall männliche Opfer und weibliche Täter ausschliesst. 1.3.5. Entwicklungspsychologische Definitionen Sie berücksichtigen besonders, dass dem Kind entwicklungsbedingt wesentliche kognitive, emotionale und psychische Fähigkeiten fehlen, um die gesamte Tragweite von sexuellen Handlungen zu erfassen und ihnen zuzustimmen. Zur informierten Zustimmung gehören auch Wissen, Freiwilligkeit (ohne Zwang) und Kompetenz, was auch das Wissen des Kindes darüber mit einschliesst, welchen Handlungen es ausgesetzt sein wird und welche Nachteile zu erwarten sind. – Nur einige Laientheorien und wenige (zumeist pädophilenfreundliche oder selber pädophile) Wissenschafter gehen davon aus, dass Kinder in der Lage sind, sexuellen Kontakten zu Erwachsenen zuzustimmen, und dass sie diese sogar wünschen und forcieren. Zusätzlich kann eine Verletzung von sozialen Tabus und Verhaltensregeln in einer Familie als Kriterium für sexuellen Missbrauch dienen. Zum Beispiel mag dem gemeinsamen Baden von Vater und kleinem Kind in einer aufgeschlossenen Familienatmosphäre eine andere Bedeutung zukommen als in einer gehemmten. – Entwicklungspsychologische Ansätze bringen also nicht nur den Entwicklungs- sondern auch einen gesellschaftlich-kulturellen Aspekt auf der Mesoebene (hier der Ebene der Familie) hinein. 1.3.6. Klinische Definitionen Eine solche Definition soll für therapeutisches Handeln klinisch brauchbar sein. Es soll erfahrbar werden, welche Symptome zu erwarten sind, damit man den sexuellen Missbrauch erkennen und behandeln kann. Die einen ForscherInnen sagen, nur Handlungen, die auch ein Trauma zur Folge hätten, seien als sexueller Missbrauch zu werten, andere hingegen sind der Auffassung, gewisse Handlungen innerhalb des sexuellen Missbrauchs führten zu traumati19 1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen schen Folgen, andere hingegen nicht. – Das Vorhandensein eines Traumas als einziges Kriterium bei der Definition von sexueller Ausbeutung zu sehen ist unbefriedigend, da der Bedeutungsumfang eines Traumas weit über den des sexuellen Missbrauchs hinausgeht. Eine klinische Definition macht nur Sinn, wenn ein Ereignis spezifische Folgen hätte, die als eindeutiger Beleg für erlebte sexuelle Gewalt zu werten wären; doch solcherlei konnte in der bisherigen Forschung nicht nachgewiesen werden. Menschliche Verhaltensweisen und Störungen sind multikausal verursacht und die Reaktionen individuell verschieden. 1.4. Mögliche Definitionskriterien für den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen Bei Definitionen von sexuellem Missbrauch kann es also um Machtgefälle zwischen den Geschlechtern einerseits und zwischen Erwachsenen und Kindern andererseits gehen. Ferner drehen sie sich um den Entwicklungsstand des Kindes und um zu erwartende Folgen. Weitere wesentliche Kriterien finden sich in der Definition vom Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit (1979, 15; zit. nach Besten, 1995, 14): „ Sexueller Missbrauch ist jeder nicht zufällige bewusst oder unbewusste nicht zwangsläufig physisch, aber immer auch psychisch gewaltsame, immer nur der Befriedigung der Bedürfnisse von Erwachsenen dienende und durch Ausnutzung von Macht erwirkte psychische oder physische Übergriff auf die sexuelle Sphäre von Kindern, der häufiger in Familien oder/und Institutionen als durch Fremde geschieht, meistens keine Einzeltat ist und zu physischen und vor allem psychischen Verletzungen, die oft das ganze weitere Leben negativ beeinflussen, führt, und der das Wohl und die Rechte eines Kindes beeinträchtigt und/oder bedroht, und von den Kindern selbst am ehesten als Missbrauch erkannt werden kann.“ Aus dieser exemplarischen, sehr umfassenden Definition wird ersichtlich, dass das Alter, die Altersdifferenz, der Bekanntheitsgrad, die Art, die Intensität, die Häufigkeit und die Folgen der Handlungen, ferner allfällige physische Gewaltanwendung, die subjektive Einschätzung des Opfers (sich missbraucht Fühlen, kein wissentliches Einverständnis Geben) und die Absicht der Täterschaft (Bedürfnisbefriedigung des/der Mächtigeren, Missachtung des kindlichen Willens) Definitionskriterien für sexuellen Missbrauch sein können. Koch und Kruck (2000, 3-5) fügen diesen noch den Machtmissbrauch, den Druck zur Geheimhaltung und kulturelle Hintergründe der Tat hinzu. Besten (1995, 18) verweist auch auf die Relevanz verschiedener familiärer Regeln und Familienklimas, deren Spannweite erschweren, eine 20 1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen Grenze zwischen förderlicher, zuwendungsorientierter Zärtlichkeit und ausnutzendem Kontakt zu setzen. (siehe Tabelle 1 für eine Kriterienübersicht) Nicht alle Kriterien sind gleich klar oder einfach in eine Definition zu integrieren. Amann und Wipplinger (1998a, 20) beurteilen die Brauchbarkeit von Kriterien aufgrund ihrer Operationalisierbarkeit. Bei oben genannten gelingt diese nur beim Alter, der Altersdifferenz, dem Bekanntheitsgrad, der Art und Intensität sowie der Dauer der Handlungen und allenfalls noch bei der körperlichen Gewaltanwendung. Für die empirische Untersuchung zur Einschätzung der Anzahl sexueller Missbrauchsfälle zum Beispiel ist es angemessen, eine so hohe Messlatte zu setzen. Doch für die Arbeit mit den einzelnen Betroffenen oder für die Primärprävention erscheint mir die Reduktion auf diese wenigen objektiven Kriterien zu streng. Die Vorbeugung sollte möglichst früh ansetzen. Doch selbst bei diesen starken Kriterien herrscht keine Einigkeit unter den ForscherInnen: das Alterskriterium für das Opfer schwankt in Amann und Wipplingers (ebd., 22) Studienreview zwischen 14 und 18 Jahren, und viele Untersuchungen fordern dort eine Altersdifferenz von mindestens fünf Jahren, andere eine von drei. Sie soll die Asymmetrie zwischen Erwachsenem und Kind objektiv festlegbar machen. Damit riskiere man aber viele Fälle von sexuellem Missbrauch insbesondere durch Gleichaltrige nicht einzubeziehen, die durch Druck, Zwang oder subtilere Methoden physischer wie psychischer Art (zum Beispiel Lohn versprechen) gekennzeichnet seien. Auch bei den „weicheren“ Kriterien gibt es Einiges zu bedenken: Viele WissenschafterInnen gehen davon aus, dass zwischen Kindern und Erwachsenen ein strukturelles Machtgefälle vorliegt, da Kinder rechtlich den Erwachsenen unterstellt sind, von deren Liebe und deren sozialen Fürsorge abhängig sind, und aufgrund ihrer Entwicklungsstufe nicht den gleichen Informationsstand haben. Deshalb sei ein sexueller Kontakt zwischen zwei ungleichberechtigten PartnerInnen immer als sexueller Missbrauch zu werten. (Bange, 1995b, 32) – Das bedeutet, dass er unabhängig vom Willen des Kindes, von der Intensität der sexuellen Handlung und davon, ob Gewalt angewendet wurde oder nicht, Missbrauch wäre. Laut Bange (1992, 53) kann es durchaus auch eine Bewältigungsstrategie des Opfers sein, die Missbrauchssituation so umzuinterpretieren, als hätte es selbst Einfluss auf die Situation gehabt, als hätte es die Handlung auch gewollt. Beim Kriterium der Bedürfnisbefriedigung der Täterschaft gilt es zu beachten, dass es nicht nur um sexuelle Bedürfnisse geht, sondern auch um narzisstische, die sich auf Macht und Anerkennung erstrecken, und ebenso um Bedürfnisse nach Nähe und Körperkontakt (Amann 21 1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen & Wipplinger, 1998a, 24-26). Im Sinne der gesellschaftlichen Definition ist für diese Autoren klar, dass es keine offensichtliche körperliche Gewalt braucht, da der/die TäterIn immer seine/ihre Autorität oder Macht einbringt. Bei der Art der Handlungen wird kontrovers diskutiert, ob auch sexuelle Handlungen ohne Körperkontakt (zum Beispiel Exhibitionismus) zu sexuellem Missbrauch zählen sollen. Übereinstimmung herrscht bei den AutorInnen, dass alle sexuellen Handlungen, die durch Drohungen und körperliche Gewalt erzwungen werden, sexuellen Missbrauch darstellen (Bange, 1992, 56). Ferner gilt auch Einvernehmen darin, dass es eindeutig Missbrauch ist, wenn ein Erwachsener gegen den Willen des Kindes eine sexuelle Handlung vornimmt (Bange, 1995b, 32). Aber hier taucht wie bereits erwähnt die Frage auf, ob ein Kind aufgrund seiner Entwicklung in der Lage ist, eine solche Handlung in ihren Folgen und ihrer Tragweite zu beurteilen, und ihr folglich bewusst zuzustimmen oder seinen Willen kundzutun. Eine visuelle Darstellung der hier diskutierten Kriterien liefert folgende Tabelle: Tabelle 1: Übersicht über „objektive“ und „weiche“ Definitionskriterien: Operationalisierbare, „objektive“ Definitionskriterien: Alter Altersdifferenz zwischen Opfer und TäterIn „Weiche“ Definitionskriterien strukturelles Machtgefälle zwischen Geschlechtern strukturelles Machtgefälle zwischen erwachsener Person und Kind (geistig, rechtlich, sozial; entwicklungsbedingter Informations- und Verstehensunterschied,…) Dauer der sexuellen Handlungen Art und Intensität der sexuellen Handlungen Bekanntheitsgrad zwischen Täterschaft und Opfer Eventuell physische Gewaltanwendung zu erwartende Folgen der Handlungen Subjektive Einschätzung des Opfers (zum Beispiel gegen seinen Willen, sich missbraucht fühlen, kein wissentliches Einverständnis geben (können)) Absicht der Täterschaft (zum Beispiel vielseitige Bedürfnisbefriedigung) Machtmissbrauch durch Täterschaft Druck zur Geheimhaltung Kulturelle Hintergründe der Tat familiäre Regeln, Familienklima, -normen psychische und emotionale Gewaltanwendung Im Folgenden werden diese Kriterien in ausgewählte Missbrauchsdefinitionen eingebettet. Anschliessend möchte ich eine eigene, für diese Arbeit angemessene, umschreibende Definition konstruieren, die bisher Diskutiertes berücksichtigt. 22 1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen 1.5. Definitionen und Erscheinungsformen von sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen 1.5.1. Definitionen zum sexuellen Kindesmissbrauch aus der Fachliteratur Eine mögliche Definition des sexuellen Missbrauchs wurde bereits im Zusammenhang mit den Definitionskriterien vorgestellt6. Jene Begriffsbeschreibung vom Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit geht mehr auf die Umstände, Ursachen und Folgen ein als auf die Art sexueller Handlungen oder die Altersdifferenz zwischen TäterIn und Opfer. In der ostentativen, recht weiten Definition von Carlson (1994, 561; zit. nach Amann & Wipplinger, 1998a, 23) kommen auch letztere Aspekte zum Tragen. Er versteht unter sexuellem Missbrauch „sexuellen Kontakt zwischen einem Kind (gewöhnlich definiert als unter 18 Jahren) und einem Erwachsenen oder einer Person, die zumindest fünf Jahre älter ist als das Opfer, zum Zweck der sexuellen Befriedigung des Täters. Der Kontakt schliesst ein: Vergewaltigung, Geschlechtsverkehr oder Geschlechtskontakt, Oral- oder Oral-Anal-Kontakt, Streicheln, erzwungene Berührungen des erwachsenen Körpers, Konfrontation mit oder erzwungene Betrachtung von sexuellen Handlungen ob in der Realität, auf Fotos oder im Film oder die Verwendung von Kindern zur Herstellung von pornographischem Material“. Ein solches Begriffsverständnis hat den Vorteil, dass Missbrauchshandlungen recht präzise umschrieben werden. Allerdings drohen durch die vorgegebene Altersdifferenz und die nur scheinbar abschliessende Aufzählung von möglichen sexuellen Handlungen unter Umständen gewisse Übergriffe übergangen zu werden. Die sexuelle Befriedigung der Täterschaft als Motivation ins Zentrum zu rücken erscheint mir unzureichend, da es laut Amann und Wipplinger (1998a, 23) auch um Bedürfnisse nach Macht, Anerkennung und Nähe gehen kann. – Mir erscheint das Alter des Opfers mit 18 Jahren vergleichsweise hoch angesetzt. Es ist zu überlegen, ob zum Beispiel eine Liebesbeziehung mit Geschlechtsverkehr zwischen einem 24-jährigen Mann und einer geistig und emotional weit entwickelten Jugendlichen von gut 17 Jahren in jedem Fall als Missbrauch oder unter Umständen auch als gleichberechtigte Beziehung zu sehen ist. Als letzte Fremddefinition soll jene von Engfer (1986, 622) zitiert werden: „Unter sexuellem Missbrauch versteht man die Beteiligung noch nicht ausgereifter Kinder und Jugendlicher an sexuellen Aktivitäten, denen sie nicht verantwortlich zustimmen können, weil sie deren Tragweite noch nicht erfassen. Dabei benutzen bekannte oder verwandte (zumeist männliche) Erwachsene Kinder zur eigenen sexuellen Stimulation und missbrauchen das vorhandene Macht- und Kompetenzgefälle. Sexueller Missbrauch umfasst alle möglichen vaginalen, oralen und analen Praktiken, anzügliche Bemerkungen, Berührungen, Exhibitionismus, Missbrauch von Kindern zur Herstellung pornographischen Materials, auch die Anleitung zur Prostitution.“ 6 siehe Kapitel 1.4. 23 1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen Das Spezielle an dieser ostentativen Begriffsklärung ist, dass sie als TäterInnen nur Bekannte oder Verwandte ins Spiel bringt, nicht aber den Missbrauch durch Fremde. Damit will Engfer wohl betonen, dass die Übergriffe mehrheitlich durch bekannte TäterInnen erfolgen. Mir ist an der Nennung dieser Definition insofern gelegen, als hier der unzureichende Entwicklungsstand des Kindes und das Machtgefälle zwischen TäterIn und Opfer nochmals aufgegriffen werden. Diese weite Definition hat damit einen entwicklungspsychologischen Hintergrund, weist aber auch feministische Elemente auf durch ihr Verweisen auf die zumeist männliche Täterschaft und die Machtkomponente. 1.5.2. Meine Arbeitsdefinition und deren Erläuterung Der Begriff des sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen soll für diese Arbeit sowohl gesellschaftliche, feministische wie auch entwicklungspsychologische Aspekte berücksichtigen. Anstelle einer Definition im engeren Sinne möchte ich in einer handlungsleitenden Arbeitsdefinition festhalten, was mir für die vorliegende Arbeit als eine nützliche Beschreibung von Missbrauchsszenarien (Erscheinungsformen und Konstellationen) erscheint; sie ist ein Konstrukt, in dem ein Problemverhalten auf eine ostentative Weise abgesteckt wird. Diese Arbeitsdefinition soll dem Zweck der in dieser Arbeit verfolgten schulischen Primärprävention mit Kindern und Jugendlichen gerecht werden. Beim Konstruktionsprozess werde ich bausteinartig die verschiedenen – oben besprochenen – Kriterien einer Definition für meine Arbeit abwägen und zusammensetzen. Bandbreite der sexuellen Missbrauchshandlungen: Für die Primärprävention scheint eine Definition dienlich, die ein möglichst breites Spektrum an potentiell schädigenden sexuellen Erscheinungsformen mit Kindern und Jugendlichen abdeckt, ohne aber liebevolle, wohlwollende Zärtlichkeit und Fürsorge in Eltern-KindBeziehungen oder aufkeimende Liebe zwischen gleichberechtigten, etwas unterschiedlich alten Jugendlichen/jungen Erwachsenen zu verunglimpfen. Das Problem soll an der Wurzel angegangen werden, daher das Gewicht auf eine breite Spannweite sexueller Handlungen. Als Ausgangslage möchte ich Engfers (1986, 622) vorherige Aufzählung von (auch indirekt) sexuellen Handlungen nehmen: “(...) alle möglichen vaginalen, oralen und analen Praktiken, anzügliche Bemerkungen, Berührungen, Exhibitionismus, Missbrauch von Kindern zur Herstellung pornographischen Materials, auch die Anleitung zur Prostitution.“ Hierzu möchte ich einige Ergänzungen anbringen: 24 1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen Auszuformulieren wären die Berührungen: das Kind kann von der Täterschaft (auch ohne Worte) veranlasst, aufgefordert oder gezwungen werden, sie im Genitalbereich zu berühren, ihr einen Zungenkuss zu geben; andererseits kann der/die TäterIn das Kind an intimen Orten anfassen oder den Kindskörper mit seinen/ihren Genitalien berühren. – Was in der Literatur vielfach umstritten ist, ist die Frage der anzüglichen oder sexistischen Bemerkungen. Selbst wenn sie nicht eindeutig als sexueller Missbrauch zu definieren sind, so sind sie doch unerwünscht, und insofern sind sie in meinem vorbeugungsbezogenen Verständnis mit zu berücksichtigen. – Eine weitere hinzuzufügende Erscheinungsform von sexuellem Missbrauch ist ferner die Masturbation, die der/die mächtigere TäterIn vor dem Kind vornimmt oder vom Kind am kindlichen Körper zu tun verlangt, weil dies ebenfalls ausbeuterisch auf die momentane Bestätigung der Täterschaft gerichtet ist. Als kritische Verhaltensweisen möchte ich die folgenden sehen, da sie laut Saller (1987, 29f; zit. nach Besten, 1995, 19) im Nachhinein häufig als Beginn sexueller Ausbeutung erkannt werden: der/die Erwachsene möchte den Kindskörper „begutachten“, beobachtet das Kind beim Duschen und Ausziehen, macht Hilfsangebote dazu, klärt es in einer unangemessen Art über Sexualität auf, die nicht dem kindlichen Interesse entspricht, sondern dem exhibitionistischen oder voyeuristischen Interesse des/der Älteren. Die Grenzziehung zwischen notwendigem und förderlichem zärtlichem Kontakt und Missbrauch ist Besten (1995, 18) zufolge schwierig, da das Familienklima, die Regeln in der Familie und die Absichten der Personen dabei eine wesentliche Bedeutung spielen. – Ebenso ein Faktor ist der kulturelle Hintergrund: was in der einen Kultur als klar missbräuchlich angeschaut wird, kann in einer andern natürlicherweise und traditionsgemäss auftreten. Die vorliegenden Ausführungen beziehen sich insofern auf westeuropäische Länder und Menschen mit einem ähnlichen kulturellen Hintergrund wie die Schweiz. Kommerzielle Ausbeutung (Anleitung zu Prostitution und Produktion pornographischer Aufnahmen): ich möchte diese Form der Ausbeutung klar auch dem sexuellen Missbrauch zuordnen. Allerdings ist anzunehmen, dass hier teils andere Mechanismen spielen, da es um ZwischenhändlerInnen, um materiellen Gewinn und um Armut geht, um zuweilen im grossen Stil organisierte kriminelle Organisationen, die mit enormer Brutalität vorgehen. Die im Primärpräventionsteil beschriebene Stärkung von Kindern kann hier wohl wenig ausrichten. Die Arbeit mit Kindern wird sich deshalb eher auf die andern erwähnten Missbrauchshandlungen beziehen. 25 1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen Altersdifferenz: Im Kontext der Primärprävention scheint mir die Altersdifferenz zwischen Täterschaft und Opfer an sich nicht zentral: bei Kindern und Jugendlichen sollen generell schlechte Gefühle, Schmerzen und allfällige Schädigungen aufgrund sexueller Nähe verhindert werden. Dabei kann der/die TäterIn (sogar bei jugendlichen Opfern) auch jugendlich sein, sich aber zum Beispiel aufgrund seiner/ihrer Körperkraft, seiner/ihrer Grösse oder seines/ihres Wissensvorsprungs mächtiger fühlen und das bewusst einsetzen. Wichtig erscheint mir also ein materielles, emotionales, geistiges, soziales oder/und körperliches Machtgefälle oder Abhängigkeitsverhältnis (sei es zum Beispiel zwischen Mann und Frau, erwachsener Person und Kind oder behinderter und nicht-behinderter Person), innerhalb dessen die Täterschaft das Opfer zu ihrer eigenen Bedürfnisbefriedigung (Anerkennung, Nähe, Macht, sexuelle Lust) benutzt, und das Opfer den Handlungen nicht willentlich zustimmen beziehungsweise die Lage in ihrer Tragweite nicht beurteilen kann. Bei gleichberechtigten minderjährigen Gleichaltrigen ist die Grenze zwischen kindlicher Neugierde und Missbrauch allerdings schwierig zu ziehen. Deswegen betont Bange (1992, 55), dass bei ihnen die Kriterien wider Willen beziehungsweise physische oder/und psychische Gewaltanwendung besonderes Gewicht bekommen. In dieser Arbeit werde ich vorwiegend die erwachsene Täterschaft ansprechen, obwohl es auch jugendliche TäterInnen gibt, und offenbar etliche Männer als Jugendliche mit ihren ersten Übergriffen begonnen haben (siehe Deegener, 1986). Ich erlaube mir diese Vereinfachung, um das Machtgefälle gegenüber dem Opfer hervorzuheben. Es erscheint mir auch insofern legitim, als TäterInnen offenbar mehrheitlich erwachsen sind und über sie viel mehr bekannt ist als über jugendliche SexualtäterInnen, zu denen Forschung noch recht spärlich ist. Laut Meyer-Deters (2003, 96) ist diese mangelnde Aufmerksamkeit gegenüber der jugendlichen Täterschaft unter anderem auf die Opferorientierung der Hilfe für Heranwachsende zurückzuführen. Dass Täter- und Opferarbeit je eine Seite der Sexualgewalt seien, setze sich fachlich und politisch erst langsam durch. – Auch die Vorbeugungsliteratur orientiert sich entsprechend zumeist an erwachsenen Missbrauchern. Ich nehme an, dass wesentliche Inhalte der Lizentiatsarbeit (Missbrauchsstrategien, Inhalte der Primärprävention, etc.) auch bei der jugendlichen Täterschaft Anwendung finden könnten, wenn auch nicht in einem 1:1Verhältnis. So hält zum Beispiel Meyer-Deters (ebd., 82-96) fest, dass eine Beratungsstelle für jugendliche Missbraucher ähnliche Missbrauchsformen, Annäherungsstrategien ans Opfer, Opferauswahl und Beweggründe für die Tat antraf. 26 1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen Altersgrenze der Opfer (respektive AdressatInnen der schulischen Primärprävention): Die in dieser Arbeit behandelte schulische Primärprävention bewegt sich innerhalb der obligatorischen Schulzeit (Primar- und Sekundarstufe I), richtet sich also an Kinder und Jugendliche bis rund 16 Jahre. Der Entwicklungsstand innerhalb einer Alterskategorie kann stark variieren. Insofern erachte ich es als kritisch, eine Altersgrenze für kindliche und jugendliche Opfer festzulegen. Das subjektive Empfinden (zum Beispiel von Ekel, Angst, Scham, Ohnmacht, Nicht-Wollen) während einer sexuellen Handlung und deren (Nicht-)Verstehen empfinde ich deshalb als wichtige ergänzende Kriterien zum rein physischen Alter, sowohl beim Opfer wie bei der Täterschaft. Bekanntheitsgrad und Geschlecht der Täterschaft: Ich möchte sowohl bekannte wie fremde TäterInnen in meine Arbeitsdefinition aufnehmen, und bei Opfern wie TäterInnen sowohl männliche als auch weibliche Personen mit einbeziehen. Die weibliche Täterschaft ist noch weniger erforscht und es fragt sich, ob und inwiefern ihre Strategien von denen der Männer divergieren und ob Vorbeugungsstrategien verändert werden müssten, um Kinder gegen weibliche Übergriffe zu stärken. Die Fachliteratur zur Primärpräventionsarbeit unterscheidet inhaltlich kaum nach dem Geschlecht der Täterschaft beziehungsweise geht meistens von einer männlichen Täterschaft aus. Wo sich Kapitel dieser Arbeit spezifisch auf Bekannte oder Fremde, auf Männer oder Frauen als TäterInnen beziehen, werden sich entsprechende Hinweise dazu finden. 2. POTENTIELLE OPFER, TÄTERSCHAFT UND TÄTERSTRATEGIEN Dieses Kapitel will einerseits einen kleinen Einblick in Schätzwerte zur sexuellen Ausbeutung in westlichen Gesellschaften geben, andererseits soll diskutiert werden, ob gewisse Kinder besonders gefährdet sind, Opfer zu werden. Ebenfalls will ich als Teilantwort auf die Forschungsunterfragen a) Forschungsergebnisse dazu darstellen, wer die TäterInnen sind, was sie motiviert7 und wie sie beim Missbrauchsgeschehen vorgehen. Um diese Dynamik zu unterbrechen, ist für die (Primär-)Prävention solcherlei Wissen zentral. Ferner soll auch die Rolle von Müttern im innerfamiliären Missbrauch zur Sprache kommen, da sie zentrale Kooperationspartnerinnen für den Schutz der Kinder sind. 7 Ursachen beziehungsweise Erklärungsmodelle werden im 3. Kapitel vertieft. 27 2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien 2.1. Vermutete Häufigkeit von sexuellem Kindesmissbrauch Aufgrund der bisherigen Ausführungen liegt auf der Hand, dass mit unterschiedlichen Definitionen des Missbrauchs auch eine unterschiedliche Prävalenz einhergeht. Ferner beeinflussen auch die untersuchten Einheiten (klinische versus nicht-klinische Samples, Grösse der Stichproben) und die angewandten Untersuchungsmethoden die Angaben zur Häufigkeit. Es ist von grossen Dunkelziffern auszugehen, da es nach wie vor ein sensibles, tabuisiertes Gebiet ist. Verschiedene AutorInnen kommen denn auch zu teils recht unterschiedlichen Resultaten in ihren Studien. Für die vorliegende Arbeit sind absolute Zahlen nicht so zentral, da es wünschenswert wäre, jeglichen Missbrauch zu verhindern. Dennoch kann ein kurzer Einblick hilfreich sein, die Dimensionen des Missbrauchs in etwa zu erahnen und die Notwendigkeit des Kindesschutzes nachzuvollziehen, wenn die Zahlen auch aus genannten Gründen mit Vorsicht zu geniessen sind. Internationale Vergleichsstudien lassen vermuten, dass circa jedes vierte Mädchen und jeder zwölfte Junge sexuell missbraucht wird (Bange, 1992, 86). Ferner scheinen 60-70 Prozent der Missbrauchsfälle einmalige Übergriffe zu sein, wobei Missbrauch durch Fremde per Definition nur einmalig sein kann. Innerhalb der Familie kommt Ausbeutung offenbar wiederholt vor und zieht sich über Monate bis Jahre hin. (ebd., 32f) Schätzungsweise ein Drittel der Handlungen besteht aufgrund Banges Studienanalyse (ebd.) in oraler/analer/vaginaler Vergewaltigung, ein Drittel in genitaler Manipulation und ein Drittel in Zungenküssen/Brustberührungen. Das Durchschnittalter der Opfer betrage zehn bis elf Jahre, es seien aber Säuglinge bis circa 16-Jährige betroffen. – Ich möchte hervorheben, dass in einigen der von Bange analysierten Studien nur sexuelle Übergriffe mit direktem Körperkontakt zwischen Täterschaft und Opfer berücksichtigt wurden. Möglicherweise fallen deshalb exhibitionistische Handlungen oder die Benutzung von Kindern zur Herstellung pornographischen Materials nicht ins Gewicht. Aus der breiten Streuung des Alters kann man ausserdem schliessen, dass das Durchschnittsalter sehr wenig aussagt. Koch und Kruck (2000, 20) meinen denn auch, Verallgemeinerungen seien zu vermeiden. Kinder im Grundschulalter seien zwar am Meisten betroffen, aber der sexuelle Missbrauch ziehe sich dennoch über alle Altersgruppen hinweg. 2.2. Gibt es das „typische“ Opfer? Bange (1992, 117, 125-131) kommt zum Fazit, dass es keinen Zusammenhang zwischen Schichtzugehörigkeit und sexuellem Missbrauch gibt. Obwohl grundsätzlich jedes Kind Opfer 28 2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien werden könne, scheine hingegen ein belastetes Familienklima das Risiko von innerfamiliärem Missbrauch zu erhöhen. Denn zerbrochene Familien würden das Stresspotential der Kinder und deren Unsicherheit erhöhen, was das Bedürfnis nach Nähe fördere. Diese Anfälligkeit werde von TäterInnen bewusst ausgenutzt, um eine Vertrauensbeziehung herzustellen. Koch und Kruck (2000, 20) nennen als besonders gefährdet isolierte, extrem angepasste und unterwürfige Kinder aus strengen Familien mit wenig Bezugspersonen und FreundInnen. Auch In Abweichung zu Bange schreibt Richter-Appelt (1998, 203), dass sexueller Missbrauch nicht zufällig auf verschiedene Bevölkerungsgruppen verteilt vorkomme, auch wenn das in der Literatur ab und zu behauptet werde. Körperliche Misshandlungen kämen in unteren sozialen Schichten gehäuft vor, und da es empirisch erhärtet sei, dass sexueller Missbrauch häufig kombiniert mit seelischer und/oder körperlicher Misshandlung sowie Vernachlässigung vorkomme, sei in unteren Schichten auch mit einer höheren Anzahl sexueller Ausbeutung zu rechnen. Einig geht sie mit Bange darin, dass innerfamiliärer sexueller Missbrauch vor allem in gestörten oder problematischen Familienkonstellationen vorkomme. Darunter versteht sie zum Beispiel sozial isolierte Familien, die Abwesenheit der Eltern ohne Ersatzperson, körperlich und/oder psychisch beeinträchtigte Eltern oder Eltern mit Partnerschaftsproblemen, aber auch Eltern mit einer lieblosen und emotional distanzierten Beziehung zum Kind. Auch eine längere Abwesenheit eines Elternteils während der Kindheit oder die Anwesenheit eines Stiefvaters scheinen Risikofaktoren. (ebd.) Kinzl (1998, 142) hält vorsichtiger fest, dass bei sexuell Missbrauchten viele unterschiedliche dysfunktionale Familienstrukturen gefunden wurden, dass aber nach heutigen Erkenntnissen nicht gesagt werden könne, ob gewisse spezifische Familienstörungen das Risiko für sexuellen Missbrauch und die Gefahr lang anhaltender psychosexueller Störungen erhöhten. Gestörte Familienstrukturen würden aber sowohl inner- wie ausserfamiliären sexuellen Missbrauch begünstigen. 2.3. Statistische Schätzwerte der Zusammensetzung der Täterschaft Hartnäckig hält sich in der Öffentlichkeit auch heute noch oft das Bild des älteren, sozial isolierten, fremden und geistig kranken Kinderschänders, der sich auf Spielplätzen und einsamen Wegen herumtreibt, um hilflose Kinder zu verführen und ihnen Gewalt anzutun. Ein Festhalten an dieser Sicht würde in der Präventionsarbeit und auch in Erklärungsmodellen 29 2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien zu sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen auf Irrwege führen. Seit den 80er-Jahren ist dieses Stereotyp zumindest in der Fachliteratur am Abbröckeln. Internationale Dunkelfeldstudien zeigen, dass nur schätzungsweise ein Fünftel der Missbrauchsfälle durch Fremde erfolgt (Bange, 1992, 32-37). Tabelle 2: Bekanntheitsgrad der Täterschaft bei Mädchen respektive Jungen (in %) Geschlecht des Opfers→ Täterschaft ↓ Fremde Bekannte und Freunde Verwandte (inkl. Stiefeltern) Mädchen Jungen 15-25 45-50 25-35 35 50-55 10-20 Wie in Tabelle 2 ersichtlich, fand Bange für Mädchen eine recht grosse Betroffenheit durch das nahe soziale Umfeld (Verwandte) und bei Jungen eine grössere Gefahr des Missbrauchs durch Fremde als bei Mädchen. Bei beiden Geschlechtern ist das Risiko, durch Bekannte (zum Beispiel FreundInnen der Familie, NachbarInnen, TrainerInnen, LehrerInnen oder JugendgruppenleiterInnen) missbraucht zu werden, am Grössten, wobei laut aktuelleren Studien bei Jungen diese Tendenz stärker zutrifft (vgl. Bange, 2002, 679ff; zit. nach Elmer, 2004, 16). – Dunkelfeldstudien sind nur Schätzungen, doch zieht man sie beispielsweise der Verzeigungsquote bei der Polizei/Justiz vor. Letztere dürfte bei Übergriffen durch FremdtäterInnen im Verhältnis zum absoluten Vorkommen wohl höher sein als bei Taten durch Bekannte, bei denen sich Opfer noch schwerer tun, darüber zu reden oder gar Anzeige zu erstatten. Das Durchschnittsalter der (zumeist männlichen) Täter war in diesen von Bange (1992, 3237) analysierten Studien 30 Jahre, wobei zahlreiche noch Jugendliche waren und mit dem Missbrauch oftmals schon vor dem 16. Altersjahr begonnen hatten. Heiliger (1996, 207) betont ebenfalls, dass viele Missbraucher schon im Kindes- oder Jugendalter andere Kinder und Jugendliche – oft unentdeckt – sexuell zu missbrauchen begännen. Der Einfluss auf eine allfällige spätere „Täterkarriere“ werde unterschätzt. Trotz spärlicher Forschung zur jugendlichen Täterschaft geht man international davon aus, dass 20-25 Prozent der Vergewaltigungen und 30-40 Prozent der sexuellen Missbrauchshandlungen durch (männliche) Heranwachsende begangen werden (Deegener, 1998, 61). Ferner muss laut diesem Autor angenommen werden, dass 30-50 Prozent der erwachsenen Sexualtäter bereits im Jugendalter sexuell deviante Interessen oder Handlungen aufwiesen. Ausserdem sei bei Tätern, die sehr früh begonnen hätten, das Risiko hoher Opferzahlen gross. 30 2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien Die TäterInnen scheinen bei weiblichen Opfern zu etwa 95 Prozent männlich zu sein, bei männlichen Opfern zu etwa 85 Prozent (Marquardt-Mau, 1995, 37). Auch bei Täterinnen sind die Opfer eher weiblich (Kavemann, 1996, 253). – Es ist von einer recht hohen Dunkelziffer bei männlichen Opfern und Täterinnen auszugehen, weil von Opfern darüber noch weniger offen berichtet wird als es ohnehin bei diesem tabuisierten, mit Scham verbundenen Thema der Fall ist. Die männliche Sozialisation lässt die sexuelle Opferrolle eigentlich gar nicht zu, weshalb es vermutlich Jungen noch schwerer fällt als Mädchen, eine solche Grenzverletzung anzuerkennen oder gar zur Sprache zu bringen. 2.4. Aspekte der Täterpersönlichkeit 2.4.1. Gibt es den „typischen“ Täter?8 Täter sind selten „abartige Triebtäter“, sondern im Allgemeinen eher unauffällige Menschen, die sozial integriert sind, häufig gute Posten bekleiden und sich oft für die Allgemeinheit oder für Jugendanliegen engagieren (Koch & Kruck, 2000, 12). Es gibt offenbar keine einheitliche Täterpersönlichkeit, und die Täter können nicht als pathologische Sondergruppe begriffen werden (Heiliger, 1996, 203f). Es handle sich weder um Menschen mit spezieller sozialer Herkunft noch um psychisch oder in ihrem Sozialverhalten auffällige Menschen. Im Gegenteil verpflichteten sie sich oft ausgesprochen bürgerlichen Werten, da das den wirksamsten Schutz vor Entdeckung gewähre. Seit die Erkenntnis aufkam, dass sexuelle Gewalt vielfach im sozialen Umfeld vorkommt, wird sie irrtümlich immer wieder im Wesentlichen als Beziehungsdelikt dargestellt. Diese Sichtweise impliziert, dass das Delikt aus einer Beziehungsdynamik entsteht, an der das Opfer und der Täter gleichermassen beteiligt sind. Dabei ist es vielmehr so, dass im sozialen Nahbereich der Schutz von Frauen und Kindern am Kleinsten und der Zugriff am Einfachsten ist. Die Unterstellung einer Mitschuld oder gar Provokation führt am Ehesten zum Dulden und Schweigen der Opfer. (ebd.) Heiliger (ebd., 205f) betont, dass Versuche, für die Rückfallprävention Täterprofile zu erstellen, daran scheitern, dass es eindeutige Hinweise auf gesellschaftsstrukturelle Faktoren der Verursachung von sexueller Gewalt gebe. Ferner liessen sich solche Profile nicht verallgemeinern, da sie zumeist von der gefassten und/oder verurteilten Täterschaft abgeleitet 8 Dieses Unterkapitel bezieht sich auf Forschungen zu männlichen Tätern. 31 2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien würden. Derart gefundene Charakteristika liessen höchstens Schlussfolgerungen zu, warum jemand gefasst worden sei, nicht aber, warum jemand die Tat begangen habe. Von gefassten Tätern kommen laut Heiliger (ebd.) regelmässig stereotype Rechtfertigungen und konstruierte Lügengebäude. Indem diese Selbstentlastungs-Strategien bei Gericht oder selbst in wissenschaftlichen Arbeiten als Wahrheit reproduziert würden, würden folgende Mythen über die Tätermotive aufrechterhalten: - sexueller Notstand, da man durch Erwachsene zu wenig befriedigt werde - starker Geschlechtstrieb, der erfüllt werden wolle - Persönlichkeits- oder geistige Störungen - starke „Liebe“ zum Kind (bei Pädophilen) - Familienprobleme, berufliche Überanspannung, eigene schwierige Kindheit oder eigene Opfererfahrung - Verführung durch das Kind Solche Aussagen sollen Mitleid erregen, von der eigenen Verantwortung ablenken und Schuld andern Personen oder Umständen zuweisen. Selbst die häufig zitierte schwierige Kindheit oder eine eigene sexuelle Opfererfahrung sieht Heiliger (ebd., 206f) als Strategien zur Entlastung von Verantwortung, da die Fachliteratur dennoch den Schluss zulasse, dass die Täter relativ selten auch Opfer sexueller Gewalt waren. Es gehe wohl eher darum, den Widerspruch zwischen dem patriarchalen Männlichkeitsbild und der eigenen Selbstwahrnehmung als relativ machtlos, ängstlich und unsicher durch sexuelle Gewalt zu kompensieren. Man dürfe dabei nicht den Aspekt des massiven Gewalthandelns und des Herrschaftsbedürfnisses ignorieren. – Im Gegensatz zu Heiligers Schlussfolgerung vertreten verschiedene andere AutorInnen die Ansicht, dass die eigene Opfererfahrung (zumal von körperlicher Gewalt) bei Tätern recht häufig der Fall zu sein scheint (zum Beispiel Besten, 1995; Deegener, 1998). Das Motiv der „Liebe“ zum Kind wird vor allem von pädophilen Tätern ins Feld geführt. Denn lange nicht jeder Mann, der sich sexuell an einem Kind vergreift, muss auch pädophil sein. Täter missbrauchen Kinder meist nicht darum, weil sie sich von kindlichen Körpern und der kindlichen Sexualität besonders angezogen fühlen, sondern scheinbar zum Beispiel aus Gründen der Macht, aus einem Herrschaftsbedürfnis heraus oder aufgrund der Wahrnehmung ihrer eigenen Unzulänglichkeit. Der Untergruppe der pädophilen Sexualtäter soll deshalb ein eigenes Unterkapitel gewidmet werden. 32 2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien 2.4.2. Der „Spezialfall“ der pädophilen Täter Pädophile zeichnen sich durch (sexuelle) Neigungen zu Kindern und Jugendlichen beiderlei Geschlechts aus und verfügen über eine starke Lobby und ihre eigenen – oftmals ebenfalls pädophilen – Wissenschafter, die sehr kontroverse Diskussionen unter Fachleuten provozieren. Enders (1996, 220f) hält fest, dass für Pädophilie grundsätzlich Männer wie Frauen als TäterInnen und hetero- wie homosexuelle Kontakte infrage kämen, dass sie aber oft als Form männlicher Homosexualität dargestellt werde. Für homosexuelle Pädophilie von Männern gebe es aber einen eigenen Fachbegriff, nämlich Päderastie. Ich stiess in der Literatur auf keine Angaben, wie viele der kindesmissbrauchenden TäterInnen schätzungsweise pädophil sind. Ferner weiss man über pädophile Frauen fast nichts, deshalb, und weil sie den deutlich kleineren Teil der Pädophilen ausmachen, bezieht sich folgendes Porträt auf männliche Täter. „Rein“ Pädophile, die ihre Sexualität ausschliesslich auf Kinder ausrichten, scheinen eher selten vorzukommen. Laut dem Hochschuldozenten Lautmann (1994, 40ff, 121) taucht bei vielen Pädophilen die Neigung in Kombination mit heterosexuellen Wünschen auf, und selbst Päderasten fühlen sich offenbar nicht selten auch zu (erwachsenen) Frauen hingezogen. Päderasten schienen sich, wenn sie mit Erwachsenen vorlieb nehmen müssten, eher an Frauen als an Männern zu orientieren. Pädophile stellen sich selbst als Lehrmeister und Pädagogen dar, die Jungen durch die Sexualität die Liebe lehren, und den Mädchen helfen, durch die Liebe zur Sexualität zu kommen (Brongersma, 1991; zit. nach Enders, 1996, 223). Sie argumentieren, dass Kinder gleichberechtigte SexualpartnerInnen von Erwachsenen seien und sich frei für sexuelle Kontakte entscheiden können (Enders, 1996, 225). – Dieser Meinung stimmt in der Fachliteratur kaum jemand zu, zumal Studien zahlreiche Schädigungen entdeckt haben, die Jugendliche und Kinder im Zusammenhang mit einer solchen sexuellen „Beziehung“ oftmals davontragen. Nicht zuletzt gibt es auch sehr viele Fallbeispiele und Berichte von Opfern, die klar gegen diese Annahme sprechen. Das ist mit ein Grund, warum einige AutorInnen vermeiden, von Pädophilen zu sprechen, da diese Endung Liebe zu den Kindern suggeriert, wo es aber um Macht und Gewalt geht; so findet man in einigen Werken stattdessen den Begriff Pädosexuelle (zum Beispiel bei Limita, 2004). Sogar einige pädophile Täter gestehen ein, dass den Kindern weder der Körper noch die Erregung noch der Orgasmus des Erwachsenen viel bedeuten, und dass sie den Samenerguss sogar bisweilen als eklig erleben (Lautmann, 1994, 90). Obwohl Lautmann (ebd., 48-53) 33 2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien einräumt, dass die sexuelle Kommunikation am Anfang nur eindimensional vom Älteren aus verlaufe, und dass das Empfinden des Kindes gänzlich von dem des Erwachsenen abweiche, kommt er doch zur Ansicht, dass Pädophile Kinder immer als Subjekte (nicht als Objekte) sähen und ihre eigenen sexuellen Bedürfnisse auf die Kinderwünsche einstellten. Professor Kentler (1994, 145-151) vom Lehrstuhl Sozialpädagogik an der Universität Hannover hält zwar das Verbot sexuell-genitaler Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen in unserer heutigen Gesellschaft für angebracht, doch bestreitet er den schädigenden Effekt für verschiedene Konstellationen. Er schreibt, dass echte Pädophile hochsensibel seien gegen Schädigungen von Kindern. Sexuelle Kontakte zu Kindern könnten gewaltfrei gestaltet werden, wenn sich der Erwachsene kindlich verhalte. Dies könne er nur, wenn er längere Zeit keinen erwachsenen Partner zur Verfügung gehabt habe oder gar nicht erst in der Lage sei, einem Erwachsenen gerecht zu werden, und deshalb auf Kinder als Sexualobjekte angewiesen sei. Kentler (ebd.) gesteht zwar ein, dass Kinder die sexuelle Erregtheit und bestimmte sexualisierende Äusserungen des Erwachsenen und die allmähliche Erotisierung einer Situation nicht erkennen würden, hält aber Pädophilie im Allgemeinen für eine so differenziert ausgeformte Perversion, dass das Kind bei erfahrenen Pädophilen, die ihre Neigung zu Kindern integriert und bejaht hätten, vor Schädigung bewahrt sei. Gewalttaten seien echten Pädophilen fremd, es sei meist nur strukturelle Gewalt im Spiel und Schädigungen entstünden allenfalls sekundär, weil Kinder solche Beziehungen verbergen müssten und allfällige Verhöre sie schädigten. In Fällen von Päderastie9 handelt es sich seiner Meinung nach nur in Einzelfällen um sexuellen Missbrauch, nämlich bei päderastischen „Anfängern“, die Jungen mit Geschenken verwöhnen oder die Notlage des Jungen ausnutzen; doch selbst diese Gewalttaten führten nicht zwingend zu einer Persönlichkeitsschädigung. Wenn sie in einer sozial verpflichtenden Beziehung stattfänden, und die Umwelt sie nicht diskriminiere, wirkten sie sich sogar positiv aus. Bei Beziehungen zu Jugendlichen fände meistens nicht einmal strukturelle Gewalt statt, um sexuelle Kontakte herzustellen. Viele Jungen würden eine homosexuelle Übergangsphase durchmachen und das Probieren, auch mit älteren Männern, geniessen. Ab dem 12.-14. Lebensjahr könne von einverständlichen sexuellen Beziehungen zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden gesprochen werden. – Seine These ist, dass nicht die erotische oder sexuelle Beziehung zu einem Erwachsenen das Kind schädige, sondern die Überforderung 9 Darunter versteht Kentler auf männliche Jugendliche festgelegte Männer (in seltenen Fällen auch Frauen); als echt Pädophile bezeichnet er auf vorpubertäre Kinder fixierte Männer und Frauen, die ihre sexuelle Festlegung akzeptieren und leben. 34 2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien durch die Bindungsansprüche, das Nicht-Loslassen-Wollen, die Wut und Frustration des Erwachsenen über die Ablösung des Kinds. (ebd.) Wenn man die entwicklungspsychologischen Erkenntnisse über die kindliche Sexualität berücksichtigt10, und sich die zahlreichen Forschungsresultate zu Missbrauchsfolgen sowie die praktische Erfahrung in der Opferarbeit vor Augen hält, wird man zum Schluss kommen, dass diese pädophilenfreundliche Ansicht Kindern und ihrer Sexualität nicht gerecht werden kann, obwohl ihnen eine eigene Sexualität zugestanden werden kann; allerdings scheint sie sich grundlegend von derjenigen Erwachsener zu unterscheiden. Gerade langfristige sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern erhöhen offenbar das Risiko tief greifender schädigender Folgen11. Je mehr der Täter eine Vaterfigur, ein Vertrauter des Kindes ist, umso tiefer wird der Vertrauensbruch vom Opfer erlebt, selbst wenn der Übergriff ohne körperliche Gewalt stattfand. Die Vorgehensweise der Missbrauchenden kommt bei pädophilen Tätern besonders zur Geltung, da sie sich sehr geschickt in kindliche Lebenszusammenhänge hineinschleusen können und den Vertrauensaufbau sukzessive angehen, bevor sie dann mit dem eigentlichen Missbrauch beginnen. Da die Strategien Pädophiler mit denen anderer Täter vergleichbar scheinen, sollen sie zusammen im Kapitel 2.5.1. abgehandelt werden. 2.4.3. Frauen als Täterinnen Der Diskurs über weibliche Missbrauchende findet sich vor allem in der deutschsprachigen Fachliteratur oder in der Presse selten. Sie kommen eher als Mittäterinnen zur Sprache, also zum Beispiel als Mütter, die stillschweigend den Missbrauch ihrer Töchter durch ihre Männer dulden, miterleben oder bewusst die Augen davor verschliessen. Die Gründe für das zögerliche Diskutieren der weiblichen Täterschaft sieht Kavemann (1996, 247) darin, dass vor allem Feministinnen sexuelle Gewalt primär als eine männliche Tat auffassen, und dass sie sich durch solche Diskussionen in ihrer feministischen Arbeit und ihrer Patriarchatskritik, die im engeren Sinne verstanden eine Kritik an der Frauenunterdrückung ist, angegriffen fühlen. – Es muss aber klar sein, dass in der Frage des Kindesmissbrauchs die schwächsten Glieder der Gesellschaft, nämlich die Kinder selbst, des Schutzes bedürfen, und man deshalb auch nicht aus eigenen Interessen Tatsachen verschleiern und Diskurse verhindern darf. 10 11 siehe Kapitel 1.3.5. siehe auch viertes Kapitel 35 2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien Eine grosse Mehrheit der kindesmissbrauchenden Täter sind Männer, schätzungsweise 90 Prozent. Das hat aber nichts damit zu tun, dass Frauen einen friedlicheren oder moralisch höher stehenden Charakter hätten, sondern das verweist auf die Macht- und Gewaltstrukturen in unserer Gesellschaft. Die weibliche respektive männliche Sozialisation ermöglicht unterschiedliche Zugänge zu Aggressionen und Gewalt: die Sexualisierung von Gewalt bietet sich vor allem für Männer an, um ihre Männlichkeit zu etablieren, Schwächen und Kränkungen zu kompensieren. Für Frauen liegt in der sexualisierten Gewalt nicht die Möglichkeit, sich ihrer Weiblichkeit zu versichern, im Gegenteil. Die vorhandenen Sexualitäts- und Geschlechterrollenkonzepte bei Frauen verhindern grösstenteils, dass Frauen ihre Gewalttätigkeit in sexueller Form ausleben. (ebd., 248) Kavemann (ebd., 249f) verweist auf ein breiteres Verständnis der Patriarchatskritik: man soll berücksichtigen, dass jede Person gleichzeitig Mitglied verschiedener sozialer Gruppen ist. Eine Frau kann gleichzeitig auch Erwachsene und Weisse sein. So ist sie zwar im Verhältnis zum Mann in einer schwächeren Position, gegenüber Farbigen oder Kindern aber in der stärkeren. Insofern sind auch Frauen an der Reproduktion der Herrschaftsverhältnisse mitbeteiligt, können Opfer und zugleich Täterin werden. Die Frauen sind in die patriarchale Logik eingebunden. Feministische Arbeit erfordert ein kritisches Verständnis vom aktiven Opfer. Ein Kind ist zum Beispiel in einer Gewaltsituation zwar gezwungenermassen „aktiv“, aber das bedeutet nicht auch, dass es mitschuldig ist oder gar die Gewalt initiiert hat. Die Öffentlichkeit sieht Frauen zumeist nur als Opfer, wenn sie nur Opfer sind. Der Opferstatus einer Person bestimmt sich aber allein dadurch, dass sie Opfer von Gewalt geworden ist, unabhängig vom Verhalten vor, während oder nach der Tat. Kavemann schliesst aus ihren Überlegungen, dass feministische Parteilichkeit beide Seiten mit einschliessen muss: Frauen, die Opfer und/oder Täterin werden. Würde offener über den Missbrauch durch Frauen und über missbrauchte Jungen diskutiert, würden vermutlich auch die entsprechenden Quoten zunehmen, wenn auch in Fachkreisen nicht angenommen wird, dass sich zwischen den Geschlechtern auch nur annähernd die Waage halten würde. Bei pädophilenfreundlichen Autoren wie Kentler (1994, 152) findet man aber zuweilen die Behauptung, beim sexuellen Missbrauch von Jungen seien vorwiegend die Mütter die TäterInnen. – Was die Palette an Missbrauchshandlungen betrifft, zeigt die – bisher noch zu wenig systematische – Forschung laut Kavemann (1996, 254f) bei Täterinnen ein ähnlich breites Spektrum. Insofern erweise sich die Vermutung, dass Frauen in der alltäglichen Kinderpflege Übergriffe gut kaschieren könnten, als fragwürdig. Massive Über36 2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien griffe liessen sich nicht so ohne weiteres verstecken. Ausserdem seien auch männliche Täter sehr bewandert darin, Taten zu verbergen; auch sie würden selten in der Öffentlichkeit missbrauchen. Aufgrund der spärlichen Forschung zur weiblichen Täterschaft lässt sich im Vergleich zu männlichen Missbrauchern Folgendes vermuten: viele weibliche Täter führen den Missbrauch mit einem andern Täter aus, oft assistieren sie oder werden vom Partner dazu überredet oder gezwungen, was vielfach ein Resultat ihrer Abhängigkeit und ihres niedrigen Selbstwertes ist (Mathews, 1989; zit. nach Jennings, 1995, 310-313). Zweitens wenden sie dabei vermutlich weniger körperliche Gewalt an als Männer, sondern setzen vermehrt ihre Überredungskünste ein (Jennings, 1995, 310-313). Drittens betont Jennings, dass Frauen ihre Opfer häufiger gut kennen würden, weil sie aus Erziehungsgründen einen einfacheren Zugang zu den Kindern hätten. Ferner scheinen Frauen ihre Opfer weniger lang und seltener zu missbrauchen, sie haben offenbar innerhalb ihrer Täterinnenkarriere weniger viele Opfer und verüben weniger oft als Männer noch in hohem Alter Übergriffe (Wolfe, 1985; zit. nach Jennings, 1995, 310313). Die Enthemmung durch Drogen-, Medikamenten- und Alkoholmissbrauch sowie psychische Störungen scheint bei missbrauchenden Frauen ein weiterer wichtiger Faktor zu sein, wobei die Frage der geistigen Beeinträchtigung in der Literatur äusserst kontrovers diskutiert wird (Jennings, 1995, 310-313). Zusätzlich scheinen Kindesmissbraucherinnen ihrerseits in ihren aktuellen Beziehungen oft selber Opfer zu sein (Kavemann, 1996, 255f). – Diese Tatsachen entbinden Frauen aber keinesfalls von der Verantwortung, wenn sie auch teils ihre Motive erklären können. Die Verwechslung von sexueller Gewalt und Zärtlichkeit ist bei beiden Geschlechtern unzulässig. Man muss die gleichen Definitionen und Bewertungsmassstäbe ansetzen. Bei beiden handelt es sich um Machtmissbrauch, und Frauen wie Männer müssen ihr Tun innerhalb der vorhandenen Machtverhältnisse verantworten. (ebd.) 2.4.4. Tatort soziale und (heil)pädagogische Einrichtungen Im Zusammenhang mit der Diskussion zu pädophilen Tätern kam bereits zum Ausdruck, dass sich (potentielle) TäterInnen nicht selten in beruflichen oder ehrenamtlichen Positionen begeben, in denen sie leichten Kontakt zu potentiellen Opfern aufnehmen können. Das gilt für Freizeitorganisationen (Sportvereine, Jugendtreffs, Jugendvereinigungen, kirchliche Vereine, etc.), Behindertenstätten, verschiedene Heime ebenso wie für Schulen. Die Schule mit ihren Freizeit-, Lager- und Sportaktivitäten, Nachhilfe- und Lerngruppensettings ermöglicht das 37 2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien permanente Zusammensein mit Kindern, und im schulischen Umfeld lassen sich das Vertrauen und die Abhängigkeit der Kinder und Jugendliche einfach herstellen. Da ich in meiner Lizentiatsarbeit die Primärprävention zum Thema mache, wie sie von der Schule zusammen mit der Sozialen Arbeit am Ort Schule praktiziert werden kann, kommt dem Spezialfall des Missbrauchs von SchülerInnen durch LehrerInnen und ErzieherInnen eine besondere Bedeutung zu. Soll an einer Schule Sensibilisierungsarbeit zu sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen geleistet werden, ist es von eminenter Bedeutung, ob man nur über eine aussenstehende Täterschaft oder auch über schulinterne Bedrohungen spricht. Die Betroffenheit vom Lehrkörper und die Atmosphäre in einer Klasse sind zum Beispiel gänzlich anders, wenn an einer Schule der konkrete Verdacht auf eine Unterrichtsperson fällt. Gefühle der Solidarisierung, Verunsicherung, Ungläubigkeit und Machtlosigkeit können auftauchen. Im Kontext der Vorbeugung wird dieser Situation speziell Rechnung getragen werden müssen. Maurer (2002, 12-14) kristallisiert verschiedene Risikofaktoren heraus, die sexuelle Ausbeutung in einer (sozial)pädagogischen Institution begünstigen können und in die (Primär-)Präventionsarbeit einfliessen sollten: - Rigide, autoritäre Führungsstrukturen können ein Klima von Kälte, Misstrauen, Härte und mangelndem Respekt erzeugen, wo Entscheide einseitig mit Macht von oben gefällt werden, ohne Anliegen des Teams zu beachten. - Diffuse Führungsstrukturen mit willkürlichen Entscheidungsprozessen erschweren fachliche Kontrolle. Undefinierte Abläufe und Zuständigkeiten führen zu Orientierungslosigkeit, da keiner wirklich Verantwortung übernimmt, jede/r MitarbeiterIn für sich selber Entscheidungen fällt. (siehe auch Conen, 1998, 715-720) - Umgang mit Macht und Gewalt wird nicht reflektiert, es herrschen stereotype Geschlechterrollen und kulturelle Vorurteile vor. Achtung, Respekt und gewaltloser Umgang werden nicht gefördert. - Mangelnde Offenheit und Transparenz führen dazu, dass Konflikte nicht ausgehandelt und Tabuthemen wie Gewalt, Sexualität oder Macht vermieden werden; die Information gegen innen und aussen ist mangelhaft und die Institution grenzt sich stark gegen aussen ab. - Kinder und Jugendliche in sozialpädagogischen Institutionen sind überdurchschnittlich häufig bereits vor ihrem Eintritt Missbrauchsopfer geworden und fordern durch sexualisiertes Verhalten ihre ErzieherInnen heraus. Die Leitung sieht keine Supervi38 2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien sion vor, um unter kollegialem Rückhalt diese Abgrenzungsthematik offen zu besprechen. - Kinder und Jugendliche erfahren wenig Wertschätzung, Mitsprache und Mitbestimmung. Ihre Bedürfnisse werden kaum ernst genommen und ihre Selbstbestimmung, Selbständigkeit und ihr Selbstwert kaum gefördert. Der pädagogische Alltag kann dabei durch autoritäre Erziehungshaltungen geprägt sein oder aber durch grenzenlose Beliebigkeit. - Grenzen zwischen Generationen und zwischen Beruflichem und Privatem sind verwischt, die beruflichen Erfordernisse werden zu wenig klar eingehalten. - Das Thema sexueller Ausbeutung wird gemieden und die Möglichkeit der eigenen Betroffenheit in der Institution verdrängt. Diese Aussagen von Maurer entspringen ihrer langjährigen Erfahrung in der Präventionsarbeit und ihrer Lektüre wissenschaftlicher Publikationen. Die Relevanz der institutionellen Kultur und Struktur für die Begünstigung sexueller Übergriffe – sowohl an Kindern und Jugendlichen durch Betreuende als auch unter MitarbeiterInnen oder unter den Heranwachsenden selbst – findet sich auch bei andern AutorInnen (zum Beispiel Conen, 1998). Empirische Forschung zu diesem Thema ist Mangelware, und institutionelle Vorbedingungen sexueller Gewalt innerhalb der Organisation, zum Beispiel an der Schule, müssen verstärkt systematisch untersucht werden, zumal bei Schulen teils andere strukturelle Rahmenbedingungen gegeben sind als bei zum Beispiel Heimen oder Kindestagesstätten. 2.5. Psychodynamik des sexuellen Missbrauchs Die folgenden Ausführungen beziehen sich vor allem auf inzestuöse und andere Vertrauensbeziehungen, in denen Missbrauch durch männliche erwachsene Täter vorkommt. Missbrauchshandlungen durch gänzlich fremde Personen sind viel seltener als solche durch Bekannte oder Verwandte, deshalb sollen deren Strategien nicht separat behandelt werden. Bis zu einem gewissen Ausmass lassen sich offenbar die nachstehenden Gedanken zur Missbrauchsdynamik auch auf sie anwenden. Allenfalls spezifische Vorgehensweisen von Täterinnen und jugendlichen Tätern sind noch wenig erforscht, jedoch lassen die wenigen Publikationen dazu eine ähnliche Dynamik vermuten (siehe Deegener, 1998; Kavemann, 1996)12. Indem ich in diesem Kapitel die männliche Form für die Täterschaft verwende, referiere ich auf die grössere Erforschtheit erwachsener, männlicher Täter. 12 siehe auch Kapitel 2.4.3. 39 2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien 2.5.1. Das Vorgehen der erwachsenen Täterschaft (Täterstrategien) Die Fachliteratur lässt einheitlich den Schluss zu, dass man nicht zufällig zum Täter wird, weil sich die Gelegenheit dazu gerade ergibt, sich ein Kind sexuell gefügig zu machen, sondern dass die Übergriffe meistens von langer Hand geplant sind. Die Tatsachen, dass ein Täter vielfach ein Kind nicht nur einmalig missbraucht, und es pro Täter meistens nicht bei einem Opfer bleibt, unterstreichen diese Vermutung. Ein Missbrauch wird vom Täter bewusst herbeigeführt und entwickelt sich zumeist sukzessiv aus einer bestehenden Vertrauensund/oder Abhängigkeitsbeziehung heraus. Die Missbräuche durch Fremde, die durchaus auch detailliert geplant sein können, sind da definitionsbedingt eine Ausnahme. Da die Opfer sie nicht kennen, ist auch keine Vertrauensbeziehung vorhanden. Allerdings können auch Fremde versuchen, mittels Geschenk oder Lügen beim Kind Zutrauen zu erschleichen, um es danach zu missbrauchen. Eine subtile Verwicklung in emotionale Abhängigkeit und das Suggerieren von Mitbeteiligung wird bei ihnen weniger Gewicht haben, dafür werden sie wohl vermehrt (körperliche) Gewalt, Einschüchterung und Drohungen anwenden. Die feministisch orientierte Autorin Enders (1995, 25; 1996, 225-233) beschreibt verbreitete Täterstrategien. Obwohl ihre Ausführungen auf den Missbrauch durch Pädophile in Institutionen zugeschnitten sind, lassen sich vermutlich viele der von ihr beschriebenen Vorgehensweisen auch bei nicht-pädophilen Tätern und bei ausserhalb von Institutionen missbrauchenden Tätern entdecken. Demnach suchen viele Täter bewusst Arbeitsbereiche, ehrenamtliche Tätigkeiten, die mit Kindern zu tun haben, so zum Beispiel in der ausserschulischen Jugendarbeit, in politischen Jugendverbänden, kirchlichen Gruppierungen, als Hausmeister an Grundschulen, als Trainer, Lehrer, Pfarrer, Arzt oder Therapeut. Ferner gehören die Einrichtung von Schulaufgabenhilfen, Freizeitangeboten, Babysitterdiensten oder Schlafstätten für AusreisserInnen dazu. Beliebt sind vor allem soziale Brennpunkte, wo Kinder isoliert da stehen. Täter nähern sich laut Enders (ebd.) vorzugsweise emotional vernachlässigten, Autoritäten blind gehorchenden und vaterlosen Kindern an, die für ein bisschen Liebe bereitwillig ihren Körper geben. Oft suchen sie auch Kontakt zu bereits ausgebeuteten, sehr jungen oder behinderten Kindern. Diesen fällt es besonders schwer, Grenzen zu setzen und Grenzverletzungen publik zu machen. Auch der pädophilenfreundliche Lautmann (1994, 18, 84) nennt die Sondierung der Kinder aufgrund ihrer Zugänglichkeit und ihrer Widerstandsfähigkeit als wesentliche Komponente der Opfersuche. Täter würden ihr Vorgehen in sprachlicher, zeitlicher und sachlicher Hinsicht strukturieren. – Das bedeutet also, dass ein Täter im Vorfeld beobachtet, welches Kind zu 40 2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien welcher Zeit wo ist, wie es ihm geht, wie es zu andern Kindern und Erwachsenen steht. Er passt seine Sprache dem Kind an, verwendet inhaltlich verführerische Themen für das isolierte, sich nach Liebe sehnende Kind und beobachtet dessen Reaktionen auf erste Annäherungen. Besonders bei kleinen Kindern werden die ersten Versuche „kindgerecht“ und spielerisch in den Alltag verpackt (Doktorspiele, Pflege, Rauferei, Aufklärung, Untersuchung, Hilfestellung). Man testet Kinder und ihre Reaktion aus, ob sie sich wehren, ausrufen, sich Dritten anvertrauen. Am Anfang stehen meistens verbale und nonverbale sexuelle Übergriffe, noch keine Vergewaltigungen. Zur Desensibilisierung werden oft pornographische Materialien wie Videos, Fotos oder mit pädophilem Blick illustrierte Aufklärungsbücher verwendet, um den Kindern den Eindruck des Alltäglichen zu vermitteln. Ferner bemühen sich Täter um den Anschein von Arglosigkeit, wollen nach der ersten Kontaktnahme einen guten Eindruck machen und sich tarnen, damit ihnen niemand etwas zutraut. (Enders, 1996, 228-232) – In Jugendgruppen aktive Missbraucher benutzen hingegen oft Aufnahmerituale und Gruppendruck, um ihr Ziel zu erreichen. Da sich dort nicht selten Gleichgesinnte treffen, verüben sie die Gewalttaten auch gemeinsam und geben sich gegenseitig Alibis. (ebd.) Damit es den Tätern möglich ist, sich subtil ihren Opfern anzunähern und auch längerfristig über sie verfügen zu können, müssen sie sie zum Schweigen bringen. Enders (1996, 232f) beschreibt, dass Täter in Institutionen wie auch Väter das Tun oftmals als gemeinsames Geheimnis deklarieren und eine aktive Beteiligung des Kindes suggerieren. In Institutionen würden oft mehrere Kinder in die Missbrauchshandlungen verwickelt, so dass sie sich gegenseitig als Opfer und Täter erlebten und aus Scham umso eher schwiegen. Sie fühlten sich mitschuldig, wollten keine FreundInnen verpetzen. Meistens würden die Täter drohen, sei es mit emotionaler Zurückweisung, sozialer Stigmatisierung oder mit Krankheiten von Verwandten. Viele Täter benutzten auch ihre berufliche Machtstellung, um die Kinder zum Schweigen zu bringen. Durch das passive Verhalten und das Schweigen der Umwelt, die oftmals den Täter decke oder sein Tun in Kauf nehme, werde das Schweigen des Opfers noch gesichert. Auch Besten (1995, 22f) beschreibt, dass Täter Kinder bestechen, mit Heimeinweisung oder Gewalt drohen, das kindliche Bedürfnis nach Liebe, Nähe und Zuwendung ausnutzen und falsche moralische und sexuelle Normen vorgaukeln. Aufgrund dieser in der Literatur beschriebenen Täterstrategien lässt sich ein prototypischer Aufbau einer Missbrauchsbeziehung (besonders durch bekannte und verwandte Täter) in fünf Phasen unterteilen: 41 2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien Phase 1: Motivation und Plan(ung) Missbrauchsabsicht und Planungsprozess Phase 2: Sondierung Beobachten und Sondieren von Lage und angepeilten, geeigneten Kindern Phase 3: Vertrauen(saufbau) systematisches Erzeugen und Benutzen von Vertrauen und Abhängigkeit Phase 4: Testphase (erste Übergriffe) erste Übergriffe, begleitet von Desensibilisierung, Tarnung, Ablenkung des Umfelds, Sicherstellen des Schweigens Phase 5: massive Übergriffe bei „Erfolg“ respektive positivem Aufwand-Ertrag-Verhältnis: Verstärkung und Sicherung von sexuellen Übergriffen und Geheimhaltungsstrategien Abbildung 2: Phasen des Aufbaus einer Missbrauchsbeziehung zum Kind (Täterstrategien) 2.5.2. Missbrauchsdynamik beim Opfer und kindliche Sexualität Die Mechanismen des Schweigens spielen bei Opfern in vielfältiger Art und Weise. Einerseits haben sie sicher einmal Angst, andererseits empfinden sie Scham- und Schuldgefühle. Gerade auch bei Jungen können Ohnmacht- und Schamgefühle, aber auch Aggressionsgefühle gross sein, da sie durch die zumeist männliche Täterschaft in ihrem verinnerlichten Bild von Männlichkeit verunsichert werden und Angst vor Homosexualität und Verspottung haben können. Bange (1992; 1995, 39f) hält fest, dass sie Zweifel an ihrer männlichen Identität bekommen können und den Druck verspüren, als Jungen stark sein und sich wehren zu müssen. Einige sähen den Ausweg, sich mit dem Aggressor zu identifizieren, um den Kontrollverlust einigermassen zu kompensieren und die Verletzung zu überwinden. – Häufig wer42 2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien den in Untersuchungen die Missbrauchsdynamik und die Folgen aber nicht geschlechtergetrennt erfasst. Dies mag einerseits daran liegen, dass über Jungen weniger bekannt ist und das Forschungsinteresse geringer ist, andererseits aber auch an der zu kleinen Anzahl Jungen in den Samples der bisherigen quantitativ-empirischen Studien, was aussagekräftige Vergleiche zwischen männlichen und weiblichen Opfern erschwert (siehe auch Kendall-Tackett, Meyer Williams & Finkelhor, 1998, 165). Deshalb beziehen sich die folgenden Ausführungen13 auf kindliche Opfer im Allgemeinen. Besten (1995, 22f) als feministisch engagierte Autorin formuliert die Dynamik (besonders im Bezug auf den innerfamiliären Missbrauch) so: Kinder haben Angst, sie würden nicht mehr geliebt, würden bestraft, man glaube ihnen nicht, man werde sie verantwortlich machen, die Familie werde zerbrechen oder sie verlassen. Die Kinder lernen, den Fehler bei sich zu suchen, da die Erwachsenen sowieso immer Recht haben, nie Böses tun. Man hat gelernt, den Erwachsenen nicht zu widersprechen. Der Widerstand wird deshalb schnell aufgegeben. Strategien des Widerstands beim innerfamiliären Missbrauch können sein, dass Kinder bekleidet zu Bett gehen, auf dem Heimweg trödeln, die Türe absperren, Bettnässen, fettsüchtig werden und dergleichen. (ebd., 22f, 40) Ausserdem haben die Kinder mangels Sexualaufklärung oft ein fehlendes Vokabular, um das Geschehen zu benennen. Sexualität wird nicht selten als etwas Schlechtes vorgestellt, weil zum Beispiel Eltern ihre Kinder einmal für das Berühren oder Zeigen von Genitalien in der Anwesenheit Dritter rügten, ohne sich zu erklären. Dadurch wächst die Vorstellung, Sexualität sei etwas, worüber man nicht reden darf. (ebd., 22f) Beim innerfamiliären Missbrauch vertraut sich ein Kind eher einem Aussenstehenden als seiner Mutter an, da es die Familie nicht zerstören will und Angst vor Ungläubigkeit hat. Der Täter nützt dies oft gezielt aus und zerstört das Vertrauensverhältnis zwischen Mutter und Kind. Besonders mangelndes Vertrauen und schwache gefühlsmässige Bindungen in der Familie fördern das Schweigen der Kinder. (ebd., 22-27) Von Tätern wird vielfach gesagt, die Kinder oder Jugendlichen hätten es ja gewollt oder provoziert, und sie würden die Sexualität mit ihnen sehr wohl geniessen14. Dabei stellt sich die Frage, wie geartet die Sexualität eines Kindes im Vergleich zu der eines Erwachsenen ist. Natürlich sehnt sich auch ein Kind nach Wärme, Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Besten (ebd., 43) hält fest, dass je nach Altersphase das sexuelle Interesse eines Kindes 13 14 Dasselbe gilt für das vierte Kapitel zu den Folgen von sexuellem Missbrauch. siehe auch Pädophilendiskussion in Kapitel 2.4.2. 43 2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien unterschiedlich stark und ausgeprägt ist, und dass es sich auf sich selbst oder ungefähr Gleichaltrige ausrichtet. Trotz Erregung und Genuss dominiere aber immer das Spielerische. Kinder würden keine Frustrationen kennen, liessen sich rasch ablenken, da die Wichtigkeit der Sexualität nicht so gross sei. Auch die Unerfahrenheit und die Neugierde machen es aus, dass Kinder und Jugendliche sexuell aktiv werden, spielerisch experimentieren oder den Reiz des Verbotenen ausprobieren. Dabei beschränkt sich das Erkunden meistens aufs Aussehen und Funktionieren der Genitalien. Die Fehlinterpretation Erwachsener, wenn sie solche Annäherungen als Aufforderung zur eigenen sexuellen Befriedigung verstehen, ist riesig, da ein Kind diese Interpretation aufgrund seines Entwicklungsstands nicht antizipieren kann. Selbst jugendliche Mädchen, die kokettieren und provozieren, sind sich der vollen Wirkung ihres Verhaltens nicht bewusst. Sie wollen das Frausein spielerisch ausprobieren. Nimmt ein Mann das ernst, ziehen sie sich oft zurück, zeigen ein für Männer unverständliches, ablehnendes Verhalten. Ein Mann, der hier die kindliche Sexualität ausnutzt, überreizt das Kind auf eine Art, die seiner Entwicklung nicht entspricht. Die Verantwortung liegt ganz klar beim Erwachsenen, er muss die Situation kontrollieren. (ebd., 41-44) 2.5.3. Die Rolle der Mütter von Inzestopfern Besonders beim innerfamiliären Missbrauch kommt den Müttern eine Schlüsselrolle zu. Manchmal bekommen sie von den Vorfällen nichts mit, oft aber spüren sie, dass etwas nicht stimmt oder sie wissen sogar um die Übergriffe. Besonders wenn Väter die Täter sind, wird es für die Mütter schwierig, da sie sich in einem Loyalitätskonflikt befinden. Einerseits lieben sie ihr Kind und wollen ihm nichts Schlechtes, andererseits lieben sie ihren Mann und sind in vielfältiger Weise an ihn gebunden. Beim inzestuösen Missbrauch werden existenzielle Belange der Familie angesprochen. Besten (ebd., 25-27) beschreibt, dass die Mütter einerseits Mühe haben, Hinweise ernst zu nehmen und dem Kind zu glauben, wenn es etwas andeutet oder erzählt, andererseits fühlen sie sich machtlos und hilflos. Vielfach würden Mütter die Strategie des Schweigens wählen, aus Angst vor einem Familienzerwürfnis, vor einer ungewissen Zukunft, vor einer Blossstellung gegenüber Aussenstehenden, vor einem Leben ohne ihren Mann oder gegebenenfalls vor Gewalttätigkeiten, die ihnen selber vom Partner drohten. Sie fühlten sich oft vom Partner betrogen und kämen sich vor, als ob sie als Mutter und Gattin versagt hätten. 44 2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien Ferner hätten sie auch Angst, dass ihr Kind durch eine Anzeige im polizeilichen und juristischen Verfahren zusätzlich belastet würde. Andere Mütter erdulden stillschweigend den Missbrauch oder begehen sogar selber Übergriffe, dann jeweils häufig zusammen mit ihrem Partner. Mütter mit eigenen Opfererfahrungen im Hintergrund raten dem Kind oft zum Vergessen und Verdrängen oder spielen die Vorfälle herunter. (ebd.) Ich vermute, sie versuchen dadurch, ihre eigenen schmerzhaften Erinnerungen oder aktuellen Gewalterfahrungen zu verdrängen, um sie besser überstehen zu können. Einige mögen auch denken, ihnen hätte auch niemand geholfen, oder irgendwann würde der Partner dann von selbst vom Kind ablassen. Auch wenn die Situation der Mütter nicht einfach ist, sie emotional und wirtschaftlich von ihren Männern abhängig sind, so sollte dennoch der Schutz der bedürftigen, schwachen Kinder im Zentrum stehen. Ein Augen Verschliessen vor den Tatsachen kann dem Kind sehr viel seiner Jugend und seiner Persönlichkeit rauben und es langfristig beeinträchtigen. Auch wenn Mütter selber in ihrer Kindheit Opfer wurden oder aktuell von ihren Partnern misshandelt werden, darf das kein Grund sein, Übergriffe an ihren Kindern in Kauf zu nehmen oder gar zu fördern. Sie müssen ihren Teil an Verantwortung übernehmen. Wachsame und selbstbewusste Mütter könnten durch eine klare Sympathisierung mit dem Kind vermutlich häufig den – an sich gut kaschierten – Missbrauch in einer frühen Phase erkennen und mit fachlicher Hilfe beenden. Einige Mütter stehen klar zu ihren Kindern und ziehen mit dem Täter die schmerzhaften, aber notwendigen Konsequenzen zum Schutz des Kindes. Das Abwägen zwischen dem Erhalt der Familie als einer schützenswerten Institution und der elterlichen Trennung oder dem Herausnehmen des Kindes aus der Familie gestaltet sich schwierig und kontrovers, da viele Interessen und Belange involviert sind. Ein vorschnelles Handeln scheint nicht angebracht; sensible und aufmerksame Abklärungen müssen durchgeführt werden, bevor beispielsweise vormundschaftliche Massnahmen verhängt werden. 3. HANDLUNGSORIENTIERTE ERKLÄRUNGSANSÄTZE FÜR DEN SEXUELLEN MISSBRAUCH AN KINDERN UND JUGENDLICHEN Im dritten Kapitel soll weiter auf die erste Hauptforschungsfrage eingegangen werden, indem Ursachen für die sexuelle Gewalt an Kindern diskutiert beziehungsweise handlungsleitende Erklärungsansätze dazu vorgestellt werden. Für die Primärprävention ist es von eminenter 45 3. Handlungsorientierte Erklärungsansätze für den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen Bedeutung, Annahmen über die Entstehungsbedingungen zu haben, damit man Strategien zur Vermeidung von Übergriffen entwickeln kann. – In den Kapiteln zur Klassifikation von Missbrauchsdefinitionen sowie zur Täterschaft wurden teils ursächliche Zusammenhänge bereits angesprochen; diese sollen hier vertieft werden. Es geht also um Stichworte wie (sexuelle) Sozialisation, Patriarchat, Macht(gefälle), Männlichkeit/Weiblichkeit, individuelle Problemlagen oder Rollenbilder. Um diese herum weben sich verschiedene Hypothesen, in welcher Form (männliche)15 sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder begünstigt werden könnte. 3.1 Zwischen Mythos und Erklärungsansatz Es gibt einige „Erklärungsansätze“ von sexuellem Missbrauch, denen teils mehr der Begriff „Mythos“16 entsprechen würden, da sie verschiedene Familienkonstellationen prototypisch als Ursache karikieren. Rommelspacher (1996, 17-19) beschreibt solche Ideologisierungen, die mehrheitlich auf den Vater-Tochter-Inzest zugeschnitten sind: - familientherapeutisches Bild: Die Familie ist nach aussen hin unauffällig und trägt gegen innen heftige Kämpfe aus. Der Vater ist sexuell und psychisch bedürftig, die Ehe hoch problematisch. Der Missbrauch steht als Symptom unverarbeiteter Spannungen. - Feministische Literatur: Die Familie ist gegen aussen und innen normal, zwischen den Eheleuten herrscht ein grosser Statusunterschied. Die Mutter geht in der Kindererziehung auf, das Wohlergehen der Familie ist ihr Lebensziel. Der Vater hingegen missbraucht seine Tochter, seitdem der Geschlechtsverkehr mit der Gattin selten wurde. Der Mann tut dies aus dem Verständnis heraus, dass ihm die Tochter quasi zusteht, gerade weil er sie liebt. Er gibt vor, sie so ausserdem in die Erwachsenenwelt einzuführen. - Kinderschutztradition: Die Familie ist ein Problemmilieu, wo viele Faktoren aufeinander treffen. Schlechte und unstabile Lebensverhältnisse, gewalttätiger Gatte und/oder Stiefvater, Scheidung, schlechte berufliche Position des Vaters, etc. 15 Da die grosse Mehrheit der Täter als männlich angenommen werden muss, richten sich Erklärungsansätze meistens an männliche Täter; deshalb verwende ich in diesem Kapitel die männliche Formulierung. 16 Hillmann (1994, 587) hält fest, dass der Mythos „infolge seiner gefühlsmässig-unreflektierten Verankerung in stärkerem Masse als eine intellektuelle Erkenntnis das Verhalten einer grösseren Zahl von Menschen in ähnlicher sozialer Situation koordinieren und festigen“ kann. 46 3. Handlungsorientierte Erklärungsansätze für den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen Weitere Ideologisierungen sind das traditionelle Bild des „schwarzen Manns“ (kranker, fremder Triebtäter), die Bilder des Bruders, Nachbarn, Cousins, Pfarrers oder Lehrers als Täter, oder das Stereotyp des Pädophilen oder der Sexringe/Pornographie. Solche Typologisierungen laufen immer Gefahr, oberflächlich zu sein, verallgemeinert oder auch gegeneinander ausgespielt zu werden. Rommelspacher (ebd.) macht darauf aufmerksam, dass uns diese Mythen jedoch dabei helfen können zu erkennen, dass wir nicht objektiv, allparteilich oder neutral an das Thema herangehen können; wir trügen immer bestimmte eigene theoretische Vorannahmen in uns. – Diese gilt es zu reflektieren, wenn man auf diesem Gebiet forscht oder mit Menschen intervenierend oder primärpräventiv arbeitet. Zumindest zwei dieser Mythen sind in der Fachliteratur zu wegweisenden Erklärungsmodellen (männlicher) sexueller Gewalt gegen Frauen und Kinder ausgebaut worden. Sie werden im Folgenden nach Brockhaus und Kolshorn (1998, 90-95) skizziert und kritisiert: 3.1.1. Traditionelle Erklärungsmodelle Traditionelle Erklärungsansätze sind jene, die von krankhaften Triebtätern einerseits und verführerischen „Opfern“ andererseits ausgehen. In der Öffentlichkeit finden sich solche Ansichten noch häufig. Traditionellen Erklärungen ist gemeinsam, dass sie die sexuelle Gewalttat verharmlosen, und die sexuelle Handlung als beiderseitig gewollt darstellen. Jene „Einzelfälle“, in denen es wirklich um sexuelle Gewalt gehe, seien eine krankhafte und abweichende Form von Sexualität. Die Ursachen werden primär im Bereich der Sexualität gesucht, und können in folgende Annahmen zusammengefasst werden: - Die männliche Sexualität ist biologisch bedingt aggressiver und auf Angriff gerichtet. Frauen wollen erobert werden. Sexuelle Gewalt entsteht höchstens aus Missverständnissen, da die Männer schwer wissen können, wann Frauen wirklich „nein“ meinen. - Der männliche Sexualtrieb ist stärker als der der Frau und will ohne Aufschub befriedigt werden. Wenn er mal gereizt wird, kann er nicht mehr kontrolliert werden. Frauen und Kinder reizen und provozieren oft leichtsinnig durch ihre Kleider und ihr Verhalten. Gewisse Mädchen bringen durch ihr kokettes, erotisierendes Gebaren als Quasi-Erwachsene („Lolita“-Verhalten) Männer an ihre Grenzen. Der dadurch drohende Ausbruch beim Mann kann auch Unbeteiligte treffen. - Der Mann ist sexuell frustriert, da sich die Partnerin oft dem Geschlechtsverkehr verweigert, oder da der Mann gar keine Sexualpartnerin hat. Er stillt dann sein Bedürfnis notdürftig beim Kind. 47 3. Handlungsorientierte Erklärungsansätze für den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen - Die eigentlichen Gewalttäter zeichnen sich durch psychische Probleme und Krankheiten oder soziale Auffälligkeiten wie eine schwere Kindheit, Suchtabhängigkeiten, Asozialität oder Psychopathologie aus. - Beim inzestuösen Missbrauch ist die Familienstruktur gestört, die Tat nur ein Ausdruck für andere Probleme. Jedes Familienmitglied trägt zur Symptomentstehung bei und hat auch seinen Nutzen davon. Schematisch lassen sich diese traditionellen Erklärungshypothesen wie folgt darstellen: seltene „echte“ sexuelle Gewalt: gestörte Gewalt- und Triebtäter Inzest als Symptom gestörter Familien: Mitbeteiligung und Nutzen aller eigene Opfererfahrung, schwere Kindheit Form gewalttätiger Sexualität von Individuen (individuelles Problem) sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen durch Männer biologisch bedingt starker, aggressiver Sexualtrieb Abbildung 3: kindliche Provokation und Mitbeteiligung Sexuelle Frustration durch (fehlende) Partnerin; Kind als Ersatz Traditionelles Erklärungsmodell für sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen (durch Männer) Die Kritik an diesen Entstehungshypothesen ist laut Brockhaus und Kolshorn (ebd.) zahlreich: Sie weisen Schuld zu, können aber nichts schlüssig erklären. Diese Ansätze lassen dazwischen liegende Prozesse offen, zum Beispiel wie es von der Alkoholsucht zum sexuellen Missbrauch kommt, wie es von der Motivation zur Tat kommt, warum das Gewissen des Täters versagt, warum sich Opfer nicht wehren können. Keiner dieser traditionellen Ansätze konnte wissenschaftlich untermauert werden. Empirische Fakten sind vielmehr, dass sexuelle Gewalt mehr ein Machtphänomen (sexualisierte Gewalt) als ein sexuelles Phänomen (gewalttätige Sexualität) ist. Die Sexualität dient allerdings als effektives Mittel dazu, sich mächtig zu fühlen, sich abzureagieren, Männlichkeit zu beweisen oder andere zu bestrafen und zu demütigen. Untersuchungen zeigen, dass sexueller Missbrauch meist zusätzlich zu freiwilligem Geschlechtsverkehr stattfindet, nicht nur als Ersatz für mangelnde Gelegenheiten. Und selbst bei den Tätern, 48 3. Handlungsorientierte Erklärungsansätze für den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen denen es wirklich primär um die sexuelle Befriedigung geht, stellt sich die Frage, warum sie sich gerade der Gewalt bedienen, um Sexualität zu erleben, und nicht zum Beispiel der Onanie. Macht muss also eine zentrale Kategorie der Zusammenhangsanalyse sexuellen Missbrauchs darstellen. (ebd.) Die traditionelle Sicht individualisiert das Problem. Dem widerspricht, dass sexueller Missbrauch recht verbreitet ist. Ausserdem haben viele Täterstudien gezeigt, dass Täter tendenziell nicht kranker oder triebhafter sind als andere Menschen, sondern durchaus den gesellschaftlichen Normen und dem bestehenden Männlichkeitsideal anhängen. Täter sind ebenso unauffällig wie Opfer. – In diesem Ansatz werden die Verantwortlichen entlastet, die Schuld wird den Opfern zugeschoben, und so wird die sexuell gewalttätige Kultur reproduziert. Es wird suggeriert, dass Frauen und Mädchen nicht zu Opfern werden, wenn sie sich dem konservativen Geschlechtsrollenstereotyp entsprechend als „typische“ Frau benehmen. Dabei macht sie gerade dieses Rollenverhalten anfällig für Übergriffe. (ebd.) Ferner ist laut Brockhaus und Kolshorn (ebd.) die traditionelle Sichtweise auch verkürzt, weil sie die Geschlechterdimension des Problems vernachlässige. Immerhin seien die Täter zumeist Männer, viele der Opfer Mädchen. Was hindert Frauen, ihre sexuelle Frustration in sexueller Gewalt zu kompensieren? Diese und ähnliche Fragen blieben in diesem Modell unbeantwortet. Obwohl ich der vielfältigen Kritik von Brockhaus und Kolshorn an sich zustimme, so bin ich doch der Ansicht, dass vom traditionellen Ansatz der Geschlechteraspekt nicht ausser Acht gelassen, allenfalls aber einseitig betrachtet wird. Denn die Hauptargumentation dieser Sichtweise liegt ja gerade in der Betonung angenommener (biologischer) Unterschiede zwischen den Geschlechtern bezüglich ihrer Sexualität. So seien die Männer von Natur aus trieborientierter und sexuell aggressiver, und folglich frustriert, wenn sie nicht zur sexuellen Befriedigung gelangten. Frauen hingegen würden Männer provozieren und sich sexuell rar machen, seien von Natur aus passiver. Es ist zu vermuten, dass Brockhaus und Kolshorn mit ihrer Kritik darauf abzielen festzuhalten, dass Frauen wohl ebenso häufig sexuell frustriert seien, und es folglich erklärungsbedürftig sei, dass nicht auch sie die sexuelle Aggression als Ausweg wählten. Im Sinne des traditionellen Bildes wäre ein allenfalls vorhandener sexueller Frust der Frau jedoch eher in der Qualität, nicht aber in der Quantität des Sexuallebens zu suchen, da diese Sicht Frauen als weniger triebhaft annimmt. Deshalb würde der Frau die Verhäufung ihrer sexuellen 49 3. Handlungsorientierte Erklärungsansätze für den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen Aktivitäten durch erzwungene Sexualität auch nicht zur Kompensation verhelfen. – Insofern könnte man die Argumentation dieser traditionellen Denkweise sehr wohl als geschlechtsspezifisch erachten, obgleich sie tatsächlich gewisse Unterschiede zwischen den Geschlechtern einfach unterstellt und zu wenig reflektiert. Hingegen könnte man vom traditionellen Modell zum Beispiel eine Erklärung einfordern, warum auch recht viele Jungen Opfer von männlichen heterosexuellen Missbrauchern werden, wenn es wirklich um sexuellen Frust wegen ungenügender partnerschaftlicher Sexualität und um Verführung durch „Lolitas“ ginge statt um Machtbedürfnisse und Gewalt. Und wenn sich Täter entschuldigend auf ihre eigene Opfererfahrung berufen, würde ich fragen, warum denn die meisten weiblichen Opfer nicht zu Täterinnen werden. Es ist zu vermuten, dass es eher eine Frage des Umgangs mit der Männlichkeit und des Rollendenkens ist als eine blosse Frage des eigenen Opferstatus. 3.1.2. Feministische Ursachenmodelle Die von Brockhaus und Kolshorn (ebd., 93-95) beschriebenen feministischen Modelle der 70er Jahre gehen vom „patriarchalen Normalfall“ aus, womit sie meines Erachtens andeuten, dass sexuelle Gewalt wesentlich durch patriarchale Verhältnisse bedingt sei und reproduziert würde. „Normal“ deshalb, weil in einer solcherlei gestalteten Gesellschaft mit ihren traditionellen Geschlechterrollen die männliche Bedürfnisbefriedigung ideologischen Vorrang hat und sexuelle Übergriffe gegen Frauen und Kinder diese Machtverhältnisse ausdrücken und also nicht nur durch pervertierte Individuen begangen werden. Patriarchale Gesellschaft bedeutet laut Brockhaus und Kolshorn (ebd.) Vorherrschaft der Väter, im feministisch erweiterten Sinne verstanden jene der Männer allgemein, welche strukturell in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung verankert ist und sich ideell in den traditionellen Geschlechterrollen widerspiegelt. Dabei werden Frauen als passiv, gefühlvoll, unlogisch, abhängig und schwach gesehen, Männer als aktiv, kompetent und unabhängig. Rollenstereotype und Mythen über sexuelle Gewalt sind eng miteinander verknüpft. Je stärker Männer sexistischen Vorstellungen, Mythen und der traditionellen Sichtweise anhängen, umso gewaltbereiter und gewalttätiger sind sie. Dass sexuelle Gewalt stark durch eine patriarchale Kultur bedingt ist und dadurch aufrechterhalten wird, diese These ist laut Elmer (2004, 21) theoretisch und empirisch schlüssig beziehungsweise wissenschaftlich belegt worden. Dennoch dürfe die Bedeutung individueller Faktoren und Problemlagen nicht negiert werden, obgleich auch diese in gesellschaftliche Zusammenhänge einzubetten seien. 50 3. Handlungsorientierte Erklärungsansätze für den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen Die institutionalisierte Ungleichheit der Geschlechter begünstigt aus feministischer Sicht sexuelle Übergriffe in vielschichtiger Art und Weise. Die Geschlechterhierarchie ist in allen Gesellschaftsbereichen anzutreffen und wird als sexistische Vorstellung verinnerlicht, was Selbst- und Fremdbilder, Verhalten, Überzeugungen und Wahrnehmungen prägt. Frauen sind in einer patriarchalen Gesellschaft mit weniger materiellen und ideellen Ressourcen versehen, was den Männern die Machtausübung und den Zwang zur Sexualität erleichtert. Frauen sind nach wie vor oft von Männern ökonomisch abhängig und versehen seltener Positionen gesellschaftlicher und sozialer Macht. Ausserdem wird ihre Sexualität tendenziell noch immer verdinglicht, es wird das Bild der männlichen Verfügungsgewalt vermittelt. Dieser Tauschcharakter der weiblichen Sexualität findet seine Wurzeln in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Frauen haben eher strukturell niedrige Positionen, die auch gesellschaftlich weniger Wertschätzung erfahren. Durch solche Abwertungen der „typischen“ Frauenberufe und -tätigkeiten werden die Gewaltanwendung und Dominanz der Männer gefördert. (Brockhaus & Kolshorn, 1998, 93-95) Für mich scheint das Problem in der Materialisierung der Welt zu bestehen. Geld macht Wert und Wertschöpfung aus. Die Arbeit in Haushalt und Erziehung wird typischerweise noch immer von den Frauen erledigt und erfährt in der Gesellschaft einen geringeren Stellenwert als die (bezahlte) Arbeit (der Männer), obwohl sie für die Gesellschaft ebenso konstituierend ist, da Kinder die produktive Bevölkerung der Zukunft bedeuten. Offenbar hängt die Wertschätzung einer Arbeit in unserer Gesellschaft sehr stark mit deren finanziellen Entlöhnung zusammen. Im Überblick stellt sich die feministische Argumentationsweise wie folgt dar: Patriarchale Gesellschaft mit traditionellen Mythen zu sexueller Gewalt sowie strukturellen und ideellen Geschlechterungleichheiten: o geschlechtsspezifische Arbeitsteilung o ungleiche Macht- und Ressourcenverteilung o traditionelle Geschlechterrollen o o o o o Ökonomische Abhängigkeit der Frauen Tauschcharakter weiblicher Sexualität Dominanz männlicher Bedürfnisbefriedigung sexistische Ideen, traditionelle Sichtweise sexueller Gewalt Abwertung von Frauenberufen und -tätigkeiten Sexuelle Gewalt an Frauen und Kindern als Form der Machtausübung eingebettet in Individuelle Faktoren und Problemlagen Abbildung 4: Feministische Erklärungsmuster für sexuelle Gewalt an Frauen (und Kindern) 51 3. Handlungsorientierte Erklärungsansätze für den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen Brockhaus und Kolshorn (ebd.) halten fest, dass auch der feministische Ansatz keine übergeordnete Theorie über angenommene Bedingungsfaktoren und Wirkmechanismen der sexuellen Gewalt liefert. Ferner bleibe auch hier eine Analyse der psychischen und interaktiven Prozesse aus. – Dies holen Brockhaus und Kolshorn in ihrem Drei-PerspektivenModell sexueller Gewalt nach, das aus Finkelhors Modell der vier Voraussetzungen sexueller Ausbeutung (1984) hervorging, in dem er die ursächlichen Faktoren beim Täter in vier Kategorien ordnete: seine Motivation, innere und äussere (situationale) Tathemmnisse und Überwindung des kindlichen Widerstands. Diese Vorbedingungen verknüpfte er laut Elmer (2004, 21) in einem multifaktoriellen Modell mit soziokulturellen und individuellen Faktoren; er bezog also die gesellschaftliche Dimension des Problems mit ein, liess es nicht als Problem einzelner krankhafter Täter im Raum stehen. 3.1.3. Feministisches Drei-Perspektiven-Modell sexueller Gewalt gegen Kinder von Brockhaus und Kolshorn Das 1993 von Brockhaus und Kolshorn entwickelte Modell basiert auf eben beschriebenen feministischen Grundlagen und betrachtet zusätzlich psychische Prozesse und äussere Bedingungen zwischen der ursprünglichen Motivation zur Tat und deren Ausführung. Als theoretischen Überbau verwenden die Autorinnen den symbolischen Interaktionismus sowie soziale Austausch- und soziale Lerntheorien. Im Wesentlichen schauen sie innerpsychische und teils auch interindividuelle Prozesse an, die das Handeln von Opfern, Tätern17 und der Umgebung auszeichnen; daher auch der Name Drei-Perspektiven-Modell. Im Mittelpunkt steht die Auswirkung patriarchaler Gesellschaftsfaktoren auf die Entstehung von sexuellen Übergriffen. Dabei geht es vor allem darum zu zeigen, wie der einzelne Mensch trotz einer gesellschaftlichen Vorstrukturierung sein individuelles Handeln selber bewusst und eigenverantwortlich gestalten kann. Brockhaus und Kolshorn (1998, 97-102; 1993, 216-259) entwickeln ihr Modell folgenden Eckpfeilern entlang: Handlungsmotivation, begünstigende versus hemmende Faktoren, Handlungsmöglichkeiten und Kosten-NutzenAbwägungen. Dabei läuft der Prozess dazwischen nicht zwingend bewusst, logisch oder stringent ab; es liegt eine Dynamik zwischen diesen Eckpfeilern und innerhalb derselben. Ferner findet auch eine Wechselwirkung zwischen der Opfer-, Täter- und Umfeldperspektive statt. Dieses Modell vermag viele Ansatzpunkte zu liefern, wie man bei sexuellem Missbrauch vorbeugend oder intervenierend tätig werden könnte. 17 Da sich dieses Modell an der männlichen Täterschaft orientiert, wird in diesem Unterkapitel nur die männliche Form verwendet. 52 3. Handlungsorientierte Erklärungsansätze für den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen Das Zusammenspiel dieser verschiedenen Perspektiven und Einflussfaktoren, die im Folgenden gestützt auf Brockhaus und Kolshorn (1993, 1998) näher beschrieben werden, bringe ich in nachstehender Abbildung zum Ausdruck: Täter Handlungsmotivation Handlungsmöglichkeiten Sexuelle Gewalt an Kindern fördernde und hemmende Repräsentationen Kosten-Nutzen-Kalkül Umfeld Opfer patriarchale Gesellschaftsfaktoren Abbildung 5: Feministisches Drei-Perspektiven-Modell sexueller Gewalt an Kindern (und Frauen) von Brockhaus und Kolshorn (optische Realisierung durch die Verfasserin der Lizentiatsarbeit) Obwohl es sich grundsätzlich am männlichen Täter und dem weiblichen Opfer orientiert, verweisen die Autorinnen (1993, 250-255) darauf, dass ihr feministisches Perspektivenmodell auch zur Erklärung von weiblicher Gewalt, zu deren Seltenheit sowie zur Erklärung männlicher Opfer dienen kann, wenn man die Eckpfeiler mit entsprechend an die patriarchalen Bedingungen angepassten Inhalten füllt. Die Interventionswahrscheinlichkeit sei bei Täterinnen und männlichen Opfern noch geringer, da die Unsicherheit im Umfeld noch grösser sei, patriarchale Mechanismen noch mehr spielten. Frauen hätten eine vergleichbare Chance, Kinder zu missbrauchen, da sich Kinder aufgrund struktureller Unterlegenheit und Abhängigkeit ebenso wenig gegen Frauen wehren könnten. Bei Frauen liessen sich eine geringere Motivation, ein Übergewicht von hemmenden Faktoren und eine negativere Kosten-Nutzen-Bilanz erwarten, was aber noch weiter erforscht werden müsse. 53 3. Handlungsorientierte Erklärungsansätze für den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen Nachfolgend sollen die vier Eckpfeiler, die aus je drei Perspektiven (Opfer, Täterschaft, Umfeld) betrachtet werden können, vorgestellt werden: Handlungsmotivation: Das Patriarchat erhöht das Risiko für sexuelle Gewalttaten insofern, als es die Motivation der potentiellen Täterschaft dazu fördert und gleichzeitig die Motivation des Umfeldes zu intervenieren senkt (ebd., 1998, 97-102). Die Motivation für sexuelle Kontakte mit Kindern liegt für potentielle Täter in sexuellen und sexualisierten (ursprünglich nicht sexuellen) Motiven. Sie können Kinder als Quelle sexueller Befriedigung sehen, bestimmte emotionale Bedürfnisse im sexuellen Kontakt mit dem Kind stillen oder es kann an alternativen sexuellen Befriedigungsquellen mangeln. Das alles baut darauf auf, dass ein potentieller Täter von den patriarchalen Gesellschaftsbedingungen mit den traditionellen Geschlechterrollen geprägt ist, die Kinder und Frauen objektivieren, Beziehungen sexualisieren und Sexualität als Mittel zur Männlichkeits- und Machtdemonstration sowie zur Selbstbestätigung nahe legen. (ebd., 1993, 227-229) Aus Sicht des Opfers geht es oft um eine ambivalente Motivation: es ist im Konflikt, dass es eine Beziehung zu einer vertrauten Täterschaft wünscht, aber nicht deren Missbrauch. Dies verwischt die Motivation zur Gegenwehr. (ebd., 235) Eine Person aus dem Umfeld mag ihre Motivation einzugreifen daraus ziehen, dass sie aus Empathie, moralischem Empfinden, Unrechts- oder Pflichtbewusstsein heraus ein Kind schützen, ein Unrecht aufdecken und beenden will. Sie fühlt sich vermutlich umso motivierter einzugreifen, je deutlicher sie die Ausbeutung wahrnimmt, als solche definiert und eine Handlungsnotwendigkeit und -zuständigkeit erkennt. Dabei kommen bereits die Repräsentationen ins Spiel. Begünstigende und hemmende Repräsentationen (Hemmschwellenfaktoren): Eine Motivation wird nur dann zu einer Handlung, wenn die verinnerlichten Einstellungen, Werte, Stereotype, Normen, Überzeugungen, Rollenbilder und von aussen kommenden Verhaltenserwartungen das Verhalten nicht hemmen oder sogar begünstigen. Diese verinnerlichten sozialen Repräsentationen leiten die Wahrnehmung und Orientierung einer Person und bestimmen die Situationsdefinitionen mit. Es kommt darauf an, was man sich und der Umwelt für eine Bedeutung zuschreibt, wie man sie deutet und versteht. Dabei geht es also auch um die gesellschaftlich geprägte Identität, die Vorstellung eines Menschen darüber, was er ist und wie er sich dabei fühlt. Dies beeinflusst seine Handlungsintention und sein Verhalten, auf 54 3. Handlungsorientierte Erklärungsansätze für den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen Täter-, Opfer- wie auf Umfeldseite. – Schlussendlich kommt es darauf an, wie ein Individuum die fördernden (zum Beispiel „das Kind könnte sich ja wehren“) und hemmenden (zum Beispiel „ein Kind ist nicht fähig, bewusst zuzustimmen“) Faktoren gewichtet. Dies ist unter anderem davon abhängig, wie stark eine Person Mythen toleriert, traditionelle Geschlechterrollen vertritt und interpersonale Gewalt akzeptiert. Je mehr dies der Fall ist, umso stärker wird dem Opfer vom Umfeld die Schuld zugeschoben, die Tat verharmlost, dem Täter Verständnis entgegengebracht und wegen der negativen Reaktionen des Umfelds der psychische Widerstand des Opfers erschwert. (ebd., 1998, 97-102) Für ein Opfer sind je nach Alter, Härte der Gewaltausübung, sozialer Stellung des Täters und der Intensität der Handlungen andere Situationsdefinitionen, andere Verantwortungs-, Schuldund Rollenzuschreibungen zu erwarten. Je valider sein Wissen über sexuelle Gewalt und je mehr Repräsentationen in seinem Umfeld da sind, die die Bewertung einer Situation als Gewalt zulassen, je weniger patriarchal sie also sind, umso eher kann ein Kind die Lage als sexuelle Ausbeutung wahrnehmen. (ebd., 1993, 234-240) Handlungsmöglichkeiten: Nur wer neben Motivation und Repräsentationen auch die ideellen und materiellen Ressourcen und Kompetenzen hat, kann sein Ziel(handeln) erreichen, sein Interesse verwirklichen. Das gilt für Täter, Opfer und auch das Umfeld. Zu den ideellen Möglichkeiten gehören Macht, Wissen, Autorität, Status, Glaubwürdigkeit oder Erfahrung. Zu den materiellen vor allem Geld und Statussymbole. Das Verfügen über viele Ressourcen eröffnet mehr Handlungsspielraum. Über wie viele Ressourcen jemand verfügt, hängt von gesellschaftlichen und biographischen (zum Beispiel Alter, Familiengeschichte, berufliche Position) Faktoren sowie der individuellen Persönlichkeitsentwicklung ab. (ebd., 1998, 97-102) In einer patriarchalen Gesellschaft besitzen Männer im Vergleich zu Frauen und Erwachsene im Vergleich zu Kindern mehr materielle und ideelle Ressourcen. Beim potentiellen Opfer können gute Aufklärung, Selbstverteidigungstechniken, Selbstsicherheit oder das Wissen um Hilfeangebote und soziale Unterstützung durch das Umfeld solche Ressourcen darstellen. Beim Täter können es zum Beispiel Geld und Geschenke sein, mit denen er Kinder besticht, aber auch sein Wissen um die Wehrlosigkeit und Isolation eines potentiellen Opfers oder sein gutes Ansehen im sozialen oder beruflichen Umfeld. – Auch die traditionellen Geschlechterrollen und Mythen dienen als Ressourcen. Widerstandsstrategien, die mit den Mythen und 55 3. Handlungsorientierte Erklärungsansätze für den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen typischen weiblichen Attributen der patriarchalen Vorstellung übereinstimmen, sind oft sehr unwirksam. (ebd.) Kosten-Nutzen-Abwägung: Die negativen und positiven Folgen einer Handlung werden in der Austauschtheorie Kosten respektive Nutzen genannt. Antizipierte Überlegungen dazu beeinflussen bei Tätern, Opfern und beim Umfeld das Verhalten. – Ein Opfer überlegt sich, was die Gegenwehr nützt, ob ihm jemand glauben wird, wenn es von Übergriffen erzählt. Der potentielle Nutzen der Gegenwehr besteht in weniger Angst und der Beendigung oder Verhinderung schlimmerer Gewalttaten; die möglichen Kosten liegen in der Selbstüberwindung, in der Schuldzuschreibung durch das Umfeld, im Risiko der massiveren Gewaltanwendung des Täters, im Verlust der positiven Seiten der Beziehung zum Täter und im drohenden Auseinanderbruch der Familie bei innerfamiliärem Missbrauch. (ebd.) Dem Täter nutzt die Gewaltausübung insofern, als er dadurch unter Umständen seine Männlichkeit bestätigen, Macht erleben, sexuelle Bedürfnisse befriedigen und sozialen Kontakt zu Kindern leben kann. Dafür muss er möglicherweise mit dem Widerstand des Kindes rechnen, mit dem Aufwand der Vorbereitung und des Geheimhaltens des Missbrauchs, mit seinem schlechten Gewissen und mit sozialer Ächtung oder gar mit Gefängnisstrafe und Jobverlust. (ebd.) Das Umfeld bezieht seinen Nutzen des Intervenierens daraus, dass es dazu beitragen kann, ein Unrecht aufzudecken und zu beenden. Es erlebt unter Umständen Macht und kann nach seinen eigenen Wertvorstellungen handeln. Die möglichen Kosten sind, dass Eingreifen einen emotionalen und zeitlichen Aufwand bedeutet, dass man eigenen und fremden Zweifeln und Ungläubigkeit begegnen wird, die Rache der Täterschaft oder sonstige Konsequenzen zu tragen hat (zum Beispiel Verlust des Gatten, wenn die Mutter den Kindesmissbrauch durch ihren Mann beendet). (ebd.) 3.2. Bestens ganzheitliches Dreifaktorenmodell über die Zusammenhänge sexuellen Missbrauchs Die eben vorgestellten feministischen Erklärungsansätze sexueller Gewalt entlang der Frage der Sexualität, der Macht, der Geschlechterverhältnisse und/oder der innerpsychischen Prozesse könnte man in ein umfassenderes Modell einbetten. Denn letztendlich kann man die vielfältigen Zusammenhänge und Ursachen als auf gesellschaftlich-kultureller, persönlicher 56 3. Handlungsorientierte Erklärungsansätze für den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen und familiärer Ebene angesiedelt sehen, in jene die von Brockhaus und Kolshorn erwähnten psychischen und interaktiven Prozesse hineinspielen. Besten (1995, 49-56) hat die Zusammenhänge männlicher sexueller Gewalt gegen Kinder (und Frauen) in einem ganzheitlichen, erklärenden Dreifaktorenmodell zusammengefasst, welches hier nun vorgestellt wird. Sie merkt an, dass die verschiedenen Einzelfaktoren für sich allein genommen nicht ungewöhnlich sind, sich aber im Faktorenkomplex negativ verstärken können. Sie wirkten nicht ursächlich ausschlaggebend, sondern begünstigend auf das Missbrauchsgeschehen. Es ist also quasi ein Kann und nicht ein Muss. 3.2.1. Gesamtes gesellschaftliches System Innerhalb der gesellschaftlichen Faktorengruppe unterscheidet Besten vier Einzelfaktoren: - Geschlechtsspezifische Erziehung: Mädchen werden zu sozialen Fähigkeiten wie Verständnis, Fürsorge, Rücksichtsnahme, Passivität und Unterordnung erzogen. Bei den Jungen sind diese Eigenschaften zwar teils auch da, werden aber durch Aktivität, Eigenständigkeit, das Verfolgen eigener Ziele, Verantwortungsübernahme, Ehrgeiz und Durchsetzungsvermögen ergänzt, was sie möglicherweise weniger ausbeutbar macht. - Rollenverteilung: Noch immer herrscht in unserer Gesellschaft tendenziell das Bild vor, das den Mann als materiellen Versorger und die Frau als soziale Fürsorgerin sieht. Die Frau ordnet sich sozial unter und hängt finanziell von ihrem Partner ab. Männer haben wegen ihrer ausserhäuslichen Tätigkeit zu wenig Zeit mit den Kindern, weswegen sie sich womöglich schlechter in sie hineinversetzen können, was die Hemmschwelle zum Missbrauch herabsetzt. Gleichzeitig fühlen sich Männer zuweilen in der Rolle des Starken und Unerschütterlichen überfordert, fühlen sich nicht verstanden und haben das Gefühl, sie werden von ihrer Frau oder ihren Chefs erdrückt. Dieses Minderwertigkeitsgefühl in der einen Beziehung manifestiert sich dann unter Umständen in einer kompensatorischen Machtdemonstration in einer anderen Beziehung, zum Beispiel in der (sexuellen) zum Kind. - Machtgefälle und Abhängigkeit: Die sexuelle Ausbeutung ist nicht nur ein Sexualdelikt, sondern auch ein Gewaltdelikt. Es geht um Macht, ums Ausnutzen von Abhängigkeiten, einerseits zwischen den Geschlechtern und andererseits zwischen Kindern und Erwachsenen. Wenn sich ein Mann in einer gleichberechtigten Erwachsenenbeziehung nicht in seiner Männlichkeit, verstanden als Stärke und Potenz 57 3. Handlungsorientierte Erklärungsansätze für den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen (worin sich Triebkraft mit Leistungsfähigkeit, Macht und Einfluss paart), bestätigt fühlt, findet er im sexuellen Kontakt zu Mädchen Kompensation. Zumindest für kurze Zeit kann er so sein Selbstbild aufbessern. - Sexualisierung von Beziehungen: Männer neigen häufig dazu, ihre Beziehungen zu sexualisieren, zum Beispiel wegen fehlendem Umgang mit Kindern und wegen dem gängigen Bild männlicher Sexualität. Für viele ist Zärtlichkeit gleichgesetzt mit Sexualität und dementsprechend gestalten sie ihre Annäherungen an andere Menschen. Kinder sind für sie insofern herausfordernd, da sie in Extremform attraktive weibliche Merkmale aufweisen: sie sind abhängig, jung und schwach. 3.2.2. Biographische Faktoren Die biographischen Faktoren meinen Umstände, die sich aus der persönlichen Lebensgeschichte der Opfer oder Täter ergeben, und die eventuell die Entstehung des sexuellen Missbrauchs begünstigen. Darunter fallen beispielsweise „gestörte“ Familienverhältnisse. Wenn die Kinder keinen sozialen Außenkontakt haben, sind sie eher zu sexueller Nähe mit Erwachsenen bereit, da das die einzige Form emotionaler Nähe ist, die sie erheischen können. Auch „Autoritätshörigkeit“ tritt als Risiko auf: Kinder, die extrem angepasst und gehorchend sind, sich den Eltern nie widersetzen oder sie mal ablehnen dürfen, das Gefühl haben, die Erwachsenen seien immer im Recht, sind anfälliger für Übergriffe. Ferner scheint die Täter-Vorgeschichte als Opfer sexueller Gewalttaten gewisse Bedeutung zu besitzen. Gewisse Täter sind selber einst Opfer gewesen oder haben es an ihren Geschwistern miterlebt, und geben dies dann unter Umständen unverarbeitet an ihre Opfer weiter. Auch ein begünstigender Faktor kann ein geringer Selbstwert beim Täter sein. Der Täter gleicht in sexuellen Handlungen mit Kindern seine Minderwertigkeitsgefühle und seine Gefühle des nicht Verstanden Werdens aus. Ein Risikofaktor sind auch ungenügende soziale Fähigkeiten des Täters: häufig können Täter sich selber keine Grenzen setzen und diejenigen anderer nicht akzeptieren. Sie können sich zu wenig ins Opfer einfühlen, kaum deren Gefühle verstehen und weisen ein mangelndes soziales Bewusstsein auf. Ihr Bedürfnis nach Anerkennung, Liebe, Austausch und Geselligkeit soll in der Beziehung zum Kind Erfüllung finden. 3.2.3. Familiäre Umstände Schliesslich sind vor allem beim inzestuösen Missbrauch gestörte Beziehungsmuster in der Familie anzutreffen, die als missbrauchsfördernd betrachtet werden können. Anfällig scheinen 58 3. Handlungsorientierte Erklärungsansätze für den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen isolierte Familien ohne Aussenkontakte, die sich gegenseitig mehr Bedürfnisse befriedigen müssen und glauben, dass nur sie selbst diese Funktion erfüllen können. Damit verbunden besteht eine starke Abhängigkeit der Familienmitglieder, die sich finanziell oder/und emotional manifestieren kann, sodass weder Mutter noch Kind ihr Schweigen brechen würden, um das System nicht zu zerstören. Gefährdet sind auch Familien, die keine Grenzen kennen: wenn Kinder wie Erwachsene keine eigenständige Personen mehr sind, sondern in ihren Pflichten, Rechten und Grenzen eng verflochten sind. Auch Sonderrollen des Kindes können gefährlich sein: dabei wird dem Kind zum Beispiel die Rolle eines/einer Vermittlers/Vermittlerin zwischen den Eltern zugedacht, es wird nicht mehr als Kind in seinen Bedürfnissen wahrgenommen. Beispielsweise wird die Tochter quasi zur Ersatzpartnerin des Vaters und die Mutter betrachtet sie als Hausfrau. Ich will diesen Faktoren noch den Punkt hinzufügen, dass auch von Bedeutung ist, wie das Wertesystem einer Familie aussieht. Es scheint förderlich für Missbrauch zu sein, wenn ein speziell konservatives, verklemmtes Milieu vorherrscht, wo nicht offen über Beziehungen, Sexualität und Probleme gesprochen werden kann (siehe auch Besten, 1995, 18f). Diese Erklärungszusammenhänge von Besten sollen zum Abschluss des Kapitels über handlungsleitende Erklärungsansätze zum sexuellen Kindesmissbrauch in folgender Darstellung zusammengefasst werden: 59 3. Handlungsorientierte Erklärungsansätze für den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen o o o o o familiäre Umstände (v. a. bei Inzest): Isolation gegen aussen starke innerfamiliäre Abhängigkeit kindliche Sonderrolle (z.B. VermittlerIn) keine Grenzen zueinander Wertesystem, -milieu Sexueller Missbrauch an Kindern (und Frauen) biographische Faktoren: o gestörte Familienverhältnisse beim Kind o Autoritätshörigkeit vom Kind o Tätervorgeschichte als Missbrauchsopfer o geringer Selbstwert beim Täter o mangelnde soziale Fähigkeiten des Täters Abbildung 6: o o o o gesamtgesellschaftliches System: geschlechtsspezifische Erziehung Rollenverteilung Machtgefälle, Abhängigkeit Sexualisierung von Beziehungen Visualisierung von Bestens ganzheitlichem Dreifaktorenmodell über die Zusammenhänge sexueller Gewalt von Männern gegenüber Kindern (und Frauen) Nachdem nun die vermuteten Ursachen des sexuellen Missbrauchs in einem grösseren Rahmen verortet wurden und so einen Hintergrund für später folgende (primär)präventive Überlegungen liefern, soll als nächstes nach möglichen kurz- und langfristigen Folgen gefragt werden. 4. FORSCHUNGSRESULTATE ZU DEN FOLGEN FÜR DIE OPFER Viele Untersuchungen – wenn auch zum Teil zu wenig systematische – haben zum Thema, was die Symptome sowie kurz- und langfristigen Folgen von sexuellem Missbrauch sein und wie die Betroffenen damit umgehen können. Besten (ebd., 45) vermutet, dass die Missbrauchsintensität (Dauer, Länge, Art der Handlungen), die Persönlichkeitsstruktur, das Kindesalter, die Reaktion der Umwelt und die erhaltene (respektive die ausbleibende) Hilfe nach der Tat mitbestimmen, wie stark sich das Erlebte auswirkt18. – Ich möchte nun zuerst (vor allem deskriptive) Literatur wiedergeben zur Frage, wie Kinder und Jugendliche unmittelbar während dem Missbrauch reagieren können und wie sich der Übergriff nach 18 siehe auch Kapitel 4.3., das diese Kriterien untersucht. 60 4. Forschungsresultate zu den Folgen für die Opfer seiner Beendigung längerfristig in der Psyche oder auch im Verhalten einer Person manifestieren kann. Allerdings überlappen sich die Folgen vielfach, sind nicht klar kurz- oder langfristig, sondern treten oft während dem Missbrauch schon auf und verändern sich dann später in die eine oder andere Richtung, nehmen neue Formen an oder verschwinden. 4.1. Das Kontinuum von kurzfristigen Symptomen zu langfristigen Folgen Die Eigenart des sexuellen Missbrauchs ist es, dass vielfach keine körperlichen Symptome festgestellt werden können. Dadurch wird ein Missbrauch oft nicht aufgedeckt und kann über lange Zeit unbemerkt andauern. Nichtsdestotrotz beschreiben Furer und Stähli (1998, 45-48), wie bei gravierenden Übergriffen auch körperliche Indikatoren auf den sexuellen Missbrauch hinweisen können. Dies seien zum Beispiel unerklärliches Bluten, Hämatome, Scheiden- und Analrisse, Fremdkörper in der Scheide oder im After, Geschlechtskrankheiten wie Herpes, Pilz, AIDS aber auch Risikoschwangerschaften von sehr jungen Teenagerinnen. Ebenso könne es zu blauen Flecken, Knochenbrüchen, inneren Verletzungen, Narben, Verstümmelungen und neurologischen Störungen kommen. – Körperliche Gewalt wird vor allem angewendet, um sich ein Opfer willig zu machen oder es zur Geheimhaltung zu bringen. Rein körperliche Symptome machen sich gleichzeitig oder leicht verzögert zum Missbrauch bemerkbar, halten unterschiedlich lange an und können durchaus nur einmalig auftreten, auch wenn der sexuelle Übergriff viel länger andauert. Ein Teil der Opfer zeigt auch psychosomatische Störungen wie Einnässen, Schlafstörungen, Alpträume, Erstickungsgefühle, gestörtes Essverhalten, Waschzwang, Harnweg- und Genitalinfektionen, Schmerzen in Hals, Unterleib, Magen oder Kopf (ebd.). Nach Bange (1996, 81) kommen auch Hautkrankheiten, Legasthenie, Asthma und Hormonstörungen dazu, wobei er keine Vergleichsdaten zu nicht-missbrauchten Kindern zur Verfügung hatte, um zu schauen, ob der Unterschied zwischen den beiden Gruppen beträchtlich ist. – Diese Folgen können sowohl während des Missbrauchs als auch erst einige Zeit später auftauchen. Sie dauern eher länger an respektive treten meist mehrmalig auf. Schliesslich sind da psychische und soziale Folgen (vgl. Bange, 1992; Bange, 1995b, 39-49; Furer und Stähli, 1998, 45-48; vgl. Wirtz, 1989), die sowohl kurz- wie auch langfristig zum Vorschein kommen können. Betroffene Kinder haben oft einen niedrigen Selbstwert, wenig Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten, Identitätsprobleme, Hemmungen, Kontaktschwierigkeiten, misstrauen andern und sind eher passiv. Gerade auch im Moment des Missbrauchs quälen Angst- und Schuldgefühle, Scham, Ambivalenz und Sprachlosigkeit sowie Zweifel an 61 4. Forschungsresultate zu den Folgen für die Opfer der eigenen Wahrnehmung die Kinder. Die psychosoziale Entwicklung leidet vielfach, sei es im Bereich der Sprache, des Lernens, der Intelligenz oder der Motorik. Kinder sind oft schlecht oder aber übereifrig in der Schule, sind hyperaktiv und aggressiv (Mädchen scheinbar eher autoaggressiv), haben Konzentrationsstörungen und Anpassungsschwierigkeiten. Einige reissen auch von Zuhause aus, hegen Suizid- und andere Selbstverletzungsgedanken, verfallen der Delinquenz/Kriminalität, Suchtproblemen (vor allem Alkohol) oder/und unangemessenem Sexualverhalten. Letzteres meint laut Beitchman, Zucker, Hood, da Costa und Akman (1991; zit. nach Kendall-Tackett et al., 1998, 154) bei Kindern zum Beispiel sexualisiertes Puppenspiel, Einführen von Gegenständen in die Vagina oder den Anus sowie extremes oder öffentliches Masturbieren und Ersuchen um sexuelle Stimulation durch andere Personen. Bei Jugendlichen sind es eher Promiskuität (häufiger SexualpartnerInnenwechsel) und Prostitution. Es besteht auch die Gefahr der Reviktimisierung (Risiko, erneut Opfer zu werden) und der Verdrängung, was bis zu Persönlichkeitsstörungen und Amnesien führen kann. Bei Jungen kann wegen der zumeist männlichen Täterschaft auch die Angst auftauchen, homosexuell zu sein oder zu werden. Um die Kontrolle wiederherzustellen und den Hass zu überwinden, scheint für gewisse Jungen die eigene Täterkarriere ein Ausweg zu sein. Ich vermute, dass abweichende Verhaltensweisen wie Promiskuität, Sucht, Prostitution, Kriminalität oder Täterkarriere als langfristige Folgen bei missbrauchten Kindern zu sehen sind oder sich eher bei missbrauchten Jugendlichen zeigen. 4.2. Geschätzte Häufigkeit der Folgen Es stellt sich nun die Frage, wie häufig die beschriebenen möglichen Folgen auftreten und in welcher Missbrauchskonstellation Kinder besonders verwundbar sind 19. Empirische Forschungen zu diesem Thema sind zwar vorhanden, kommen aber zu teils sehr unterschiedlichen Resultaten. Bange (1995b, 41) schreibt, dass bisherige Versuche, missbrauchsspezifische Symptome zu eruieren, recht erfolglos gewesen seien. Einzig dem sexualisierten Verhalten scheine eine besondere Bedeutung zuzukommen. Bei Kendall-Tackett et al. (1998, 154-162), die eine Synthese und Review von 46 neueren empirischen Arbeiten vornahmen, erfährt man mehr zu dieser Frage. Der Vergleich der Studien, die oft mit klinischen Missbrauchssamples arbeiteten, zeigte, dass zwischen missbrauchten Gruppen und nicht-missbrauchten nicht-klinischen Stichproben in fast allen der 19 Letzteres soll im Kapitel 4.3. behandelt werden. 62 4. Forschungsresultate zu den Folgen für die Opfer folgenden Symptome ein Unterschied gefunden wurde: Furcht, Alpträume, neurotische Störungen, Grausamkeit, unangemessenes Sexualverhalten, regressives Verhalten, Weglaufen, Rückzugsverhalten, allgemeine Verhaltensprobleme, selbstverletzendes Verhalten, Internalisierung (für negative Ereignisse werden intrapersonale Ursachen gesucht), Externalisierung (positive Ereignisse werden extrapersonalen Ursachen zugeschrieben) und posttraumatische Belastungsstörung (PTBS20). Besonders deutlich sei der Unterschied beim sexualisierten Verhalten; das sei aber noch lange kein eindeutiges Diagnosekriterium für sexuell Missbrauchte. Klinisch erfasste sexuell Missbrauchte scheinen erwähnte Symptome nicht häufiger zu zeigen als andere klinische Stichproben, ausgenommen unangemessenes Sexualverhalten und die PTBS. Ausser dieser Belastungsstörung zeigte sich in diesen verglichenen Studien kein Symptom bei der Mehrheit der Opfer; die meisten tauchten bei 20-30 Prozent der missbrauchten Befragten auf. (ebd.) Viele der Symptome sind über die Altersklassen verschieden oft anzutreffen. Wo bei den bis sechsjährigen21 Kindern Angst, Alpträume, allgemeine PTBS, Internalisierung, Externalisierung und unangemessenes Sexualverhalten dominieren, sind bei den sieben bis 12-jährigen Kindern (Grundschulalter) vermehrt Furcht, Schulversagen, allgemeine psychische Störungen, Alpträume, Hyperaktivität und Aggression anzutreffen. Bei den Jugendlichen schliesslich treten eher Depressionen, Rückzugsverhalten, Delinquenz, Weglaufen, Substanzmissbrauch und selbstdestruktives Verhalten/Suizidverhalten auf. (ebd.) Ein geschädigter Selbstwert als zentrale traumatische Folge wurde in der Empirie kaum gefunden. In den mehrheitlich 12-18 Monate dauernden Längsschnittstudien schienen sich die Symptome über die Zeit zu reduzieren. Etwa 50 Prozent bis zwei Drittel der Befragten verbesserten sich seit der Aufdeckung des Missbrauchs in ihren Symptomen. Fast 20 Prozent der Kinder verschlechterten sich aber auch. Da Symptome auch vom Entwicklungsstand abhängen, bedeutet eine Veränderung des Zustands aber nicht automatisch ein Abklingen des Traumas. (ebd., 166-169) Einige Symptome erscheinen kurzlebiger (zum Beispiel Ängste und somatische Erscheinungen), andere hingegen länger andauernd oder sogar sich verstärkend, so wie zum Beispiel die sexuelle Fixierung oder die Aggressivität. Man hat noch nicht eindeutig herausgefunden, 20 Die PTBS beinhaltet Trauma, Symptome des Wiedererlebens und der Vermeidung sowie des erhöhten Erregungsniveaus (zum Bespiel Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Wut und Aggression, Reizbarkeit, psychosomatische Phänomene wie Schwitzen, starkes Herzklopfen, Atembeschwerden, Durchfall, etc.). (Institut für Psychotraumatologie Zürich, 2004) 21 Alter zum Zeitpunkt der Erhebung massgeblich für die Zuteilung (nicht der Zeitpunkt des Missbrauchs) 63 4. Forschungsresultate zu den Folgen für die Opfer welche Variablen für eine Verbesserung der Symptome verantwortlich sind. Weder Geschlecht, Rasse noch sozioökonomischer Status scheinen einen Einfluss auf die Genesung zu haben, ein unterstützendes Familienumfeld hingegen schon. (Gomes-Schwartz, Horowitz, Cardarelli & Sauzier, 1990; zit. nach Kendall-Tackett et al., 1998, 169) Es gibt scheinbar auch recht viele symptomlose Opfer. Zahlen sind schwierig einzuschätzen, da Untersuchungen meistens mit klinisch erfassten Missbrauchsfällen arbeiten. Die Anzahl nicht aufgedeckter Missbrauchsopfer (mit oder ohne Symptome) wird als gross angenommen; insofern weiss man nicht, wie viele Opfer tatsächlich negative Folgen davontragen. KendallTackett et al. (1998, 162) fanden in verschiedenen Studien einen Anteil von 20-50 Prozent an Kindern ohne Symptome. Dieser hohe Anteil könne an ungeeigneten Erhebungsinstrumenten liegen oder an noch nicht manifestierten Symptomen, da sie unterdrückt sein könnten oder eine Erfahrung nicht verarbeitet oder vom Kind mangels Reife noch nicht als Missbrauch eingeschätzt worden sein könnte. Oder vorhandene Symptome seien in der Untersuchung nicht erhoben worden. Vielleicht seien symptomfreie Kinder tatsächlich weniger belastet, was einer geringeren Missbrauchsintensität oder besseren psychosozialen und Behandlungsressourcen des Kindes zuzuschreiben sein könnte. Dieses Forschungsthema sei aber vernachlässigt worden. Als Quintessenz kann man sagen, dass die Befunde der Empirie uneinheitlich sind und retrospektive Untersuchungsdesigns keine Aussagen über Kausalität zulassen, man aber von einem starken Zusammenhang ausgehen kann zwischen sexuellem Missbrauch und emotionalen, interpersonalen und sexuellen Störungen (siehe auch Beitchman, Zucker, Hood, daCosta, Akman & Cassavia, 1992, 101-118; Kilpatrick, 1992; beide zit. nach Moggi, 1998, 190). 4.3. Intervenierende Variablen (Traumatisierungsfaktoren) Es gibt nun Missbrauchskonstellationen, die für das Opfer in besonderem Masse ungünstig sind, weil sie das Risiko erhöhen, ein tief schürfendes Trauma mit vielen und auch langfristigen Folgen davon zu tragen. Den Beitrag der einzelnen Faktoren an die Traumatisierung kann man schwer erheben, da sie untereinander sehr stark zusammenhängen. Laut Bange (1995b, 42f) sind primäre Traumatisierungsfaktoren, die massive Auswirkungen erwarten lassen, eine vertraute Täter-Opfer-Beziehung, die Anwendung von Gewalt oder Zwang, massive Übergriffe wie orale, anale oder vaginale Vergewaltigung und Genitalmanipulation sowie häufige und lang andauernde Übergriffe (siehe auch Finkelhor, 1979; Kendall- 64 4. Forschungsresultate zu den Folgen für die Opfer Tackett et al., 1998, 163-166). Ob das Alter des Kindes zum Missbrauchszeitpunkt Relevanz habe, sei umstritten. Sekundäre Traumatisierungsfaktoren sind eine nicht unterstützende Elternreaktion, das NichtVorhandensein und/oder die mangelnde Professionalität einer Therapie sowie unangemessene institutionelle Reaktionen, welche bisher kaum empirisch erforscht wurden (Bange, 1995b, 42f). Zur Traumatisierung scheinen ferner negative Erfahrungen bei Gericht, eine vorhandene Vulnerabilität beim Opfer und ein misshandelndes Umfeld beizutragen (Kendall-Tackett et al., 1998, 169). Kendall-Tackett et al. (ebd., 163-166) analysierten in ihrer Studienreview mit zumeist klinischen Samples einige Traumatisierungsfaktoren näher. Das Alter bei Missbrauchsbeginn wies keinen klaren Zusammenhang mit den späteren Folgen auf, sondern eher mit der Identität der Täterschaft. Kinder hingegen, die zum Erhebungszeitpunkt schon älter waren, zeigten mehr Symptome. Allerdings wurden dabei Variablen wie die Dauer und die Schwere des Missbrauchs oder die Identität des/der Täters/Täterin nicht kontrolliert. Entgegen der vielfachen Meinung waren bezüglich des Geschlechts des Opfers in dieser Review keine eindeutigen Unterschiede in externalisierenden beziehungsweise internalisierenden Folgen zutage getreten. Nur in wenigen Studien zeigten sich konsistente Unterschiede zwischen dem Verhalten von Mädchen und Jungen. Für einen aussagekräftigen Vergleich war die Anzahl Jungen in den meisten Stichproben zu wenig gross. Es scheint, dass dem Opfer näher stehende TäterInnen ihm mehr Schaden zufügen. Dabei kommt es laut Kendall-Tackett et al. (ebd.) mehr auf die emotionale Nähe als auf die verwandtschaftliche an, was leider in Studien zu wenig berücksichtigt werde. Ob sich die Anzahl der TäterInnen und die verstrichene Zeit zwischen dem letzten Übergriff und der Erhebung auf die Folgen auswirken, sei noch unklar. Hingegen hätten die mütterliche Unterstützung zum Zeitpunkt der Aufdeckung und die Einstellung des Kindes einen Einfluss. Je negativer der Bewältigungsstil des Opfers sei und umso weniger es durch die Mutter unterstützt werde, umso mehr Folgen zeitige es. Symptome können allerdings auch durch Begleitumstände der sexuellen Misshandlung oder durch davon unabhängige Bedingungen wie zum Beispiel den Erziehungsstil oder eine Scheidung beeinflusst werden (Moggi, 1998, 192). Ich stelle mir dabei die Frage, inwiefern die Folgen letztlich dem sexuellen Missbrauch zuzuschreiben sind oder aber eher den Umständen, die ihrerseits den Missbrauch respektive die kindliche Anfälligkeit begünstigten 65 4. Forschungsresultate zu den Folgen für die Opfer (traditionelle Mythen zur Sexualität und Rollenvorstellung, Familiendysfunktionalität, etc.), wodurch der Missbrauch zu einem Symptom unter anderen würde. Das bisher Diskutierte zu den Folgen und intervenierenden Variablen des sexuellen Missbrauchs kann man anhand folgenden Schemas überschauen: Begleitumstände sexueller Misshandlung sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen vom Missbrauch unabhängige Bedingungen (Erziehungsstil, Scheidung,…) starker empirischer Zusammenhang (retrospektive Designs) Anteil symptomloser Opfer Folgen (klinische Missbrauchssamples): - sozial-interpersonale Störungen - psychisch-emotionale Störungen - körperliche Symptome - psychosomatische Folgen - sexuelle (Verhaltens-)Störungen Traumatisierungsfaktoren Primäre Faktoren: - vertraute TäterIn-Opfer-Beziehung - Gewalt-, Zwanganwendung - orale, anale, vaginale Vergewaltigung und Genitalmanipulation - grosse Häufigkeit und Dauer der Akte - umstritten: Geschlecht und Alter des Opfers Abbildung 7: Sekundäre Faktoren (auf Opferseite): - fehlende elterliche (v. a. mütterliche) Unterstützung zum Aufdeckungszeitpunkt - kindliche Vulnerabilität und negative Einstellung/negativer Bewältigungsstil - negative Erfahrungen bei Gericht - misshandelndes Umfeld - fehlende oder mangelhafte Therapie Schema zu den Folgen und Traumatisierungsfaktoren sexuellen Missbrauchs Es fragt sich nun, ob es auch Erklärungsmodelle für die Folgen sexuellen Kindesmissbrauchs gibt. Denn oft werden in Studien Folgen nur geschildert, aber es wird vielfach nicht nach Erklärungen dafür gesucht. Moggi (ebd., 193) verweist dazu auf Finkelhors (1988) Modell der traumatogenen Dynamiken, das versuche, eine übersichtliche Systematik in die Missbrauchsfolgen hineinzubringen. Finkelhor nennt darin vier Faktoren, deren Kombinationsweise dafür ausschlaggebend sei, wie schwer und welcher Art die Langzeitfolgen sein würden: traumatische Sexualisierung, Vertrauensbruch, Stigmatisierung des Opfers und Hilfund Machtlosigkeit. – Ich verstehe dieses Modell so, dass ein Opfer beispielsweise schwerere Folgen zeigt, wenn es sich in der Missbrauchssituation (und/oder auch danach) besonders hilflos und/oder in seinem Vertrauen stark missbraucht fühlte, wenn körperliche Gewalt den 66 4. Forschungsresultate zu den Folgen für die Opfer Überbegriff begleitete und/oder wenn ihm nachträglich nicht geglaubt wurde, wodurch es in seinem Vertrauen nochmals erschüttert wurde, Machtlosigkeit erlebt hat und sich schuldig fühlte. Dieses (hier nur angedeutete) Modell ist hilfreich fürs Verständnis von anfänglichen Wirkungen und Spätfolgen, kann allerdings spezifische Folgen laut Moggi (1998, 193) nicht ursächlich erklären. Er verweist darauf, dass es dazu psychologische Ätiologiemodelle bräuchte, die je nach Folge/Symptom einzeln formuliert werden müssten. Nachdem nun ein tief greifender Überblick über Definition, Ursachen und Folgen von sexuellem Kindesmissbrauch geschaffen wurde – und damit die erste Forschungsfrage ausführlich behandelt und mittels verschiedener Abbildungen zusammenfassend illustriert wurde – soll nun der Bogen zur (Primär-)Prävention gespannt werden. Was ist Missbrauchsvorbeugung und wessen Aufgabe ist sie? Was sind ihre Inhalte? Was muss man dabei im vorliegenden Kontext beachten, und inwiefern können die Schule und die Soziale Arbeit etwas dazu beitragen? Diesen Fragen sollen die nachfolgenden Kapitel nachgehen. 67 5. (Primär-)Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs 2. TEIL: PRAXISLEITENDE PRÄVENTION 5. (PRIMÄR-)PRÄVENTION DES SEXUELLEN KINDESMISSBRAUCHS Der Begriff Prävention stammt aus dem Lateinischen und setzt sich zusammen aus dem Präfix prae und dem Verb venire, was dann soviel wie zuvor-/vorher-kommen bedeutet. Ursprünglich fand der Begriff vor allem in der Medizin Verwendung, doch immer mehr bedient sich auch die Literatur zur Gewalt dieses Begriffs. Dies liegt nahe, da die Anwendung von Gewalt zur Beeinträchtigung der seelischen, physischen wie auch psychischen Gesundheit von Menschen führen kann, Gewalt und Medizin also verbunden sind. Im Zusammenhang mit diesem Terminus fällt oft das Stichwort der Gesundheitserziehung, welche sich mit Einstellungs- und Verhaltensänderungen bei Individuen und Gruppen beschäftigt. Kollektive Massnahmen der Prävention, die auf Veränderung von Umwelt, Lebensbedingungen und gesundheitsrelevanter Organisation zielen, fallen nicht darunter. Gesundheitserzieherische Massnahmen greifen in unterschiedlichen Phasen des Kontinuums zwischen Gesundheit und Krankheit ein. (Basler, 1989, 685) Es geht nicht nur um die Zielgruppe der SymptomträgerInnen, sondern Kranke wie Gesunde sollen in ihrer körperlichen, seelischen und geistigen Gesundheit ganzheitlich gefördert werden. Bartsch (1989, 689f) hält in einem erziehungswissenschaftlichen Nachschlagewerk fest, dass sich Gesundheitserziehung in der Schule einer interdisziplinären, fächerübergreifenden, lebensweltbezogenen, schülerInnen- und verhaltensorientierten und ganzheitlichen Didaktik bedient und durch Themenbereiche wie Psychohygiene, Behindertenanliegen, allgemeine Suchtprävention, Ernährungserziehung, Hygiene, Krankheitserkennung und -vorsorge, Schulhygiene und Sicherheitserziehung repräsentiert werde. Etliche Teilbereiche einer weit gefassten Gesundheitserziehung wie jene der Sexual-, Umwelt, Verkehrs- oder Sozialerziehung hätten sich isoliert zu einem Lernfeld entwickelt. So stösst man auf die Verwandtschaft von Sexualerziehung, Gewalt-, Gesundheits-, Drogenoder AIDS-Prävention, die in der schulischen Praxis oft gemeinsam thematisiert werden. Obwohl in der schulischen Arbeit wegen inhaltlichen Überschneidungen mit den andern Themen und auch aus Ressourcengründen Missbrauchsprävention nicht isoliert vermittelt werden soll, steht sie im Zentrum dieser Lizentiatsarbeit, und darum möchte ich herausarbeiten, was im Kontext des sexuellen Kindesmissbrauchs unter Prävention verstanden werden kann. 68 5. (Primär-)Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs Die nächsten Unterkapitel widmen sich dem Fragenblock b) der Forschungs-Unterfragen (siehe Seite 5), der nach Definition, Konzepten, Zielen, Zielgruppen sowie Ebenen/Wirkungsbereichen der Vorbeugung sexuellen Kindesmissbrauchs fragt. Dazu gehört auch eine Einschätzung des diesbezüglichen Stands der schweizerischen Praxis. In Exkursform sollen einige kritische gesellschaftliche Aspekte der (Primär-)Prävention das Kapitel abrunden. 5.1. Definition von Prävention sexuellen Kindesmissbrauchs Ist die Rede von Gewaltprävention bei Kindern, dann handelt eine wissenschaftliche Arbeit in der Regel davon, wie man unter Kindern (primär physische, verbale und psychische) Gewalt verhindern kann. In der vorliegenden Arbeit aber geht es um die sexuelle Gewalt gegen Kinder, und hier sind zumeist Erwachsene oder deutlich ältere Jugendliche als TäterInnen angesprochen. Fachliche Debatten dazu werden mehrheitlich auf zwei separaten Schienen geführt, obschon sich in der Arbeit mit der Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen einige inhaltliche und methodische Gemeinsamkeiten vermuten lassen. Beim einen Bereich steht die Forschung zum Jugendalter, zu Sozialisationsproblemen von Adoleszenten, zum Umgang mit Aggression und Gewalt, zu Geschlechterrollen, etc. im Hintergrund, beim andern Bereich die breit gefächerte Literatur zur sexuellen Gewalt. Um diesen unterschiedlichen Zugang hervorzuheben, spreche ich in dieser Arbeit nicht von Gewaltprävention, sondern von Prävention sexuellen Kindesmissbrauchs oder von Missbrauchsprävention. Konzept der präventiven und korrektiv-rehabilitativen Interventionen: Um den Begriff Prävention vom inflationären Gebrauch zu entlasten, schlagen Engel und Hurrelmann (1989, 201-203) alternativ den Überbegriff Interventionen vor, die sie in präventive und korrektive beziehungsweise rehabilitative Interventionen einteilen. Unter Interventionen verstehen sie (allerdings im Kontext der Jugendgewalt) alle Eingriffshandlungen des Staates, der Ämter, öffentlichen Institutionen und Organisationen, Verbände oder Vereine, die in helfender, kontrollierender oder korrigierender Absicht bei Jugendlichen in den Prozess der Entstehung von Abweichung und Beeinträchtigung ihrer Persönlichkeit eingreifen. Wenn es darum gehe, bevorstehende Störungen der Persönlichkeitsentwicklung mittels Massnahmen abzuwenden, die auf die Veränderung der personalen und sozialen Ausgangsbedingungen abzielen, seien es präventive Interventionen; wenn bereits bestehende Verhaltensauffälligkeiten mittels Therapie, Beratung oder anderer Hilfe gemindert oder beseitigt werden sollen, seien es korrektive oder rehabilitative Interventionen. 69 5. (Primär-)Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs Obwohl sich Engel und Hurrelmann dabei auf gewaltbereite jugendliche AkteurInnen beziehen, lässt sich ihr Konzept auf die Prävention beim sexuellen Kindesmissbrauch anpassen. Alle Massnahmen der genannten Interventionsträger, die risikohafte personale und soziale Bedingungen so verändern, dass ein drohender Missbrauch abgewendet werden kann oder eine potentielle Missbrauchssituation gar nicht erst entsteht, wären folglich präventive Interventionen. In der Literatur werden diese Interventionen vielfach als Primärprävention bezeichnet. Hingegen wären korrektive Interventionen jene, die beim ersten Auftreten von sexuellem Missbrauch die beteiligten Personen und die sozialen Gegebenheiten derart beeinflussen, dass das schädliche Verhalten künftig verhindert sowie seine Folgewirkungen minimiert werden können. Dieser Interventionstyp wird in der Literatur auch als Sekundärund Tertiärprävention beschrieben. Konzept der Massnahmen der primären, sekundären und tertiären Prävention: Im angloamerikanischen Psychiatriebereich unter Caplan (1964; zit. nach Gebert Rüttimann, 2001, 34) kamen die Konzepte der Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention erstmals zur Anwendung. Die Weltgesundheitsorganisation griff sie auf und sie wurden auch häufig in die psychosoziale und pädagogische Fachliteratur zur Gewalt übertragen. Das soll der Anlass sein, im Folgenden diese Termini zu benutzen und näher zu definieren, statt die seltener anzutreffenden, inhaltlich ähnlich gelagerten Begriffe präventive und korrektive Intervention von Engel und Hurrelmann. In der Missbrauchsliteratur trifft man ferner auch die Aufteilung in Prävention, Intervention/Beratung und Therapie, wobei dann ein Überbegriff entfällt. Ich ziehe Caplans Konzept vor, Prävention als Überbegriff zu sehen, da die beraterische und die therapeutische Arbeit auch einen präventiven Aspekt haben, indem sie weiteren sexuellen Übergriffen vorbeugen wollen. 5.1.1. Primärprävention als Vorbeugung und Ursachenbekämpfung Primärprävention will Entstehungsbedingungen von sexueller Gewalt beeinflussen und potentiell gefährdende Situationen reduzieren. Sie wird von verschiedenen AutorInnen als die eigentlich präventive Arbeit aufgefasst (zum Beispiel von Koch & Kruck, 2000, 33), weshalb sie den Begriff Prävention im Gegensatz zu dieser Lizentiatsarbeit in einem engeren Sinne verwenden, nämlich wenn sie nur den Vorbeugungsaspekt meinen. Primärprävention versteht sich als Ursachenbekämpfung und setzt an, wo noch keine Schädigungen und Gewalttaten erfolgt sind (Klarwein & Schaffhauser, 1997, 71). Potentielle Opfer und TäterInnen sollen 70 5. (Primär-)Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs davor geschützt respektive abgehalten werden, in Missbrauchssituationen zu kommen, tatsächliche Opfer oder TäterInnen zu werden (Vorbeugung). Dabei werden besonders Populationen angepeilt, die Risikogruppen darstellen, aber noch nicht von Störungen betroffen sind. Amann und Wipplinger (1998b, 657) formulieren als übergeordnetes Ziel eine Reduktion der Inzidenzrate, also von neuen Fällen sexuellen Missbrauchs. Da sexueller Kindesmissbrauch, wie in den vorangegangen Kapiteln gezeigt wurde, als ein vielschichtiges und multikausal bedingtes Problem gesehen werden kann, muss es auf verschiedensten Ebenen angegangen werden, nicht nur auf der personalen.22 Laut Ziegler (1990, 138, 145, 226f) ist das Ziel, für Kinder entwicklungs- und sozialisationsgünstige, gewaltfreie inner- und ausserfamiliäre Bedingungen zu schaffen, wozu die Gewalt an Kindern vermehrt als soziales, kulturelles und gesellschaftliches Problem erfasst werden müsse. Insofern die Veränderung von Strukturen, die Aufklärung und Anleitung von gefährdeten Zielgruppen auch zu einer Enthüllung von sexuellem Missbrauch führen kann, bedingt die primäre Prävention immer auch die sekundäre, sie steht mit ihr in Wechselwirkung und ist zum Teil schwer von ihr abzugrenzen. Die nötigen Ressourcen und die erforderliche Kompetenz von Personen und Systemen zum Intervenieren in ein Missbrauchsgeschehen sind unabdingbare Voraussetzungen dafür, dass man überhaupt Primärprävention anbieten darf, da man aufgedeckte Missbrauchsfälle adäquat behandeln und eine Fortsetzung des sexuellen Übergriffs verhindern können muss. Die vorliegende Arbeit wird sich hauptsächlich auf die Primärprävention beziehen, da mir Vorbeugung sehr wichtig erscheint, wenn man dadurch Übergriffe verhindern kann. Für den von mir gewählten schulischen Rahmen stellt sie eine zentrale Möglichkeit dar, auf personaler und institutioneller Ebene in den Kreislauf von sexuellem Missbrauch einzugreifen. 5.1.2. Sekundärprävention als Früherkennung, Intervention und Beratung Laut Brunner (1997, 104; zit. nach Gebert Rüttimann, 2001, 34) geht es in der Sekundärprävention um das Erkennen von Anzeichen der Gewalt (Früherkennung) und um die Reduktion bereits aufgetretenen problematischen Verhaltens. Verdachtsmomente sollten abgeklärt werden, und es müssten im Voraus Instrumente bestimmt sein, wie man im Fall von Gewalt reagieren wolle. Meines Erachtens fällt hier eine Abgrenzung von Primär- und Sekundärprävention schwer, da das Bestimmen von Vorgehensweisen für den Missbrauchsfall vor seinem Eintreten aufgrund des zeitlichen Aspekts auch zur 22 Im Kapitel 5.2.2. werden die verschiedenen Ebenen ausgeführt. 71 5. (Primär-)Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs Primärprävention gehörig verstanden werden kann. – Durch die Früherkennung will man ein weiteres Verfestigen des Gewalthandelns verhindern und deshalb bei ersten manifesten Anzeichen eines Gewalthandelns eingreifen (Klarwein & Schaffhauser, 1997, 73). Deshalb nennt man die sekundärpräventiven Massnahmen auch Intervention23. In der Sekundärprävention will man auch bereits zurückliegende Missbrauchsfälle aufdecken, da sich viele Täter immer neue Opfer suchen. Aus der Opfersicht ist ein weiteres Ziel, schädigende Folgen des Eingreifens und des sexuellen Übergriffes möglichst zu minimieren. (Amann & Wipplinger, 1998b, 657) Hier kommen die Krisenintervention, die beratende Arbeit im Aufdeckungsprozess und die beratende Hilfestellung zum Vorgehen bei erfolgter sexueller Ausbeutung ins Spiel, die gleichzeitig die Brücke von der sekundären zur tertiären Prävention schlagen. Für meine Arbeit werde ich, wenn die interventive Beratung im Zentrum steht, von Sekundärprävention sprechen, wenn es um Hilfestellungen zur therapeutischen Aufarbeitung geht, von Tertiärprävention. 5.1.3. Tertiärprävention als Therapie und Rückfallbekämpfung Ziel der tertiären Missbrauchsprävention ist die Aufarbeitung von Gewalterfahrungen, die therapeutische Begleitung und Behandlung der Opfer und ihres Umfelds (Koch & Kruck, 2000, 33). Laut Amann und Wipplinger (1998b, 657) sollen aus Opfersicht durch Therapie Langzeitfolgen reduziert und Betroffene in der Bewältigung der Erfahrungen unterstützt werden (Schadensbegrenzung). Tertiärprävention kann aber auf der anderen Seite auch die Therapie und Behandlung der TäterInnen beinhalten, damit sie Hilfe erhalten und Rückfälle reduziert werden können. Böllert (1995, 108) hält fest, dass es dabei um alle Massnahmen geht, die bessern, nacherziehen, sozialisieren und die Reintegration ins Sozial- und Arbeitsleben fördern, zum Zweck der Verhinderung künftiger Normverstösse (Rückfallbekämpfung). Klarwein und Schaffhauser (1997, 73) weisen auf die Möglichkeit hin, durch Strafen zur Einübung von Normvertrauen und -einhaltung zu gelangen. Dabei möchte ich auf die kontroverse Diskussion hinweisen, ob respektive unter welchen Voraussetzungen Gefängnisstrafen von SexualstraftäterInnen zugunsten therapeutischer Behandlung in den Hintergrund treten können oder sollten. Strafrechtliche Sanktionen haben auch zum Ziel, die Entschädigung und Genugtuung des Opfers zu gewährleisten und die Befriedigung der moralischen Entrüstung 23 Diese Lizentiatsarbeit wird dieses engere Verständnis des Begriffs Intervention verwenden; sie grenzt sich damit ab von Engel und Hurrelmann (1989, 201-203; siehe Einführung des Kapitels 5.1.), die alle präventiven und korrektiven Massnahmen im Begriff Intervention zusammenfassten. 72 5. (Primär-)Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs der Gesellschaft sicherzustellen. Andererseits scheinen die Ziele der Reintegration und Rückfallprävention über therapeutische Prozesse eher erreichbar zu sein. 5.2. Kategorisierung von primärpräventiven Zielen und Konzepten In der primären Präventionsarbeit stecken vielerlei Inhalte, Ziele, Hoffnungen und Absichten. Ich versuche sie entlang den Dimensionen Gesellschaftsbild/Ansatz, Raum/Ebene und Zielgruppe aufzuzeigen und zuzuordnen. Ferner soll angedeutet werden, wo sich in der Schweiz die Primärpräventionsarbeit bezüglich dieser Kriterien positionieren lässt. 5.2.1. Traditionelles versus feministisches Modell In den vorbeugenden Ansätzen begegnet man nun wieder den Gesellschaftsbildern und Rollenvorstellungen, die im dritten Kapitel zu den Ursachen ausführlich erklärt wurden. Zur Erinnerung: während es im traditionellen Erklärungsmodell der sexuellen Gewalt 24 um die Stichworte fremde, pathologische Triebtäter, „Lolita“-Mädchen, sexuell frustrierte Männer und um individuelle Problemlagen ging, betonten feministische Modelle25 die Funktion der patriarchalen Gesellschaft mit ihren traditionellen Geschlechterrollen, dem Machtgefälle zwischen den Geschlechtern einerseits und zwischen Erwachsenen und Kindern andererseits, der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und der ungleichen ideellen und materiellen Ressourcenverteilung zwischen Mann und Frau. Aus feministischer Sicht erhöhen diese Faktoren die Handlungsmotivation der Täter, lassen ihr Kosten-Nutzen-Kalkül aufgehen und eröffnen ihnen viele Handlungsmöglichkeiten, die auf der anderen Seite den schwächeren Frauen und Kindern vorenthalten bleiben. Eine auf den traditionellen Vorstellungen beruhende Primärprävention warnt folglich vor dem bösen und unsympathischen Fremden, der krankhaften Trieben nachgibt. Kindern wird abgeraten, sich von Unbekannten ansprechen zu lassen oder mit ihnen mitzugehen, sich provokativ zu verhalten oder zu kleiden, dunkle Orte aufzusuchen, in der Dunkelheit allein unterwegs zu sein, etc. Eine solche Strategie kultiviert gehorsame und angepasste Kinder, produziert aber gleichzeitig unselbständige, abhängige, ängstliche, naive und misstrauische Kinder, die in ihrer Entwicklung zur Selbständigkeit, zu selbstbewussten jungen Menschen beeinträchtigt sind, und die Gefahren in ihrem sozialen Nahraum mangels angemessener Aufklärung nicht erkennen können. (siehe auch Märki-Lüthy & Schwegler-Donat, 1993, 71f) 24 25 siehe Kapitel 3.1.1. siehe Kapitel 3.1.2., 3.1.3. und 3.2. 73 5. (Primär-)Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs Sie ist völlig unzureichend, da sie an der gesellschaftlichen Dimension des Problems vorbeizielt und die Fakten zum sexuellen Missbrauch ausser Acht lässt. Aktuelle Literatur zur Primärprävention beruft sich seit den 80er-Jahren vorwiegend auf feministische Überlegungen. Wie diesbezügliche Forderungen und Ziele auf verschiedenen Ebenen aussehen, soll im folgenden Unterkapitel aufgezeigt werden. Diese Lizentiatsarbeit wird sich aus diesen Gründen wesentlich auf das feministische Gedankengut abstützen, dem sich auch die meisten praktischen Primärpräventionsprojekte der neueren Zeit im deutschen Sprachraum verpflichtet fühlen. Im schulischen Alltag ist es aber noch nicht so konsequent an die Stelle des traditionellen Modells getreten. 5.2.2. Gesellschaftlich-strukturelle, institutionelle und personale Wirkdimensionen und Ziele Ziele in der Primärprävention und auch diesbezügliche Forderungen nach Massnahmen sind auf verschiedensten Ebenen anzutreffen, damit eine breit abgestützte Veränderung der Entstehungsbedingungen sexueller Gewalt gegen Kinder möglich ist. Ziele und Massnahmen auf der gesellschaftlich-strukturellen Ebene Entsprechend den feministischen Annahmen zum Entstehen sexueller Gewalt an Frauen und Kindern liegt der Lösungsansatz des Problems besonders in gesamtgesellschaftlichen, kulturellen und strukturellen Veränderungen. Aus Bestens Dreifaktorenmodell (1995, 50-56) ist der Ruf nach einer nicht-geschlechtstypischen Erziehung, einer ausgewogeneren (auch beruflichen) Rollenverteilung, einer „Entsexualisierung“ der Geschlechterbeziehung und einer Reduktion des (ökonomischen) Machtgefälles und der weiblichen (materiellen wie emotionalen) Abhängigkeit vom männlichen Versorger herauszulesen. Die geschlechtliche Diskriminierung soll aufgehoben, die Akzeptanz von (körperlicher) Gewalt gegen Frauen und Kinder verringert sowie soziale Netzwerke, Aufklärung und Erziehung ge- und verstärkt werden (Godenzi, 1994, 328-334). Brockhaus und Kolshorn (1998, 90-102) fordern dazu für die Frauen und Kinder mehr ideelle und materielle Ressourcen, also mehr soziale, politische und wirtschaftliche Macht, Partizipation, Wissen, Autorität und Geld. Es geht um gesellschaftspolitische Konzepte, die strukturelle Bedingungen in der Sozial-, Wirtschafts-, Familien- und Gesundheitspolitik verbessern und Vorbeugungsmassnahmen sowie Beratungs- und Interventionseinrichtungen (Schnittpunkt zum sekundär- und tertiärpräventiven Bereich) der psychosozialen Versorgung ausbauen wollen. Dazu müssen auf der Makroebene legislative Voraussetzungen vorhanden sein. – May (1997, 39-42) fordert, dass 74 5. (Primär-)Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs Primärprävention nicht in Form grossflächiger, alibiartiger Aufklärungskampagnen eine rein symbolische Funktion erfüllen soll, wo politische und gesellschaftliche Handlungs- und Bewältigungsbereitschaft demonstriert und vorbeugende Wirkung unterstellt würden. Es soll der Bevölkerung nicht suggeriert werden, das geeignete Instrumentarium sei bereits vorhanden. Die Chance solcher – von öffentlicher Seite nur symbolisch unterstützter – Kampagnen bestehe aber doch darin, dass man auf die traumatisierenden Gewalthandlungen aufmerksam machen, Stellung zum Thema und zu den Forderungen nach Interventionsmassnahmen beziehen könne. Neben dieser symbolischen Funktion von vorbeugenden Massnahmen müsste ferner die ideologische, die ökonomische und die systemerhaltende Funktion berücksichtigt werden. Die Motive zur Primärprävention auf der Makroebene könnten demzufolge altruistisch, moralisch, ökonomisch und/oder (sozial-) politisch geprägt sein. Durch sexuellen Missbrauch seien Kinder (und Frauen) in ihren Rechten gefährdet, deshalb müssten vorbeugende Makromassnahmen die politischen und ökonomischen Verhältnisse stabilisieren und verbessern. Dabei sind wichtige Arbeitsbereiche die Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit, die engagierte Medien- und Öffentlichkeitsarbeit; es geht um Problemanalyse, Befähigung, Initiative, Emanzipation sowie um die Integration zwischen dem privaten Nahbereich und dem öffentlich-politischen Bereich (Ziegler, 1990, 226f). Die Bevölkerung muss grossflächig über Ursachen, Folgen und Formen des sexuellen Kindesmissbrauchs informiert sein, das Thema soll durch Aufklärung enttabuisiert werden. Letztendlich ist das Ziel die Schaffung von gesellschaftlichen Bedingungen, in denen Kinder freie und selbstbewusste Menschen werden sowie klares (Un-)Rechtsbewusstsein entwickeln und benennen dürfen. Die Schwächeren sollen von den Stärkeren geschützt werden, und es soll eine tolerante Gesellschaft geschaffen werden, in der man auch auf die TäterInnen zugehen und ihnen Hilfe anbieten kann. (Knop & Helms, 1997, 113) Institutionelle Wirkebene: Auf dieser Ebene sollen gesellschaftlich-strukturelle Ziele und Forderungen auf die Mesoebene herunter gebrochen und dort umgesetzt werden. Dazu braucht es unter anderem Institutionen des psychosozialen, pädagogischen, medizinischen und juristischen Bereichs mit Engagement auf TäterInnen- und/oder auf Opferseite. Das können Fachdienste wie zum Beispiel Beratungsstellen, Kinderschutzzentren, Präventionsfachstellen, soziale Dienste, Ärzte, Psychologische Dienststellen sein. Es kann sich dabei aber auch um Vereinsarbeit oder 75 5. (Primär-)Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs Engagement in der Nachbarschaft oder auf kommunaler Ebene handeln, wo man sich für die (politischen) Rechte der Kinder (und Frauen) stark macht. Dabei kommt der Vernetzung und Kooperation von AkteurInnen eine zentrale Bedeutung zu. Andererseits geht es bei der institutionellen Ebene auch um jene Institutionen und Organisationen, die Kinder beherbergen, betreuen oder beschäftigen (zum Beispiel Kinderheime, Betreuungsstätten), und selber ihre Machtstrukturen, ihr Betriebsklima, ihre Ressourcen und Leitlinien dahingehend reflektieren müssen, damit sie interner Gefährdung vorbeugen können. – Auch die Institution Schule26 und die Familie werden auf dieser Ebene angesprochen. Das Familienleben spielt sich auf dem Hintergrund von ökonomischen, technologischen und politischen Realitäten ab und verändert sich entsprechend. Der Selbstwert der Familie, Familienregeln und die Isolation innerhalb der Familien einerseits und gegenüber FreundInnen und der Nachbarschaft andererseits sind tangiert. In der Primärprävention sollen positive emotionale Beziehungen zwischen Eltern und Kindern gefördert werden, Isolationsgefühle abgebaut, Eltern in der Wahrnehmung der eigenen und der kindlichen Bedürfnisse gestärkt und familiäre Stressereignisse in der Umwelt (zum Beispiel am Arbeitsplatz) abgebaut werden. Dazu dienen institutionalisierte Angebote von Erziehungshilfen, (therapeutischen) Interventionen und anderen Unterstützungssystemen. (Lally, 1984, 249-252) Personale Zielebene: Auf dieser Ebene geht es um die Arbeit mit einzelnen Personen oder (Risiko-)Gruppen, wobei man ihre persönlichen Ressourcen und Kompetenzen im Sinne der feministischen Überlegungen steigern will. Hier werden feministische Grundsätze und Forderungen auf der tiefsten und unmittelbarsten Ebene umzusetzen versucht. Die primärpräventiven Ziele auf personaler Ebene sind autoritätskritische, aufgeklärte, selbständige, selbstbewusste und starke Bürger und Kinder, die befähigt sind, ihre Rechte auf körperliche, seelische und sexuelle Integrität zu verteidigen (Märki-Lüthy & Schwegler-Donat, 1993, 71-76). – Als ein Mittel für die Gleichstellung der Geschlechter bietet sich die emanzipatorische Erziehung an, die Mädchen und Jungen nicht mehr auf ihre typisch-traditionellen Eigenschaften, Denkweisen und Verhaltenserwartungen festlegt. Es geht aber auch darum, dass Menschen für das Thema 26 Am Beispiel der Schule im Kapitel 6.1. und im 7. Kapitel kann die institutionelle Ebene der Primärprävention gut nachvollzogen werden. 76 5. (Primär-)Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs sensibilisiert werden und nicht mutlos und überfordert die Augen verschliessen, wenn sie bei einem Kind Anzeichen von sexuellem Missbrauch wahrnehmen. Im Zusammenhang mit den Zielgruppen der Primärprävention sollen die Ziele auf personaler Ebene näher ausgeführt werden. 5.2.3. Zielgruppen: Täter versus Opfer, Erwachsene versus Kinder Eingebundene Zielgruppen in die Primärprävention sind PädagogInnen, MitarbeiterInnen in sozialen, medizinischen, psychologischen und juristischen Bereichen, PolitikerInnen, die „Gesellschaft an und für sich“, Kinder und Erwachsene als (potentielle) TäterInnen wie Opfer (May, 1997, 51). Die Gesellschaft als Ganzes wurde bereits im Kapitel 5.2.2. angesprochen, als es um strukturelle Veränderungen ging. An dieser Stelle soll aufgezeigt werden, inwiefern Primärprävention sowohl Täter- wie auch Opferarbeit sein kann, mit Erwachsenen (zum Beispiel Eltern und ErzieherInnen) wie auch mit Kindern arbeiten kann. Meine Lizentiatsarbeit wird sich in der Ausarbeitung der konkreten Primärprävention (siebtes Kapitel) an die kindliche Zielgruppe wenden und die Erwachsenen insofern einbeziehen, als sie die schulische Arbeit mit den Kindern vorbereiten, verankern und kooperativ gestalten müssen.27 Warum Kinder als Zielgruppe? Kinder sind leicht beeinflussbar und können rasch lernen. Sie können in der Institution Schule durch LehrspezialistInnen langfristig unterrichtet und regelmässig erreicht werden. Man kann sie erfassen, bevor sie schwerwiegende Probleme haben und jenen, die bereits Gewalt erfahren haben, kann beim Ausbruch aus dem Gewaltkreislauf geholfen werden. In der Arbeit mit Kindern können Kompetenzen auf instrumenteller, affektiver, sozialer und gesellschaftlicher Ebene vermittelt werden. Man erhofft sich durch die Verbesserung des Wissens auch im Bezug auf die Gewalt- und Missbrauchsthematik, dass Kinder Konflikt- und Gewaltsituationen besser verstehen und sich im Sinne der Vorbeugung verhalten lernen. (Ziegler, 1990, 144-150) Sommer (1977, 70-98; zit. nach Ziegler, 1990, 145-150) klassifizierte die für die Vorbeugung relevanten Kompetenzen28 in drei Schwerpunkte: - Instrumentelle Kompetenzen: Hier handelt es sich um sachliches Wissen, das in der traditionellen Schule primär vermittelt wird; also Lesen, Schreiben, Rechnen, 27 Eine ausführliche Begründung zu dieser Auswahl findet sich in der Einleitung der Lizentiatsarbeit. Definition Kompetenz: „die Verfügbarkeit und angemessene Anwendung von Verhaltensweisen (motorischen, kognitiven und emotionalen) zur effektiven Auseinandersetzung mit konkreten Lebenssituationen, die für das Individuum und/oder seine Umwelt relevant sind“ (Sommer, 1977, 75; zit. nach Ziegler, 1990, 145) 28 77 5. (Primär-)Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs technisch-naturwissenschaftliches sowie biologisch-medizinisches Grundwissen, Informationssammlung und -verarbeitung, grundlegende wissenschaftliche Vorgehensweisen und Problemlösefähigkeiten. Dabei wäre eine hohe Lebensrelevanz wünschenswert, damit das Individuum in der hoch komplexen industrialisierten Gesellschaft zurechtkommt. - Individuelle und soziale Kompetenzen: Diese helfen im erfolgreichen Umgang mit sich und andern, im Umgang mit Bedürfnissen und Gefühlen. Man soll an sich selber Interessen spüren, bejahen und sie mitteilen können und diejenigen der andern mitberücksichtigen. Dabei soll das eigene Verhalten kritisch hinterfragt werden, die soziale Wahrnehmung verbessert, Kommunikation und Kooperation erhöht und ein hohes Mass an Selbständigkeit, Eigensteuerung, Selbstwertgefühl und Angstfreiheit erreicht werden. - Gesellschaftlich-politische Kompetenzen: hier geht es um die Einsicht in die Notwendigkeit der Demokratisierung. Das Individuum soll politisches und gesellschaftliches Wissen haben, damit es seine eigene Umwelt aktiv mitgestalten und demokratisch handeln kann. Mit diesen Kompetenzen ausgestattet sollten die Kinder weniger angreifbar für sexuelle Übergriffe sein. Durch das Trainieren vielfältiger Kompetenzen sollen sie unter anderem auch Empathie, gewaltfreien Umgang mit andern und alternative Konfliktlösefähigkeiten erlernen. Obwohl der Schwerpunkt der Arbeit mit Kindern auf der Opferperspektive liegt, sollen Kinder – insbesondere Jungen – laut Marquardt-Mau (1993, 24f; zit. nach Amann & Wipplinger, 1998b, 660) auch so erzogen werden, dass sie nicht zu TäterInnen werden. Wesentlichstes Ziel der Täterarbeit ist das Fördern der Empathie gegenüber dem Opfer. Spezifische Primärpräventionsprogramme zielen darauf ab, dem Bagatellisieren von sexueller Gewalt entgegen zu wirken, die vorherrschende Auffassung von Männlichkeit, Sexualität und Gewalt zu hinterfragen und Einsicht in die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern zu vermitteln. Sie wollen lehren, mit Machtbedürfnissen und Ohnmachtgefühlen umzugehen, die Grenzen des andern zu respektieren sowie Alternativen zu sexuell gewalttätigem Verhalten zu erlernen. Die Kontrolle von TäterInnen und ihre Behandlung scheinen wichtig zu sein, da sexueller Missbrauch selten eine Einzeltat ist. (Amann & Wipplinger, 1998b, 661) Diese Aspekte tauchen denn auch in der Arbeit mit (potentiellen) erwachsenen TäterInnen auf. Nebst der Täterorientierung kann die vorbeugende Arbeit mit Erwachsenen auch eine 78 5. (Primär-)Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs Opferperspektive einnehmen, sich an Erwachsene richten, die für den Schutz der Kinder verantwortlich sind, was als indirekte Opferarbeit bezeichnet werden kann. Für die in dieser Lizentiatsarbeit behandelte schulische Vorbeugungsarbeit ist dieser Aspekt der Erwachsenenarbeit zentraler. Wesentliches Ziel der Arbeit mit Eltern, ErzieherInnen, LehrerInnen, SozialarbeiterInnen oder andern Bezugspersonen als potentiellen ZeugInnen ist deren Befähigung, den Kindern zu helfen, sich vor Missbrauch zu schützen, und die Kinder selbst aktiv zu schützen. Dazu empfiehlt sich, dem Kind eine gleichberechtigte, nicht geschlechtsstereotype Sozialisation zu vermitteln, sein Selbstbewusstsein zu stärken und es aufzuklären, so dass es die Anfänge von sexuellem Missbrauch erkennen und eventuell sogar abwehren kann. Die erwachsene Gruppe soll durch die Primärprävention befähigt werden, über Missbrauch Bescheid zu wissen, kindergerecht über das Thema Sexualität zu sprechen, selber Indizien von sexuellen Übergriffen zu erkennen und primärpräventive Inhalte in ihren Erziehungsalltag einfliessen zu lassen. Durch dieses regelmässige Konfrontieren mit dem Thema stellt sich ein Trainingseffekt ein, der sehr zu begrüssen wäre. Im Fall eines Missbrauchs sollen erwachsene Bezugspersonen befähigt werden, dem Kind adäquate Hilfe zukommen zu lassen. (Amann & Wipplinger, 1998b, 658f) 5.2.4. Diesbezügliche Situierung der aktuellen primären Präventionsarbeit in der Schweiz Godenzi (1994, 327, 334) hält fest, dass primärpräventive Ansätze auf übergeordneter, also strukturell-gesellschaftlicher, Ebene recht selten sind und dahingehend einzig die Strategien der Aufklärung und Erziehung verfolgt werden, da sie in Projektform einfacher zu organisieren sind und nicht an den wesentlichen Strukturen rütteln. Laut Elmer (2004, 23) fehlt es an politischem Willen und genug mächtigen Interessensvertretungen. Mit dem Argument von hohem organisatorischen, zeitlichen und finanziellen Aufwand und unsicherem Ertrag würden gesellschaftliche Massnahmen auf der zuständigen Ebene meist abgelehnt. Es fehle das Zusammenspiel von wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Kräften. Das dürfte nicht zuletzt auch damit zu tun haben, dass die Männer mehrheitlich diese entscheidenden Positionen innehaben und sich durch emanzipatorische Forderungen in ihrem Selbstverständnis und ihrer Vormachtstellung bedroht und in ihrer Männlichkeit angefeindet fühlen. Veränderungen auf dieser Ebene werden vor allem von engagierten und teils vernetzten Frauen- und Kinderorganisationen, von FeministInnen und SozialforscherInnen wiederholt gefordert und vorangetrieben, so dass sich der träge Apparat allmählich doch in 79 5. (Primär-)Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs Bewegung setzt. – Bezüglich des grossen Kostenaufwands besteht bei den BefürworterInnen die langfristige Erwartung, dass man Kosten (und Leid) sparen könnte, indem bei einer möglichst ganzheitlichen und effektiven Vorbeugung durch eine reduzierte Rate an Sexualdelikten weniger Folgekosten (medizinische und psychosoziale Betreuung, Therapie, Gefängnisaufenthalte, etc.) entstünden. Bei Ziegler (1990, 145-150, 225) findet sich die Einschätzung, dass viele Programme mit Kindern ihren Schwerpunkt auf der instrumentell-rationalen Kompetenzebene hätten, und der gesellschaftlich-politische Unterricht weitgehend vernachlässigt würde. Gerade dieser könnte aber die Individuen befähigen, aktiv die Umwelt mitzugestalten und für menschenwürdige Arbeits- und Lebensverhältnisse zu sorgen. Heutige Hilfsangebote und Programme sprächen fast nur die familiale und individuelle Ebene der Gewaltproblematik an. Bisher wurden in erster Linie begrenzte vorbeugende Massnahmen und Projekte durchgeführt. Es ist kein übergeordnetes Konzept der Primärprävention von Gewalt erkennbar und kein verbindlicher Artikel existiert dazu in der Gesetzgebung. Selbst die Ratifizierung der UNO-Kinderrechtskonvention und des Bundesverfassungsartikels (Artikel 11) zum Schutz der Unversehrtheit von Kindern haben keinen Anlass zu länger dauernder und nationaler Primärprävention gegeben. Projekte sind meistens weder inhaltlich, noch zeitlich, noch regional verbunden und koordiniert. Von heraufbeschworenen Synergieeffekten ist wenig zu spüren. Projekte sind meistens kurzzeitig, regional begrenzt, decken nur einzelne Aspekte ab und richten sich zum grossen Teil ans Zielpublikum der potentiellen Opfer. Bis heute ist Primärprävention, die sich an Erwachsene und (potentielle) TäterInnen richtet, nur in sehr begrenztem Rahmen zu finden. (Ziegler, 2004, 43-47, 51) Jedoch schildert Elmer (2004, 16-18) im gleichen praxisorientierten Buch der Fachstelle Limita wie Ziegler, dass sich in der Schweiz der Fokus vom innerfamiliären sexuellen Missbrauch (80er Jahre) auf den Missbrauch im weiteren sozialen Nahraum (90er Jahre) verschoben habe, und deshalb verstärkt die institutionelle Primärprävention angestrebt werde. Eine flächendeckende vorbeugende Opferarbeit an Schulen sei im Gegensatz zu den USA hierzulande nie Anspruch gewesen. Die Feministinnen, die die Kernideen der Primärprävention sexueller Ausbeutung in die Schweiz gebracht hätten, hätten sich Ende der 80er Jahre unter dem Namen „Limita“ versammelt und von Anfang die Verantwortung der Erwachsenen für den Kinderschutz, also die indirekte Opferarbeit, ins Zentrum gestellt. Es könnte also sein, dass sich hierzulande eine Entwicklung von der Arbeit mit Kindern hin zu der Arbeit mit Institutionen und deren VertreterInnen abzeichnet, wobei Meier Rey (2003, 80 5. (Primär-)Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs zit. nach Elmer, 2004, 18f) zugleich eine allgemeine Ermüdung der Primärpräventionsbewegung ausmacht, da die gesellschaftliche Anerkennung und Entlohnung gering seien. Letztlich hätten sich doch schnelle, einmalige Übungen mit Kindern durchgesetzt statt nachhaltige, strukturelle und wissenschaftlich begleitete Arbeit. Es scheint eine grosse Kluft zwischen Praxiswunsch (aufgrund Einsicht in die Notwendigkeit) und effektiver Praxis zu geben. Um empirisch gesicherte Aussagen über die aktuellste Lage in der Schweiz zu machen, müsste aber eine wissenschaftliche Studie durchgeführt werden, die alle bestehenden Projekte erfasst und analysiert, was meines Wissens noch niemand in Angriff genommen hat. 5.3. Schematische Zusammenfassung der Dimensionen der (Primär-)Prävention Auf den letzten Seiten wurde dieser Lizentiatsarbeit ein Verständnis der (Primär-)Prävention zugrunde gelegt, das sich in der folgenden Abbildung ausdrücken lässt: PRÄVENTION SEXUELLEN KINDESMISSBRAUCHS PRIMÄRPRÄVENTION: Vorbeugung, Ursachenbekämpfung, Aufklärung Wirkdimension (Ebene): - gesellschaftlichstrukturell - institutionell (zum Beispiel Schule) - personal Abbildung 8: SEKUNDÄRPRÄVENTION: Früherkennung, Aufdeckung, Intervention, Beratung TERTIÄRPRÄVENTION: Therapie, Rückfallbekämpfung, Schadensbegrenzung (personale) Zielgruppen: - (potentielle) Opfer - (potentielle) TäterInnen: Kinder wie Erwachsene - Bezugspersonenarbeit (Eltern, Erziehende, Lehrkörper, …) - Fachleute aus dem psychosozialen, juristischen, pädagogischen, medizinischen Bereich - Öffentlichkeit, PolitikerInnen,… gesellschaftlicher Ansatz (Modell): - traditionell - feministisch orientiert Übersicht über die betrachteten Dimensionen der Prävention sexuellen Kindesmissbrauchs (kursiv hervorgehoben: Schwerpunkte der Lizentiatsarbeit) Die Abbildung zeigt, dass diese Lizentiatsarbeit Prävention als Übergriff verstehen möchte. Ins Zentrum wird die Primärprävention mit ihren verschiedenen Ebenen, Modellen und 81 5. (Primär-)Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs Zielgruppen gestellt. Kursiv gedruckt sind in der Abbildung jeweils jene Aspekte, die im siebten Kapitel zur konkreten Primärprävention besonders berücksichtigt werden. Aus der schematischen Darstellung wird ersichtlich, dass schwerpunktmässig die feministisch orientierte Vorbeugungs- und Aufklärungsarbeit mit insbesondere potentiellen Opfern (respektive SchülerInnen) behandelt wird, wobei auch ihre institutionelle Einbettung, Vorbereitung und Zusammenarbeit berücksichtigt wird. 5.4. Exkurs: Kritische gesellschaftliche Aspekte des (primär)präventiven Kinderschutzes Vorbeugung von sexueller Gewalt gegen Kinder ist im Wesentlichen ein moderner Kinderschutz. Diesbezüglich behandelt Kupffer (1984, 80-95) Spannungsfelder entlang folgender Fragen: Wer schützt wen? Wie will er schützen, und wovor? Da dabei kritische gesellschaftliche Aspekte der (primär)präventiven Kinderschutzarbeit angesprochen werden, die auch heute noch aktuell sind, sollen Kupffers Ausführungen hier dargelegt werden: Es gibt kein bewährtes, allgemein anerkanntes Menschenbild, welches uns das Urteil erlaubt, was für die Kinder gut oder schädlich ist. Das ist jeweils eine gesellschaftliche Definitionsfrage. Ebenso muss man sich bewusst machen, dass eine einheitliche Kinderwelt mit einem Erziehungsstil Fiktion ist. Weist man mit Bezug auf sein eigenes Menschenbild auf eine vermeintlich drohende Gewalt hin, so setzt man sie als objektiv vorhanden und in ihren Auswirkungen klar bestimmbar. Es könnte jedoch sein, dass erst dadurch das System von „gut/schlecht“ hervorgebracht wird, weil man seinem eigenen Menschenbild eine universelle Gültigkeit verpasst. Kinderschutz ist nicht zwingend eine Staatsaufgabe, es sei denn, strafrechtliche Normen werden verletzt. Das Gesellschaftsverständnis definiert, ob Kinderschutz eine gesellschaftliche Aufgabe sein soll oder nicht. Die Auffassung über den Stellenwert von Kontrolle und privatem Leben sind ausschlaggebend. Zählt die Freiheit des Individuums stark – was dem westlich-demokratischen, gesellschaftlichen und individuellen Freiheitsbegriff entspricht – so möchte man Menschenrechte für alle. Man strebt den Abbau von Herrschaft und die Freiheit des Einzelnen vor erniedrigender Behandlung durch Mitmenschen, Staat, Justiz, etc. an. Konkurrierend dazu gibt es aber einen mitteleuropäisch-personalen Freiheitsbegriff, der ebenfalls der christlichen Tradition entspringt, und in dem die Subsidiarität der Familie, ihre natürliche Einheit und ihre Freiheit Vorrang haben vor der Freiheit des Individuums. – Es stehen sich also die liberalistische Überbewertung des Einzelnen und die Gefahr der passiv tolerierten Gewalttaten innerhalb in sich geschlossener Familiensysteme gegenüber. Bei 82 5. (Primär-)Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs Kriseninterventionen muss deshalb immer entschieden werden, ob die Freiheit des Kindes Vorrang hat vor derjenigen der Familie. Grundsätzlich ist der Staat kein Gesamterzieher, er kann keine zwischenmenschlichen Konflikte lösen. Jedoch kann er Netzwerke knüpfen, äussere Rahmenbedingungen schaffen und Überleben sichern, indem er als zentrale Organisationseinheit zum Beispiel Kindergärten und Schulen oder materielle und rechtliche Hilfe für Familien institutionalisiert. Es gehört zum Kinderschutz, dass sich Erwachsene damit auch selbst schützen wollen. Sie möchten, dass die Kinder „funktionieren“, um den gesellschaftlichen Errungenschaften ein Fortbestehen zu sichern. Dabei gilt es zu überlegen, was noch vertretbare Schutzmassnahmen für Kinder sind und was bereits die Freiheit von Kindern oder Erwachsenen angreift. Durch zuviel Schutz können nämlich neue Gewaltverhältnisse, Bevormundung und Keimfreiheit entstehen, die ihrerseits die Widerstandskraft schwächen, das Übel also noch begünstigen. Das Kind würde sich nur im von uns geschaffenen Lebensrahmen sicher fühlen, ausserhalb dieses Schutzraums aber umso gefährdeter leben. Wird Verantwortung als Kontrolle des Kindes gelebt, kann sie bei einem allfällig hierarchischen Schema der Zuständigkeit zur Verantwortungslosigkeit werden. Im Kontext der Prävention von Gewalt droht also ein dialektischer Prozess: durch bürokratischen und staatlichen Schutz erhalten ausführende Instanzen mehr Macht gegenüber ihren Zielgruppen. Besonders in den Unterschichten erfolgt aber eine ablehnende Reaktion auf staatliche Eingriffe, die eigentlich gerade ihnen helfen sollten. Deshalb sollte der Kinderschutz möglichst keiner Behörde zuarbeiten und mit freiwilligen und professionellen HelferInnen arbeiten, um Zugang zu allen Zielgruppen zu erhalten. Primärprävention soll sich entlang von Freiheit, Recht und Emanzipation entwickeln. Kinderschutz muss Kindern Freiheit und Recht einräumen, auch wenn dies kein Individuum geltend macht. Emanzipatorischer Kinderschutz wehrt nicht nur Gefahr ab, sondern nimmt auch eine Anwaltsrolle für das Kind ein. Er zeigt demokratische Möglichkeiten der Gesellschaft auf, stellt konkrete Utopien vor und strebt Veränderungen im öffentlichen Bewusstsein an. – Diese von Kupffer aufgezeigten Spannungsfelder im Kontext des Kinderschutzes sollen beim Ausarbeiten der Kriterien für die schulische Primärprävention29 berücksichtigt werden. – Im folgenden Kapitel wird zunächst die Frage behandelt, von wem Missbrauchsprävention in der 29 siehe Kapitel 7.2. 83 6. Primäre Missbrauchsprävention als interdisziplinäre Aufgabe? Schweiz konkret wahrgenommen werden könnte. Dies soll zusammen mit den vorher gelieferten Hintergrundinformationen über (Primär-)Prävention als Ausgangslage dienen, um die zweite Hauptforschungsfrage nach den primärpräventiven Möglichkeiten von Schule und Sozialer Arbeit gegen sexuellen Missbrauch zu behandeln. 6. PRIMÄRE MISSBRAUCHSPRÄVENTION ALS INTERDISZIPLINÄRE AUFGABE? Es stellt sich die Frage (Fragenblock c) der Forschungsunterfragen), wessen Aufgabe hierzulande die vorbeugende Arbeit mit Kindern im sexuellen Gewaltbereich überhaupt ist. Kann es als Privatsache oder als gesellschaftliche Verpflichtung gesehen werden? Welche wissenschaftlichen Disziplinen bekümmern sich damit? Ist es eine Aufgabe der Sozialarbeit, Schulpädagogik, Kriminalistik/Rechtswissenschaft, Medizin, Psychologie, Psychiatrie, Politikwissenschaft oder womöglich all dieser Disziplinen zusammen, Kinderschutz zu verfolgen? Mit Kupffer (ebd.) machte ich im vorhergehenden Unterkapitel darauf aufmerksam, dass das Gesellschaftsverständnis bestimmt, ob der Kinderschutz zur staatlichen Aufgabe erklärt wird. In der Schweiz hat die Gesellschaft eine eher ethisch-moralische Pflicht, ihre Mitglieder, insbesondere die Kinder, vor sexueller Gewalt zu schützen. Artikel 122ff und 187ff des Schweizerischen Strafgesetzbuches (Rehberg, 1999, 182-193, 273-288) halten strafbare Handlungen gegen Leib und Leben respektive gegen die sexuelle Integrität fest; sexuelle Handlungen mit Kindern werden explizit unter Strafe gestellt. Die Forderung nach Kinderschutzbemühungen leiten sich aus der von der Schweiz 1997 ratifizierten UNOKinderrechtskonvention vom 20. November 1989 (siehe dazu kinderrechte.net, o.J.: Artikel 1930 und 3431) ab. Ziegler (2004, 43) verweist zudem auf den Artikel 11 der Bundesver- 30 Artikel 19 [Schutz vor Gewaltanwendung, Misshandlung, Verwahrlosung] (1) Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmaßnahmen, um das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschließlich des sexuellen Missbrauchs zu schützen, solange es sich in der Obhut der Eltern oder eines Elternteils, eines Vormunds oder anderen gesetzlichen Vertreters oder einer anderen Person befindet, die das Kind betreut. (2) Diese Schutzmaßnahmen sollen je nach den Gegebenheiten wirksame Verfahren zur Aufstellung von Sozialprogrammen enthalten, die dem Kind und denen, die es betreuen, die erforderliche Unterstützung gewähren und andere Formen der Vorbeugung vorsehen sowie Maßnahmen zur Aufdeckung, Meldung, Weiterverweisung, Untersuchung, Behandlung und Nachbetreuung in den in Absatz 1 beschriebenen Fällen schlechter Behandlung von Kindern und gegebenenfalls für das Einschreiten der Gerichte. 31 Artikel 34 [Schutz vor sexuellem Missbrauch] Die Vertragsstaaten verpflichten sich, das Kind vor allen Formen sexueller Ausbeutung und sexuellen Missbrauchs zu schützen. Zu diesem Zweck treffen die Vertragsstaaten insbesondere alle geeigneten innerstaatlichen, zweiseitigen und mehrseitigen Maßnahmen, um zu verhindern, dass Kinder a) zur Beteiligung an rechtswidrigen sexuellen Handlungen verleitet oder gezwungen werden; b) für die Prostitution oder andere rechtswidrige sexuelle Praktiken ausgebeutet werden; c) für pornographische Darbietungen und Darstellungen ausgebeutet werden. 84 6. Primäre Missbrauchsprävention als interdisziplinäre Aufgabe? fassung, der das Recht auf Unversehrtheit und besonderen Schutz und Förderung der Kinder festhält; ein verbindlicher Gesetzesartikel zur Vorbeugung fehle aber. In Deutschland hat die Delegiertenversammlung am Kinderschutztag 1975 die deutsche Charta des Kindes in Form von zehn Thesen verabschiedet, die vom damaligen Präsidenten des Kinderschutzbundes, Professor Doktor Kurt Nitsch, formuliert wurden. Darin sind auch primärpräventive Forderungen enthalten, die man für die Schweiz ebenso formulieren könnte: - Die Kinder sollen vor den Gefahren durch Medien geschützt werden. - Da die älteren Schulklassen die Eltern von morgen sind, sollen sie in Gesundheit und Erziehung unterrichtet werden. - Kinder haben das Recht auf seelisch-geistige und soziale Gesundheit dank Ärzten, Gesetzgebung, Ausbildung der Eltern und kinderkundlichen Berufen. Eine Verbesserung der primärpräventiven und frühtherapeutischen Möglichkeiten in allen Gesundheitsbereichen der Jugendlichen wird gefordert. - Die Sozialgesetzgebung hat die Aufgabe, dem Schutz des Kindes zu dienen. - Sexualerziehung muss dem Alter und dem Entwicklungsstand des Kindes angepasst sein. Eines ihrer bedeutenden Ziele ist der Schutz des Kindes vor sexuellem Missbrauch. Interdisziplinäre Forschung soll dafür beachtet werden. (Wilken, 1984, 114-120) Wenn man sich diese Forderungen vor Augen hält, wird einem bewusst, dass alle Disziplinen, die mit Kindern beruflich zu tun haben, gefordert sind, ihren Beitrag zur Vorbeugung zu leisten. In der Schweiz beschäftigen sich diese Berufsfelder in unterschiedlicher Intensität mit sexuellem Kindesmissbrauch, wobei sich die meisten Bemühungen auf den sekundär- und tertiärpräventiven Bereich beziehen; also um den Schutz und die Behandlung des Kindes nach erfolgtem Missbrauch. Wo sich so viele Fachrichtungen um ein Thema bemühen, scheint die Interdisziplinarität ein zentrales Anliegen zu sein, Vernetzung und Austausch, Zusammenarbeit und fachübergreifende Forschung. Denn Wissen soll geteilt, effizienter Schutz von Kindern ermöglicht und Synergien genutzt werden. Es ist eine grosse Herausforderung, sich bei einer so enormen thematischen Nähe nicht zu konkurrenzieren, zu misstrauen und zu missverstehen, da jede Disziplin über andere Prinzipien, andere theoretische Positionen und andere Funktionsmechanismen verfügt. Eine klare Rollenzuteilung, eine gemeinsame Zieldefinition, eine 85 6. Primäre Missbrauchsprävention als interdisziplinäre Aufgabe? Aufgabenklärung sowie transparente Kommunikation über die je eigenen Vorannahmen und Arbeitsweisen einer Disziplin scheinen mir dabei zentral. Meine Arbeit siedelt sich im Schnittbereich von Sozialer Arbeit und Schule/Schulpädagogik an, und wird deshalb im Folgenden die Zuständigkeit dieser beiden Disziplinen für die (primäre) Missbrauchsprävention herausgreifen und nach fachübergreifender Zusammenarbeit in Form der Schulsozialarbeit fragen. 6.1. Primäre Missbrauchsprävention als Aufgabe der Schule? Für die Schule ist es erstmal nahe liegend, sich mit sexuellem Missbrauch zu beschäftigen, da er vor der Schule nicht halt macht. Einerseits sind Kinder untereinander auf dem Schulhof oder im Klassenzimmer gewalttätig – wenn auch bei der kindlichen Gewalt der sexuelle Aspekt nicht im Vordergrund steht – andererseits verhalten sich zuweilen auch LehrerInnen gegenüber ihren SchülerInnen sexuell missbräuchlich. Wenn in einem LehrerInnenteam der Verdacht auf eine/n Kollegen/Kollegin fällt, können die Primär- und Sekundärprävention besonders brisant werden. Hier stellt sich für die Schule im Falle einer schulweiten Einführung eines Primärpräventionsprojekts das Problem, dass sie meistens nicht wissen kann, ob eine/r ihrer MitarbeiterInnen die Schützlinge sexuell ausbeutet. Umso wichtiger wird die Bedeutung von institutionellen Massnahmen, um im schulischen Setting den Zugang für potentielle TäterInnen zu erschweren, die Transparenz und Hemmschwellen für Übergriffe zu erhöhen. Da sexueller Missbrauch nicht selten innerfamiliär auftritt, kommt der Schule eine besondere Rolle in der Stärkung und Unterstützung der Kinder zu, da in diesem Fall die Eltern ihre Aufgabe nicht zureichend wahrnehmen (können) beziehungsweise wahrgenommen haben. Primärpräventionsinhalte in Kindergarten und Schule zu vermitteln bietet sich ferner an, da ErzieherInnen und Lehrkörper tagtäglichen Kontakt mit den Kindern haben. Ausserdem sind sie jene, die oft die Chance hätten, Anzeichen von sexuellem Missbrauch wahrzunehmen, wenn sie sensibilisiert und informiert genug wären. – Johns und Kirchhofer (1995, 226f) nennen es deshalb als umso unbegreiflicher, dass LehrerInnen selten an Entscheidungsprozessen bei sexuellem Missbrauch beteiligt seien und wenig diesbezügliche Fortbildung hätten. Zudem begänne der Missbrauch in den meisten Fällen im Grundschulalter, deshalb bestehe für die Schule besonderer Handlungsbedarf. – Bange (1992, 92f) betont auch die Wichtigkeit, sexuellen Missbrauch in der Schule zu thematisieren, weil Freunde und Freundinnen dadurch befähigt werden könnten, unterstützend zu reagieren, da sie vielfach von 86 6. Primäre Missbrauchsprävention als interdisziplinäre Aufgabe? einem Opfer als erstes eingeweiht werden. Besonders gelte das für Jungen, die später als Partner von missbrauchten Mädchen oder Frauen figurieren. Die Gesellschaft hat zahlreiche Erwartungen an die Schule, so dass sich LehrerInnen leicht als die Reparaturwerkstätte der unzureichenden elterlichen Erziehung wahrnehmen könnten und sich angesichts der zahlreichen Herausforderungen neben der rein stofflichen Vermittlung überfordert fühlen. Die Schule als von der Gesellschaft geschaffenes System hat die Funktion, Kinder auf das berufliche Leben vorzubereiten, sie aufgrund Leistung zu selektionieren und zu bewerten, und sie stellt dabei eine gewisse Konformität unter SchülerInnen her. Doch ihr kommt auch eine Sozialisationsfunktion zu, sie muss Kinder aufs künftige Leben in einer demokratischen Gesellschaft mit mündigen BürgerInnen vorbereiten, also auch soziale Kompetenzen innerhalb einer ganzheitlichen Erziehung fördern. Hopf (1995, 261) nennt die Auflage an die Schule, die gesamte erzieherische Arbeit in der Grundschule habe alle SchülerInnen unter Berücksichtigung ihrer individuellen Voraussetzungen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung und in sozialen Verhaltensweisen zu fördern. Furer und Stähli (1998, 53) zitieren den Berner Lehrplan der Volksschule vom Jahre 1995, der sich von der Schule einen Beitrag zur Mündigkeit verspricht, indem er unter anderem schulische Sexualerziehung vorsieht, was laut Furer und Stähli biologische, zwischenmenschliche, ethische und gesellschaftlich-kulturelle Aspekte beinhaltet. Dazu gehörten auch Fragen der sexuellen Belästigung, Gewalt und Ausbeutung. Im Zusammenhang mit Primärprävention ist jene gegen sexuellen Missbrauch nur eine Hoffnung, die man mit der Schule verknüpft. Auch in der Gesundheitserziehung, der Gewaltvorbeugung an sich, in der Sucht- und AIDS-Vorbeugung wünscht sich die Gesellschaft den aktiven Beitrag der Schule. Teilweise können diese Themen in der primärpräventiven Arbeit in der Schule miteinander verknüpft werden, da sie Gemeinsamkeiten inhaltlicher und methodischer Art aufweisen. Die Schule kann einerseits auf übergeordneter Ebene institutionelle Prävention konzeptualisieren (besonders auch gegen Binnengefahren), welche die TäterInnen- wie die Opferperspektive, Primär- wie auch Sekundärprävention beinhaltet, andererseits kann die Schule auf personaler Ebene direkte Primärpräventionsarbeit mit Kindern anbieten; einerseits mit SchülerInnen als (potentiellen oder tatsächlichen) Opfern, andererseits als künftigen (potentiellen) TäterInnen oder ZeugInnen. Für diese Arbeit muss die Schule auf verschiedenen 87 6. Primäre Missbrauchsprävention als interdisziplinäre Aufgabe? Ebenen Vorbereitungen treffen respektive verschiedene AnsprechpartnerInnen einbeziehen.32. 6.2. (Primär-)Prävention im Umfeld der Sozialen Arbeit: öffentliche und private AnbieterInnen in der Schweiz Eingangs möchte ich kurz Stellung nehmen zum Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit. Ich verstehe Soziale Arbeit als Überbegriff für die Berufszweige Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Soziokulturelle Animation. Aus verschiedenen Gründen soll hier keine begriffliche Debatte angestrengt werden, wo Sozialarbeit aufhört und wo Sozialpädagogik anfängt: erstens ist die Debatte in der Literatur sehr umfangreich und mit einem grossen historischen Exkurs verbunden, zweitens ist sich die Lehre darüber selbst nicht einig – von verschiedenen AutorInnen werden die Begriffe auch synonym verwendet – und drittens ist gerade im Zusammenhang mit Präventionsarbeit mit Kindern ein Abgrenzungsversuch zum Scheitern verurteilt. Wo es um die Arbeit mit Kindern geht, kommen immer soziale und erzieherische Aspekte zum Tragen. Und schliesslich möchte diese Arbeit eben gerade das Interdisziplinäre der missbrauchsvorbeugenden Bemühungen hervorheben; ein Denken in der je eigenen Profession würde sehr rasch an Grenzen stossen. Deshalb spreche ich in meiner Arbeit im Allgemeinen von der Sozialen Arbeit statt von der Sozialarbeit. Betrachtet man öffentliche oder private Fachdienste und Institutionen in der Praxis der (Primär-)Prävention gegen sexuellen Kindesmissbrauch, stellt man fest, dass eine eindeutige Zuordnung der Einrichtungen zum medizinisch-psychologischen, sozialarbeiterischen, sozial-, heil- oder freizeitpädagogischen Feld sehr schwer fällt, zumal sie oft aus interdisziplinären Teams bestehen. Aus diesem Grund habe ich im Titel dieses Unterkapitels die Bezeichnung „AnbieterInnen im Umfeld der Sozialen Arbeit“ gewählt: AkteurInnen sollen dem sozialen Bereich im weiteren Sinne angehören. In diesem Kapitel möchte ich nicht wie im vorhergehenden ausführlich die Frage diskutieren, ob Vorbeugung sexuellen Missbrauchs zum Aufgabenfeld der Sozialen Arbeit gehört, da es viel evidenter ist als im Bereich der Schule. Nur soviel: laut Drilling (2001, 95) gehört Prävention zusammen mit Ressourcenorientierung, Beziehungsarbeit, Prozessorientierung, Methodenkompetenz, Systemorientierung und Freiwilligkeit zu den Grundsätzen der Theorie der Sozialarbeit. Dabei versteht er unter Prävention dasselbe wie in dieser Arbeit mit dem Begriff Primärprävention gemeint ist. – Will Soziale Arbeit nicht nur als ein Reparaturdienst 32 siehe hierzu das siebte Kapitel 88 6. Primäre Missbrauchsprävention als interdisziplinäre Aufgabe? für erlittene Benachteiligungen funktionieren, muss sie sich der Vorbeugung in verschiedenen Bereichen (Arbeitsintegration, Sexualität, Gesundheit, Gewalt, etc.) zuwenden. Vielmehr möchte ich an dieser Stelle nach privaten und staatlichen schweizerischen AnbieterInnen der Primärprävention im Umfeld der Sozialen Arbeit fragen und stelle dabei die Unmöglichkeit fest, Angebote entweder nur der sekundären oder nur der primären Prävention zuzuordnen. Insofern die Begriffe nicht ganz trennscharf zueinander sind und die beiden Arbeitsbereiche über grosse Gemeinsamkeiten verfügen, ist das allerdings nicht erstaunlich. Es liegt im Sinn der Sache, dass sich AnbieterInnen sowohl im einen wie im andern Bereich bewegen. Aus meiner Internet- und Publikationenrecherche wurde ersichtlich, dass die meisten ihren Schwerpunkt in der Sekundärprävention und/oder in der Tertiärprävention haben. Viele Stellen bekümmern sich um verschiedene Gewaltformen, einige fokussieren sich auf die sexuelle Gewalt (an Kindern). Im Folgenden versuche ich, verschiedene aktive Institutionen, Fachstellen, etc. aufzuzählen und grob in drei Gruppen zu ordnen, wobei es eigentlich eine fliessende Skala zwischen AkteurInnen mit eher interventionsbezogener bis eher vorbeugender Tätigkeit ist. Es soll keine abschliessende Aufzählung oder eine starre Zuordnung aufgrund wissenschaftlicher Kriterien darstellen, sondern eine Hilfestellung, damit man eine Vorstellung bekommt, welche KooperationspartnerInnen tendenziell gemeint sind, wenn ich im siebten Kapitel besonders die Rolle von Fachleuten aus der Primärprävention betone. Ausserdem soll hier die Spannweite der PräventionsakteurInnen im psychosozialen Umfeld illustriert werden. Meine Einschätzung ihrer Schwerpunkte habe ich mit Hilfe ihrer Internetauftritte vorgenommen33. Nachfolgend liste ich exemplarisch solche Helferdienste auf, die mir in der Intervention und Beratung (teils verbunden mit Therapie) ihren Schwerpunkt zu haben scheinen. Sie greifen meistens erst nach erfolgtem Missbrauch ins Geschehen ein, auf Opfer- oder/und Täterseite. - kantonale Kinderschutzstellen: Anlaufstelle für Behörden, Institutionen, Fachpersonen, die mit Kindsmissbrauch konfrontiert werden; erarbeiten auf strategischer Ebene Grundlagen (Abläufe, Massnahmen,…) für effektiven Kinderschutz - (kantonale) Interventionsprojekte, -stellen gegen Gewalt: meist als Runder Tisch organisiert zwischen Behörden und Institutionen aus dem Bereich der häuslichen Gewalt; Ablaufsoptimierungen zum Schutz der Opfer und Belangung der TäterInnen 33 Eine konkrete Internetquelle gab ich nur an, wo ich Informationen von einem bestimmten Projekt oder einer bestimmten Institution darstelle. Diese Angaben finden sich im Literaturverzeichnis. 89 6. Primäre Missbrauchsprävention als interdisziplinäre Aufgabe? - kantonale Opferhilfeberatungsstellen (nach Opferhilfegesetz), andere Beratungsstellen für Gewaltbetroffene: Krisenintervention, Aufdeckungsarbeit, Beratung zum Vorgehen nach erfolgtem Missbrauch, Triage an Fachleute (TherapeutInnen, JuristInnen, ÄrztInnen, etc.) - interdisziplinäre Kinderschutzgruppen an Kinderkliniken: stark medizinisch ausgerichtet; koordinieren Schutz, Beratung und Behandlung von betroffenen Kindern - Männerbüros: Beratung von Männern als Tätern oder Opfern im Zentrum - Sorgentelefone: hören akuten Fällen zu, trösten und geben Rat zum weiteren Vorgehen - Verschiedene Beratungsstellen wie Erziehungsberatung, Sozialberatung, Kinder- und Jugendpsychologischer Dienst, etc. Insofern die meisten dieser Stellen auch Öffentlichkeitsarbeit, Vernetzungsarbeit, Weiterbildung, Informations- und Aufklärungsarbeit in Beratungen und dergleichen leisten, enthalten ihre Angebote immer auch einen primärpräventiven Aspekt. Gewisse Organisationen erscheinen mir gleichermassen vorbeugende und interventionsbezogene Arbeit zu leisten, indem sie auf verschiedenen Ebenen Projekte und Interventionen mitfördern und/oder entwickeln, die sich gegen (sexuelle) Gewalt an Kindern richten. Dies sind zum Beispiel: - Netzwerke und Interessengemeinschaften zur Buben- oder Mädchenarbeit: täter- und opferorientiert; vernetzte, geschlechtsspezifische Projekte mit Buben und Mädchen zu Gewalt und vielen andern Themen - Verein Kinderschutz Schweiz (ehemaliger Kinderschutzbund): einzige landesweite Organisation mit Engagement gegen alle Formen von Gewalt gegen Kinder, unter anderem Projektierung und Förderung von Vorbeugung und Intervention (vgl. Kinderschutz Schweiz, 2005a) - Pro Juventute Stiftung: hilft, fördert, hilft und leistet Vorbeugung im Sinne der Vision, dass die Kinderrechte umgesetzt werden sollen; unterstützt (Primär-)Präventions- und Förderprojekte (vgl. Pro Juventute, o.J.a, o.J.b) - ECPAT Switzerland: Vertreterin der internationalen Nichtregierungsorganisation End Child Prostitution in Asia Today (ECPAT): gegen kommerzielle sexuelle Ausbeutung (Kinderhandel, -pornographie (Internet), -prostitution)(vgl. Kinderschutz Schweiz, 2005b) Ausgeprägt in der Primärprävention tätige Institutionen sind nicht so zahlreich und oft in Vereinsform organisiert. Sie setzen sich für die Arbeit mit Erwachsenen und/oder Kindern, mit Institutionen und Einzelpersonen, im schulischen, familiären und/oder Freizeitbereich ein. 90 6. Primäre Missbrauchsprävention als interdisziplinäre Aufgabe? Ihr Anliegen ist, das Entstehen von Missbrauch zu verhindern. Ferner vermitteln sie auch Wissen zur Aufdeckung und schnellstmöglichen Beendigung, da ihnen klar ist, dass Missbrauch oft trotz Vorbeugungsbemühungen geschieht. Ihre Arbeit weist also immer auch ein Interventionsmoment auf, ohne eigentliche Opferberatung anzubieten. Beispiele dafür sind: - Fachstelle Limita: Primärprävention und Intervention sexueller Ausbeutung von Mädchen und Jungen; entstanden aus der feministischen Frauenbewegung; Arbeit mit Erwachsenen und Kindern; Schwerpunkte in institutioneller Primärprävention, Inputs zur Primärprävention mit Kindern, auch Abklärung, interventive Aufdeckung und Beendigung von Übergriffen (vgl. Limita Zürich, o.J.) - Fachstelle Mira: Primärprävention sexueller Ausbeutung im Freizeitbereich, Verantwortliche von Vereinen und Verbänden als Zielpublikum; entstand aus der Arbeit des Schweizer Verbands der christlichen Vereine Junger Frauen und Männer (Cevi Schweiz) (vgl. Fachstelle Mira, 2004) - Fachstelle PräVita: Primärprävention von Gewalt und sexueller Ausbeutung: in Frauenfeld von engagierten psychosozialen Fachkräften gegründet, Angebote im Bereich von Familie, Schule, Er- und Beziehung (vgl. PräVita, o.J.) Fachleute aus diesem interdisziplinären Bereich, die sich auf Primärprävention spezialisiert haben (sie können auch an eher interventionsorientierten Stellen arbeiten, wichtig sind ihre persönlichen fundierten Kenntnisse der Primärprävention), verfügen über einen enormen Wissensvorsprung gegenüber den themenferneren SchulsozialarbeiterInnen, LehrerInnen und gegenüber der Institution Schule. Deshalb berücksichtige ich im Kapitel 7.3. zur Kooperation von Schule und AkteurInnen aus dem Umfeld der Sozialen Arbeit nebst der Schulsozialarbeit besonders die Funktion der auf Primärprävention spezialisierten Fachleute, und nicht den ganzen Bereich, wie Schule mit der offenen und/oder behördlichen Jugendhilfe34 (wie Sozialämtern, Erziehungsberatungsstellen, Vormundschaftsbehörden, etc.) kooperieren könnte, da letzterer vor allem im Bezug auf die Sekundärprävention Wichtigkeit erlangt. 6.3. Schulsozialarbeit als Kooperationsmodell von Schule und Sozialer Arbeit Da der Schule das Wissen und die Fachkompetenz im Missbrauchsbereich weitgehend fehlen, stellt sich die Frage, wie sie von Fachleuten aus dem Sozialbereich die entsprechende Hilfestellung via Zusammenarbeit bekommen könnte. Für die Fachleute aus dem sozialen 34 Jordan und Sengling (1992,12) sehen den Begriff Jugendhilfe als Dachbezeichnung für verschiedene und unterschiedlich motivierte Stränge der Jugendfürsorge und -pflege. Heute richte sich die Jugendhilfe in ihren Aufgaben tendenziell an alle Kinder und habe ein modernes leistungs- und angebotsorientiertes Hilfs- und Unterstützungssystem. 91 6. Primäre Missbrauchsprävention als interdisziplinäre Aufgabe? Bereich hingegen fragt sich, wie sie sich Zugang zur Institution Schule verschaffen können, um die Zielgruppe der Kinder zu erreichen. Dabei begegnet man zwangsläufig dem Kooperationsmodell der Schulsozialarbeit. Der Schulsozialarbeit werden je nach örtlicher Entstehungsgeschichte, Schulform, dahinter liegender fachlicher Verortung und Überzeugung sowie je nach Trägerschaft und Organisationsform sehr unterschiedliche Definitionen, Aufgaben und Ziele zugedacht. Die Thematik ist sehr komplex und vielfältig. Im Rahmen dieser Arbeit macht es wenig Sinn, auf die verschiedenen Grundpositionen, Organisationsformen und Trägerschaften detailliert einzugehen. Jedoch soll der Begriff skizziert werden und nach Ziel- und Aufgabenbereichen gefragt werden, wenn man Schulsozialarbeit mit Drilling (2001) als selbständiges Tätigkeitsfeld der Jugendhilfe versteht, die sich an der Schule als gleichberechtigte Kooperationspartnerin ansiedelt. Damit möchte ich herausfinden, ob diesem Modell in der Schweiz eine missbrauchsvorbeugende Arbeit zugedacht wird oder werden könnte. 6.3.1. Zum Begriff der Schulsozialarbeit Der Begriff Schulsozialarbeit basiert auf der Übersetzung des Tätigkeitsfelds der School Social Work in den USA, welches seit 1906 entwickelt wurde (Kersting, 1985, 451; zit. nach Wulfers, 1996, 25) und gemäss Wulfers (1996, 22-25) in den USA über einen fest umschriebenen Aufgabenkatalog verfügt und sich klar auf Einzelfallhilfe („casework“) konzentriert. Im deutschsprachigen Raum bleibe es nach wie vor schwierig, Schulsozialarbeit als Arbeitsfeld von Sozialarbeit oder Sozialpädagogik abzugrenzen, da sich die Fachleute selbst zu letzteren Begrifflichkeiten nicht einig seien; alle für die Schulsozialarbeit relevanten Arbeitsbereiche seien entweder der einen oder der andern Bezeichnung zuzuordnen. Christen und Pfeiffer (1999, 12f) halten fest, dass den meisten Definitionen von Schulsozialarbeit die Problemorientierung gemeinsam ist und sie einen Vorbeugungsaspekt beinhalten. Es handle sich nicht um ein klar umrissenes Berufsfeld, sondern um verschiedene sozialarbeiterische und sozialpädagogische Tätigkeiten im Bereich Schule, wobei die Strukturen und Inhalte sehr vielfältig seien und die Definitionsspannweite von Jugendhilfe bis Schulentwicklung reiche. – Damit wird angedeutet, dass Schulsozialarbeit aus der Grundposition - der sozialpädagogischen Schule (LehrerInnen übernehmen selbst sozialpädagogische Funktion), - der Sozialarbeit in der Schule (Hilfe und Einsatz der Jugendhilfe für Problemkinder, in kritischer Distanz zur Schulpädagogik) 92 6. Primäre Missbrauchsprävention als interdisziplinäre Aufgabe? - oder der Sozialpädagogik in der Schule (humane Schulklimaentwicklung mit SozialpädagogInnen als Hilfe für Lehrkörper und Schülerschaft) gesehen werden kann. Die Einbindung der Schulsozialarbeit am Ort Schule kann loser oder fester sein und reicht von Organisationsmodellen mit - einer lockeren, recht unabhängigen, örtlich losgelösten „Zusammenarbeit“ (Distanzmodell), - hin zu einer Einverleibung der Schulsozialarbeit durch die Schule, wobei Auftrag und Aufgaben durch die Schule bestimmt werden (Integrationsoder Subordinationsmodell), - bis zu einer örtlich integrierten, partnerschaftlichen, vertraglich abgesicherten Zusammenarbeit (Kooperationsmodell). Zudem wird damit auch auf die vielfältigen Trägerschaften hingewiesen, die - frei (Kirche, Vereine, gemeinnützige Organisationen, etc.), - schulisch (Schule als Auftraggeberin) - oder behördlich (Stellen innerhalb der Stadt- oder Kommunalverwaltung als ArbeitgeberInnen) sein können. (Siehe dazu Christen & Pfeiffer, 1999, 13f; Drilling, 2001, 39-50; Drilling & Stäger, 2000, 120; Wulfers, 1996, 74-77.) Für ein Pilotprojekt in Basel-Stadt haben Baumgarten, Arnold und Ruch (2000, 9-21) Schulsozialarbeit in Zusammenarbeit mit Drilling (2001, 95)35 als eigenständiges Handlungsfeld der Jugendhilfe definiert, welches primär auf Begleitung, Unterstützung, Beratung und Förderung der Schülerschaft ausgerichtet ist, aber auch Eltern und Lehrkörper als Anlaufstelle dient. Sie beruhe dabei auf freiwilliger Grundlage, verstehe sich als Primärprävention vor Ort, arbeite niederschwellig und eigenverantwortlich. Sie greife auf Methoden der professionellen Sozialarbeit und Sozialpädagogik zurück und beziehe systemisch nicht nur die Schule, sondern auch die soziale Umgebung mit ein. – Ich möchte meine Lizentiatsarbeit auf dieses sozialarbeiterische, lebensweltorientierte, ganzheitliche und integrative Basler Verständnis von Schulsozialarbeit stützen. Dabei werden aufgrund meiner Fragestellungen besonders die Aspekte der Primärprävention, der sozialarbeiterischen Methodik, der Vernetzung und der Zielgruppenorientierung auf die Schülerschaft zentral. 35 Drilling sowie die andern drei Autoren arbeiteten gemeinsam am Pilotprojekt in Basel, wo sie zusammen diese Perspektive der Schulsozialarbeit entwickelt haben. 93 6. Primäre Missbrauchsprävention als interdisziplinäre Aufgabe? 6.3.2. Ziele und Zielgruppen der Schulsozialarbeit Schulsozialarbeit kann als ein integrationsorientiertes Konzept gesehen werden, in dem Schulsozialarbeit auf formeller und institutioneller Ebene mit der Schule kooperiert mit dem Ziel, SchülerInnen beim Erwachsenwerden zu begleiten und ihre Kompetenzen zu fördern, damit sie ihr Leben befriedigend bewältigen und mit sozialen, persönlichen oder schulischen Problemen umgehen können. Er orientiert sich an der Lebenswelt und den Stärken der Jugendlichen und Kinder, will den Lern- und Leistungsort Schule um den Lebens- und Erfahrungsbereich Schule bereichern, also auch eine Beziehungskultur aufbauen und die Schulhausatmosphäre verbessern. (Drilling, 2001, 95-114) Das Ziel der aktiven Kooperation zwischen Schulsozialarbeit und Schule liegt in der Persönlichkeitsentwicklung der Schülerschaft und kann in Bereichen wie der Gesundheitsförderung, Drogenprävention und Gewaltprimärprävention oder Krisenintervention realisiert werden; eine verbesserte Lernfähigkeit und Schulhausentwicklung sind nur Nebenprodukte (ebd., 11f). Wulfers (2000, 55f) bezeichnet ferner als Ziele der Schulsozialarbeit, Aufgaben im schulischen Bereich nur in Kooperation zu übernehmen, zwischen den verschiedenen Bereichen der Jugendarbeit und -hilfe zu vermitteln, selber in Absprache mit SchulvertreterInnen die KlientInnengruppen zu bestimmen und sich nicht zu Hilfsaufgaben degradieren zu lassen. Als Zielgruppen können die Schülerschaft, der Lehrkörper, das System Schulhaus, die Eltern, die Helferorganisationen sowie die (Fach-)Öffentlichkeit gesehen werden. Drilling (2001, 96) hält fest, dass sich Angebote im Sinne von Arbeit an Generalthemen an alle SchülerInnen richten sollten, auch wenn in Realität besonders leistungsschwache, schulüberdrüssige SchülerInnen KlientInnen seien. – Im nächsten Unterkapitel sollen exemplarisch Tätigkeitsbereiche und Aufgaben mit den verschiedenen Zielgruppen angesprochen werden. 6.3.3. Methoden, Aufgaben und Tätigkeiten der Schulsozialarbeit Die Arbeitsschwerpunkte hängen von personellen und materiellen Ressourcen, von schulspezifischen, örtlichen Bedingungen, vom Einfluss der Trägerschaft und von getroffenen Absprachen ab (Wulfers, 1996, 57). Ferner ist das Organisationsmodell und die Grundposition mit ausschlaggebend dafür, wer mit welchen Zielgruppen wie arbeitet. Als Aufgabenfelder identifizieren Drilling und Stäger (2000, 121-126) die folgenden: - Individualhilfe: hier stehen Hilfe zur Selbsthilfe für SchülerInnen mit persönlichen, familiären oder schulischen Problemen sowie soziale Beziehungen im Zentrum, also die Förderung der Persönlichkeit sowie auch die Konfliktentschärfung. 94 6. Primäre Missbrauchsprävention als interdisziplinäre Aufgabe? - soziale Gruppenarbeit: Erziehung und Bildung soll durch gemeinsame Problembearbeitung und Integrationsprozesse erfolgen. Es ist altersheterogene wie -homogene und geschlechterspezifische Arbeit denkbar. - Projektarbeit: Der zeitlich begrenzte Prozess von der (Problem-)Definition über die Projektierung, Realisierung und Evaluation steht im Zentrum, wobei man sich einer bestimmten Thematik mit einem bestimmten Ziel widmet. - Gemeinwesenarbeit: Hier werden kulturelle, psychosoziale, materielle, ökonomische und politische Lebensbedingungen aufgegriffen. Schulsozialarbeit versucht zielgruppenspezifisch oder auch -übergreifend die Kräfte und Initiative der Einzelnen im Sozialraum zu aktivieren. Dabei ist sie auf Veränderungsbereitschaft der EntscheidungsträgerInnen angewiesen und auf ein gemeinsames Ziel aller Beteiligten. SchulsozialarbeiterInnen können auf verschiedene Methoden zurückgreifen, insbesondere in der Einzelfallhilfe: sie können mit Parteien verhandeln, Zielgruppen beraten, SchülerInneninteressen vertreten, an Fachstellen weitervermitteln (Triage) oder in Konflikten intervenieren (siehe auch ebd.). Ich möchte an dieser Stelle exemplarische Aufgaben mit den Hauptzielgruppen aufzeigen, wenn man Schulsozialarbeit vorwiegend aus Sicht der Sozialarbeit betrachtet und als Kooperationsmodell gestaltet (siehe auch ebd. sowie Wulfers, 1996, 57-61). Da es eine Vielzahl von möglichen Aktivitäten und Arbeitsweisen gibt, sei hier nur das Spektrum angedeutet. Die diversen Aufgaben erstrecken sich über drei Grundbereiche, nämlich den unterrichtlichen, ausserunterrichtlichen (schulische Freizeit) und ausserschulischen (schulisches Umfeld). - Schülerschaft: Hier gibt es vielfältige Beratungs-, Begleitungs- und Hilfsangebote. Da ist niederschwellige Hilfe bei persönlichen oder sozialen Problemen im Sinn von entwicklungs-psychologischer Förderung denkbar, die Befähigung der Kinder zur sozialen, kulturellen und kommunikativen Kompetenz, zur gemeinsamen Problembearbeitung und zur Wahrnehmungsfähigkeit. – Es können Beratungsgespräche, Motivationsarbeit, Triage, Begleitung zu Fachstellen, Mitarbeit in Klassenprojekten, Schulhausanlässen, Freizeiträumen oder Lagern, Mitwirkung beim Aufbau von sozialpädagogischen Unterrichtseinheiten, Unterstützung bei Schulaufgaben und Ausbildungsfragen oder Konfliktvermittlung zwischen SchülerInnen angeboten werden. 95 6. Primäre Missbrauchsprävention als interdisziplinäre Aufgabe? - Lehrkräfte: die SchulsozialarbeiterInnen helfen dem Lehrpersonal im Konfliktfall und in der Präventionsarbeit. Ziel ist die Sensibilisierung und Beratung der LehrerInnen, damit sie rechtzeitig Probleme erkennen und andere Helferdienste beiziehen, wenn Konflikte ausserhalb ihres Aufgabenbereichs liegen. Konkret wird ihnen auf niederschwellige Art geholfen, Präventionsanliegen umzusetzen, Elternarbeit und Kooperation mit andern Helferorganisationen zu gestalten. Ziel dabei ist eine bessere Beziehung zwischen Lehrkraft und SchülerIn, indem solidarische Arbeitsformen, Vertrauen und mehr SchülerInnenorientierung hergestellt werden. - „System Schulhaus“: die Schulsozialarbeit kann zu einer positiven Schulhauskultur beitragen und klare Kommunikationsstrukturen und Verantwortungsübernahme durch alle im Schulhaus Anwesenden fördern. Konkret bietet sich ihre Mitwirkung in Schulhausprojekten, -veranstaltungen und Gemeinwesenarbeit an. Sie kann themenund zielgruppenspezifische Gruppenarbeiten (zum Beispiel zur Ausländerintegration) mit Bezug zum Schulklima oder Lern- und Spielstuben initiieren. - Eltern: Den Eltern soll der Zugang zu professionellen Helferdiensten erleichtert werden. Die Schulsozialarbeit vermittelt Fachstellen und gibt im Bezug auf die Kinder niederschwellige Hilfe, da sie gerade vor Ort ist. Ebenfalls kann sie an Elternabenden mitwirken oder bei Krisengesprächen, bei denen die Eltern anwesend sind. - Helferorganisationen (zum Beispiel Schulpsychologischer Dienst, Schulärztlicher Dienst, Familien- und Erziehungsberatung, Vormundschaftsamt, Jugendamt): die Schulsozialarbeit kann kooperieren und vernetzen, fall- und themenbezogene Tätigkeiten vermitteln, Fallbesprechungen, Austauschtreffen, Übergabegespräche und Projekte organisieren. - Andere ausserschulische Organisationen und Institutionen: die Schulsozialarbeit soll gezielt Kontakt zu ausserschulischen Zentren und Behörden suchen und mit privaten Vereinen, kirchlichen Organisationen, Gewerkschaften und kommunalen Ämtern zusammenarbeiten, um die soziale Infrastruktur und die kommunale Jugendarbeit im Gemeinwesen zu verbessern und sich bekannt zu machen. 6.3.4. Situierung der Schulsozialarbeit in der Schweiz Mangels wissenschaftlicher Publikationen und Evaluationen von Forschenden- und Universitätsseite ist eine systematische Erfassung der Lage in der Schweiz schwierig. Drilling (2001, 71-83) stützt deshalb seine Einschätzungen auf vorgelegte Diplomarbeiten und anderes 96 6. Primäre Missbrauchsprävention als interdisziplinäre Aufgabe? unveröffentlichtes Material. Projekterfahrungen seien selten wissenschaftlich aufbereitet worden. Gegen Ende der 90er Jahre gab es Drilling (ebd.) zufolge eine Zunahme von Projekten in der Schweiz und die Fachhochschulen für Sozialarbeit gründeten kürzlich das „Netzwerk Schulsozialarbeit Deutschschweiz“, womit eine zaghafte Kooperation unter den Projekten gestartet wurde. Zuvor sei eine bewusste räumliche Trennung sowie sporadische Kooperation zwischen Schule und Sozialarbeit praktiziert worden. Bisher sei es eher Praxis gewesen, dass die Schulen Themen wie Gewaltprävention oder Gesundheit vorgegeben und sich für deren Bearbeitung externe Fachleute geholt hätten. Mit ein Grund für das späte in Erscheinung Treten des Schulsozialarbeit-Modells könnte die enge Verzahnung sein zwischen der Schule und Fachdiensten wie dem Schulpsychologischen Dienst, dem Schulärztlichen Dienst oder den Erziehungsberatungen. In der Schweiz ist die Schulsozialarbeit vor allem auf Sekundar-, Real- und Berufsschulstufe angesiedelt und am häufigsten haben politische Gemeinden und Schulbehörden die Trägerschaft inne. Im Unterschied zu Deutschland sind freie Träger eher selten. Am häufigsten wird bei uns Einzelfallhilfe angeboten, und oft erfolgt wegen grosser Zuständigkeitsgebiete eine Reduktion auf SchülerInnen mit Schulproblemen oder sozialen Auffälligkeiten. Die aktive Elternarbeit wird hierzulande vernachlässigt. Die LehrerInnen griffen bis anhin offenbar vor allem auf die Schulsozialarbeit zurück, wenn es um Elterngespräche, Konfliktbearbeitungen und ihren Umgang mit der Schülerschaft ging. (ebd.) In der Schweiz wird offenbar bisher Prävention im Gewaltbereich schwerpunktmässig als Krisenintervention gestaltet, nicht als vorbeugende Präventionsarbeit, obwohl es zum Aufgabenspektrum durchaus gehören würde und viele Forderungen danach zu hören sind. Inwiefern könnte man Primärprävention im Missbrauchsbereich der Schulsozialarbeit zuordnen? 6.3.5. Mögliche Einbettung der Missbrauchsprävention in die Schulsozialarbeit? Die Lage in der Schweiz macht es auf der Praxisebene nicht einfach, Missbrauchsvorbeugung in die Schulsozialarbeit zu integrieren. Erstens ist die primärpräventive Arbeit besonders im Kindergarten und in der Primarschule relevant, zweitens spricht die aktuelle Praxis aus Kapazitätsengpässen heraus offenbar schwerpunktmässig Problemkinder (Themen körperliche Gewalt, Schul- und Disziplinprobleme, Schwierigkeiten im Übergang zur Berufsausbildung) an und arbeitet wenig mit allen SchülerInnen an Generalthemen, drittens ist ein selbständiges Kooperationsmodell mit selbst gesetzten Aufgabenschwerpunkten relativ 97 6. Primäre Missbrauchsprävention als interdisziplinäre Aufgabe? schwierig zu realisieren für die Schulsozialarbeit, wenn die Schulbehörden oder die politische Gemeinde die Trägerschaft innehaben. Da sich aber Schulsozialarbeit in der Schweiz erst am Ausbreiten ist und die Probleme an der Schule nicht unbedingt kleiner werden, ist möglich oder zumindest wünschbar, dass sich die Schulsozialarbeit trotz Spardruck noch weiter ausbreiten und eine Praxis denkbar wird, die sich nicht so sehr auf die „Feuerwehrrolle“ und die Oberstufe reduziert. Ein Basler Pilotprojekt fand als Thema von Erstgesprächen mit SchülerInnen auch die Problematik der körperlichen oder sexuellen Gewalt in Schule, Familie und sozialem Nahraum, wobei sie bei Mädchen öfters zur Sprache kam als bei Jungen (Drilling, 2001,87). Diese Tatsache, dass für Kinder erlebte oder drohende Gewalt ein subjektives Problem darstellt, und sie auch zu Problemkindern machen könnte, sehe ich als Antrieb, Gewaltprimärprävention vermehrt in die hiesige Schulsozialarbeit zu integrieren; nicht nur jene der Gewalt von/unter Kindern, sondern auch der (sexuellen) Gewalt an Kindern durch Erwachsene. (Primär-)Prävention oder Gewaltprävention wurden vorher als durchaus zum Aufgabenbereich der Schulsozialarbeit gehörig beschrieben, wobei sich die AutorInnen besonders auf die (körperliche) Gewalt unter SchülerInnen an der Schule bezogen. In vielen der damit verbundenen, vorher angesprochenen Tätigkeiten und Arbeitsweisen werden Grundhaltungen und Ideen vermittelt, die auch in der Primärprävention im Missbrauchsbereich auftauchen. Insofern ist es durchaus nahe liegend, dass sich eine mit den nötigen Ressourcen ausgestattete Schulsozialarbeit vermehrt auch der Vorbeugung sexuellen Missbrauchs annimmt. In welcher Form sie darin eingebunden werden kann, soll im Kapitel 7.3.3. bedacht werden. 7. INHALTLICHE UND FORMALE ASPEKTE DER ARBEIT MIT SCHÜLERINNEN SOWIE KOOPERATION VON SOZIALER ARBEIT UND SCHULE IN DER PRIMÄRPRÄVENTION AM ORT SCHULE Dieses Kapitel widmet sich der Beantwortung der zweiten und dritten Hauptforschungsfrage. Es erhebt nicht den Anspruch, ein konkretes Handbuch zu liefern, welches man in der primärpräventiven schulischen Arbeit direkt umsetzen kann. Hingegen soll eine Art Leitfaden und Übersicht gegeben werden, welche Kriterien bei Kooperations- und Primärpräventionsbemühungen am Ort Schule im Vorfeld und bei der Durchführung (vermehrt) bedacht werden müssen. Ferner soll ein Kooperationskonzept formuliert werden, welches KooperationspartnerInnen aufzeigt und deren spezifische Vorbereitung und Rolle beschreibt. Das Kapitel 98 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule stellt des Weiteren Primärpräventionsinhalte vor, die nach feministischem Verständnis mit den Kindern sinnvollerweise behandelt werden, und wie sie ins Curriculum oder auch im ausserunterrichtlichen Bereich eingebettet werden können. Ferner reisse ich einige Materialien und Methoden für die konkrete Arbeit mit Kindern und Jugendlichen an. Da die vorbeugende Arbeit zum Aufdecken sexueller Übergriffe im Rahmen der Schule führen kann, soll abschliessend kurz thematisiert werden, wie an der Schule bei einem Verdacht oder bei einem Einweihen durch ein Kind reagiert werden kann. Am Ort Schule mit Kindern zu arbeiten steht und fällt wesentlich mit dem Engagement der Lehrperson. Didaktische Methoden und die konkrete Unterrichtsführung liegen in ihrer Zuständigkeit, solange sie sich ans Curriculum und die Schulleitlinien hält. Im ausserunterrichtlichen Bereich verfügt sie über noch mehr Handlungsspielraum, ob und wie sie sich einbringen möchte. Weil Lehrpersonen am intensivsten mit den SchülerInnen zusammen sind, müssen sie besonders für die Vorbeugungsarbeit gewonnen werden. Aus diesen Gründen werden gewisse Unterkapitel (zum Beispiel die konkrete Primärpräventionsarbeit mit SchülerInnen, das Vorgehen bei einem Verdacht) aus Sicht des Lehrkörpers aufgezäumt. Die dortigen Inhalte gelten für die KooperationspartnerInnen sinngemäss und im Rahmen ihrer Kompetenzen und Mitsprachemöglichkeiten auch. Ihre spezifischen Beiträge halte ich in den ihnen separat gewidmeten Unterkapiteln fest. 7.1. Voraussetzungen für eine konstruktive Kooperation am Beispiel der Lehrkräfte und der Schulsozialarbeit Eine gute Vernetzung kann die Effektivität der Prävention erhöhen, Betroffene besser schützen und die Prävention an die Bedürfnisse der Opfer anpassen (Logar, 2000, 337). Ambruster und Hoffmann (2000, 177) verweisen darauf, dass Kooperation im Kinderschutz politisch gewollt sein muss, stark personenabhängig ist, sich materiell und ideell für die HelferInnen lohnen sollte und dass regelmässiger Austausch sowie Feedbackschleifen nötig wären, um die Effektivität und den Erfolg zu kontrollieren. Bei kooperativen Prozessen müssen die unterschiedlichen Aufgaben und Haltungen beibehalten und Rollen klar verteilt, aber auch akzeptiert werden. Man muss sich offen und transparent auf Prozesse und Konflikte einlassen können. In der Fachdiskussion um sexuelle Gewalt hat sich das Instrument der HelferInnenkonferenz durchgesetzt, um zwischen psychosozialen, medizinischen, juristischen und schulischen Stellen eine institutionalisierte Kooperation zu schaffen und um die Schritte in der Intervention gemeinsam abzustimmen. (Sichau, 99 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule 2000, 149) – Ich denke, diese Aspekte haben gleichermassen in der primärpräventiven Kooperation ihre Bedeutung. Weil im Gewaltbereich die HelferInnen immer mit sehr vielen Gefühlen, Spannungen, Ambivalenzen und Abwehrmechanismen wie Verleugnung, Verharmlosung, Rationalisierung oder Projektion konfrontiert werden, sind Instrumente wie Selbstreflexion, Fehleranalyse, Supervision, Fallkonferenzen und Qualitätszirkel nützlich (Pölzelbauer, 2000, 169-172). Zugunsten der Primärpräventionsarbeit plädiere ich für eine institutionalisierte Form der Zusammenarbeit von Schulpädagogik und Schulsozialarbeit (kooperatives Schulsozialarbeitsmodell). An Schweizer Schulen ist Schulsozialarbeit noch nicht enorm verbreitet. Für LehrerInnen wie für (Schul-)SozialarbeiterInnen ist es keine Selbstverständlichkeit, eng mit andern Fachleuten zusammen zu arbeiten, sich am selben Ort Aufgaben und Kompetenzen aufzuteilen, keine Konkurrenz, Misstrauen, Kontrolle oder Einmischung zu empfinden. Beide Berufsgruppen haben in ihrem Tätigkeitsgebiet eine recht grosse Autonomie, bestehen oft aus EinzelkämpferInnen und vor allem haben Schulpädagogik und Schulsozialarbeit verschiedene Standpunkte, Schwerpunkte, Funktionen und Wege ihrer Zielerreichung. Am Beispiel dieser beiden an der Schule tätigen Disziplinen möchte ich weitere Bedingungen erfolgreicher Kooperation darlegen, die sich aber nicht spezifisch auf die primärpräventive Zusammenarbeit beziehen. Olk, Bathke & Hartnuss (2000, 193-197, 207-210) formulieren solche Voraussetzungen für eine erfolgreiche Schulsozialarbeit, die ich auf die Schweizer Situation angepasst habe: - Auf der Ebene der einzelnen Schule, aber auch (über)örtlich, müssen organisatorische, materielle und finanzielle Voraussetzungen verbessert und langfristig geplant werden. - Alle AkteurInnen müssen veränderungsfähig sein und die Kooperation braucht Unterstützung durch verschiedene Institutionen. - Die Schule muss zur Öffnung bereit, an einer gewissen Reform der Schule interessiert sein und freiwillig kooperieren. Ein guter Zeitpunkt für die Initiierung von Kooperation wären Umbruchsituationen von Schulen, in denen neue Leitbilder, Lernkulturen oder Unterrichtsformen formuliert werden. - Die Jugendhilfe, die eher kommunal geregelt ist, muss in ihrer Planung systematisch mit der grundsätzlich kantonal organisierten Bildung abgestimmt werden. - Schulsozialarbeit soll in der gesetzlichen Jugendhilfe mit primärpräventiven und interventiven Komponenten verankert werden. 100 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule - Die Kooperation soll in den Schulgesetzen abgesichert und in Kooperationsverträgen zwischen Schule, Schulpflege, Trägerschaft und ausführenden SchulsozialarbeiterInnen ausformuliert werden. Diese Vereinbarungen müssen nach einer Bedarfsabklärung auf die einzelnen schulischen Bedingungen eingehen, die konkrete Zusammenarbeit regeln, Aufgabenprofile, Fachkompetenzen, Ressourcen, personelle Anforderungen, Ziele und Leistungen festlegen. - Kooperative Arbeitsstrukturen auf örtlicher Ebene sind anzustreben, wie zum Beispiel gegenseitige Besuche und gemeinsame Arbeitssitzungen. Eine gemeinsame systematische Fort- und Weiterbildung von Lehrerschaft und Jugendhilfekräften wäre zum gegenseitigen Kennenlernen und Anerkennen von beruflichen Identitäten und Handlungsweisen hilfreich. Drilling (2001, 62, 96-102) spricht unklare gegenseitige Erwartungen, Vorurteile, zu kurzzeitige Projekte, mangelhaft qualifiziertes Personal als generell in Projekten unterschätzte Faktoren an. SchulsozialarbeiterInnen sollten ihre Vorurteile gegenüber schulischen Strukturen, Verfahrensregeln und Kommunikationsformen reflektieren, nicht als SystemkritikerInnen in die Opposition gehen, sondern vielmehr nach Verbündeten und Übereinstimmungselementen suchen, um ihre eigene Position zu stärken und Vertrauen zu gewinnen. So gehe es zum Beispiel darum, sich gegenseitig Denk- und Arbeitsweisen zu erklären, um gemeinsame Problem- und Zieldefinitionen. Jede Disziplin müsse ihre eigenen Methoden, Theorien oder ihre Fachsprache reflektieren können, sich Ideale, Menschenbild und Haltungen bewusst machen. Drilling zufolge scheitert eine Kooperation weniger an den vorhandenen strukturellen Unterschieden der beiden Disziplinen als am Unwillen oder an der Unfähigkeit, sie einander zu erklären und daraus die Konsequenzen zu ziehen. Lehrkräfte seien nicht gewohnt, sich im Team in ihrer Arbeits- und Denkart reflektieren zu müssen. Hält man sich diese nicht bescheidenen Voraussetzungen, Bedingungen und Wünsche vor Augen, werden einem die enormen strukturellen, politischen, ideellen und personellen Hürden bewusst, die eine Idealvorstellung von Schulsozialarbeit respektive Kooperationsarbeit erst noch zu überwinden hätte, bis sie ihr Potential zugunsten von Kindern richtig entwickeln könnte. Damit an einer Schule missbrauchsvorbeugende Arbeit geleistet werden kann, braucht man nicht zwingend so weit zu gehen. Je nachhaltiger sie aber wirken soll und je stärker sie von der Schulsozialarbeit mitgetragen werden soll, desto besser muss sie institutionell verankert sein und umso wichtiger ist die Beachtung obiger Kooperationskriterien. Auch eine 101 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule konsequente Umsetzung missbrauchspräventiver Ideale im Schulalltag hat einen schulreformerischen Aspekt in sich, nicht nur die Verortung der Schulsozialarbeit am Ort Schule. 7.2. Rahmenbedingungen und Kriterien primärpräventiver Projekte mit Kindern und Jugendlichen am Ort Schule In der Fachliteratur wird oft darauf hingewiesen, dass Primärpräventionsprojekte im deutschsprachigen Raum recht blind aus den USA übernommen werden. Die grundlegenden Primärpräventionselemente, die das Empowermentkonzept ausmachen36, sind in konkreten deutschen Projekten nur teils modifiziert worden. Es existiert unterdessen eine Fülle an Primärpräventionsmaterialien, die sich seit den 80er-Jahren auf dem Markt verbreiten. In der BRD sind seit 1985 schulische Vorbeugungsbemühungen im Gange. Dennoch ist sexueller Missbrauch im deutschsprachigen Schulalltag auch heute noch weitgehend ein Tabuthema, welchem Lehrkräfte gern ausweichen. Wenn sie es nicht mehr können, greifen sie mangels Kenntnis der zumeist ausserhalb der Schule entwickelten neueren Primärpräventionsansätze noch oft auf die traditionelle Abschreckungsvariante zurück. Erst in der neuen Lehrplangeneration für die Grundschule kommen die emanzipatorischen Vorbeugungskonzepte langsam vor. (Marquardt-Mau, 1995, 11, 17-19) Wenn eine Schule Primärprävention zur sexuellen Gewalt in Angriff nehmen möchte, stellt sich ihr die Qual der Wahl bei den Unterlagen. In diesem Unterkapitel sollen organisatorisch und inhaltlich zu berücksichtigende Faktoren für die Projektierung und Materialauswahl formuliert und damit auf einen Teil der Forschungs-Unterfragen d) Bezug genommen werden. Marquardt-Mau (ebd., 12) hält fest, dass (Primär-)Prävention im Hinblick auf kulturelle, sexualpädagogische, entwicklungspsychologische und sozialisationstheoretische Faktoren sowie im Hinblick auf die institutionelle Vernetzung der Schule betrachtet werden müsse. Bange (1993, 29ff) kommt in seiner wissenschaftlichen Analyse internationaler Primärpräventionsprojekte zum Schluss, dass dabei einigen der folgenden Kriterien (noch) nicht genügend Rechnung getragen wird. 36 Die konkreten Bausteine der feministischen Empowerment-Programme werden im Zusammenhang mit der praktischen Vorbeugungsarbeit mit Kindern (Kapitel 7.4.) beschrieben. 102 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule 7.2.1. Äussere Rahmenbedingungen primärpräventiver Schulprojekte Wissenschaftlichkeit und Evaluation der Programme und Materialien: In der BRD wurden fast alle schulischen Primärpräventionsmaterialien und Unterrichtseinheiten ohne eine begleitende Evaluation entwickelt und vertrieben (Marquardt-Mau, 1995, 18). Es herrscht eine grosse Forschungslücke. – An einem Teil der vorhandenen amerikanischen Effekt-Studien ist die kleine Stichprobengrösse, ein mangelndes KontrollgruppenDesign, eine fehlende Altersdifferenzierung bei der Auswertung, ein nachteiliges Vor-/Nachtestdesign (wegen unkontrollierter Lerneffekte über die Zeit auch ohne Programm) und die Unangemessenheit gewisser Messinstrumente zu beanstanden (Bange, 1993, 18f). Trotz dieser Schwächen befindet er die Evaluationsstudien aber für wichtig und aussagekräftig.37 Der Schweizer Kinderschützer Ziegler (1990, 147) bemängelt des Weiteren begrenzte theoretische Begründungen und fehlende Langzeit-Studien. Gleichzeitig verweist er auf den schwierig zu erbringenden Nachweis der Wirksamkeit primärpräventiver Programme, was auch auf wissenschaftlich-methodologischer Ebene ein Problem darstelle (ebd., 165). Ich denke dabei beispielsweise an viele unkontrollierte Variablen, so dass eine (ausbleibende) Veränderung kaum unmissverständlich einem konkreten primärpräventiven Unterfangen zugeordnet werden könnte. Eine verstärkte Auswertung der eingesetzten Programme mittels starker Designs und eine langfristige, wissenschaftliche Untersuchung der Effekte sind dennoch anzustreben, insbesondere hierzulande. Auch die konkreten Arbeitsmaterialien sollten auf ihre Qualität hin untersucht werden, indem sie bezüglich der in diesem Kapitel skizzierten Kriterien analysiert und dadurch Verbesserungen angeregt werden. Kontinuität, Repetition und Verankerung der Inhalte: Eine Review von Finkelhor und Dziuba-Leatherman (1995, 88) von 25 amerikanischen und kanadischen Untersuchungen zum Nutzen von Programmen liess deutlich werden, dass das in Programmen Gelernte in gewissen Abständen aufgefrischt werden muss, da viel Wissen verloren geht. Andere AutorInnen (zum Beispiel May, 1997, 45f) schlagen deshalb vor, Primärprävention nicht wie in den USA als mehrheitlich punktuelle, programmartige, von (externen) Schulungspersonen durchgeführte, isolierte Vermittlung von Informationseinheiten 37 Resultate der amerikanischen Evaluationsstudien zum Nutzen von Empowerment-Modellen finden sich im Kapitel 7.2.3. 103 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule zum Missbrauch zu sehen, sondern als eine kontinuierliche Erziehungshaltung, die fächerund themenübergreifend in verschiedenen Kontexten zum Tragen kommt und so verinnerlicht wird. Diesen Ansatz verfolgt auch die vorliegende Lizentiatsarbeit. Kinder scheinen mehr zu profitieren, wenn verschiedene Personen die Primärprävention durchführen, also zum Beispiel die Lehrer und die Eltern (Bange, 1993, 20). Finkelhor und Dziuba-Leatherman (1995, 107) leiten aus ihrer Vergleichsstudie von Programmen ebenfalls eine stärkere Elternbeteiligung ab, da Kinder das Gelernte vermehrt einsetzen, wenn sie sich mit ihren Eltern über die in der Schule behandelten Themen und Konzepte austauschen können. Drilling (2001, 89) hält fest, dass in der Schweiz die aktive Elternarbeit vernachlässigt werde, dass es in der Schule kaum generalisierbare Konzepte gebe, was denn ausser Elterngesprächen mit Elternarbeit gemeint sein könnte. Potentielle interne und externe KooperationspartnerInnen: Verschiedene AutorInnen (zum Beispiel Furer & Stähli, 1998, 45-65; Marquardt-Mau, 1995, 12; Wulfers, 1996) machen darauf aufmerksam, dass die institutionelle Vernetzung der Schule noch in Kinderschuhen stecke, wenn es um die primärpräventive Arbeit an Schulen gehe. Die Schule funktioniere gerne als geschlossenes System und die Lehrerschaft sei nicht an enge Kooperation innerhalb des Lehrkörpers oder auch mit Fachleuten gewöhnt. Für die Schule ergeben sich aber viele einzubeziehende Hilfestellen, Personenkreise und Instanzen, wenn sie auf eine effiziente und ganzheitliche Art und Weise langfristig Primärprävention anbieten will. Die interne und externe Zusammenarbeit darf nicht nur sporadisch sein, um erfolgreich zu verlaufen. Im Verlauf der primärpräventiven (und auch der sekundärpräventiven) Arbeit können folgende Personenkreise als AnsprechpartnerInnen relevant werden beziehungsweise sollten eingebunden werden: - Schulhausintern (ohne Fachstellen und Behörden) sind der Lehrkörper, die Schulleitung/das Rektorat, die Schülerschaft sowie die Abwartsleute betroffen. - Schulhausextern (ohne Fachstellen und Behörden) sind die Eltern die AnsprechspartnerInnen, aber auch Kindergärten oder andere Schulen, mit denen zusammen ein Projekt ausgearbeitet und/oder vernetzt werden könnte; auch KommunalpolitikerInnen (zur politischen Meinungsbildung und Zustimmung) und die Medien (Aufklärungsarbeit) sind nicht zu vernachlässigen. - Schulinterne und -externe Fachstellen, Gremien und Behörden: zentrale schulische Angelpunkte können die Schulsozialarbeit, der Schulpsychologische Dienst, der 104 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule Schularzt und der Heilpädagogische Dienst darstellen. Als externe KooperationspartnerInnen sind Präventionsfachstellen, die Opferhilfeberatung, der allgemeine Sozialdienst, die Erziehungs- und Familienberatungsstelle, der Verein Kinderschutz, der Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienst, Kliniken, die Jugendanwaltschaft, die Vormundschaftsbehörde, weitere Stellen der Jugendhilfe und die Polizei wichtig. Für die finanzielle Absicherung und/oder Zustimmung für aufwändigere Projekte und deren Implementierung sind immer auch übergeordneten Instanzen und schulische Aufsichtsgremien wie Schulrat oder Erziehungs-, Gesundheits- und Sozialdepartemente (respektive deren zuständige Abteilungen) äusserst zentral. Die Erziehungsdirektorenkonferenz oder der LehrerInnenverband, die Empfehlungen abgeben, interkantonale Absprachen vornehmen und Projekte vorantreiben können, sind nicht zu vernachlässigen. Es würde zu weit führen, die Funktionen jeder einzelnen Instanz darzustellen. Dennoch wird im Zusammenhang mit dem Vorgehen bei Verdachtsfällen38 angesprochen, wie einzelne dieser Ebenen exemplarisch kooperieren können. Die primärpräventive Rolle der Institution Schule als Ganzes, der Schulsozialarbeit, der auf Primärprävention spezialisierten Fachstellen und die Vorbereitung von Eltern und Lehrkörper sowie die konkrete Arbeit mit der Schülerschaft werden in meinem Kooperationskonzept (Kapitel 7.3) separat behandelt und die Auswahl begründet. 7.2.2. Inhaltliche Kriterien primärpräventiver Arbeit mit Kindern und Jugendlichen Befähigung statt Bevormundung: Ich schliesse aus Kupffers (1984, 80-9539) Gedanken, dass moderner Schutz für Kinder und Jugendliche vor sexuellem Missbrauch nicht dazu führen darf, dass man das Kind bevormundet, es auf Schritt und Tritt kontrolliert und begleitet, sondern dass man es vielmehr mit Kompetenzen und Fertigkeiten ausstatten soll, damit es sich zu einem freien, widerstandsfähigen, selbständigen und selbstverantwortlichen Menschen entwickeln kann, der sich in der Gesellschaft mit ihren Anforderungen behaupten kann. Es darf nicht sein, dass von Erwachsenen für Kinder lediglich ein Schutzraum konstruiert wird, ausserhalb dessen Kinder hilflos und widerstandsunfähig bleiben. 38 39 siehe Kapitel 7.5. siehe Kapitel 5.3. 105 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule Konkrete Informationsvermittlung ohne Angstmacherei: Es soll verhindert werden, dass Kinder vor Sexualität Angst bekommen und allen Menschen voller Misstrauen begegnen. Sie sollen vielmehr die guten, lustvollen, notwendigen Zärtlichkeiten und die ausbeutenden Seiten von Sexualität kennen lernen. In ihrer Vergleichsstudie kamen Finkelhor und Dziuba-Leatherman (1995, 106) allerdings zum Fazit, dass eine Zunahme von Befürchtungen und Ängsten nicht immer als ein negatives Resultat der vorbeugenden Erziehung gelten müsse, denn in ihrer Umfrage fanden sie heraus, dass Eltern, die bei ihren Kindern diese Effekte verstärkt wahrnahmen, den Primärpräventionsunterricht besser bewerteten. Obwohl sich nicht alle AutorInnen einig sind, sind viele der Ansicht (zum Beispiel Koch & Kruck, 2000, 52), dass man auch bei kleinen Kindern die Körperteile konkret benennen und in altersangemessenem Umfang auch ausbeuterische Handlungen beschreiben soll statt sich in einer verklemmten Sprache und symbolhaften Andeutungen zu erschöpfen (wie es amerikanische Empowerment-Modelle oft tun), deren Transfer der kindliche Entwicklungsstand noch nicht zulasse; schliesslich sei es ja gerade das Ziel, das Tabu zu brechen und dem Geschehen eine Sprache zu geben. Es soll den Kindern erlaubt sein, über Missbrauch zu sprechen. Ausserdem sollen Kinder nicht nur über (schöne und unerlaubte) Berührungen informiert werden, sondern auch über missbrauchende Nicht-Kontakthandlungen (zum Beispiel Exhibitionismus), Pornographie und Prostitution; diese werden in Primärpräventionsmaterialien und Empowerment-Programmen oft vernachlässigt (Wurtele, 1987, 486). Finkelhor und Dziuba-Leatherman (1995, 108f) weisen allerdings auf die Schwierigkeit hin, dass die kindliche Sexualität bedingt durch gesellschaftliche Tabus, politische Richtungskämpfe und durch eine gewisse moralische Doppelbödigkeit ein vernachlässigter Bereich ist und sich deshalb im schulischen Unterricht als Thema schwer durchsetzen lässt. Handlungsorientierung und Einüben: Um die Effektivität von Abwehrstrategien zu erhöhen, ist es nötig, dass nicht nur Informationsvermittlung stattfindet, sondern auch Techniken eingeübt und Situationen ausprobiert werden; nicht nur in den schulischen Primärpräventionsprogrammen, sondern auch im Alltag der Kinder. Bange (1993, 20) kommt in seiner Auswertung von internationalen Studien zum Resultat, dass das Wissen über Handlungsstrategien in der Regel nur zunimmt, wenn Programme handlungsorientiert sind (zum Beispiel mit Rollenspiel) und 106 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule Elemente repetitiv aufgegriffen werden, was aber in vielen amerikanisch ausgerichteten Empowerment-Modellen fehle. Gesellschaftliches Selbstverständnis und kulturelle Minoritäten an der Schule: Was Kupffers40 kritische Überlegungen zum Menschenbild betrifft, sehe ich in der feministischen (Primär-)Präventionsliteratur teils die Tendenz, von einem für alle zutreffenden Menschenbild auszugehen, und die Forderung nach dem – nämlich dem feministisch-emanzipatorischen – Erziehungsstil schlechthin. Selbst wenn demokratische westeuropäische und nordamerikanische Gesellschaften, auf welche sich die feministische Literatur wohl vorwiegend bezieht, mit ihrem individuellen Freiheitsbegriff gewisse gemeinsame Normen und Werte erwarten lassen, so werden vorhandene primärpräventive Ansätze diesen zumeist ethnisch und kulturell durchmischten Gesellschaften zu wenig gerecht. In konkreten Projekten, die an Schulen umgesetzt werden, muss deshalb immer auf die örtlichen Umstände, zum Beispiel auf die kulturelle Zusammensetzung der Schülerschaft, Rücksicht genommen werden. Forschung dazu ist noch rar. Der deutsche Präventionsverein Strohhalm (2001, 72; zit. nach Elmer, 2004, 123) betont die notwendige Öffnung der primärpräventiven Konzepte gegenüber anderen kulturellen Zusammenhängen, also gegenüber zum Beispiel kollektivistisch organisierten MigrantInnen. Man müsse auch die Frage zulassen, was jenseits unseres individualistischen (Primär-)Präventionskonzepts zugunsten der Kinder wirken könnte. Aber die Einschränkung der Kinderrechte dürfe nicht als kulturell bedingt toleriert werden, da der kinderparteiliche Ansatz beibehalten werden müsse. Ahn und Gilbert (1995, 180) halten fest, dass es in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Gepflogenheiten im Umgang mit Kindern gibt, zum Beispiel beim Baden, Berühren von Körperteilen, gemeinsam in einem Bett Schlafen. Für gewisse seien die Privatsphäre der Eltern und die Autonomie der Kinder nicht so zentral wie es die feministischen Konzepte nahe legen. Allgemeine normative Vorschriften bezüglich familiären Umgangsformen zu machen, widerspreche anderen Wertvorstellungen und Traditionen. Allerdings seien trotz kultureller Unterschiede jene Verhaltensweisen nicht akzeptierbar, die für das Kind seelisch oder körperlich schädlich seien. – Ich frage mich, wer denn schliesslich definieren kann oder soll, was für ein Kind schädlich ist, da Folgen nicht klar ursächlich zugeschrieben werden können, und die Auffassungen zur Schädlichkeit offenbar sowohl kulturell, wie von Familie 40 siehe Kapitel 5.3. 107 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule zu Familie wie auch individuell verschieden sein können. Ausserdem gibt es auch missbrauchte Kinder, die keine Schädigung zeigen. Sollen sie deswegen nicht als Missbrauchsopfer gesehen werden dürfen und die Handlungen jedenfalls gutgeheissen werden? Milhoffer (1995, 187) schlägt einen Konsens vor: nur jene sexuellen Äusserungsformen mit Kindern seien zu befürworten, die keine Abhängigkeiten und emotionalen Bedürftigkeiten ausnutzten, die nichts gegen den Willen der Beteiligten geschehen liessen und die den Kindern ihren eigenen Erlebnis- und Entfaltungsspielraum garantierten. – Die Schwierigkeit bleibt bestehen; auch diese Formulierung kann von verschiedenen Standpunkten interpretiert werden. Eine pädophilenfreundlich gesinnte Person wird sie anders auslegen wie ein/e KinderschützerIn, diese/r unter Umständen wieder anders als eine feministisch orientierte Person. Bisherige Primärpräventionskonzepte sprechen zwar zuweilen an, dass man kulturelle Unterschiede berücksichtigen muss, doch fand ich in aktuellen Programmen kaum Umsetzungsvorschläge dazu. Auch Bange (1993, 30) hält fest, dass fast keine Materialien auf ausländische Kinder eingehen. Elmer (2004, 122-128) verweist zwar auf Prasads (2000, 1113) Tipp, bei Elternabenden Referenten aus den entsprechenden Kulturkreisen zu integrieren, um besser auf kulturelle Eigenarten eingehen zu können, gleichzeitig aber zitiert sie strenge Sexualnormen, ökonomische und politische männliche Herrschaft über Frau und Kind sowie die traditionelle Geschlechterrollenverteilung als von Bange und Deegener (1996, 166) erforschte, anerkannte Risikofaktoren für Inzest. Ich frage mich, wie diese (feministisch motivierten) Botschaften kollektivistisch und patriarchal organisierten MigrantInnen vermittelt werden können, ohne sie vor den Kopf zu stossen. Diese Frage lässt Elmer in ihrem Artikel unbeantwortet. Es fragt sich, ob man für MigrantInnen nicht grundsätzlich eigene Konzepte entwickeln müsste, die vom individualistischen Ansatz der feministischen Primärpräventionsarbeit weitgehend losgelöst sind. Diese Frage kann diese Lizentiatsarbeit nur aufwerfen, nicht aber beantworten. Sie richtet sich insofern eher an Menschen mit ähnlichem kulturellem Hintergrund wie wir ihn unter SchweizerInnen vorfinden. Es wäre interessant, einmal zu sehen, was in andern Kulturkreisen für Primärpräventionsinhalte vermittelt werden, um Kinder vor sexueller Gewalt zu schützen, falls dieses Thema dort auch Gegenstand wissenschaftlicher Forschung ist. 108 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule SchülerInnen mit Behinderungen: Bei Menschen mit Behinderungen ist wegen der Angewiesenheit auf Betreuung/Pflege und/oder wegen verschiedenartigen Einschränkungen (zum Beispiel geistige) das Ausbeutungsrisiko höher. AutorInnen wie Bange (1993,30) oder Fegert und Müller (2001, 12) 41 halten fest, dass behindertenspezifische Primärpräventionsprogramme eine Seltenheit sind. Sie würden meistens nur von einzelnen Einrichtungen örtlich erstellt und angewendet, der öffentliche Diskurs darüber stecke in Deutschland noch in Kinderschuhen. – Dasselbe stelle ich auch in der Schweiz fest. Leider sprengt es den Rahmen dieser Arbeit, auf Kinder mit verschiedenartigen Behinderungen und Lernschwierigkeiten spezifisch einzugehen. Die skizzierten inhaltlichen und methodischen Vorschläge (besonders Kapitel 7.3. und 7.4.) wenden sich an die hiesige klassische Grund- und Sekundarschule mit normal begabten, nicht verhaltensauffälligen oder (lern-)behinderten SchülerInnen. In gewissem Masse lassen sich inhaltliche Schwerpunkte vermutlich auch auf andere Schultypen (zum Beispiel Sonderschulen) übertragen. Hug (2004, 159) schreibt diesbezüglich, dass die Unterschiede zwischen Kindern mit und ohne kognitive Beeinträchtigungen wohl nicht im Inhalt, sondern in der Form der Arbeit liege; es müsse auf ihre spezifischen Kommunikationsmöglichkeiten und auf ihre Lebensumstände (zum Beispiel Leben im Heim, Angewiesenheit auf lebenslange Assistenz) eingegangen werden. Bei schulischen Primärpräventionsprogrammen müssen von den ausführenden Organen Anpassungen an den Schultypus vorgenommen werden. Damit sie sich dazu auf Fachwissen abstützen können, müssen sie einerseits KooperationspartnerInnen suchen, andererseits aber sollten die Forschungen dazu intensiviert und die Erfahrungen öffentlich diskutiert werden. Berücksichtigen der kognitiven und sozialen Entwicklung: Von verschiedenen AutorInnen wird gegen Primärpräventionsprojekte eingewendet, dass sie kaum auf entwicklungspsychologischen Erkenntnissen beruhen (Wurtele, 1987, 485). In den meisten Programmen fehlen Hinweise auf die Unterschiedlichkeit der kindlichen und der erwachsenen Sexualität (Koch & Kruck, 2000, 51). Bange (1993, 29-31) macht ebenfalls auf 41 Zur Vertiefung der Behindertenthematik findet sich bei diesen beiden AutorInnen eine dokumentierte Bibliographie zu den seit 1985 in Deutschland erschienenen Veröffentlichungen zu sexuellem Missbrauch an Behinderten. Einzelne Kapitel gewisser darin beschriebener Bücher (zum Beispiel Voss & Hallstein, 1993; Weinwurm-Krause, 1994) betreffen auch Primärpräventionsansätze. 109 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule den Mangel an guten, kindgerechten und sensiblen Materialien aufmerksam, die ganzheitlich orientiert sind und für die Arbeit mit allen Altersgruppen etwas anbieten. Gerade was das Alter der Kinder betrifft, müssen Materialien und Programme differenzierter werden. Jüngere haben Mühe, gewisse (abstrakte) Konzepte zu verstehen, die die Empowerment-Modelle verwenden, so zum Beispiel das Bild des „Fremden“. Fremd wird von unter sieben Jährigen mit Ausdrücken wie „schmutzig“, „unheimlich“ oder „böse“ verbunden; sobald jemand als nett erachtet wird oder eine Person nur ihren Namen nennt, erachtet sie das Kind vielfach nicht mehr als fremd. (ebd.) – Auch das Konzept von „guten“ und „schlechten“ oder „komischen“ Berührungen ist laut de Young (1988, 63ff; zit. nach Bange, 1993, 28) für kleine Kinder nicht verständlich, da Kinder bis sieben Jahre eine Handlung nach ihren Konsequenzen beurteilen und nicht nach der dahinter liegenden Intention fragen. Ihr moralisches Urteil sei dichotom, bewerte etwas also entweder als richtig oder als falsch. Für die Primärprävention ergebe sich daraus das Dilemma, dass vor allem kleine Kinder Mühe bekundeten, schleichende, immer mehr sexualisierende Handlungen und Worte als Missbrauch zu erkennen. Bange (1993, 29) zieht deshalb vor, dem kleineren Kind konkrete, einfache Regeln mit auf den Weg zu geben, welche Berührungen in Ordnung sind und welche nicht, statt dass man abstrakte Konzepte zu vermitteln suche. – Dabei sehe ich allerdings ein Problem wegen der innerfamiliär und interkulturell verschiedenen Auffassungen, was noch akzeptabel sei und was nicht. Es läge also an den Eltern, ihren Kindern das mitzuteilen, was bei innerfamiliärem Missbrauch allerdings erschwert ist. Koch und Kruck (2000, 51) widersprechen dem Einwand gegen „schlechte“ und „gute“ Berührungen in seiner strikten Form; ihre Erfahrungen in der Primärpräventionsarbeit hätten durchaus gezeigt, dass Kinder im ersten Schuljahr, die noch auf der präoperationalen Entwicklungsstufe nach Piaget seien, angenehme von unangenehmen Berührungen unterscheiden könnten. – Wichtig scheint in diesem Zusammenhang jedenfalls zu sein, dass die Verantwortung und die Schuld nie beim Kind liegen, wenn es sich nicht wehren kann; das muss ihm immer wieder vermittelt werden. Denn anfangs der Schulzeit neigen Kinder zur generalisierten Verantwortungsübernahme, was eng mit selbstbewertenden Emotionen wie Schuld und Scham zusammenhängt; dabei sind die Kinder noch abhängig von der bewertenden Öffentlichkeit. Die realen Machtverhältnisse in den sozialen Beziehungen spielen dabei allerdings eine wichtigere Rolle als das Autoritätsverständnis, welches spätestens ab Mitte der Grundschulzeit ausdifferenziert ist. Berührungen, die dem Kind sogar angenehm, aber doch missbräuchlich sind, können im 110 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule Rahmen der Primärprävention bei den Kindern erst als Missbrauch verankert werden, wenn die Kinder die Bedeutung sozial-konventioneller Regeln für das Funktionieren des sozialen Systems verstehen. Deshalb versuchen die Empowerment-Konzepte, den sexuellen Missbrauch in den Bereich der Verletzung von (sozial-)moralischen Regeln zu rücken, denen universelle Gültigkeit zugesprochen wird, damit die Kinder den Übergriff früher und besser erkennen können und die von der Täterschaft aufgestellten konventionellen Regeln nicht gleichrangig zu denen der Vorbeugungsprogramme erscheinen. (Schuhrke, 1995, 209-212) Im Rahmen dieser Lizentiatsarbeit ist es nicht möglich, die Primärpräventionsinhalte und Arbeitsmethoden nach Altersgruppen zu sondieren, da das ein komplexes Unterfangen ist, das den Umfang meiner Arbeit sprengt und dem noch zu wenig wissenschaftliche Grundlagen zugrunde liegen. Geschlechterspezifische Arbeit: Primärpräventionsprogramme richten sich zumeist in gleicher Art an Mädchen und Jungen. Sie orientieren sich selten an den unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen und differenzieren ihre Inhalte nicht der Tatsache entsprechend, dass Mädchen häufiger Opfer werden und besonders die Jungen nicht nur potentielle Opfer, sondern auch potentielle Täter darstellen. Das muss in einer geschlechtsspezifischen Arbeit mitberücksichtigt werden. (Teilweise) getrennte Gruppenarbeit ist deshalb sinnvoll, weil der Fokus bei den beiden Geschlechtern je unterschiedlich liegt. Jungen werden vielfach von gleichgeschlechtlichen Tätern missbraucht, weshalb bei ihnen zum Beispiel das Thema Homosexualität ein wichtiges Gesprächsthema darstellt. (Koch & Kruck, 2000, 53) Ihnen soll im Kapitel 7.4. zur Arbeit mit Kindern deshalb ein separates Augenmerk geschenkt werden. 7.2.3. Nutzen bisher praktizierter (amerikanischer) Empowerment-Modelle Mangels deutschsprachiger Evaluationsstudien bezieht sich die Untersuchung des Nutzens der (auch im deutschsprachigen Raum angewandten) beliebten Empowerment-Modelle mit Heranwachsenden auf amerikanische Studien. Auch in den USA ist die wissenschaftliche Effektüberprüfung von Programmen laut Berrick und Gilbert (1995, 82-86) allerdings ein Schwachpunkt. Das wesentlichste Kriterium, ob Kinder sich in realen Gefahrensituationen auch wehren könnten, kann in der Sozialforschung wegen ethischer Probleme kaum untersucht werden. Einfacher, aber weniger aussagekräftig, ist die Messung des Wissenszuwachses durch ein 111 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule Programm, der ja für eine Verhaltensänderung vorauszusetzen ist. Die ForscherInnengemeinschaft ist sich über den Nutzen dieser zumeist kurzfristig angelegten und von externen ProgrammbetreuerInnen an Schulen durchgeführten Primärpräventionsprogramme, die auf der psychologischen Stärkung der Kinder beruhen, nicht einig. Einige Evaluationsstudien legen nahe, dass selbst der Wissenszuwachs nach einer Programmteilnahme nicht signifikant grösser ist. Auch die entwicklungspsychologische Angemessenheit und kulturelle Sensitivität der Programme sind fraglich. Die derzeitigen Projekte sind in jedem US-Bundesstaat mit ähnlicher Grundidee vorhanden und trotz mangelndem Nachweis der Effektivität sehr populär. Wie neuere Ansätze aussehen sollen, ist noch zu wenig klar, man überlegt sich vereinzelt, gewisse Angebote zu ersetzen. (ebd.) Dieser recht ernüchternden Bilanz stellen Finkelhor und Dziuba-Leatherman (1995, 88f), gestützt auf ihre Auswertung verschiedener amerikanischer Untersuchungen (vgl. Finkelhor & Strapko, 1992), eine optimistischere Sicht gegenüber: die Kinder seien vielfach durchaus in der Lage gewesen, die jeweiligen Programminhalte zu verarbeiten, sie hätten sie sogar teils in Rollenspielen und fiktiven Situationen anwenden können. Jedoch seien neu erworbene Verhaltensmuster (zum Beispiel die Fähigkeit, „nein“ zu sagen) weniger stabil und übertragbar als neu angeeignete Denkweisen. Ältere Kinder lernten von den vorbeugenden Konzepten mehr (siehe auch Koch & Kruck, 2000, 49) und der aktive Einbezug (zum Beispiel via Rollenspiel) sei erfolgreicher gewesen als eher darbietende Vermittlungsformen (zum Beispiel Video, Unterrichtsgespräche) oder individuelles Lernen (zum Beispiel Arbeitshefte, Comics). Insbesondere schwierige Konzepte, wie jenes, dass auch nahe Verwandte die TäterInnen sein könnten, gingen bald nach einem Kurs wieder verloren, weshalb einmal jährlich eine Auffrischung empfohlen würde. Ermutigend ist die Feststellung, dass die Programme die Gespräche zwischen Eltern und Kindern anregten, und dass Kinder in der Folge häufiger über erlittene Misshandlungen erzählten (Finkelhor & Dziuba-Leatherman, 1995, 88f, 108f). Ferner könnte das regelmässige Hören von Gesprächen über Missbrauch bei späteren Opfern das Stigmatisierungstrauma abschwächen, nicht darüber reden zu können und ganz alleine mit der Erfahrung zu sein. Als noch unbeantwortet bezeichnen auch diese AutorInnen jedoch die Frage, ob Missbrauch durch solcherlei gestaltete Opferprimärprävention wirklich verhindert werden könne, und wie sich die Programme auf die sexuelle Entwicklung der Kinder und ihre Einstellung zum sexuellen Körperkontakt auswirkten. 112 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule Lage in der Schweiz: Man sollte berücksichtigen, dass die in Kapitel 7.2.2 und 7.2.3 zitierten wissenschaftlichen Evaluationen und Einschätzungen von Programmen und Primärpräventionsmaterialien und deren Wirkung aus den 90er Jahren stammen und teils aus dem US-amerikanischen Raum. Somit sind sie mit Vorsicht zu geniessen beziehungsweise auf die (heutige) Schweiz zu übertragen. Es ist ausserdem zu vermuten, dass sich in den letzten zehn Jahren in diesem Bereich einiges getan hat. Eine erst kürzlich erschienene wissenschaftliche Auswertung aktueller Projekte im deutschsprachigen Raum fand ich keine. Allerdings lässt das praxisorientierte Buch von der Präventionsfachstelle Limita (2004) vermuten, dass in der Schweiz bei der zeitlich verschobenen Ausarbeitung des verwandten 7Punkte-Programms einige inhaltliche Schwächen der Empowerment-Programme der USA behoben wurden, dass zumindest die von Limita herausgegebenen Konzepte und Arbeitsmaterialien teilweise verbessert wurden, zum Beispiel was die alters- und geschlechterspezifische Arbeit oder das konkrete Vokabular für den Sexualbereich betrifft. Andere Kriterien wie die Vernetzung scheinen aber weiterhin ein grosser Schwachpunkt zu sein. Bei Ziegler (2004, 46f) findet sich die Feststellung, dass Projekte meistens weder inhaltlich, noch zeitlich, noch regional verbunden und koordiniert sind und von heraufbeschworenen Synergieeffekten im primärpräventiven Kinderschutz wenig zu sehen ist. Zudem seien Projekte zeitlich begrenzt durchgeführt und würden oft nur einzelne Aspekte abdecken. Eine neuerliche wissenschaftliche Auswertung der Projekte und Materialien wäre wünschenswert, insbesondere auch eine separate für die Schweiz. Die hier vorliegende Einschätzung der praktizierten primärpräventiven Programme mit Kindern und Jugendlichen bezieht sich vor allem auf die amerikanische und deutsche Situation der 90er Jahre; wie genau sie auch auf die aktuelle Lage in der Schweiz zutrifft, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Da aber in der Schweiz auch Materialien (Kinderbücher, etc.) aus Deutschland verwendet werden, scheinen gewisse Parallelen vorhanden zu sein. 7.2.4. Diskutierte Kriterien im Überblick An dieser Stelle scheint ein Kurzüberblick (siehe Tabelle 3) über die soeben diskutierten formalen und inhaltlichen Kriterien primärpräventiver Arbeit an Schulen mit Kindern und Jugendlichen hilfreich, da damit ein Teil der dritten Hauptforschungsfrage beantwortet wurde. 113 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule Tabelle 3: Inhaltliche und formale Kriterien der Primärpräventionsarbeit im Überblick Formale, äussere Rahmenbedingungen Wissenschaftlichkeit und Evaluation von Programmen und Materialien Kontinuität, Repetition und Verankerung der Inhalte Interne und externe Kooperation(spartner) Inhaltliche Kriterien Befähigung statt Bevormundung Konkrete Informationsvermittlung ohne Angstmacherei Handlungsorientierung und Einüben Beachtung gesellschaftlichen Selbstverständnisses und kultureller Minoritäten Adaption an SchülerInnen mit Behinderungen Anpassung an kognitive und soziale Entwicklung geschlechterspezifische Inhalte/Arbeit Viele dieser Anforderungen, die ich aus der Literatur zusammengetragen habe, sind in der Praxis bis anhin nicht genügend erfüllt worden und müssen noch mehr erforscht werden. 7.3. Kooperationskonzept zur Vorbereitung und Verankerung der Primärpräventionsarbeit am Ort Schule Aufgrund der von mir studierten Fachliteratur scheint es wünschenswert, dass sich die Institution Schule als Ganzes, unter Anleitung der Schulleitung und der Mitwirkung aller, um das Anliegen der Primärprävention bemüht, es also nicht der einzelnen engagierten Lehrperson überlässt, ob sie dem sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen die Stirn bieten will. Die Primärprävention mit der Zielgruppe der psychosozialen und pädagogischen Institutionen stellt eine eigenständige Ebene der Kinderschutzarbeit dar, die weit über die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen hinausgeht, und zu der noch wenig publiziert ist. Die institutionelle Ebene soll hier insofern behandelt werden, als ich sie als Plattform für die kooperierende Vorbereitung und Einbettung der effektiven Arbeit mit SchülerInnen sehe. An dieser Stelle möchte ich ein Konzept zusammenstellen, das den potentiellen Beitrag respektive die Vorbereitung der für die konkrete Primärpräventionsarbeit mit SchülerInnen meiner Meinung nach zentralsten KooperationspartnerInnen skizziert. Damit greift es die zweite Hauptforschungsfrage (Vorbeugungsmöglichkeiten durch Kooperation) auf und stellt einen eigenständigen Vorschlag zur verbindlichen institutionellen Kooperation dar. Mein Bemühen besteht darin, mögliche AkteurInnen zu bestimmen, welche die Forderung nach Kooperation gemeinsam umsetzen könnten. Dabei soll jeweils – teils gestützt auf die Literatur 114 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule – idealtypisch ein möglichst breites Spektrum an Möglichkeiten beschrieben werden, aus dem schlussendlich die involvierten AkteurInnen respektive Verantwortlichen, auf die konkreten örtlichen Bedürfnisse und Möglichkeiten zugeschnitten, unter fachlicher Anleitung eine Auswahl treffen sollen. Deshalb macht es keinen Sinn, hier eine Aufgabenverteilung festlegen zu wollen. – In die konkrete Planung der Verantwortlichen sollten ebenfalls die vorgängig dargestellten Bedingungen primärpräventiver und kooperativer Arbeit einfliessen. Diese Kriterien funktionieren demnach als ein Raster, an dem die Vorbereitungen, der Rahmen der Vorbeugungsarbeit und die Arbeitsinhalte und -methoden ausgerichtet werden müssen. Auf Seiten der Schule soll gestützt auf verschiedene AutorInnen die institutionelle Vorbereitung (Kapitel 7.3.1.) und die Rolle der Lehrerschaft (Kapitel 7.3.4.) herausgearbeitet werden; für die Soziale Arbeit formuliere ich eigenständig mögliche Beiträge der Schulsozialarbeit (Kapitel 7.3.3.) und der auf Primärprävention spezialisierten interdisziplinären Fachstellen (Kapitel 7.3.2.). Diese beiden erscheinen mir als zentralste AkteurInnen aus dem Umfeld der Sozialen Arbeit, wenn es um Primärprävention mit SchülerInnen geht; die integrierte Schulsozialarbeit ihrer örtlichen Verankerung im schulischen Alltag wegen, die SpezialistInnen wegen ihrer besonderen Kenntnisse zum sexuellen Missbrauch und zur Vorbeugungsarbeit. Ferner soll auch Literatur zur Vorbereitung und zum Einbezug der Eltern (Kapitel 7.3.5.) Erwähnung finden, da deren Einverständnis und Unterstützung für ein erfolgreiches Vorhaben massgeblich sind. – Die konkrete inhaltliche und methodische Arbeit mit den SchülerInnen soll nicht je KooperationspartnerIn separat aufgeführt werden, sondern exemplarisch aus Sicht der Lehrerschaft formuliert werden (Kapitel 7.4.); davon ausgenommen sind Methoden, die spezifisch der Schulsozialarbeit zuzuschreiben sind42. 7.3.1. Institutionelle Vorbereitung der Prävention und Kooperation Für eine Schule stellt sich die Frage, welche Willenskraft und welche zeitlichen, personellen und finanziellen Ressourcen sie mobilisieren kann und will, um missbrauchsspezifische Vorbeugungsarbeit durchzuführen. Mitentscheidend dabei sind neben der Schulleitung, der Lehrer- und der Elternschaft bei grösseren Vorhaben oder Veränderungen auch politische EntscheidungsträgerInnen, Erziehungs- und Sozialdepartemente, etc., die beim Sprechen von finanziellen und personellen Ressourcen unter anderem auch die Kosten-Nutzen-Frage beachten und die als RepräsentantInnen der gesellschaftlichen Einstellung zum Thema 42 Diese wurden im Kapitel 6.3.3. im Zusammenhang mit dem methodischen Spektrum der Schulsozialarbeit bereits erwähnt; viele davon können auch im primärpräventiven Kontext eingesetzt werden. 115 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule figurieren. Um sie zu einer Unterstützung zu bewegen, muss aufwändige Überzeugungsarbeit geleistet werden, durch eine interessierte Lehrerschaft, durch KinderschützerInnen, durch Gremien wie die Erziehungsdirektorenkonferenz oder auch durch SozialforscherInnen. Qualität und Erfolgspotential der beabsichtigten (Primär-)Präventionsarbeit müssen dargelegt werden können. Dabei können wissenschaftlich abgesicherte Projekte sicher hilfreich sein, obwohl es vorbeugende Arbeit in sich trägt, dass ein Nachweis ihrer Wirkung schwierig geführt werden kann. Langzeitstudien, die Kontrolle von Störvariablen und die Definition von Erfolgskriterien wären beispielsweise nötig; im Ganzen gesehen ein aufwändiges Unterfangen. Entschliesst sich ein Schulhausteam als ganze Institution die Vision des Schutzes der Kinder vor sexueller Gewalt zu teilen und auf verschiedenen Ebenen umzusetzen, auch um Übergriffe in den eigenen Mauern zu verhindern, müssen dementsprechend langfristige Schritte vorbereitet und eingeleitet werden, wobei die Schulleitung die Übersicht behalten sollte. Dazu sehe ich die Möglichkeit, eine Projektgruppe ins Leben zu rufen, bestehend aus Lehrerschaftsvertretung, SchulsozialarbeiterIn, Schulleitung, Erziehungsdepartementsvertretung, wissenschaftlicher Begleitung und Primärpräventions-SpezialistIn. Sie kann einerseits ein konkretes Konzept zur strukturellen Verankerung ausarbeiten, andererseits auch Richtlinien zur Gestaltung der Primärpräventionsarbeit mit SchülerInnen vorschlagen. Die Schule muss ständig in Bewegung bleiben und gegen innen und aussen kooperieren. Bei Eberle und Leiser (2004, 106-115) beschreiben die institutionelle Prävention als kontinuierlichen, systemischen Entwicklungsprozess, der in einem Organisationsmodell festgehalten werden kann43. Sie veranschaulichen das mittels des so genannten Flügelradmodells von Biehal (1994) von der Trigon Entwicklungsberatung in Österreich. – Obwohl in einer (öffentlichen) Schule durch ihren staatlichen Auftrag und zahlreiche Gremien und höhere Instanzen mehr Bedingungen von aussen vorgegeben sein mögen als bei einer einzelnen sozialen oder pädagogischen Institution (zum Beispiel bei einem Behindertenheim), auf die dieses Modell zugeschnitten ist, so denke ich doch, dass dieses Modell auch von der Institution Schule angewandt werden könnte. Deshalb schildere ich gestützt auf Eberle und 43 Dabei hält Biehal (1997/98) fest: „Unter Organisationsentwicklung verstehen wir einen Veränderungsprozess der Organisation und der in ihr tätigen Menschen, welcher von den Angehörigen der Organisation selbst bewusst gelenkt und aktiv getragen wird und somit zur Erhöhung des Problemlösungspotentials und der Selbsterneuerungsfähigkeit dieser Organisation führt, wobei die Angehörigen der Organisation gemäss ihren eigenen Werten und Vorstellungen die Organisation so gestalten, dass sie nach innen und nach aussen den wirtschaftlichen, sozialen, humanen, kulturellen und technischen Anforderungen entsprechen kann.“ (zit. nach Eberle & Leiser, 2004, 106) 116 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule Leiser (2004, 106-115) die Anwendung des Flügelradmodells auf die Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch. Das Rad besteht aus drei Flügeln, in deren Zentrum das Kerngeschäft steht, in unserm Fall der Schutz der Kinder vor sexueller Gewalt inner- und ausserhalb der Schule. Umgeben ist es von verschiedenen äusseren Systemen (zum Beispiel den Forderungen externer Gruppierungen oder der sozialpolitischen Lage), die das Rad in Bewegung setzen. Zusätzlich soll die Bewegung aber auch durch inneren Antrieb erfolgen. Die Führung muss darauf achten, dass alle drei Flügel ähnlich gewichtet werden, damit das Rad gleichförmig läuft. Alle drei Subsysteme (Flügel) werden parallel in Veränderungsprozesse involviert, die systemisch und zirkulär verlaufen. Dank dem Modell können einzelne Veränderungen im Sinne eines überschauenden Controllings ins Gesamtsystem eingebettet werden. Die drei Flügel stellen sich wie folgt dar: - Strategieentwicklung (Flügelrad der Identität, kulturelles Subsystem): hier ist die Philosophie und die Vision einer Institution mit ihren Leitbildern, strategischen Zielen, Plänen, Konzepten, mit ihrer eigenen Politik und ihrem ethischen Selbstverständnis verortet. Die ersten Veränderungen müssen hier stattfinden, die bewusste Entscheidung zur Verankerung von (Primär-)Prävention. Gemeinsame Werte oder Instrumente (wie zum Beispiel ein Leitbild) sollen von allen Beteiligten erarbeitet werden (ich schlage dazu oben genannte Projektgruppe vor), damit eine gemeinsame Grundhaltung nach innen und nach aussen kommuniziert werden kann. Ein konkretes Konzept zur Primär - und Sekundärprävention zu entwickeln, welches Verantwortlichkeiten, Aufgaben, Inhalte und Abläufe festlegt, hilft, die gemeinsame Haltung umzusetzen. - Personalentwicklung (Flügelrad der Menschen, soziales Subsystem): Hier geht es um Wissen, Können und Erfahrungen aller Beteiligten, um ihre Einstellungen und Motivation. Das Präventionskonzept soll hier in die Praxis umgesetzt werden. Dazu müssen Verantwortlichkeiten festgelegt, die Zusammenarbeit (fachlicher Austausch) möglichst gut ausgestaltet und angemessene Konfliktlösungen, Führungsmodelle und Kommunikationsweisen diskutiert werden. Es bieten sich interne Weiterbildungen und Teamsupervisionen/Teamsitzungen an, um das gegenseitige Verständnis und Vertrauen, also den Teamgeist, zu fördern, wobei möglichst alle Mitarbeitenden (auch zum Beispiel allenfalls vorhandene SchulsozialarbeiterInnen) einzubeziehen sind, nicht nur die Lehrpersonen. Die Interessen der verschiedenen Parteien sollen einbe117 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule zogen werden, damit ein konstruktives Arbeitsklima herrscht. Primärprävention setzt einen bewussten Umgang mit Machtverhältnissen voraus, also sollen auch die Machtstrukturen in der Schule reflektiert werden. Das erfordert, dass Transparenz, Verantwortungsbewusstsein und Vorbildverhalten das Führungsverhalten auf verschiedenen Hierarchiestufen prägen. - Organisationsentwicklung (Flügelrad der Organisation, technisch-instrumentelles Subsystem): hier kommt der organisatorische Rahmen zum Zug, der formell Strukturen, Abläufe und Regeln festlegt. Die Ressourcen und deren Einsatz werden zu einem wesentlichen Kriterium, in zeitlicher, materieller wie personeller Hinsicht. Vorgängig wäre eine Bedarfsanalyse denkbar, die die Abstützung eines primärpräventiven Vorhabens abklärt. Es müssen genügend Personal und Finanzen vorhanden sein oder organisiert werden, um die Primärprävention zu planen, umzusetzen und möglichst auch auf ihre Qualität zu überprüfen. Dabei ist die Fluktuation der MitarbeiterInnen mit zu berücksichtigen, Weiterbildung muss also immer wieder aufgegriffen werden. Arbeitsvertrag und -reglement sowie der Stellenbeschrieb sollten die Vision des Kinderschutzes – respektive Aufgaben und Abläufe des verfassten Präventionskonzepts – bereits integrieren, um die Personalauswahl zu steuern. Grundsätzlich fand man heraus, dass innerhalb von psychosozialen Institutionen die Anfälligkeit für sexuelle Übergriffe grösser ist, je chaotischer oder aber je hierarchischer eine Organisation strukturiert ist. Flache, transparente Strukturen mit klaren Kompetenzen und Prozessabläufen (gerade auch für den Fall, wenn ein Missbrauch durch eine Lehrperson oder eine/n Heranwachsende/n innerhalb der Schule geschieht) wirken sich hingegen positiv aus. Dabei gewinnt das Festlegen von Abläufen im koordinierten Handeln innerhalb des Schulhausteams also auch in der Kooperation mit der Aussenwelt eine grosse Bedeutung. Dazu würden sich Kooperationsverträge anbieten (zum Beispiel zwischen der Schule und der Schulsozialarbeit). – (Team-)Supervision oder Beratung in fachlicher und/oder thematischer Hinsicht von aussen kann nötig sein für die Schulleitung, die SchulsozialarbeiterInnen, für Lehrpersonen, für einzelne SchülerInnen oder Schulgruppen. Stelle ich mir dieses Flügelradmodell im Rahmen der Schule vor, fallen mir einige Stolpersteine auf. Zum einen ist die Freiheit der einzelnen Schule als Organisation begrenzt, eingeschränkt durch kantonale Erlasse (und andere Vorschriften) und verfügbare Ressourcen, 118 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule die sich nur in geduldiger und kooperativer Arbeit verändern lassen, andererseits ist das öffentliche Schulwesen sehr hierarchisch strukturiert (und recht „veränderungsresistent“). Ferner sind Lehrpersonen, aber auch andere Involvierte, die Teamarbeit nicht gewohnt. Das hier vorgeschlagene Modell umzusetzen kommt für die Institution Schule einer teilweisen Schulreform gleich und ist entsprechend schwierig durchzusetzen. Für eine effektive und vernetzte schulische Primärprävention sind aber deutliche Anstrengungen in diese Richtung vonnöten, wenn Kinderschutz nicht nur ein Lippenbekenntnis bleiben soll. 7.3.2. Hilfestellung durch auf Primärprävention spezialisierte Fachleute Fachstellen, die auf Primärprävention spezialisiert sind, wie zum Beispiel Limita oder PräVita, bestehen meistens aus interdisziplinären Teams und bieten teils auch Sekundärprävention an. Erstens da die beiden eng miteinander verknüpft sind, zweitens weil sie sich mit einem alleinigen Engagement in der Primärprävention finanziell nicht über Wasser halten könnten. Im vorliegenden Konzept werden Vorbeugungs-Spezialisten vor allem wichtig, wenn es um die fachliche und planerische Hilfestellung bei der Projektentwicklung an Schulen, um Vorbereitung und Weiterbildung von SchulsozialarbeiterInnen, Lehrkräften, Eltern oder der Schulhausleitung geht. Sie stellen das primärpräventive und missbrauchsspezifische Wissen zur Verfügung, das ihre KooperationspartnerInnen mehrheitlich noch nicht haben. Dabei sollten sie sich immer an neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren und falls sie dafür ausgebildet sind, könnten sie auf Wunsch der Schule die wissenschaftliche Begleitung eines Schulprojekts an die Hand nehmen. Auch bei Verdachtsabklärungen, bei der Aufdeckungsarbeit und bei der Beratung zum weiteren Vorgehen der Bezugspersonen oder der betroffenen Kinder und Jugendlichen können sie gemeinsam mit andern, stärker interventionsorientierten Stellen (Opferberatungsstellen, Erziehungsberatung, Kinder- und Jugendpsychologischer Dienst, Vormundschaftsamt, etc.) hilfreich sein. Um Primärpräventionsfachleute in die Institution Schule zu holen, ist die Schulsozialarbeit als Drehscheibe denkbar, doch kann der Kontakt auch über andere schulische Instanzen hergestellt werden (zum Beispiel Projektgruppe), oder aber von den Fachleuten selber aktiv an die Schule herangetragen werden. Solche SpezialistInnen können in Schulstunden hereingeholt, in Projekte, Lager, Informationsveranstaltungen, Vorträge oder andere Aktivitäten einbezogen werden, um bei der Gestaltung der konkreten Primärprävention mit 119 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule den Heranwachsenden zu helfen. Auch können sie andere bei der Auswahl der Arbeitsmaterialien und -methoden beraten. Die Schule als Ganzes kann sich von ihnen auf institutioneller Ebene Tipps geben lassen, wenn sie sich nachhaltige, langfristige und strukturell verankerte Primärpräventionsarbeit zu ihrem Ziel gesetzt hat. Die Schule kann die Kooperation mit SpezialistInnen der (Primär-)Prävention in ihre Leitlinien aufnehmen und so verbindlicher gestalten. Letztlich hängt es vom Engagement der Schule, der Schulsozialarbeit und der Lehrerschaft, von deren finanziellen und zeitlichen Möglichkeiten sowie von der Bereitschaft und den freien Kapazitäten der Primärpräventionsfachleute ab, wie stark letztere in den schulischen Prozess zur vorbeugenden Arbeit eingebunden werden (können). 7.3.3. Rolle der integrierten Schulsozialarbeit Im Kapitel zur Schulsozialarbeit stellte ich das kooperative, lebensweltbezogene und am Ort Schule integrierte Schulsozialarbeitsmodell als von mir favorisierte Art vor, Schulpädagogik und Schulsozialarbeit zusammenwirken zu lassen. Werden Aufgaben, Ziele und Kompetenzen dabei in Kooperationsverträgen festgehalten, kann die Schulsozialarbeit darauf abgestützt, gleichberechtigt zum Lehrkörper, selbständig und aktiv ihre Arbeit gestalten. Neben dem Auftrag, den Vereinbarungen mit der Schule respektive der Lehrerschaft, sind auch die Vorbildung/Kompetenz, die Ausrichtung und das Interesses des/der Schulsozialarbeiters/in entscheidend darüber, wie wichtig er/sie für die Missbrauchsprävention wird. Hat die Person in der Grundausbildung noch keine entsprechenden Kompetenzen erworben, wird ihr aber bei der Primärprävention oder auch bei der Verdachtsabklärung eine Rolle zugedacht, sollte sie sich entsprechend fortbilden. Die Inhalte einer Fort-, Weiterbildung könnten dann in etwa denjenigen entsprechen, die auch für die Lehrerschaft44 erwünscht sind. Kurse könnten im Sinne einer internen Weiterbildung gemeinsam besucht werden, um die Zusammenarbeit zwischen Lehrkörper und Schulsozialdienst zu stärken. Als weitere, kontinuierliche Schulungsmöglichkeiten bieten sich beispielsweise Supervision, kollegiale Beratung, Reflexion, Teamsitzungen oder der Besuch von Informationsveranstaltungen an. Wenn sich die Person im Bereich der sexuellen Ausbeutung und Primärprävention bereits auskennt oder sich entsprechend fortgebildet hat, kann sie in Absprache mit andern potentiellen AkteurInnen inhaltlich und formal Projekte respektive Primärprävention – auch 44 siehe Kapitel 7.3.4. 120 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule Tipps zu deren Verankerung in der schulischen Struktur – initiieren und wesentlich mitgestalten (zum Beispiel durch Einsitz im vorgeschlagenen Projektteam oder in einer (sekundärpräventiven) HelferInnenkonferenz). In der Durchführung kann sie mit LehrerInnen und der Schülerschaft (zusammen)arbeiten, im Unterricht wie ausserhalb, in der Schule selbst wie auch im schulischen Umfeld. Eltern soll das Anliegen näher gebracht und sie einbezogen werden, Kontakte zum Gemeinwesen sollen geknüpft und Erkenntnisse aus anderen (Projekt-) Erfahrungen in die Schule hereingeholt werden. Der Schulsozialdienst kann aber auch verschiedene Helferdienste vernetzen und soll wo immer nötig auf Fachleute (wie zum Beispiel die PräventionsspezialistInnen) zurückgreifen. Damit kann ihm auch die Rolle eines Koordinators oder einer Drehscheibe für präventionsspezifische Angebote, für diesbezügliche Fortbildungen der schulischen MitarbeiterInnen und für die Zusammenarbeit mit den weiteren Helferinstitutionen zukommen. Ein Stück weit sollte sich die Person auch an der politischen, öffentlichen Debatte des Themas beteiligen. Unter anderem durch das Hereinholen von ausserschulischen Inhalten und „Lehrpersonen“ aus anderen Berufsfeldern trägt sie zu einer Öffnung der Schule bei. Primärpräventive Inhalte aus dem Missbrauchsbereich45 lassen sich vom Schulsozialdienst auf vielfältige Weise in den Schulalltag der SchülerInnen einbringen. Sie lassen sich mit andern Themen wie dem Verhalten in Gruppen, dem Umgang mit dem andern Geschlecht oder mit andern Kulturen, der allgemeinen Gewalt(primär)prävention oder der Suchtvorbeugung verbinden. Ferner können SchulsozialarbeitInnen das Gedankengut in Sitzungen, Konferenzen, LehrerInnenberatungen, Gruppenarbeiten und Konfliktlösungen mit SchülerInnen oder in Informationsveranstaltungen mit Eltern einfliessen lassen. In sozialpädagogisch orientierten Unterrichtsprojekten mit Aufklärungsinhalt kann der Schulsozialdienst die Lehrerschaft unterstützen, emanzipierten Unterricht oder Mädchen- und Jungenarbeit zu praktizieren, oder er kann durch seine eigene Teilnahme am Unterricht bei projektorientierten, primärpräventiven Arbeiten mit der Klasse oder mit geschlechtshomogenen Gruppen mitwirken. Letztlich bietet sich das in den Kapiteln 6.3.2. und 6.3.3. beschriebene Spektrum an Zielgruppen, Aufgabenfeldern und Methoden der integrierten Schulsozialarbeit an, die für unsern Fall spezifisch mit primärpräventiven Inhalten gefüllt werden. 45 Diese Inhalte werden im Kapitel 7.4. detailliert beschrieben. 121 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule 7.3.4. Rolle und Vorbereitung des Lehrkörpers Die aktuelle Lage gestaltet sich so, dass Lehrkräfte mehrheitlich auf sich selbst gestellt sind.46 Ihnen fehlen Kooperationsmöglichkeiten innerhalb der Schule und mit andern Institutionen. Sie besitzen keine Handlungsleitlinien und werden durch die Schuladministration zu wenig unterstützt. Diese mangelnde Einbindung der Grundschule ins Hilfesystem führt zu Überforderung und Unsicherheit der Lehrpersonen und zu schlechter Hilfestellung für das Kind. Selbst innerhalb der Schule erhalten Lehrkräfte scheinbar wenig kollegiale Unterstützung, was auf eine schlechte Kommunikationsstruktur und fehlende schulische Richtlinien für das Thema des sexuellen Missbrauchs zurückzuführen sein dürfte. (Johns & Kirchhofer, 1995, 231-238) Die Vorbereitung und Kompetenz der Lehrerschaft, ihre eigene reflektierte Position und ihre Informiertheit im Themenkomplex des sexuellen Missbrauchs zentrale Voraussetzung für ihre primärpräventive und damit potentiell den Missbrauch enthüllende Arbeit mit ihren SchülerInnen. Bei einer langfristigen, konkreten Umsetzung im Schulalltag kann auf den Beitrag der einzelnen Lehrpersonen (insbesondere auch der Klassenlehrkräfte) und somit auf deren Weiterbildung kaum verzichtet werden. Selbst wenn Primärprävention eher projektartig von externen Fachleuten angeboten wird und beispielsweise durch ein Projektteam koordiniert wird, kommt der Fortbildung der Lehrerschaft eine grosse Bedeutung zu. Die Lehrperson könnte dann laut Werner (2003, 131) als MultiplikatorIn für die langfristige Umsetzung respektive Wirkung der vorbeugenden Arbeit sorgen, indem sie im Erziehungsalltag immer wieder Elemente aus dem Projekt aufgreift und vorlebt. Ich erachte die Mitwirkung des Lehrkörpers auch in von Fachleuten gestalteten Primärpräventionsprojekten als zentral, um das Angebot breit abgestützt zu haben und den Zugang der Externen in den Unterricht zu erleichtern. Eine adäquate Vorbereitung von Lehrpersonen geht über die rein kognitive Information hinaus. Am Anfang steht, dass sie sich mit traditionellen (Primär-)Präventionsvorstellungen auseinandersetzen, eigene Blockaden analysieren, vorhandene Materialien mit fachlicher Hilfe überprüfen und mögliche unerwünschte Nebeneffekte für die Kinder mit bedenken. Im sekundärpräventiven Bereich, auf den man zwingend auch vorbereitet sein muss, wenn man Primärprävention in den Schulalltag einbettet, muss eine Lehrperson befähigt sein, 46 Die Autoren haben dabei deutsche Grundschulen untersucht. Für die Schweiz lassen sich ähnliche Verhältnisse vermuten. 122 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule kindliche Notlagen zu erkennen und dem Kind Hilfe zu vermitteln mittels interner und externer Kooperation. Die Interpretation der beobachteten Symptomatik eines Kindes gehört nicht mehr zu ihrer Aufgabe, ebenso wenig soll sie ein diagnostisches Gespräch im Sinne einer Aufdeckung führen. Das ist meines Erachtens Sache von erfahrenen Fachleuten. Johns und Marquardt-Mau (1995, 265-276) listen Aufgaben und Qualifikationen von Lehrpersonen für die Präventionsaufgabe auf. Parallel dazu nennen sie die entsprechenden Aus- und Weiterbildungselemente und Methoden, die in der LehrerInnenbildung dafür nötig oder hilfreich sind (siehe Tabelle 4). Tabelle 4: Erforderliche LehrerInnenqualifikation und Ausbildungselemente für die Präventionsarbeit Aufgaben und Qualifikation von LehrerInnen PRIMÄRPRÄVENTION Ausbildungselemente eigene Gefühle wahrnehmen, ausdrücken gestaltpädagogische Übungen, Selbstausdruck mit kreativen Medien, Lehrerrolle Identität der Kinder sensibel wahrnehmen, Anthropologie des Kindes, Entwicklungs- akzeptieren, stützen und Sozialisationstheorien, Sexualität von Kindern, Analyse kindlicher Denkweisen und Handlungsformen Ansprechpartner für Probleme und Fragen der Lehrerrolle, Beratungstechniken Kinder gutes Sozialklima in der Klasse herstellen Konfliktlösestrategien, Beratungstechniken, Rollenspiel partnerschaftlicher Lehrstil, ganzheitliche und Analyse von Unterrichtsstilen, didaktische handlungsorientierte Lehr- und Lernformen Konzepte wie offener Unterricht, Projektunterricht, Gestaltpädagogik Kindern Freiräume zur eigenen Verantwor- Schülermitbestimmung, Projektunterricht tung schaffen geschlechtsspezifische Erlebnis- und Wahr- Forschung zur geschlechtsspezifischen nehmungsweisen von Jungen/Mädchen beo- Sozialisation in der Schule; Analyse von bachten und in Unterrichtsplanung einbringen Unterrichtsstrukturen mit Kindern über Sexualität reden können Sexualität von Kindern, sexuelle Entwicklung, eigene sexuelle Sozialisation 123 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule Primärpräventionselemente anlassbezogen in Primärpräventions- und Unterrichtsmaterial Unterricht einplanen, zum Beispiel an analysieren, Evaluationsstudien beachten; positive Sexualerziehung anknüpfen, Erleben Methoden wie Rollenspiel, Lesetexte, von Gefühlen benennen, körperliche und Gefühlstagebuch, Phantasiereise; Menschen- psychische Grenzen einfordern, an und Kinderrechte, UNO-Charta; Gewalt in geschlechtsspezifische Sozialisationsmuster der Schule, Geschlechtsrollenstereotype, und Erfahrungen von Übergriffen im didaktische Ansätze für Jungen- und Schulalltag anknüpfen, individuell und Mädchenarbeit; ethnologische Studien zur kulturell unterschiedliche Vorstellungen über Kindererziehung, zu Sexualnormen, zur familiäre Intimität thematisieren Familiendynamik, zu kindlichen Bedürfnissen mit Eltern zusammenarbeiten Beratungstechniken der Elternarbeit SEKUNDÄRPRÄVENTION für Kinder in ihrer sozialen und emotionalen Entwicklungspsychologie inklusive sexueller Entwicklung sensibel sein Entwicklung individuelle Problemlagen und Veränderun- Klinische Psychologie, Verhaltensanalyse, gen bei Kindern erkennen und benennen Schulung der Selbst- und Fremdwahrnehmung individuelle Veränderungen im Hinblick auf Definition, Häufigkeit, Forschungsstand, Symptome und Signale von Missbrauch er- Folgen, Ursachen, Familiendynamik, kennen Psychodynamik des Kindes; Fallstudien analysieren, eigene psychologische Barrieren erkennen Betroffenen Kindern helfen und unterstützen Gesprächsführungstechniken Einrichtungen kennen, die helfen können praktisches Erkunden vor Ort; Institutionenkunde im psychosozialen Bereich Hilfeprozess und Krisenintervention in Gang Forschung zur sekundären Traumatisierung, setzen rechtliche Aspekte, Kriseninterventionskonzepte, Interventionspraxis, Kooperationsmodelle eigene Rolle in HelferInnenkonferenzen Modelle multidisziplinärer Zusammenarbeit, kennen Ablauf HelferInnenkonferenz 124 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule sich selbst bei vermutetem sexuellen Miss- Vernetzungsmodelle schulintern und zwi- brauch Unterstützung bei Kollegen und Bera- schen Schule und psychosozialen Diensten, tungsstellen holen Entscheidungsprozesse Hier präsentiert sich also eine vielschichtige und komplexe Palette von Ausbildungsinhalten, die die LehrerInnenausbildung und/oder -fortbildung anbieten sollte, um den Lehrkörper angemessen auf seine Rolle im Präventionsgeschehen vorzubereiten. Viele dieser Inhalte und Methoden werden auch in ganz andern Zusammenhängen des schulisch-pädagogischen Alltags relevant und nützlich. – Die Ausbildung sollte dabei zwischen Informationsblöcken und Rollenspielen, Fallstudien und Übungen aus der Bewegungs- und Spielpädagogik abwechseln, um die emotionale Ausdrucksfähigkeit der ganzen Person zu fördern (ebd., 276f). Zur LehrerInnenausbildung merken Johns und Marquardt-Mau (ebd.) an, dass es langfristig darum gehe zu überprüfen, wie sich die speziellen Anforderungen zum Missbrauchsproblem in ein umfassendes LehrerInnenbildungskonzept integrieren liessen, das sich am zukünftigen Berufsbild orientiere. Dass dabei das Thema Kinderschutz und die Fähigkeit, für Kinder sensibel zu sein, zentral seien, liege auf der Hand. In diesem Kontext gilt zu erinnern, dass es auch unter Lehrpersonen MissbraucherInnen gibt. LehrerInnen vermuten vielleicht von einem/einer ihrer KollegInnen, dass diese/r Übergriffe verübt, verdrängen das aber möglicherweise aus Unsicherheit und Ungläubigkeit. Es ist anzunehmen, dass sich ein/e missbrauchende/r LehrerIn gegen eine solche aufklärende LehrerInnenbildung und Kindererziehung stellen wird, da er/sie bei einer zunehmenden Sensibilisierung der KollegInnen und Kinder damit rechnen muss aufzufliegen. Die Frage, ob ein/e unentdeckte/r MissbraucherIn, der/die in eine solche Fortbildung einbezogen wird, aufgrund der dort gewonnenen Erkenntnisse von seinem/ihren Tun ablassen oder aus dem Lehrerberuf ausscheiden würde, wäre als interessanter, wenn auch nicht sehr wahrscheinlicher Nebeneffekt der Primärprävention zu erforschen. Es scheint mir aber nicht sinnvoll, dass schülerInnenmissbrauchende LehrerInnen selber (Primär-)Präventionsarbeit mit Kindern gestalten, da sie das nicht glaubwürdig oder widerspruchsfrei vermitteln können. Lohaus und Schorsch (1998, 685) betonen deshalb die vorbeugende Aufgabe der Schule, bereits bei der Einstellung von neuen Lehrpersonen auf Anzeichen zu achten, die ein erhöhtes Risiko für Missbrauch darstellen und Informationen bei ehemaligen ArbeitgeberInnen einzuholen. 125 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule 7.3.5. Vorbereitung und Einbezug der Eltern Eltern könnten aufgrund ihrer situativen Nähe zum Kind die Gefahrensituationen am Besten einschätzen, es sei denn, sie selber sind die TäterInnen (Koch & Kruck, 2000, 72). Sie sind in der personalen (Primär-)Präventionsarbeit einer der wichtigsten Stützpfeiler überhaupt zum Schutz der Kinder vor sexuellem Missbrauch, da sie die primäre Erziehungs- und Sozialisationsinstanz darstellen und die Verantwortung für ihre Kinder tragen. Eltern erhalten offenbar in erster Linie durch die Medien ihr Wissen über sexuellen Missbrauch, welches von unterschiedlichster Qualität ist. Sie bekunden Mühe, dieses Wissen in ihre Lebenswelt zu übertragen, glauben weiterhin, nur die Verwandten und Bekannten von anderen Leuten seien betroffen (Verdrängungsmechanismus). Sie sind mit (primär)präventiven Handlungsansätzen vollkommen unterversorgt. Viele scheinen interessiert zu sein, sich aber hilflos zu fühlen. (Knappe, 1995, 253f) In der Elternprävention finden sich laut Lohaus und Schorsch (1998, 684f) primär- und sekundärpräventive Massnahmen, die oft nicht klar voneinander getrennt werden könnten. Die präventive Elternarbeit findet vor allem im Rahmen von Erwachsenenbildung, Erziehungskursen und -trainings, im individuell-therapeutischen Rahmen, in Veranstaltungen zur Vorbereitung der Elternschaft, etc. statt. Sie ist primär ausserhalb und unabhängig von der Institution Schule organisiert. Ziegler (1990, 154) beschreibt vier Schwerpunktthemen solcher Kurse: Verbesserung des allgemeinen Problemlöseverhaltens, Stärkung von Selbstwertgefühl und Selbstkontrolle, Analyse der Beziehung zwischen den Eltern sowie Befähigung der Eltern für ihre erzieherische Aufgabe. Laut Knappe (1995, 241, 253f) werden sie leider bis anhin viel zu selten in (schulische) Projekte involviert. Wenn man in der Primärprävention von der Idee der emanzipatorischen Erziehung ausgehe, dürften Bemühungen nicht an den Eltern vorbei laufen. Meistens beschränkt sich die Schule aber auf eine Information über das Vorhaben, Aufklärungs- und Vorbeugungsunterricht anzubieten, und auf eine kurze Vorstellung der Inhalte. Es handelt sich dabei eher um das Einholen einer Einverständniserklärung als um einen aktiven Einbezug der Eltern. (Koch & Kruck, 2000, 74) Die Arbeit mit Eltern ist herausfordernd und birgt manche Hürde in sich. Lohaus und Trautner (o.J., 9f; zit. nach Koch & Kruck, 2000, 51) weisen auf Inkongruenzen zwischen Programmzielen und elterlichen Erziehungszielen hin, die die Effektivität und Realisierung von Vorbeugung erschweren können. Eltern müsste bewusst gemacht werden, welche Inhalte 126 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule warum in der primärpräventiven Arbeit mit Kindern gewählt würden, dass Kinder in der Folge daheim unter Umständen nicht mehr so pflegeleicht sein würden. Insbesondere von Familien, in denen Missbrauch vorkomme, sei dabei mit Widerstand zu rechnen. Einige Eltern fürchten vielleicht, ihr Kind werde der Sexualität gegenüber negativ eingestellt, andere haben Angst vor (falschen oder zutreffenden) Verdächtigungen, vor einem Auseinanderbrechen der Familie (im Inzestfall), vor einer Einmischung in die elterliche Erziehung oder vor einer mangelnden Rücksichtnahme auf ihre kulturellen oder familiären Eigenheiten und Traditionen. Es ist nicht zu erwarten, dass alle Schichten und Männer wie Frauen gleichermassen über Missbrauch Bescheid wissen und für schulische Primärpräventionsprojekte offen sind. Insbesondere muss versucht werden, Männer und Eltern aus andern Kulturen vermehrt anzusprechen; dazu könnte eine Fachperson von einer Männerberatungsstelle, von einer primärpräventiv ausgerichteten Beratungsstelle oder/und ein/e KulturvermittlerIn oder ÜbersetzerIn beigezogen werden. Ferner halte ich auch für denkbar, die Gründung einer Elternprojektgruppe zu ermuntern, die professionell begleitet wird, und in welcher Anliegen von Elternseite regelmässig besprochen werden können, die im Zusammenhang mit der schulischen Primärprävention auftauchen. Eine Elternvertretung oder die begleitende Fachperson (zum Beispiel von einer Präventionsfachstelle) könnte dann die Inputs ins schulische Projekt einbringen. Die schulische Erziehung soll Eltern zu genauer Beobachtung, kompetentem Sachwissen und zur Fähigkeit, den Kindern Hilfestellung zu geben, anleiten. Eine offene Atmosphäre im Elternhaus, die auch über Sexualität und Gewalt zu sprechen ermöglicht, unterstützt die schulische Primärpräventionsarbeit. Die LehrerInnen müssen Befürchtungen, Ängste und Unsicherheiten der Eltern berücksichtigen, wenn sie sich im Rahmen eines Elternabends (oder besser mehrerer Anlässe) über das Vorhaben austauschen. (Koch & Kruck, 2000, 71-77) – Dasselbe gilt für aktiv mitbeteiligte Schulsozialarbeit oder Präventionsfachstellen. Eltern sollen am Elternabend Hintergrundinformationen zum Missbrauch (Ursachen, Formen, Dynamik, etc.) sowie zu ihren Aufgaben und Möglichkeiten bei der Primärprävention erhalten. Man soll auf ihre Schwierigkeiten, sich auf das Thema einzulassen, eingehen sowie nebst dem ausführlichen Präsentieren der geplanten Unterrichtsreihe/Projekte auch Materialien47 und Hintergrundliteratur48 sowie Adressen von regionalen Anlaufstellen (Selbsthilfegruppen, Therapie, Beratung) vorstellen. Dabei kann sich das gezeigte Material mit Fragen 47 48 siehe Kapitel 7.4.2. Im Anhang sind einzelne Primärpräventionsbücher-Tipps aufgelistet. 127 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule wie „Wie rede ich mit einem Kinder über Sexualität?“, „Wie erziehe ich mein Kind zu einem selbstbewussten Wesen?“, „Wie lernt man Gefühle benennen und Grenzen setzen?“ oder „Was ist sexueller Missbrauch?“ beschäftigen. Man muss den Eltern aufzeigen, dass es nicht nur um die negativen Aspekte der Sexualität geht, sondern dass es sich besonders um Lebenskompetenzförderung handelt, um geschlechtsspezifische Arbeit (im Sinn einer Berücksichtigung der verschiedenen Sozialisationserfahrungen) und um Sexualerziehung. (ebd., 51) Informationen an die Eltern können auch eine Vermittlung von (emanzipatorischen) Erziehungsleitlinien beinhalten, durch deren Realisierung ihre Kinder weniger dem Risiko sexuellen Missbrauchs ausgesetzt sein würden. Ferner ist es sinnvoll, ihnen mögliche Anzeichen für Missbrauchssituationen aufzuzeigen und zu erklären, wie sie im Verdachtsfall vorgehen können. (Lohaus & Schorsch, 1998, 684) – Dieses Thema ist allerdings mit viel Sensibilität, Professionalität und Vorsicht anzugehen. Koch und Kruck (2000, 76) schlagen vor zu betonen, dass keine vorschnelle Reaktionen angebracht sowie viel Ruhe und sorgfältige Beobachtung nötig sind. Man soll nichts über den Kopf des Kindes hinweg entscheiden, und am Elternabend soll auch betont werden, dass die Schule nie ohne professionelle Instanzen aktiv werde.49 7.3.6. Das Kooperationskonzept im Überblick Auf den letzten Seiten bemühte ich mich, relevante KooperationspartnerInnen für die schulische Primärprävention herauszukristallisieren und die nötige Vorbereitung respektive den potentiellen Beitrag der verschiedenen AkteurInnen zu beschreiben, damit eine nachhaltige Vorbeugungsarbeit am Ort Schule möglich wird, die nicht nur die Opferarbeit mit den Kindern und Jugendlichen sieht, sondern sich auch der Notwendigkeit institutioneller Einbettung bewusst ist, um eine erhöhte Wirkung und besseren Kinderschutz zu erzielen. Meine zweite Hauptforschungsfrage zielte darauf zu überlegen, welche primärpräventiven Möglichkeiten durch die Kooperation von Schule und Sozialer Arbeit entstehen könnten. Dieser Frage wurde in diesem Kapitel, welches mit einer zusammenfassenden Abbildung (siehe Abbildung 9) abgerundet werden soll, intensiv nachgegangen. Werden die in Kapitel 7.1. beschriebenen Voraussetzungen kooperativer Arbeit berücksichtigt, birgt die Zusammen- 49 zu Anzeichen und Vorgehen siehe auch Kapitel 4.1. und 7.5. 128 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule arbeit von Schule und Sozialer Arbeit zahlreiche Möglichkeiten. Zudem ist sie einfach ein Muss, da die Schule allein über zu wenig missbrauchsspezifisches Wissen verfügt. NACHHALTIGE SCHULISCHE PRIMÄRPRÄVENTION Initiierung und zentrale Planung durch Projektgruppe: - Konzepterarbeitung zur strukturellen Verankerung - strategische Koordination mit AkteurInnen, verwandten Themen und Helferdiensten - Einbezug externer Anspruchsgruppen Institution Schule: institutionelle Verankerung mittels Flügelradmodell (Biehal, 1994; Eberle & Leiser, 2004) (Ausarbeitung teils durch Projektgruppe): - Strategieentwicklung: strategische Vision des Schutzes der SchülerInnen - Personalentwicklung: Umsetzung des Konzepts in die Praxis - Organisationsentwicklung: formelle Strukturen und Abläufe, Ressourcenplan - integrierte Schulsozialarbeit: Hilfe für Lehrkörper und Eltern, aktive Arbeit mit Schülerschaft Öffnung der Schule gegen aussen (Gemeinwesen) praktische Vernetzung und Koordination von Helferdiensten Drehscheibe für (interne) Weiterbildungsangebote; eigene Fortbildung - Lehrkörper: eigene Weiterbildung, Teamsupervision, Reflexion Projektarbeit: eigenaktiv oder MultiplikatorIn für nachhaltige Wirkung kontinuierliche Erziehungshaltung mit emanzipatorischen Elementen interne und externe Kooperation aktive Vorbeugungsarbeit mit Schülerschaft, Einbezug der Eltern Erkennen kindlicher Notlagen und Symptome (Sekundärprävention) Primärpräventionsfachstellen: - fachliche und planerische Beratungsarbeit bei schulischer Vorbeugungsarbeit - Weiterbildung und thematische Vorbereitung von Lehrkörper, Eltern, Schulleitung, SchulsozialarbeiterIn - Mitarbeit in konkreten Projekten mit Schülerschaft, Elternarbeit - Verdachtsabklärungen Eltern: - aktiver Einbezug der Eltern durch die Schule (z.B. Elternabende): Informationen zu Hintergrundwissen, Anlaufsstellen, schulischem Vorhaben,… - Elternprojektgruppe: Input in Schulteam - Besuch schulexterner Erwachsenenbildungs- und Erziehungskurse - Hilfestellung und Beobachtung bei Missbrauchsverdacht beim eigenen Kind Abbildung 9: Kooperationskonzept langfristig angelegter schulischer Missbrauchsvorbeugung: Vorbereitung und Beiträge ausgewählter KooperationspartnerInnen im Überblick 129 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule Durch den Einbezug der Eltern wird versucht, das primärpräventive Gedankengut auch im Familienalltag zu verankern und die schulische Arbeit abzusichern. Die Zuhilfenahme von SpezialistInnen aus der Primärprävention bedeutet eine enorme Bereicherung der Schule mit missbrauchs- und vorbeugungsspezifischem Wissen. Die Lehrerschaft alleine wäre überfordert mit der eigenständigen Umsetzung einer nachhaltigen Vorbeugungsarbeit, da sie den Bildungsauftrag nicht vernachlässigen sollte und zahlreiche andere Erwartungen an sie gerichtet werden. Dennoch ist sie durch ihr häufiges Zusammensein mit der Schülerschaft nicht aus der Vorbeugungsarbeit wegzudenken. Das Konzept sieht vor, durch eine Verankerung auf institutioneller Ebene die Bemühungen der LehrerInnen zu unterstützen (oder auch anzukurbeln) und die vorbeugende Wirkung schulischer Aktionen zu erhöhen. Die seit einigen Jahren verstärkt in die Schulhäuser hereingeholten SchulsozialarbeiterInnen bringen sozialarbeiterisches und -pädagogisches Wissen mit, kennen sich vielfach mit schwierigen Situationen von Kindern und Jugendlichen aus und verfügen über Kenntnisse in verwandten Gebieten wie Gewalt- oder Suchtprävention, in welchen gewisse Strategien und Inhalte emanzipatorischen Arbeitens ebenfalls Anwendung finden; dadurch sind Synergieeffekte zu erwarten. Der Einsatz einer Projektgruppe hilft, drohenden Verständigungsproblemen, Kompetenzstreitigkeiten und Doppelspurigkeiten zu begegnen. Sie skizziert in einem Konzept die schulische Primärpräventionsarbeit entlang wesentlicher Strukturen und Inhalte. Diese koordinierende, strategisch arbeitende Gruppe ist multidisziplinär und aus verschiedenen Instanzen zusammengesetzt, was den Einbezug vielfältiger Interessen und Aspekte gewährleistet. Die durch Kooperation potentiell entstehenden Möglichkeiten können sich sehen lassen, doch muss man sich bewusst sein, dass sich einer solchen nachhaltigen Primärprävention neben Ressourcen- auch Willensmängel in den Weg stellen können. Deshalb stehen ideelle Bemühungen und Überzeugungsarbeit durch einzelne Engagierte und durch die Projektgruppe am Anfang eines solchen gewagten Vorhabens. 7.4. Feministisch abgestützte Primärpräventionsarbeit mit SchülerInnen aus Sicht des Lehrkörpers Da ich aufgrund der Auseinandersetzung mit der Fachliteratur zum Schluss komme, dass sich die Lehrerschaft möglichst aktiv an der missbrauchsvorbeugenden Arbeit mit Kindern und Jugendlichen beteiligen sollte, formuliere ich dieses Kapitel aus LehrerInnensicht. 130 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule Hier soll ein grosses Spektrum inhaltlicher und methodischer Arbeit mit SchülerInnen dargelegt werden, doch natürlich kann nie alles eingelöst werden; es ist viel mehr als Angebotspalette zu sehen, aus dem je nach Präferenzen, Absprachen, Prioritätensetzungen und Fähigkeiten der Lehrperson auszuwählen ist. Gestützt auf das schulische Konzept respektive auf kooperative Absprachen mit SchulsozialarbeiterInnen oder mit externen, auf Primärprävention spezialisierten Fachleuten, können Teile daraus auch an jene KooperationspartnerInnen abfallen oder gemeinsam vermittelt werden. Wie fast überall, so definieren auch hier neben dem persönlichen Engagement und dem institutionellen Interesse die zeitlichen, personellen, finanziellen und politischen Möglichkeiten einer Schule und der beteiligten AkteurInnen massgeblich den Rahmen mit, innerhalb dessen primärpräventive Arbeit verwirklicht werden kann. Althof (1998, 23) verweist im Zusammenhang mit Schulentwicklungsprojekten darauf, dass für das Eintreffen des erhofften Erfolgs eines Schulprojekts am Anfang immer viel Arbeit investiert werden müsse. Lehrkräfte müssten sich über Ziele und Vorgehen einig sein, die Aktivitäten müssten erfahrungsnah sein und reflektiert werden und die Kinder sollten ihre Mitwirkung als relevant erleben. 7.4.1. Inhalte der (feministisch orientierten) vorbeugenden Arbeit mit Kindern und Jugendlichen am Ort Schule In diesem Kapitel soll noch einmal auf die dritte Hauptforschungsfrage Bezug genommen werden, die sich neben den (bereits behandelten) Kriterien der Primärpräventionsarbeit mit Kindern auch den Inhalten derselben widmet. – Es ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, separat für die einzelnen (Vor-) Schulstufen mögliche Inhalte, Formen und Wege aufzuzeigen. Je nach Altersstufe sind untenstehende Inhalte auf direktere oder mittelbarere Art, auf konkretere oder abstraktere Weise in die Arbeit einzubetten. Einige mögen auch erst ab Mitte der Grundschule zum Thema werden, da sie für jüngere Kinder noch zu schwierig zu erfassen sind. Die Ziele einer feministisch orientierten Primärprävention mit Kindern wurden an früherer Stelle bereits formuliert50: autoritätskritische, aufgeklärte, selbständige, selbstbewusste und starke Kinder, die befähigt sind, ihre Rechte auf körperliche, seelische und sexuelle Integrität zu verteidigen. Die schulische Arbeit spricht Kinder und Jugendliche als mögliche Opfer und TäterInnen an, wobei sich diesbezüglich eine phasenweise geschlechterspezifische Arbeit 50 siehe Kapitel 5.2. 131 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule aufdrängt, da Jungen und Mädchen teils in verschiedenen Kompetenzen gefördert werden müssen und sich mit je eigenen, rollenspezifischen Problemen konfrontiert sehen. Es gibt unzählige Situationen, in denen Grenzen zwischen SchülerInnen verletzt werden, die Interaktion zwischen den Kindern und zwischen Lehrperson und Schülerschaft klassisch männliche/weibliche respektive hierarchische Züge annimmt, welche die Lehrperson als Thema aufgreifen könnte. Obwohl Fächer wie Biologie, Lebenskunde, Mensch und Umwelt oder Religion geeigneter erscheinen mögen, sexualpädagogische Primärpräventionsbemühungen anzustreben, so lässt sich doch vieles implizit in andere Fächer oder ins ungezwungene Zusammensein in Pausen, Klassenlagern, Projektwochen oder Schulreisen einbetten, als alltägliche Erziehungshaltung, als Selbstverständnis im Zusammenleben. Im Schulalltag sollte von den LehrerInnen also eine Haltung gelebt und vermittelt werden, die die klassischen Geschlechtsrollen modifiziert, jene gesellschaftlichen Ohnmacht- und Machtstrukturen hinterfragt, welche sexuelle Gewalt begünstigen, sowie Sexualitätskonzepte fördert, welche von Selbstbestimmung, Verantwortung und Lust aller Beteiligten gekennzeichnet sind (May, 1997, 48). May (ebd., 45) schlägt sechs Bausteine vor, welche in die schulische Primärpräventionsarbeit eingeflochten werden können. Die Elemente sollten verknüpft, parallel und altersangemessen in verschiedenen Schulkontexten eingesetzt und vor allem im Schulalltag (vor-)gelebt werden. Ich versuche Mays blossen „Titeln“ der Bausteine im Folgenden auch Inhalte, zu fördernde Kompetenzen und Themen zuzuordnen, damit man sich ein besseres Bild machen kann: - Ich-Identität: Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl, Selbständigkeit, Erwachsenwerden, Verantwortungsübernahme, Ehrlichkeit sich selbst gegenüber, Stärken und Fähigkeiten, Vertrauen in sich selbst, Unabhängigkeit, Beweglichkeit und Freiheit sollen thematisiert und gefördert werden. - Mein Körper: die Anatomie soll konkret benannt, ihre Funktionen erklärt und die Körperwahrnehmung gestärkt werden. Die Suchtthematik mag im Zusammenhang mit Gesundheit und Krankheit auch behandelt werden. - Gefühle: Kinder sollen lernen, ihre und fremde Gefühle zu spüren, auszudrücken, zu verstehen beziehungsweise zu respektieren und ernst zu nehmen. Sie sollen sich abgrenzen lernen, auch von Gruppendynamiken, die ihnen selbst zuwider laufen. – In diesem Zusammenhang sollen sie Werte entwickeln, Fairness, Empathie, soziales Handeln und den Gemeinsinn stärken, konstruktiven Frustrationsabbau und Konflikt132 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule bewältigung erlernen. Dies ist auch wichtig, damit Kinder (später) nicht selber zu Tätern werden, also insbesondere für Jungen. - Informationen über sexuellen Missbrauch: den Kindern soll vermittelt werden, welche Formen möglich sind, wer die TäterInnen sind, wie ihre Strategien aussehen und warum sie es tun. Gleichzeitig sollen die SchülerInnen informiert werden, dass sie mit allfälligen Missbrauchserfahrungen nicht alleine dastehen, dass sie darüber reden sollen und dürfen, und wo sie Hilfe finden können. - Sexualität und Bedürfnisse: hierher gehören Themen wie Liebe, Zärtlichkeit, Selbstbefriedigung, Geschlechtsverkehr, Pubertät, Verhütung, Schutz vor Krankheiten (zum Beispiel AIDS), Homosexualität, Prostitution und Exhibitionismus. Aber auch Bereiche wie Gleichberechtigung im Geschlechterverhältnis, Umgang mit Grenzen sowie Beziehungsarbeit und Vertrauen sollen angesprochen und explizit auch die schönen, Freude und Lust bereitenden Seiten von Sexualität und Liebe betont werden. - Meine Rechte, Kinderschutz, Menschenrechte: Recht auf Selbstbestimmung, freie Meinungsäusserung, Schutz und ganzheitliche Unversehrtheit, etc. sollen den Kindern keine leeren Begriffe bleiben. Kinder- und Frauenrechte sollen als Menschenrechte hervorgehoben und gelebt werden. Laut May (ebd.) sind alle Bausteine in unterschiedlichsten Kontexten einsetzbar, was eine grosse Variabilität und Wiederholungsmöglichkeit durch den Bezug zu verschiedenen Themen ermögliche. So seien also nicht isolierte Trainings- und Informationsprogramme das Ziel, sondern eine Art Spiralcurriculum. Es darf nicht vergessen werden, auch Gewalt, Autorität und Machtverhältnisse als Bausteine zu sehen, da sexueller Missbrauch als eine Form der Gewalt beziehungsweise des Machtmissbrauchs gesehen werden kann, nicht als eine Form der Sexualität. Eine ausschliessliche Anbindung des Missbrauchsthemas an die Sexualerziehung könnte diese Tatsache verzerren. Deshalb könnte die Missbrauchsvorbeugung zudem in den Kontext einer allgemeinen Gewalt(primär)prävention an der Schule gestellt werden, bei der es zum Beispiel um handgreifliche Vorfälle unter den SchülerInnen, zwischen LehrerInnen und SchülerInnenn oder in Jugendgruppierungen geht. Die Vorbeugung von sexuellem Missbrauch kann laut Deegener (1998, 184, 201) auch in die Kontexte von Erziehungsproblemen, -haltungen, Geschlechterrollen oder kindlichen Entwick- 133 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule lungsaspekten eingebettet werden, da sich die Arbeit zum Schutz vor sexueller Ausbeutung stark mit einer allgemeinen emanzipatorischen Erziehung überlappe. Primärpräventionsprogramme: Zusätzlich zu dieser kontinuierlichen Erziehungshaltung bietet sich auch eine programmartige Vorbeugungsarbeit an, die für sich allein genommen keine befriedigende Wirkung zu erzielen vermag. Einerseits bieten kurzfristig angelegte Programme die Möglichkeit, kompakte, themenspezifische Informationsblöcke an Kinder und Jugendliche zu vermitteln und gewisse Konzepte beziehungsweise Verhaltensweisen einzuüben und zu vertiefen, andererseits kann die Schule dabei individuell auf ihre finanziellen, zeitlichen und personellen Möglichkeiten eingehen. 51 Kurzfristige Primärpräventionsprogramme werden in den USA recht unkritisch an fast jeder Grundschule durchgeführt, und im deutschen Sprachraum wurde Ende 80er Jahre langsam darin nachgezogen, solche Projekte anzubieten. Das berühmteste Empowerment-Projekt namens „child assault prevention program“ (CAPP), welches gemeindeorientiert und feministisch ist, entstand nach 1978 in Columbus (Ohio) von Mitarbeiterinnen des Notrufs für vergewaltigte Frauen (Märki-Lüthy & Schwegler-Donat, 1993, 78) und diente als Basis für deutschsprachige Projekte. In Deutschland wurde das Programm unter dem Namen „RotCAPPchen“ bekannt, die schweizerische Adaption nennt sich „7-Punkte-Programm“ (siehe auch Limita, 2004). CAPP diente als Vorlage für zahlreiche verhaltenstherapeutische Programme, die in der Länge, den Termini für die verwendeten Konzepte, dem Ort der Durchführung, dem verwendeten Material, dem Ausmass des aktiven Einbezugs der Kinder und den durchführenden Personen (schulextern/schulintern, Fachleute/freiwillige TrainerInnen) und damit auch in ihrer Qualität recht variieren. Die Programmdauer kann einzelne Viertelstunden an wenigen Tagen (für Vorschulkinder gedacht) ausmachen, aber auch in einen ausführlichen Kurs im Rahmen zahlreicher, regelmässiger Sitzungen münden. Die Programme sprechen selten direkt und offen das Thema Sexualität an, sexuelle Handlungen werden oft nur angedeutet. Die Inhalte werden in Form von opferorientierten Workshops und Informationsveranstaltungen mit Eltern, LehrerInnen und SchülerInnen je separat durchgeführt, in denen nebst dem Referat 51 Zum Nutzen solcher Programme und zu wichtigen Kriterien für erfolgreiche Primärprävention mit Kindern siehe Kapitel 7.2.2. und 7.2.3. An vorliegender Stelle sollen nur noch Aufbau und Inhalt der bereits viel zitierten Empowerment-Programme umrissen werden, da sie trotz ihrer festgehaltenden Schwächen als Basis respektive Baustein für die weiterführende, fundierte Präventionsarbeit dienen können. 134 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule auch Materialien (zum Beispiel Bücher) eingesetzt werden. (Amann & Wipplinger, 1998b, 662f) Die Kernelemente des CAPP, die im deutschsprachigen Raum heutzutage scheinbar bezüglich der Form ihrer Umsetzung teils nuanciert werden, überschneiden sich mit den Bausteinen von May (1997, 45). AutorInnen wie Besten (1995, 112-121) stellen sie vor: - Dein Körper gehört dir: Die Kinder sollen sich bewusst werden, dass sie mit ihren Schwächen und Stärken einzigartig sind, und dass ihr Körper wichtiger Bestandteil ihrer Person ist. Ihnen soll auch erklärt werden, dass sie ein Recht auf Selbstbestimmung haben und auf eine eigene Meinung. Sie sollen lernen, selbst zu entscheiden, was ihnen zum Beispiel an Berührungen gefällt, und dies auch kundzutun. - Guten und schlechten Gefühle vertrauen: Gefühle sind etwas Wichtiges und Kinder sollen sie wahrnehmen, formulieren und respektieren lernen. Man muss sich für sie nicht schämen. Es gibt vereinfacht gesagt gute, schlechte und komische Gefühle. Schlechte fühlen sich unangenehm an; man ahnt aber oft, wo sie herkommen. Komische wirken beunruhigend und man weiss vielleicht nicht, woher sie kommen; etwas stimmt einfach nicht. Die schlechten und komischen soll man einer Vertrauensperson erzählen. - Angenehme und unangenehme Berührungen: Körperkontakte und Zärtlichkeiten sind sehr wichtig für Kinder, und sie sind sehr schön, wenn sie von Menschen kommen, von denen es die Kinder auch wünschen, und in Situationen, wo es für sie stimmt. Solange eine Berührung Geborgenheit und Wohlgefühl vermittelt, ist sie schön und angenehm; wenn sie zu intensiv, vom Gefühl her komisch, merkwürdig, zudringlicher, ungewohnter wird, darf das Kind sie energisch abwehren, auch wenn darauf das Gegenüber beleidigt, böse oder traurig reagiert. - „Nein“ sagen: Kinder sind daran gewöhnt, Erwachsenen zu gehorchen und sie trauen ihnen nahe stehenden Personen keine Bosheit zu. Sie sollen ermuntert werden, selbstbewusst und deutlich „nein“ zu sagen, wenn sie etwas nicht möchten. Man muss den Kindern aber auch erklären, warum gewisse unangenehme Dinge einfach notwendig sind (zum Beispiel Zahnarztbesuch) und dass auch andere ihre Grenzen und Rechte haben. - Gute und schlechte Geheimnisse: Gute Geheimnisse sind schön, spannend und machen Freude und werden irgendwann gelüftet. Schlechte hingegen erzeugen Bauch135 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule weh und ein schlechtes Gewissen; es heisst, es dürfe niemals jemand davon erfahren. Ein Kind wird – unter Umständen unter Androhung von negativen Konsequenzen – zum Schweigen verpflichtet. Von diesen komischen Geheimnissen soll das Kind einer vertrauten Person berichten. Dem Kind muss der Unterschied zwischen unloyalem Petzen und nötigem Anvertrauen erklärt werden. - Hilfe holen: Kinder sind stärker als sie selbst oft glauben, aber sie sollen sich auch nicht überschätzen. Wenn sie nicht mehr weiter wissen, ein Problem, Angst oder Schmerzen haben, sollen sie eine Vertrauensperson einweihen. Auch wenn diese Person ihnen das Berichtete vielleicht nicht glaubt, sollen sie weiter nach Personen suchen, bis sie jemanden finden, der ihnen das Vorgefallene glaubt. Man kann gemeinsam mit den Kindern überlegen, wen sie im als Ansprechperson in Anspruch nehmen könnten, falls sie mal in eine solche Lage kämen. - Du bist nicht schuld: Dem Kind soll vermittelt werden, dass – was immer auch geschah, ob es sich gewehrt hat oder ob es ihm nicht gelang, den Missbrauch zu verhindern oder zu beenden – es niemals die Verantwortung oder die Schuld für das Vorgefallene trägt. Es sei an dieser Stelle noch einmal betont, dass – teils im Gegensatz zur bisherigen Praxis – diese Konzepte altersgerecht vermittelt, repetitiv aufgegriffen und eintrainiert werden sollen mittels aktiver, spielerischer Übungen, Materialien und Alltagssituationen. Kleine Kinder bekunden offensichtlich mehr Mühe als ältere, diese vielschichtigen Konzepte zu begreifen. Ebenfalls zu beachten sind geschlechtsspezifische Unterschiede. Viele AutorInnen (zum Beispiel Besten, 1995, 122; Huser-Studer & Leuzinger, 1992, 35) machen darauf aufmerksam, dass viele Primärpräventionsmaterialien an der Sozialisation von Mädchen orientiert seien oder aber gar keine Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen machen würden. – Weil bisher die Jungen eher zu kurz kamen, soll ihnen nun ein eigener Abschnitt gewidmet werden. Geschlechtsspezifische Arbeit mit Jungen: Bei Jungen sollen vor allem die Vorstellungen über Männlichkeit, Sexualität, Aggressivität und Grenzüberschreitungen thematisiert werden. Knaben sollen mit ihren Gefühlen, Ängsten und eigenen Verletzungen in Kontakt gebracht werden. Es kann nicht darum gehen, Jungen auf die potentielle Täterschaft zu reduzieren, doch muss das immer auch im Auge behalten 136 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule werden. Sehr wichtig sind für die Jungen positive, reflektierte Leitbilder für ein alternatives Männerbild. Insofern ist besonders an männliche (nicht-missbrauchende) Pädagogen der Appell gerichtet, vermehrt den Mut und das Engagement zu besitzen, ihre eigene Rolle kritisch zu betrachten und primärpräventiv mit Kindern zu arbeiten. (Bange, 1995a, 293f) Kruse (1997, 188) merkt an, dass es zwar Aufgabe der Primärprävention sei, den Täter- und Opferstatus von Jungen gleichzeitig zu sehen, dass aber konzeptionell in der Reflexion eine klare Trennung geboten sei. In einer längerfristig angelegten Arbeit solle man sich deshalb zuerst dem Opferstatus der Jungen zuwenden, ihre Schmerzen zulassen, ihnen Empathie entgegenbringen, um sich anschliessend ihrem (potentiellen) Tätersein zu widmen. Obwohl das eine mit dem andern zu tun haben könne, sollten die Knaben nicht den Eindruck erhalten, man kümmere sich nur um ihr Opfersein, damit sie nicht später zu Tätern würden. Die Arbeit mit Jungen als potentiellen Tätern bedeutet Arbeit an ihrer Selbstwahrnehmung und ihrem Selbstwertgefühl, damit sie nicht aufgrund typischer männlicher Rollenbilder das Gefühl haben, sie müssten sich, ihre Stärke, ihre Überlegenheit und ihre Männlichkeit beweisen. Nicht wenige kompensieren nämlich ihre Überforderungsgefühle und Unsicherheiten oder auch eigene Gewalterfahrungen mit Gewalttätigkeiten oder mit Homophobie (übertriebene Ablehnung gegenüber Männern, wenn es zum Beispiel um emotionale oder körperliche Nähe geht), was in Jungencliquen noch angekurbelt wird, weil dort Konkurrenz herrscht und oft hierarchische Strukturen vorhanden sind. Dort finden sie eine rituelle, aber keine emotionale Sicherheit, und keiner will sich Blösse geben. (ebd., 195f) Ziel der primärpräventiven Arbeit mit Jungen ist es nicht, so genannte „Softies“ zu produzieren, sondern ihnen ein Bild von einem Mannsein anzubieten, das Stärke, Weichheit, Kraft und Empathiefähigkeit beinhaltet und gewalttätiges Handeln gegen das andere Geschlecht klar ächtet (ebd.). Popp (2000, 144f) schlägt vor, Jungen über ihren Drang nach körperlicher Betätigung, Aktivitäten und Risikoerfahrungen in die Primärpräventionsarbeit einzubinden, und dann im Prozess des Erlebens Reflexionen anzustossen und Aggressionen zu kultivieren. Ergänzend solle Sensibilisierungstraining mit Aktivitäten wie Joga, Saunabesuch oder Massagekurs angeboten werden. Mit diesem Sport-Ansatz erreiche man gerade jene Jungen besser, die kognitiv oder sprachlich schlechter empfänglich seien. Damit zielt die Arbeit mit Jungen (natürlich sind sie auch für Mädchen einzusetzen) auf die Integration von Elementen aus der so genannten Erlebnispädagogik ab, die die Kinder in ihrer Lebenswelt, in ihrer Realität mit ihren Interessen, Anliegen und Sorgen abholt (Lebenswelt137 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule orientierung). Die Methoden der Arbeit mit Kindern am Ort Schule, sowohl innerhalb als auch ausserhalb des Unterrichts, werden im folgenden Unterkapitel thematisiert. Zum Abschluss dieses Unterkapitels gibt folgende bildliche Darstellung (Abbildung 10) einen Überblick über die beschriebenen feministisch ausgerichteten Inhalte und Themen (Angebotspalette) der Primärpräventionsarbeit mit SchülerInnen (aus der Sicht des Lehrkörpers) und deren Zusammenspiel. Mitberücksichtigt werden Ziele der Vorbeugungsarbeit mit Heranwachsenden, die Einbettung der Inhalte in verwandte Kontexte, mit denen sich auch Überschneidungen ergeben, und die Ausrichtung an früher diskutierten inhaltlichen und formalen Kriterien. Kontextuelle Einbettung (respektive Überschneidung) in: - Gesundheits-, AIDS-. Sucht-, Gewaltprävention - allgemeine emanzipatorische Erziehung: Themen wie Erziehungsprobleme, Geschlechterrollen, kindliche Entwicklung - verschiedene Unterrichtsfächer, ausserunterrichtliche Schulaktivitäten Kontinuierliche, bewusste Erziehungshaltung im Schulalltag (vor)leben – Spiralcurriculum mit Themen wie: - Ich-Identität - Körper - Gefühle - Information über sexuellen Missbrauch - Sexualität und Bedürfnisse - Rechte und Kinderschutz - Gewalt, Autoritätsund Machtverhältnisse OBERZIEL: SCHUTZ VOR SEXUELLEM MISSBRAUCH Primärpräventionsziele für Mädchen und Jungen: - aufgeklärt - selbständig - selbstbewusst - autoritätskritisch - in Verteidigung ihrer Integrität gestärkt - konfliktfähig - empathisch Programmartige Projektarbeit mit CAPP-Inputs: - Dein Körper gehört dir! - Gute und schlechte Gefühle - (un)angenehme Berührungen - „Nein“ sagen - gute und schlechte Geheimnisse - Hilfe holen - Du bist nicht schuld! als Raster: Ausrichtung der Bausteine an inhaltlichen und formalen Kriterien der Primärpräventionsarbeit Abbildung 10: Zusammenspiel und Einbettung feministisch geprägter Bausteine im Hinblick auf Ziele der primärpräventiven Arbeit mit SchülerInnen (aus Sicht des Lehrkörpers) 138 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule 7.4.2. Einblick in Methoden und Materialien der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen Wie schon erwähnt, gibt es eine breite, vielseitige und qualitativ sehr unterschiedliche Palette von Primärpräventionsmaterialien52 und -methoden, die teils Vorschulkinder und/oder SchülerInnen, teils in Form indirekter Opferhilfe Eltern und andere ErzieherInnen zur Zielgruppe haben. Ich formuliere hier Methoden für innerhalb und ausserhalb des Unterrichts aus Sicht einer aktiv an der Primärprävention beteiligten Lehrerschaft, wobei sie natürlich auch durch die Schulsozialarbeit und die einbezogenen Primärpräventionsfachstellen, je nach Grad ihrer Einbettung in die Schule und vereinbartem Auftrag, angewendet werden können. In seinem Handbuch für Lehrerinnen und Lehrer beschreibt das Landesinstitut SchleswigHolstein für Praxis und Theorie der Schule (1994, 40-60) Methoden des Lebendigen Lernens, die nicht nur, aber auch für die Sexualpädagogik im Unterricht verwendet werden können. Gestützt auf diese Quelle sollen sie hier beschrieben werden. Es handelt sich dabei um prozessorientiertes und selbsterfahrungsbezogenes Arbeiten auf partnerschaftlicher Ebene, bei dem es um interaktionelles Lernen geht. Die Lehrperson, die sich aufgrund ihrer Vertrauensbeziehung zur Klasse und ihrer Reflexionstiefe und Unterrichtserfahrung die missbrauchsvorbeugende Arbeit zutraut, vereinbart mit der Klasse, gewisse Inhalte in verschiedenen Übungen zu behandeln („Vertrag“) und versichert sich hierfür des Kooperationswillens der Schülerschaft. Sie behält dabei den Inhalt, den Gruppenprozess und das Verhalten einzelner SchülerInnen gleichermassen im Auge. Dazu gehören das Beobachten des Arbeitsstils, der Interaktion in der Gesamtgruppe, des Verhältnisses zwischen Mädchen und Jungen, der Stellung einzelner Gruppenmitglieder als auch das Beachten von (heimlichen) Gruppennormen und aktuellen Spannungen, zum Beispiel von jenen in der Gruppe oder zwischen SchülerInnen und der Lehrperson. Für diese Art des Arbeitens ist eine gute Vorbereitung der Lehrperson erforderlich. Während der Durchführung sollte sie auf einen klaren Leitungsstil achten, auf Widerstand in der Klasse eingehen und anschliessend an eine Übung dieselbe auch auswerten (zum Beispiel mittels Feedbacks). – Verschiedene Methoden des Lebendigen Lernens sind (ebd.): - Gestaltung: es bietet sich an zu malen, modellieren oder basteln, um abstrakten Begriffen eine Gestalt zu geben und sie damit besser kommunizierbar zu machen. Dies ist vor allem auch für kleinere Kinder eine gute Art, ihre sprachliche Eingeschränktheit zu kompensieren. 52 Zur Evaluation beziehungsweise Qualität von Materialien siehe Kapitel 7.2. 139 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule - Phantasiereisen und Entspannung: die Arbeit mit inneren Bildern ist schwierig, aber auch besonders ergiebig, weil sie uns mit tiefer liegenden Gedanken und Wünschen in Kontakt bringt. Bei Menschen mit grossem Kontrollbedürfnis, starker rebellischer Bereitschaft oder Ängsten sind oft Schwierigkeiten zu beobachten, sich auf diese positiven, von vielen Sinneseindrücken geleiteten Phantasien einzulassen. Phantasieexperimente sollten mit Entspannungsübungen eingeleitet werden, was einerseits die Beruhigung sinnlicher Eindrücke beinhaltet, aber auch die Körperentspannung. - Körperwahrnehmung und szenisches Spiel: Kinder haben in der Regel ein Defizit im Spüren ihres eigenen Körpers, haben Mühe, ihn spielerisch wahrzunehmen und einzubringen. Mittels Bewegungs-, Berührungs- und Körperwahrnehmungsübungen sowie unterschiedlicher Methoden der szenischen Arbeit können die Bewegungsfähigkeit und deren Differenziertheit erhöht werden. Konkret kann dabei getanzt, geklatscht, gelaufen, berührt, einzelne Körperteile bewegt, etc. werden. – Ferner kann man auch Rollenspiele oder Standbilder (zum Beispiel figuriert ein Kind als Bildhauer und stellt aus KameradInnen eine statische Familie zusammen) machen, um Gefühle, Situationen, Absichten, Berufe, Sportarten, usw. darzustellen. „So zu tun als ob“ eignet sich schon für Kinder ab drei Jahren, allerdings sind sie erst ab circa sieben Jahren zu einer reflektierten Rollenübernahme imstande, mittels derer sie auch zunehmend interpretieren lernen. Das Rollenspiel dient in hohem Masse dem Erwerb sozialer Kompetenzen wie zum Beispiel Empathie, Selbsterkenntnis, Kommunikation, Rollendistanz, Kreativität oder Entscheidungsfähigkeit. Es ist auch eine intensivere theaterpädagogische Arbeit denkbar, was allerdings mit intensiver Vorarbeit verbunden ist. Eine weitere methodische Auswahl vom Landesinstitut (ebd.) für die Bearbeitung diverser Themen beinhaltet Dialoge, Plenumsgespräche, Podiumsdiskussionen (mittels Rollenzuweisungen eine Debatte zu einem bestimmten Thema anzetteln), diverse (Gesellschafts-) Spiele, innerer Monolog (Gedankenfluss aufschreiben) oder die Clusterbildung (Assoziationen sammeln zu einem übergeordneten Begriff). Dieser Methodenliste möchte ich weitere für die Primärpräventionsarbeit besonders relevante Möglichkeiten hinzufügen: das Integrieren von kindgerechten Kinder-, Bilder- und SachBüchern oder Malheften, das Geschichten Erzählen und Vertiefen, das Behandeln von 140 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule Filmen, das Referat, das Selbststudium und das Besuchen allenfalls vorhandener themenbezogener Theatervorführungen und psychosozialer Einrichtungen (zum Beispiel Opferhilfeberatungsstellen). Unabdingbar sind das Einüben von Verhaltensweisen, der aktive Einbezug der Kinder und der Austausch im Plenum über die verwendeten Methoden und Materialien, die Erfahrungen damit und die dabei erlebten Gefühle. Es führt zu weit, hier einzelne Bücher und Spiele konkret vorzustellen, die missbrauchsvorbeugende Konzepte vermitteln sowie die Information und die Kompetenzen der Kinder verbessern sollen53. Hilfreiche (jedoch grösstenteils unevaluierte) Vorschläge und Materialsammlungen für die Arbeit der LehrerInnen oder auch der Eltern finden sich zum Beispiel in Bange und Enders (1995), Braun (1992), Huser-Studer und Leuzinger (1992) sowie im oben genannten Handbuch des Landesinstituts (1994). Besonders sei auf Bange, Simone und Enders (1993) hingewiesen, die eine Bücherkiste für Kinder und Jugendliche zusammen gestellt haben, wobei sie jeweils eine kurze Inhaltsbeschreibung abgeben sowie aufgrund ihrer eigenen Berufserfahrungen und ihres Hintergrundwissens die Tauglichkeit für die Arbeit mit Kindern bewerten. Besonders ausserhalb des Unterrichts bietet sich die Erlebnispädagogik an, um sich auf spielerische und unverkrampfte Art dem Thema anzunähern. Es ist ernorm wichtig, an Erfahrungen, Bedürfnissen und Interessen der Heranwachsenden anzusetzen, damit sie aktiv teilnehmen und sich einbringen, das Gefühl von demokratischer Mitgestaltung erleben können. Erfahrungen und Abenteuer in der Natur draussen, im Sport und im Spiel, in gemeinsamen Projektwochen, Schullagern und dergleichen können dazu dienen, unter Kindern das soziale Miteinander, das Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken, ihnen Werte wie Selbstvertrauen, Empathie oder Verantwortung auf eine praktische Art näher zu bringen. Solche Erfahrungen können anschliessend reflektiert und besprochen werden, die Lehrperson kann dabei Inputs zur Thematik des sexuellen Missbrauchs, zum Umgang mit Gewalt allgemein, etc. einflechten. Hier sieht man, dass sich wesentliche Inhalte der missbrauchsvorbeugenden Arbeit mit einer allgemeinen Förderung von Sozial- und Selbstkompetenz überlappen, wie sie auch in der allgemeinen Gewaltprävention, in der Gesundheitserziehung oder im schulischen Erziehungsauftrag an sich angestrebt wird respektive werden sollte. 53 Im Anhang soll eine Auswahl an Titeln aufgeführt werden, gestützt auf die Empfehlung von Bange, Simone und Enders (1993) und von Frei (1993). 141 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule 7.5. Mögliches kooperatives Vorgehen (Intervention) bei Indizien und Verdachtsfällen aus Sicht der Lehrperson Im Verlauf der primärpräventiven Arbeit kann es vorkommen, dass von einem Kind der Lehrperson gegenüber ein Missbrauchsgeschehen offen gelegt wird, das früher stattfand oder auch aktuell andauert. Oder es könnte sein, dass sich ein/e SchülerIn an die Vertrauenslehrkraft wendet, da er/sie sich um KollegInnen Sorgen macht. Schliesslich ist es auch möglich, dass LehrerInnen ungewöhnliche Verhaltensweisen oder veränderte Gewohnheiten an einer/einem SchülerIn auffallen, die als Symptome von sexuellen Übergriffen zu verstehen sein könnten. Deshalb soll hier das Vorgehen bei Verdachtsfällen oder sich aufdeckenden Fällen aus Sicht der Lehrerschaft geschildert werden und auf kooperative Möglichkeiten verwiesen werden. 7.5.1. Vorgehen bei Verdacht oder Aufdeckung Vermutung der Lehrperson: Falls eine Lehrperson bei einem Kind einen Missbrauch vermutet, das Kind von sich aus aber nichts sagt, soll sie sich schriftliche Notizen mit Datum von ihren Beobachtungen machen, das Kind und sein Umfeld im Auge behalten. Gleichzeitig dazu sind Fachleute hinzuzuziehen. Keinesfalls darf eine Lehrkraft im Alleingang direkt das Kind mit Fragen bedrängen oder gar die vermutete Täterschaft auf ihr Tun ansprechen. Es empfiehlt sich, von einer Beratungsstelle Ratschläge zu holen, wie man selber ruhig und wohlüberlegt weiter vorgehen und mit seinen eigenen Unsicherheiten und Ängsten umgehen kann. Denn vielleicht traut eine Lehrperson ihrer Wahrnehmung nicht oder hat Angst vor der Rache der Täterschaft, vor einem Skandal oder fühlt sich einfach mit der Situation überfordert, würde dem Kind aber gern helfen. Beratungsstellen unterliegen der Schweigepflicht, werden also nur aktiv, wenn die Hilfe suchende Person das wünscht. Wendet sie sich hingegen an Behörden oder Ämter, müssen diese von Amtes wegen eine Untersuchung in die Wege leiten. (Frei, 1993, 118-125) Offenbarung des Kindes: Wenn ein Kind hingegen von sich aus einen erlebten Missbrauch andeutet, stellt sich für die Lehrkraft die Frage, ob sie dem Kind glauben kann, zumal wenn scheinbar eine bekannte und geschätzte Person (zum Beispiel eine andere Lehrperson, ein/e TrainerIn, ein/e PolitikerIn oder ein Vater) den Missbrauch verübt hat. In der Literatur finden sich konträre Meinungen zur Glaubwürdigkeit von kindlichen Aussagen, doch sind sich viele darin einig, dass ein Kind 142 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule einen Missbrauch nicht erfindet, zumal ihm in seinem Alter – wenn es keinen Übergriff erlebt hätte – vielfach schlicht der Wortschatz für oder die Kenntnis um eine sexuelle Handlung fehlen würden. Frei (ebd., 18) macht aber auf die Möglichkeit aufmerksam, dass Kinder womöglich zuerst aus Angst von einem/einer „FreundIn“ berichten, der/die missbraucht wurde, oder eine falsche Täterschaft benennen, da sie aus einem Loyalitätskonflikt oder aus Angst heraus die wahren Identitäten schützen wollen. Ferner könne es auch sein, dass ein Kind aus einem pornographischen oder erotischen Film gewisse Phantasien übernommen habe, wobei dabei zu beachten sei, dass auch das Zeigen solchen Materials vor Kindern als Missbrauchshandlung zu bewerten sei. Die Erfahrung würde aber viel mehr zeigen, dass ein Kind sich nur zögerlich jemandem anvertraue und erst nur die „harmlosen“ Übergriffshandlungen beschreibe. Massivere und perversere Praktiken verschweige es oft sehr lang aus Scham, Ekel und Angst vor Zurückweisung und Unglauben. – Eine Lehrperson muss also eine kindliche Aussage jedenfalls ernst nehmen und die nötigen Schritte in die Wege leiten. Wie könnte das aussehen? Verhalten der Lehrperson: Es empfiehlt sich im Umgang mit dem Kind, sich Zeit für es zu nehmen, für es da zu sein, ihm die Gesprächsmöglichkeit anzubieten, aber sich nicht aufzudrängen und nichts zu überstürzen. Ruhe zu bewahren ist zentral und nicht das Gefühl zu haben, man müsse sofort handeln. Dem Kind darf nichts versprochen werden, das nicht gehalten werden kann, und doch soll man ihm sagen, dass man sich um Hilfe bemühen wird. Das Kind muss in seinen Gefühlen ernst genommen werden, die Lehrperson soll seine Erlebnisse und Gefühle nicht schönreden oder verharmlosen. Es ist wichtig, dem Kind für seinen Mut und seine Stärke zu danken, dass es sich offenbart hat, und ihm zu versichern, dass es keine Verantwortung fürs Geschehen trifft. Wenn das Kind den/die TäterIn noch mag, da es ihm/ihr nahe steht, soll man ihn/sie nicht schlecht machen, sondern lediglich das übergriffige Verhalten als falsch und unzulässig bezeichnen. Schwierig ist die Frage der körperlichen Nähe des/der Erziehenden zum Kind; jedenfalls ist vorsichtig damit umzugehen und darauf zu achten, ob das Kind zeigt, dass es umarmt und dadurch getröstet werden will. (ebd., 126-129) Das weitere Vorgehen soll nicht über den Kopf des Kindes hinweg erfolgen. Es soll wissen, warum man fachliche Hilfe hinzuzieht. Man kann mit den Fachleuten und dem (etwas älteren) Kind gemeinsam gezielte Handlungsschritte überlegen, wie es vor weiterem Missbrauch 143 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule geschützt werden könnte, mit wem es reden könnte. Damit kann das Risiko einer sekundären Schädigung des Kindes durch die helfenden Instanzen reduziert werden. Angst, Ohnmacht, erneute Gewalterfahrungen sowie ungläubige, aggressive Befragung und (unterschwellige) Schuldzuweisung sind zu vermeiden. Wenn die Täterschaft nicht in der Familie ist, sollten sehr bald auch die Eltern ins weitere Vorgehen miteinbezogen werden. (Besten, 1995, 83-85; Frei, 1993, 130-132) In diesem Punkt sind sich die Fachleute allerdings uneinig, ob eine Lehrperson zuerst bei Fachstellen Hilfe suchen soll oder zuerst die Eltern hinzuziehen soll, wenn es sich nicht um einen inzestuösen Missbrauch handelt. Ferner sollte dem Kind – und nötigenfalls auch andern Familienmitgliedern – falls erwünscht möglichst bald beraterische oder therapeutische Hilfe zuteil werden, wobei für weibliche Opfer Fachfrauen vorzuziehen sind. Gut überlegt sein will, ob die Eltern oder die Beratungsstelle (mit dem elterlichen Einverständnis) eine Strafanzeige erstatten. Denn damit ist ein komplizierter Apparat verbunden; ein Kind muss sich Befragungen, (ärztlichen) Untersuchungen, Glaubwürdigkeitsgutachten, Tatortsbesichtigungen, etc. unterziehen, was die Traumatisierung verstärken kann. Erfolgen die Ermittlungen erst mitten im therapeutischen Prozess – also zeitlich verzögert – ist auch das Risiko vorhanden, dass die Aufarbeitung der Ereignisse gestört wird. Es muss abgewogen werden, wie gross die Chance auf eine Verurteilung ist, mit der das Kind eine gewisse Genugtuung und vorläufigen Schutz vor erneutem Missbrauch durch dieselbe Täterschaft erfahren würde. (Frei, 1993, 132f) Wie bei der Primärprävention ist bei der Intervention laut Maag (1994, 160f) mitzuberücksichtigen, dass Jungen und Mädchen unterschiedlich sozialisiert sind, und deshalb auf Knaben anders als auf Mädchen eingegangen werden muss. Um einen Knaben ermuntern zu können, sich zu öffnen, muss der Lehrperson erstmal die eigene geschlechtsspezifische Sozialisation, Geschlechtsrolle und Verhaltensweise bewusst werden. Knaben müssen insbesondere spüren, dass sie über ihre Gefühle, Verletzungen, Schwächen sprechen dürfen, Hilfe holen und Opfer sein dürfen, nicht alles unter Kontrolle haben und rational bewältigen können müssen. Insofern die LehrerInnen oft grosse Klassen unterrichten und verschiedene Problemkinder haben können, ist es für sie schwer, zu einzelnen Kindern Vertrauensbezüge aufzubauen und zu erreichen, dass sich ein Kind ihnen anvertraut (ebd., 174f). Das ist ein Grund mehr, bei einem Verdacht auf Fachkräfte und Vertrauensleute des Kindes zurückzugreifen und die Rolle der Lehrperson eher in der Vorbeugung denn in der Intervention zu sehen. 144 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule 7.5.2. Einbindung in weitere Hilfssysteme der Jugendhilfe: das Vorgehen am Beispiel des Kindesschutzes in Basel Um zu illustrieren, wie bezüglich Interventionen konkrete schulische Kooperationsmodelle aussehen können, in der die Funktion der einzelnen AkteurInnen festgelegt werden, soll als Abschluss das in Basel im Januar 2001 gestartete Projekt Kindesschutz vorgestellt werden. Keller und Arnold (2001)54 beschreiben in einem Artikel exemplarisch, wie die Lehrpersonen ihre Verantwortung in Gefährdungssituationen wahrnehmen können, und wie dabei ihre notwendige Kooperation mit im Projekt involvierten Fachstellen und Behörden aussieht: Wenn eine Klassenlehrperson Auffälligkeiten eines Schülers bemerkt, nimmt sie das Gespräch mit den Eltern auf, wobei sie – falls vorhanden – frühzeitig das entlastende Beratungs- und Triage-Angebot der Schulsozialarbeit nutzen kann. Sie kann sich ferner vor oder/und nach dem Elternkontakt durch die schulischen Dienste beraten lassen. Dies sind namentlich der Schulpsychologische Dienst (SPD), der Heilpädagogische Dienst (HPD) und der Schulärztliche Dienst (SÄD). In (Verdachts-)Fällen sexueller Ausbeutung kann sich die Lehrperson fallanonym von den im Projekt Kindesschutz zusammengefassten Anlaufstellen beraten lassen, so zum Beispiel von der Opferhilfestelle Triangel, der Familienberatungsstelle (FABE) oder dem Universitäts-Kinderspital Basel (UKBB). Falls ein Elternteil als TäterIn verdächtigt wird, sollte die Lehrperson vor der Kontaktierung der Eltern diese Stellen aufsuchen. Nach der dortigen Beratung sind je nach Ergebnis die Schulleitung oder die Eltern zu informieren. Im Falle der konstruktiven Mitarbeit der Eltern kann die Lehrperson ihnen ebenfalls die Fachstellen anraten und mit ihrer Zustimmung das Kind bei den schulischen Diensten zur Abklärung anmelden. Ab diesem Moment geht die Verantwortung für die Problemklärung an den entsprechenden Dienst. Sollten die Eltern nicht gewillt oder fähig sein, die Problematik des Kindes selbst oder mit der empfohlenen Hilfe anzugehen, oder gefährden sie sogar selbst das Kind, ist über die Schulhausleitung (falls vorhanden) und die Schulleitung eine Gefährdungsmeldung ans Intake der Abteilung Kindes- und Jugendschutz (AKJS) der Vormundschaftsbehörde zu richten, welche geeignete Massnahmen, notfalls auf zivilrechtlicher Basis, einleiten kann. Durch diesen Akt geht die Verantwortung von der Lehrperson auf ihre Vorgesetzten über. Falls an einer 54 Im Jahr 2001 war Keller im Stab „Schulen“ vertreten und Arnold war Vorsteherin der Vormundschaftsbehörde sowie Mitglied der Leitung des Projekts Kindesschutz. 145 7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule in der Primärprävention am Ort Schule Schule Schulsozialarbeit vorhanden ist, wird die Zuhilfenahme ihrer Beratung vor der Weiterleitung der Gefährdungsmeldung empfohlen. Für den Fall akuter Gefährdungssituationen, die der sofortigen Abklärung, Dokumentation oder Schutzmassnahmen bedürfen, können der SÄD oder das Intake der AKJS auch ohne elterliche Zustimmung kontaktiert werden. Dabei ist aber der schulische Vorgesetzte zu informieren. Claussen und Blülle (2001)55 hielten das Vorgehen der AKJS im Zusammenhang mit der Schule fest: die AKJS wird dem Rektorat und der Lehrperson innerhalb von zehn Tagen die Gefährdungsmeldung bestätigen, und sie über die fallführende Fachperson informieren. Nach der Bedarfsklärung und ebenso nach einer allfälligen vormundschaftlichen Abklärung wird die Lehrperson jeweils informiert, welche Massnahmen (nicht) ergriffen wurden (zum Beispiel Kindesschutzmassnahmen wie die Beistandschaft oder die Aufhebung der elterlichen Obhut), insofern sie für ihren pädagogischen Auftrag Relevanz haben. Die Lehrperson ihrerseits hat die AKJS auf Wendungen im Schulalltag des Kindes hinzuweisen, als zusätzliche Informationsquelle zur Familie. Dieses Kooperationsschema kann nicht an allen Schulen eins zu eins angewendet werden, da örtliche Bedingungen und vorhandene KooperationspartnerInnen variieren können. Andere Schulen oder Kantone könnten sich aber an dieses Modell anlehnen und es ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen entsprechend umformulieren. 55 Im Jahr 2001 war Claussen Leiterin des Intake der AKJS und Blülle fungierte als Leiter der Beratungsgruppen der AKJS. 146 SCHLUSSTEIL A MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN DER PRIMÄRPRÄVENTIONSARBEIT MIT KINDERN UND JUGENDLICHEN Der Aufbau dieser Lizentiatsarbeit zielte besonders auf die missbrauchsvorbeugende Arbeit mit schulpflichtigen SchülerInnen, welche auch Gegenstand der letzten der drei Haupt-Forschungsfragen ist. Um die Arbeit mit dieser Zielgruppe zu verankern und deren Nutzen zu optimieren, wurden ferner Rahmenbedingungen wie die institutionelle und thematische Vorbereitung oder die kooperative Ausgestaltung erarbeitet. Hier sollen nun Potentiale und Grenzen der Primärprävention mit Heranwachsenden diskutiert werden; darin verwoben resümiere ich die Ergebnisse zur dritten Forschungsfrage. Ein Nachweis der Effektivität von Vorbeugungsarbeit gestaltet sich schwer und ist zudem ein vernachlässigter Forschungsgegenstand, weshalb noch nicht eindeutig erwiesen ist, ob sich Kinder dank dem Erkenntniszuwachs aus bisher praktizierten, kurzzeitigen Primärpräventionsprogrammen in einer konkreten Missbrauchssituation tatsächlich besser wehren könnten. Man muss realistisch sehen, dass ein Kind umso chancenloser ist, je jünger es ist, je grösser das Vertrauens- und Abhängigkeitsverhältnis zur Täterschaft und je filigraner die Täterstrategie ist oder aber je mehr körperliche Gewalt angewendet wird. Die Verantwortung für den Schutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung kommt den Erwachsenen zu; die vorbeugende Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sollte als Ergänzung verstanden werden und Erwachsene mit einbeziehen. Die Chancen eines sorgfältig geplanten, primärpräventiv ausgerichteten Schulalltags, der in der Institution Schule auch strukturell verankert ist, erscheinen viel versprechend, auch wenn Resultate nicht von heute auf morgen zu erwarten sind. Gelingt es den Lehrpersonen, in ihrem tagtäglichen Fachunterricht Primärpräventionsinhalte aktiv zu leben, indem ein demokratisches, gleichberechtigtes Schulklima angestrebt wird, in welchem die Gefühle und Grenzen der Kinder respektiert und sexistische Elemente vermieden werden sowie die Persönlichkeit der Kinder gestärkt wird, so leisten sie bereits einen wichtigen Beitrag. Das offene, transparente und rücksichtsvolle Einbringen des Themas der sexuellen Gewalt und anderer damit zusammenhängenden Themen in den Schulalltag unter Mithilfe von Schulsozialdienst und Fachleuten aus der Primärprävention könnte helfen, den Missbrauch stärker zu enttabuisieren und den Missbrauchten eine Sprache zu verleihen. Dies könnte in Form einer kontinuierlichen 147 Erziehungshaltung einerseits, in expliziten projektartigen Vertiefungskursen andererseits geschehen. Kinder könnten in Abhängigkeit von ihrem sozialen und kognitiven Entwicklungsstand ihr Wissen, ihr Selbstbewusstsein und ihre Selbstbestimmung vergrössern und befähigt werden, potentielle Gefahrensituationen eher zu erkennen und stereotype respektive irrtümliche Vorstellungen von zum Beispiel Täterschaft, Täterstrategien, Männlichkeit oder Weiblichkeit und dementsprechende Verhaltensweisen abzulegen. Ferner können Heranwachsende auch konstruktive Interaktionsformen einüben und den Umgang mit sich selbst, mit Gefühlen, mit eigenen Gewaltanteilen erlernen, damit sie weniger zu den TäterInnen von morgen werden oder allfällige bereits vorgekommene sexuelle Gewalttätigkeiten nicht noch intensivieren. Für jugendliche SexualtäterInnen wäre allerdings auch eine tätertherapeutische Begleitung im ausserschulischen Rahmen nötig. Mit alters- und entwicklungsgemässen, geschlechts- und kultursensiblen Inhalten und Methoden, mit praktischen Übungen sowie gelebten Vorbildern würde ein wichtiger Baustein für den vorbeugenden Schutz der Kinder gelegt. In der Arbeit mit der Schülerschaft muss der Repetition, Verankerung, Verinnerlichung, Veranschaulichung und dem Elterneinbezug mehr Wert beigemessen werden. Den Kindern soll keine Angst gemacht werden, sondern sie sollen durch eine konkrete Sprache und Wissensvermittlung zu Kompetenzen und Fertigkeiten gelangen. Als Inhalte bieten sich Bausteine an, die aus dem feministischen und/oder einem allgemein emanzipatorischen Gedankengut stammen. Es kann – insbesondere in der projektartigen Arbeit – mit verschiedenen Materialien und Methoden, beispielsweise aus dem Lebendigen Lernen und der Erlebnispädagogik, implizit oder explizit zu folgenden Themenbereichen gearbeitet werden: Ich-Identität, die Anatomie und ihre Funktionen, Gefühle und Werte, Informationen über sexuellen Missbrauch, Sexualaufklärung, Bedürfnisse, Liebesbeziehungen und Abgrenzung, Kinder- und Menschenrechte, Autoritäts- und Machtverhältnisse, Geschlechterrollen und Sozialisation. Die Anforderungen an die mit Kindern arbeitenden Lehrpersonen oder/und SchulsozialarbeiterInnen sind sehr hoch, weshalb sie auf KooperationspartnerInnen (wie zum Beispiel Primärpräventionsfachleute oder die Schulleitung), schulische Richtlinien und Synergieeffekte zurückgreifen können sollten. Ausserdem sollten ihre Aus- und Weiterbildungen das Thema vermehrt aufgreifen. 148 In der Realität mangelt es hierzulande zurzeit weitgehend an der spezifischen LehrerInnenbildung, an Interesse, Ressourcen und Kompetenzen des Lehrkörpers, der (nur spärlich vorhandenen) SchulsozialarbeiterInnen oder der Schule als Ganzes. Ferner verlaufen einzelne Projekte meist örtlich und zeitlich isoliert; es bleibt weitgehend der einzelnen Schule oder sogar der einzelnen Lehrkraft überlassen, ob sie sich dieses Themas annehmen will. Institutionelle Bemühungen der Schule, emanzipatorische Primärprävention nachhaltig in der schulischen Struktur zu verankern und in Kooperation zu planen, sind noch selten. Im deutschen Sprachraum sucht sich die primärpräventive Arbeit erst mühsam ihren eigenen, von amerikanischen Empowerment-Programmen emanzipierten Weg und bezieht die Kritik an bisherigen, amerikanisch ausgerichteten Projekten scheinbar nur allmählich mit ein. Die Komplexität des Themas, die Einbettung in gesellschaftliche Strukturen sowie politische und soziale Machtverhältnisse lassen erahnen, dass der schulischen Primärpräventionsarbeit diesbezügliche Hindernisse in den Weg stehen könnten. Wenn eine Schule einzeln für sich Projekte durchführt, kann die Wirkung immer nur sehr beschränkt sein. Grösserer Nutzen wäre von flächendeckenden, kooperativen und interdisziplinären Bemühungen zu erwarten, da damit eine Basis für ein kollektives Umdenken gelegt werden könnte, welches bei Erziehung und Bildung ansetzt. In einem Land wie der Schweiz, wo das Schulwesen weitgehend kantonal geregelt ist und viele Kantone die Tendenz haben, in Schulprojekten oder -reformen erstens zu sparen und zweitens das Rad neu erfinden zu wollen, ist die Missbrauchsvorbeugung aber noch weit von der Realisierung dieser Utopie entfernt. Auch Widerstände im schulischen Umfeld und die Vielzahl der an die Schule gerichteten Bedürfnisse erschweren die Sache. Sollen Sexualkunde, emanzipatorischer Unterricht und Primärpräventionsinhalte in der obligatorischen Schulzeit verankert werden, braucht es dazu unter anderem die politische Bereitschaft, diesem Aspekt erzieherischen Handelns mehr Gewicht zu verleihen, und die Schulen mit den nötigen Ressourcen und Kompetenzen auszustatten. – Die Menschen können sich vielleicht darauf einigen, dass Kindern keine sexuelle Gewalt angetan werden darf, doch besteht ein grosser Spielraum darin, was als Gewalt definieren wird und wie man dagegen vorgehen soll. Das feministische Gedankengut, wie es wesentlichen Teilen dieser Arbeit zugrunde liegt, gibt nur eine mögliche Antwort auf diese brennende Frage. Um Kinder vor schädlichen sexuellen Übergriffen zu schützen, müssen demnach auf allen Ebenen relevante Mechanismen entlarvt, Verantwortlichkeiten benannt und notwendige Massnahmen ergriffen werden, nicht nur mit der Zielgruppe der Kinder. (Primär-)Präventionsarbeit zum sexuellen 149 Missbrauch ist letztlich immer eine Gratwanderung zwischen der Selbstbestimmung der Familie oder derjenigen des Individuums und der Fremdsteuerung durch öffentliche Massnahmen, die das (schwache) Individuum schützen und stärken sollen. B RÜCKBLICK AUF DIE FORSCHUNGSFRAGEN UND WEITERER FORSCHUNGSBEDARF Es führt zu weit, hier eine Replik zu allen in der Einleitung formulierten ForschungsUnterfragen zu machen, da sich letztlich deren Beantwortung von Kapitel zu Kapitel der Lizentiatsarbeit weiterentwickelt. Deshalb möchte ich mich auf ein kurzes Resümee zu den drei Hauptfragen beschränken, wovon die letzte soeben rekapituliert wurde. Diese Arbeit verwendet die Begriffe sexuelle Gewalt, sexueller Missbrauch und sexuelle Ausbeutung synonym. Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche kann auf strukturellindirekter wie auf personal-direkter Ebene stattfinden und geht oft mit körperlicher und psychischer Gewalt einher. Meine Arbeitsdefinition vereint Elemente von gesellschaftlichen, feministischen und entwicklungspsychologischen Definitionen. Für die Primärprävention finde ich wichtig, dass eine Definition ein möglichst breites Spektrum von Missbrauchshandlungen umfasst. Sexueller Kindesmissbrauch wird als emotionales, geistiges, soziales oder körperliches Machtgefälle oder Abhängigkeitsverhältnis gesehen, innerhalb dessen eine (vorwiegend erwachsene) weibliche oder männliche, fremde oder bekannte Täterschaft das kindliche oder jugendliche Opfer zu ihrer vielseitigen Bedürfnisbefriedigung benutzt und das Opfer keine willentliche Zustimmung gibt oder geben kann. Bei fast Gleichaltrigen wird der Anwendung von Zwang oder/und körperlicher Gewalt, der subjektiven Empfindung, dem Nicht-Verstehen der Handlung oder/und der Willensmissachtung besonderes Gewicht zugemessen. Darstellungen von Ursachenmodellen, Täterstrategien und schulischer Primärprävention haben meistens erwachsene, männliche Täter im Visier. Sexueller Missbrauch kann Kinder aller Schichten treffen. Dysfunktionale Familiensysteme erhöhen das Risiko und isolierte, rigide erzogene und extrem angepasste Kinder und insbesondere Mädchen scheinen gefährdeter. Täter(innen) scheinen oft sozial unauffällig und integriert zu leben, sind vielfach von patriarchalen Vorstellungen geprägt, sind zu etwa 90 Prozent männlich und stammen vorwiegend aus dem engen oder weiteren sozialen Umfeld des Opfers (etwa 50 Prozent). Auf Familie/Verwandtschaft und fremde Täterschaft fallen 150 etwa je hälftig die andern 50 Prozent, wobei bei Mädchen die Verwandten, bei Jungen Fremde leicht überwiegen. Traditionelle Erklärungsansätze gehen von provozierenden Mädchen und sexuell deprivierten Männern aus, die biologisch bedingt triebhafter und aggressiver seien in ihrer Sexualität; sexuelle Handlungen seien meistens von beiden gewollt, beide hätten etwas davon. Fälle von echter sexueller Gewalt seien selten, die Gewalttäter krankhaft, psychisch oder/und sozial gestört. Solche Ansätze verharmlosen Missbrauch, weisen Kindern und sich sexuell verweigernden Partnerinnen die Verantwortung für das Geschehen zu und konnten nicht wissenschaftlich untermauert werden. Als Alternative bieten sich feministische Ursachenmodelle an, die besonders die Umstände berücksichtigen, dass zumeist Männer die Taten begehen und mehr Mädchen Opfer werden. Ihre These der Bedingtheit und Aufrechterhaltung der sexuellen Gewalt durch eine patriarchale Kultur und Struktur, die sich durch ungleiche Machtverhältnisse, Verdinglichung der Sexualität, traditionelle Rollenbilder, ungleiche Ressourcenverteilung zwischen den Geschlechtern, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und Erziehung auszeichnen, gilt als belegt. Diese patriarchalen Bedingungen stehen im Hintergrund und beeinflussen Handlungsmotivation, fördernde oder hemmende Faktoren, Handlungsmöglichkeiten und KostenNutzenrechnungen auf TäterInnen-, Opfer- wie ZeugInnenseite, die ihrerseits interdependent sind. – Als erweitertes und ganzheitliches Zusammenhangsmodell bietet sich Bestens (1995) Dreifaktorenmodell an, das begünstigende, sich gegenseitig negativ verstärkende Faktoren nicht nur auf dieser gesamtgesellschaftlichen, sondern auch auf biographischer und familiärer Ebene ausmacht. Für ein Kind werden dabei dysfunktionale, sozial isolierte Familiensysteme mit rigidem oder konfusem Erziehungsverhalten, grosser innerer Abhängigkeit, Autoritätsgläubigkeit oder extrem konservativen Wertesystemen von Bedeutung; für die (potentielle) Täterschaft sind Faktoren wie die eigene Opfererfahrung, mangelnde soziale Fähigkeiten und Selbstkompetenz oder geringer Selbstwert ausschlaggebend. Als Folgen werden kurz- bis langfristige Reaktionen beschrieben, die sich in körperlichen Indikatoren, psychosomatischen Störungen, psychischen und sozialen Folgen zeitigen können. Missbrauchsspezifische Symptome zu eruieren ist bisher nicht gelungen; klinische Missbrauchsfälle scheinen nur die Posttraumatischen Belastungsstörung und unangemessenes Sexualverhalten stärker zu zeigen als andere klinische Samples; hingegen weisen klinische Missbrauchsopfer gegenüber nicht-missbrauchten, nicht-klinischen Stichproben neben den zwei genannten Symptomen auch mehr Furcht, Alpträume, neurotische Störungen, 151 Rückzugsverhalten, Weglaufen, sexualisiertes oder selbstverletzendes Verhalten, allgemeine Verhaltensprobleme, Internalisierung und Externalisierung auf. Je nach Altersklasse dominieren andere Störungen und offenbar gibt es nicht wenige symptomlose Opfer. Traumatisierungsfaktoren, die besonders starke Auswirkungen erwarten lassen, können primärer und sekundärer Art sein. Als Primärfaktoren werden eine vertraute Täter-OpferBeziehung, Anwendung von Gewalt oder Zwang, massive Übergriffe wie orale, anale und vaginale Vergewaltigung oder Genitalmanipulation sowie häufige und lang andauernde Handlungen beschrieben. Der Bedeutung des Alters zum Missbrauchszeitpunkt scheint keine besondere Rolle zuzukommen. Als traumatisierende Sekundärfaktoren gelten ablehnende, ungläubige Elternreaktionen, mangelnde mütterliche Unterstützung, eine ungeeignete Intervention oder Therapie sowie eine institutionelle Reviktimisierung (zum Beispiel in einem nicht kindgerecht geführten Strafverfahren). In der zweiten Haupt-Forschungsfrage ging es um die primärpräventiven Möglichkeiten, die in der Kooperation von Schule und Sozialer Arbeit verborgen liegen. Zuerst ein kurzer Blick auf die verfolgte Primärprävention: Primärprävention kann als Ursachenbekämpfung und Vorbeugung gesehen werden, damit eine konkrete Person gar nicht erst zum Opfer oder zum Täter/zur Täterin wird (Inzidenzratensenkung). Da eine Aufdeckung von Missbrauchsfällen daraus resultieren kann, müssen auch Interventionsstrategien vorbereitet sein und beraterische und therapeutische Hilfsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Die vorbeugende Arbeit kann auf gesellschaftlich-struktureller, institutioneller oder personaler Wirkebene stattfinden, wobei die letzte am besten ausgearbeitet ist, zumal mit der Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen, der sich diese insbesondere Lizentiatsarbeit widmet. – Da sich eine traditionelle Abschreckungsprävention mit ihrer unadäquaten Vermittlung von Fakten und Mythen zum sexuellen Missbrauch als wenig hilfreich und angemessen erwiesen hat, hat sich in der Literatur eine feministisch orientierte Vorbeugung durchgesetzt. Deren Ziele sind autoritätskritische, selbständige, selbstbewusste, aufgeklärte, und starke Kinder, die befähigt sind, ihre Rechte auf körperliche, seelische und sexuelle Integrität zu verteidigen. Die primärpräventive Arbeit mit Kindern und Jugendlichen am Ort Schule soll gut vorbereitet, ausgestaltet und in einen institutionellen Kontext eingebettet werden, um möglichst effektiv zu wirken. Dazu habe ich ein kooperatives Konzept entwickelt, das den Aktionsradius und die nötige Weiterentwicklung der Organisation Schule, des Lehrkörpers, der 152 Schulsozialarbeit und der Fachleute aus der Primärprävention sowie den aktiven Einbezug der Eltern darlegt. Die Schulleitung kann via Projektteam auf strategischer, personeller wie organisatorischer Ebene Vorbereitungen zur Verankerung und Realisierung der (Primär)Prävention treffen. Primärpräventionsfachleute bringen missbrauchs- und vorbeugungsspezifisches Wissen ein, bieten Weiterbildung an, helfen bei der konzeptionellen Entwicklung und der Umsetzung. Schulsozialarbeit kann sich als Ort der Vernetzung und Koordination, aber bei entsprechender (Weiter-)Qualifizierung auch als Akteurin mit der Schülerschaft sehen. Die Lehrpersonen (respektive Klassenlehrkräfte) sind am intensivsten mit der Schülerschaft zusammen und könnten nach entsprechender Weiterbildung in projektartigem Arbeiten eine wesentliche Rolle innehaben, aber auch ihre Erziehungshaltung an primär-präventiven Grundeinstellungen orientieren. Eltern sollen als aktive, unterstützende PartnerInnen gewonnen werden; Elterngespräche, Elternabende und eine Projektgruppe aus Vätern und Müttern könnten primärpräventives, projektbezogenes Arbeiten vorbereiten helfen und gezielt begleiten. Im Verlauf der Arbeit wurde auf mehrere Forschungslücken verwiesen, die hier nochmals rekapituliert werden sollen. Grosser Forschungsbedarf besteht bezüglich jugendlicher und weiblicher Täterschaft und männlichen Opfern. Ursachenmodelle und Beschreibungen von Täterstrategien, aber auch vorbeugende Konzepte richten sich bisher eher an männlichen, erwachsenen Tätern aus. Möglicherweise würden durch solche Forschungsbemühungen die Zahlenverhältnisse zwischen männlicher und weiblicher Täterschaft sowie zwischen männlichen und weiblichen Opfer gewisse Nuancierungen erfahren und primärpräventive Strategien könnten noch modifiziert werden. Praxisleitende Forschung muss intensiviert werden, um auf wissenschaftlicher Basis für die Arbeit mit spezifischen Personengruppen (wie zum Beispiel mit verschiedenartig Behinderten oder Kindern aus andern Kulturen) angepasste Materialien und Methoden zu entwickeln. Bei primärpräventiven Materialien und Projekten fehlen bisher mehrheitlich wissenschaftliche Evaluationen beziehungsweise Begleitung. In der Schweiz wäre eine flächendeckende, evaluatorische Studie zur aktuellen (Primär-)Präventionspraxis an Schulen wünschenswert. Heutzutage wird vermehrt über Qualitätssicherung an Schulen diskutiert; es wäre denkbar, Kinderschutz vor Gewalt künftig als ein Qualitätsfaktor mit zu berücksichtigen, um Schulen zu diesbezüglichem Engagement zu ermuntern, da (sexuelle) Gewalt vor Schulen nicht Halt 153 macht. Für die Gewaltprävention mit der Zielgruppe der psychosozialen und pädagogischen Institutionen sollten mehr wissenschaftliche Grundlagen erarbeitet werden. Forschung zur Kooperation von Schule und Sozialer Arbeit ist in der Schweiz noch relativ jung. Im Zusammenhang mit Primärprävention sollten Modelle der interdisziplinären Zusammenarbeit, wie ich in dieser Lizentiatsarbeit eines für den Ort Schule skizziert habe, entwickelt werden. Vielleicht könnten Kinder durch diese vielseitige Kooperation und die institutionelle Verankerung besser gegen sexuellen Missbrauch gestärkt und davor geschützt werden als dies bisherige isolierte, kurzzeitige, puzzleartige Vorbeugungsprogramme mit Kindern konnten. 154 LITERATURVERZEICHNIS Verwendete Literatur: Ahn, H. & Gilbert, G. (1995). Kulturelle und ethnische Faktoren bei der Prävention sexueller Kindesmisshandlung. In: Marquardt-Mau, B. (Hg.). Schulische Prävention gegen sexuelle Kindesmisshandlung. Grundlagen, Rahmenbedingungen, Bausteine und Modelle. Weinheim: Juventa, 173-182. Althof, W. (1998). Fair und gemeinsam: die Schulgemeinschaft als Ressource für die Entwicklung der einzelnen Kinder. In: Schweizerischer Kinderschutzbund (SKSB), Association Suisse de la Protection de l’Enfant (ASPE)(Hg.). Kinder stärken: Gesundheitsförderung in Schweizer Schulen. Estime de soi – compétence – sante: Expériences préventives en milieu scolaire. SKSB/ASPE Bulletin Nummer 1. Bern, 22-23. 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Prävention sexueller Ausbeutung im Freizeitbereich. Über uns. Verein Mira. Organisation. Internetzugriff am 8. Februar 2005 auf http://www.mira.ch/frames/f_ueberuns.html. PräVita, Fachstelle zur Prävention von Gewalt und sexueller Ausbeutung (o.J.). Portrait. Internetzugriff am 8. Februar 2005 auf http://praevita.ch. Pro Juventute (o.J.a). Übersicht. Sozialpolitik sowie Prävention/Gesundheitförderung. Internetzugriff am 8. Februar 2005 auf http://www.projuventute.ch. Pro Juventute (o.J.b). Portrait. Internetzugriff am 8. Februar 2005 auf http://www.projuventute.ch. 165 ANHANG Ausgewählte (Primär-)Präventionsbücher für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen: JUNGEN- BEZIEHUNGSWEISE MÄDCHENSPEZIFISCHE LITERATUR Schnack, D. & Neutzling, R. (1990). Kleine Helden in Not – Jungen auf der Suche nach Männlichkeit. Reinbek: Rowohlt Verlag. (Reihe: MANN) Stanzel, G. (1991). Mädchen und Jungen – Verändertes Rollenverhalten als gesellschaftspolitisches Lernziel in der Grundschule. Eine praktische Anleitung zur Durchführung eines rollenkritischen Unterrichts als präventive Massnahme gegen Gewalt im Schulalltag. Wiesbaden: Wildwasser e.V. Stalmann, F. (1992). Die Schule macht die Mädchen dumm. München: Piper Verlag. BILDERBÜCHER Tidholm, A-C. (1993). Klopf an! München: Hanser Verlag. (ab 2 Jahren) Waddel, M. & Firth, B. (1989). Kannst du nicht einschlafen, kleiner Bär? Wien: Annette Beltz Verlag. (3-10 Jahre) Erlbruch, W. (1992). Das Bärenwunderland. Wuppertal: Peter Hammer Verlag. (ab 3 Jahren) KINDERBÜCHER Boie, K. (o.A.). Mittwochs darf ich spielen. Hamburg: Oetinger Verlag. (7-10 Jahre) Fuchs, U. (1992). Steine hüpfen übers Wasser. Kevelaer: Anrich Verlag. (8-12 Jahre) De Jong, T. (1993). Lola, der Bär. München: Carl Hanser Verlag. (ab 5 Jahren) JUGENDBÜCHER (ab 12 Jahren) Steenfatt, M. (1986). Nele – Ein Mädchen ist nicht zu gebrauchen. Reinbek: Rowohlt Verlag. Allfrey, K. (1992). Taube unter Falken. Würzburg: Arena Verlag. Pohl, P. (1990). Jan, mein Freund. Ravensburg: Otto Maier Verlag. A EHRENWÖRTLICHE ERKLÄRUNG „Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich meine Lizentiatsarbeit selbständig und ohne unerlaubte fremde Hilfe verfasst habe.“ Juli 2005, Fribourg Patricia Flammer B