Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen – Prävention in

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Schriftenreihe Lizentiatsarbeiten der
Universität Fribourg – Departement für Sozialarbeit und Sozialpolitik
Patricia Flammer
Sexueller Missbrauch an Kindern und
Jugendlichen – Prävention in Schule und
Sozialer Arbeit
Hintergründe sexuellen Kindesmissbrauchs und primärpräventive Arbeit am Ort Schule mit
Kindern und Jugendlichen mittels Kooperation von Schule und Sozialer Arbeit
Lizentiatsarbeit der Universität Fribourg – Departement für Sozialarbeit und Sozialpolitik. Juli
2005
www.soziothek.ch
Sozialwissenschaftlicher Fachverlag «Edition Soziothek». Die «Edition Soziothek» ist ein Non-Profit-Unternehmen
des Vereins Bildungsstätte für Soziale Arbeit Bern. Der Verein ist verantwortlich für alle verlegerischen Aktivitäten.
Schriftenreihe Lizentiatsarbeiten der
Universität Fribourg – Departement für Sozialarbeit und Sozialpolitik
In dieser Schriftenreihe werden Lizentiatsarbeiten von Studierenden des Departements Sozialarbeit und
Sozialpolitik der Universität Fribourg publiziert, die durch ihre aussergewöhnliche Qualität überzeugen.
Patricia Flammer: Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen – Prävention in Schule und Sozialer Arbeit.
Hintergründe sexuellen Kindesmissbrauchs und primärpräventive Arbeit am Ort Schule mit Kindern und
Jugendlichen mittels Kooperation von Schule und Sozialer Arbeit
© 2011 «Edition Soziothek» Bern
ISBN 978-3-03796-404-0
Verlag Edition Soziothek
c/o Verein Bildungsstätte für Soziale Arbeit Bern
Hallerstrasse 10
3012 Bern
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Jede Art der Vervielfältigung ohne Genehmigung des Verlags ist unzulässig.
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LIZENTIATSARBEIT
eingereicht bei der
Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg (CH)
Departement Sozialarbeit und Sozialpolitik
Prof. Dr. Monica Budowski
SEXUELLER
MISSBRAUCH AN
KINDERN UND
JUGENDLICHEN PRÄVENTION IN
SCHULE UND
SOZIALER ARBEIT
Hintergründe sexuellen
Kindesmissbrauchs und
primärpräventive Arbeit
am Ort Schule mit
Kindern und
Jugendlichen mittels
Kooperation von Schule
und Sozialer Arbeit
eingereicht im Juli 2005 durch
Patricia Flammer von Zuzwil (SG)
LIZENTIATSARBEIT
eingereicht bei der
Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg (CH)
Departement Sozialarbeit und Sozialpolitik
Prof. Dr. Monica Budowski
SEXUELLER
MISSBRAUCH AN
KINDERN UND
JUGENDLICHEN PRÄVENTION IN
SCHULE UND
SOZIALER ARBEIT
Hintergründe sexuellen
Kindesmissbrauchs und
primärpräventive Arbeit
am Ort Schule mit
Kindern und
Jugendlichen mittels
Kooperation von Schule
und Sozialer Arbeit
eingereicht im Juli 2005 durch
Patricia Flammer von Zuzwil (SG)
ABSTRACT
Die Lizentiatarbeit thematisiert vorbeugende Arbeit gegen sexuellen Kindesmissbrauch, wobei feministisches Gedankengut im Zentrum steht. Sie resümiert praxisleitende Definitionen
und Erklärungsansätze sowie Folgen sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen und
erstellt eine Arbeitsdefinition. Im zweiten Teil greift sie Definition, Ziele, Zielgruppen,
Ebenen sowie den Stand der Primärprävention auf. Vorbeugung wird als interdisziplinäre
Aufgabe dargestellt und die Rollen und die Kooperation von Schule und Sozialer Arbeit werden skizziert. Inhaltliche und formale Aspekte primärpräventiver Arbeit mit Heranwachsenden am Ort Schule bilden ein Kernstück der Arbeit.
Sexueller Kindesmissbrauch lässt sich als sexualisierte, primär männliche Form der Gewalt
von Mächtigeren gegenüber Kindern verstehen, die auf gesellschaftlich-strukturellen, individuell-biographischen und familiären Entstehungsbedingungen fusst. Die Folgen scheinen von
der Dauer, dem Grad an Intensität, an Gewaltanwendung, an Vertrautheit zwischen TäterIn
und Opfer und an Rückhalt im Umfeld abzuhängen.
Emanzipatorische Primärprävention mit SchülerInnen sollte Entwicklungsstand, Alter, Geschlecht und Minoritäten sowie Befähigung, konkrete Informationsvermittlung und Handlungsorientierung berücksichtigen. Im Umfeld der Schule empfiehlt sie sich institutionell zu
verankern, als Erziehungshaltung langfristig zu sehen, mit mehr Kooperation zu planen und
wissenschaftlich zu evaluieren. Die Lizentiatsarbeit schlägt ein Konzept zur Kooperation zwischen Schulleitung, Lehrkörper, Schulsozialarbeit, Präventionsfachstellen und Eltern vor.
Umschlagbild:
Internetzugriff am 15.09.2004 unter http://www.artforum.ch/bilder/margotmaier/rot_kind.jpg
i
INHALTSVERZEICHNIS
ABSTRACT ............................................................................................................................... I
ABBILDUNGSVERZEICHNIS ............................................................................................ V
TABELLENVERZEICHNIS ................................................................................................. V
EINLEITUNG .......................................................................................................................... 1
A
B
C
D
E
EINBETTUNG UND EINGRENZUNG DES THEMAS ................................................................. 1
FORSCHUNGSFRAGEN .................................................................................................................. 5
THEORETISCHER BEZUGSRAHMEN ......................................................................................... 6
METHODISCHES VORGEHEN ...................................................................................................... 8
AUFBAU DER ARBEIT ..................................................................................................................... 9
1. TEIL: THEORETISCHE AUFFASSUNGEN ZUM SEXUELLEN MISSBRAUCH . 11
1. PRAXISLEITENDE DEFINITIONEN VON (SEXUELLER) GEWALT AN
KINDERN UND JUGENDLICHEN .............................................................................. 11
1.1.
FORMEN VON GEWALT GEGEN KINDER UND JUGENDLICHE ..................................................................11
1.1.1. Strukturelle oder indirekte Gewalt .................................................................................................13
1.1.2. Personale Gewalt in Form physischer Gewalt ...............................................................................14
1.1.3. Personale Gewalt in Form psychischer Gewalt .............................................................................15
1.1.4. Personale Gewalt in Form emotionaler Vernachlässigung ...........................................................15
1.1.5. Personale Gewalt in Form sexueller Gewalt .................................................................................16
1.2.
TERMINI FÜR DIE SEXUELLE GEWALT AN KINDERN UND JUGENDLICHEN .............................................16
1.3.
KLASSIFIKATION VON DEFINITIONEN ....................................................................................................17
1.3.1. Enge Definitionen...........................................................................................................................18
1.3.2. Weite Definitionen ..........................................................................................................................18
1.3.3. Gesellschaftliche Definitionen .......................................................................................................18
1.3.4. Feministische Definitionen .............................................................................................................19
1.3.5. Entwicklungspsychologische Definitionen .....................................................................................19
1.3.6. Klinische Definitionen ....................................................................................................................19
1.4.
MÖGLICHE DEFINITIONSKRITERIEN FÜR DEN SEXUELLEN MISSBRAUCH AN KINDERN UND
JUGENDLICHEN .....................................................................................................................................20
1.5.
DEFINITIONEN UND ERSCHEINUNGSFORMEN VON SEXUELLEM MISSBRAUCH AN KINDERN UND
JUGENDLICHEN .....................................................................................................................................23
1.5.1. Definitionen zum sexuellen Kindesmissbrauch aus der Fachliteratur ...........................................23
1.5.2. Meine Arbeitsdefinition und deren Erläuterung .............................................................................24
2. POTENTIELLE OPFER, TÄTERSCHAFT UND TÄTERSTRATEGIEN .............. 27
2.1.
VERMUTETE HÄUFIGKEIT VON SEXUELLEM KINDESMISSBRAUCH ........................................................28
2.2.
GIBT ES DAS „TYPISCHE“ OPFER? .........................................................................................................28
2.3.
STATISTISCHE SCHÄTZWERTE DER ZUSAMMENSETZUNG DER TÄTERSCHAFT .......................................29
2.4.
ASPEKTE DER TÄTERPERSÖNLICHKEIT..................................................................................................31
2.4.1. Gibt es den „typischen“ Täter?......................................................................................................31
2.4.2. Der „Spezialfall“ der pädophilen Täter.........................................................................................33
2.4.3. Frauen als Täterinnen ....................................................................................................................35
2.4.4. Tatort soziale und (heil)pädagogische Einrichtungen ...................................................................37
2.5.
PSYCHODYNAMIK DES SEXUELLEN MISSBRAUCHS ...............................................................................39
2.5.1. Das Vorgehen der erwachsenen Täterschaft (Täterstrategien) ......................................................40
2.5.2. Missbrauchsdynamik beim Opfer und kindliche Sexualität............................................................42
2.5.3. Die Rolle der Mütter von Inzestopfern ...........................................................................................44
3. HANDLUNGSORIENTIERTE ERKLÄRUNGSANSÄTZE FÜR DEN
SEXUELLEN MISSBRAUCH AN KINDERN UND JUGENDLICHEN .................. 45
3.1
ZWISCHEN MYTHOS UND ERKLÄRUNGSANSATZ ...................................................................................46
3.1.1. Traditionelle Erklärungsmodelle ...................................................................................................47
ii
3.1.2.
3.1.3.
Feministische Ursachenmodelle.....................................................................................................50
Feministisches Drei-Perspektiven-Modell sexueller Gewalt gegen Kinder von Brockhaus und
Kolshorn ........................................................................................................................................52
3.2.
BESTENS GANZHEITLICHES DREIFAKTORENMODELL ÜBER DIE ZUSAMMENHÄNGE SEXUELLEN
MISSBRAUCHS ......................................................................................................................................56
3.2.1. Gesamtes gesellschaftliches System ...............................................................................................57
3.2.2. Biographische Faktoren .................................................................................................................58
3.2.3. Familiäre Umstände .......................................................................................................................58
4. FORSCHUNGSRESULTATE ZU DEN FOLGEN FÜR DIE OPFER ...................... 60
4.1.
4.2.
4.3.
DAS KONTINUUM VON KURZFRISTIGEN SYMPTOMEN ZU LANGFRISTIGEN FOLGEN...............................61
GESCHÄTZTE HÄUFIGKEIT DER FOLGEN ...............................................................................................62
INTERVENIERENDE VARIABLEN (TRAUMATISIERUNGSFAKTOREN) .......................................................64
2. TEIL: PRAXISLEITENDE PRÄVENTION................................................................... 68
5. (PRIMÄR-)PRÄVENTION DES SEXUELLEN KINDESMISSBRAUCHS ............. 68
5.1.
DEFINITION VON PRÄVENTION SEXUELLEN KINDESMISSBRAUCHS .......................................................69
5.1.1. Primärprävention als Vorbeugung und Ursachenbekämpfung ......................................................70
5.1.2. Sekundärprävention als Früherkennung, Intervention und Beratung ............................................71
5.1.3. Tertiärprävention als Therapie und Rückfallbekämpfung ..............................................................72
5.2.
KATEGORISIERUNG VON PRIMÄRPRÄVENTIVEN ZIELEN UND KONZEPTEN ............................................73
5.2.1. Traditionelles versus feministisches Modell ...................................................................................73
5.2.2. Gesellschaftlich-strukturelle, institutionelle und personale Wirkdimensionen und Ziele ..............74
5.2.3. Zielgruppen: Täter versus Opfer, Erwachsene versus Kinder .......................................................77
5.2.4. Diesbezügliche Situierung der aktuellen primären Präventionsarbeit in der Schweiz ..................79
5.3.
SCHEMATISCHE ZUSAMMENFASSUNG DER DIMENSIONEN DER (PRIMÄR-)PRÄVENTION .......................81
5.4.
EXKURS: KRITISCHE GESELLSCHAFTLICHE ASPEKTE DES (PRIMÄR)PRÄVENTIVEN KINDERSCHUTZES ..82
6. PRIMÄRE MISSBRAUCHSPRÄVENTION ALS INTERDISZIPLINÄRE
AUFGABE? ...................................................................................................................... 84
6.1.
6.2.
PRIMÄRE MISSBRAUCHSPRÄVENTION ALS AUFGABE DER SCHULE? .....................................................86
(PRIMÄR-)PRÄVENTION IM UMFELD DER SOZIALEN ARBEIT: ÖFFENTLICHE UND PRIVATE
ANBIETERINNEN IN DER SCHWEIZ ........................................................................................................88
6.3.
SCHULSOZIALARBEIT ALS KOOPERATIONSMODELL VON SCHULE UND SOZIALER ARBEIT ....................91
6.3.1. Zum Begriff der Schulsozialarbeit ..................................................................................................92
6.3.2. Ziele und Zielgruppen der Schulsozialarbeit .................................................................................94
6.3.3. Methoden, Aufgaben und Tätigkeiten der Schulsozialarbeit ..........................................................94
6.3.4. Situierung der Schulsozialarbeit in der Schweiz ............................................................................96
6.3.5. Mögliche Einbettung der Missbrauchsprävention in die Schulsozialarbeit? .................................97
7. INHALTLICHE UND FORMALE ASPEKTE DER ARBEIT MIT
SCHÜLERINNEN SOWIE KOOPERATION VON SOZIALER ARBEIT UND
SCHULE IN DER PRIMÄRPRÄVENTION AM ORT SCHULE ............................. 98
7.1.
VORAUSSETZUNGEN FÜR EINE KONSTRUKTIVE KOOPERATION AM BEISPIEL DER LEHRKRÄFTE UND DER
SCHULSOZIALARBEIT ............................................................................................................................99
7.2.
RAHMENBEDINGUNGEN UND KRITERIEN PRIMÄRPRÄVENTIVER PROJEKTE MIT KINDERN UND
JUGENDLICHEN AM ORT SCHULE ........................................................................................................102
7.2.1. Äussere Rahmenbedingungen primärpräventiver Schulprojekte .................................................103
7.2.2. Inhaltliche Kriterien primärpräventiver Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ..........................105
7.2.3. Nutzen bisher praktizierter (amerikanischer) Empowerment-Modelle ........................................111
7.2.4. Diskutierte Kriterien im Überblick...............................................................................................113
7.3.
KOOPERATIONSKONZEPT ZUR VORBEREITUNG UND VERANKERUNG DER PRIMÄRPRÄVENTIONSARBEIT
AM ORT SCHULE .................................................................................................................................114
7.3.1. Institutionelle Vorbereitung der Prävention und Kooperation ....................................................115
7.3.2. Hilfestellung durch auf Primärprävention spezialisierte Fachleute ............................................119
7.3.3. Rolle der integrierten Schulsozialarbeit .......................................................................................120
7.3.4. Rolle und Vorbereitung des Lehrkörpers .....................................................................................122
iii
7.3.5. Vorbereitung und Einbezug der Eltern ........................................................................................126
7.3.6. Das Kooperationskonzept im Überblick .......................................................................................128
7.4.
FEMINISTISCH ABGESTÜTZTE PRIMÄRPRÄVENTIONSARBEIT MIT SCHÜLERINNEN AUS SICHT DES
LEHRKÖRPERS ....................................................................................................................................130
7.4.1. Inhalte der (feministisch orientierten) vorbeugenden Arbeit mit Kindern und Jugendlichen am Ort
Schule ..........................................................................................................................................131
7.4.2. Einblick in Methoden und Materialien der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ......................139
7.5.
MÖGLICHES KOOPERATIVES VORGEHEN (INTERVENTION) BEI INDIZIEN UND VERDACHTSFÄLLEN AUS
SICHT DER LEHRPERSON .....................................................................................................................142
7.5.1. Vorgehen bei Verdacht oder Aufdeckung .....................................................................................142
7.5.2. Einbindung in weitere Hilfssysteme der Jugendhilfe: das Vorgehen am Beispiel des
Kindesschutzes in Basel ..............................................................................................................145
SCHLUSSTEIL .................................................................................................................... 147
A
B
MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN DER PRIMÄRPRÄVENTIONSARBEIT MIT
KINDERN UND JUGENDLICHEN ...............................................................................................147
RÜCKBLICK AUF DIE FORSCHUNGSFRAGEN UND WEITERER
FORSCHUNGSBEDARF ................................................................................................................150
LITERATURVERZEICHNIS ............................................................................................ 155
ANHANG ................................................................................................................................. A
EHRENWÖRTLICHE ERKLÄRUNG .................................................................................B
iv
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
Abbildung 1:
Abbildung 2:
Abbildung 3:
Abbildung 4:
Abbildung 5:
Abbildung 6:
Abbildung 7:
Abbildung 8:
Abbildung 9:
Abbildung 10:
Dimensionen der Gewalt an Kindern und Jugendlichen .............................. 13
Phasen des Aufbaus einer Missbrauchsbeziehung zum Kind
(Täterstrategien) ........................................................................................... 42
Traditionelles Erklärungsmodell für sexuellen Missbrauch an Kindern und
Jugendlichen (durch Männer)....................................................................... 48
Feministische Erklärungsmuster für sexuelle Gewalt an Frauen (und
Kindern) ....................................................................................................... 51
Feministisches Drei-Perspektiven-Modell sexueller Gewalt an Kindern (und
Frauen) von Brockhaus und Kolshorn (optische Realisierung durch die
Verfasserin der Lizentiatsarbeit) .................................................................. 53
Visualisierung von Bestens ganzheitlichem Dreifaktorenmodell über die
Zusammenhänge sexueller Gewalt von Männern gegenüber Kindern (und
Frauen) ......................................................................................................... 60
Schema zu den Folgen und Traumatisierungsfaktoren sexuellen Missbrauchs
...................................................................................................................... 66
Übersicht über die betrachteten Dimensionen der Prävention sexuellen
Kindesmissbrauchs (kursiv hervorgehoben: Schwerpunkte der
Lizentiatsarbeit) ............................................................................................ 81
Kooperationskonzept langfristig angelegter schulischer
Missbrauchsvorbeugung: Vorbereitung und Beiträge ausgewählter
KooperationspartnerInnen im Überblick .................................................... 129
Zusammenspiel und Einbettung feministisch geprägter Bausteine im
Hinblick auf Ziele der primärpräventiven Arbeit mit SchülerInnen (aus Sicht
des Lehrkörpers) ......................................................................................... 138
TABELLENVERZEICHNIS
Tabelle 1:
Tabelle 2:
Tabelle 3:
Tabelle 4:
Übersicht über „objektive“ und „weiche“ Definitionskriterien: ......................... 22
Bekanntheitsgrad der Täterschaft bei Mädchen respektive Jungen (in %) ......... 30
Inhaltliche und formale Kriterien der Primärpräventionsarbeit im Überblick .. 114
Erforderliche LehrerInnenqualifikation und Ausbildungselemente für die
Präventionsarbeit ............................................................................................... 123
v
EINLEITUNG
Während meinem Studium haben mich die Themen sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder
sowie Gleichberechtigung von Mann und Frau schon länger fasziniert. Als ich nun in meinem
Nebenfach Pädagogik und Pädagogische Psychologie zwei Seminararbeiten schreiben sollte,
wollte ich die Gelegenheit nutzen, in einer einzigen, dafür tief greifenden, theoretischen
Review-Arbeit zu betrachten, was die Schule mit ihrem Sozialisations- und Bildungsauftrag
zur Vorbeugung von sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen beitragen könnte.
Beim Schreiben fiel mir immer wieder die Verbindung zwischen Schule und Sozialarbeit auf
beziehungsweise die Interdisziplinarität als zentrales Anliegen vorbeugender Arbeit mit Kindern und Jugendlichen im Missbrauchsbereich. Deshalb ergriff ich die Gelegenheit, mein ursprünglich als Doppelseminararbeit gedachtes Werk zur Lizentiatsarbeit im Hauptfach Sozialarbeit und Sozialpolitik um- und auszubauen, und stattdessen in Pädagogik eine andere Arbeit
zu verfassen.
A EINBETTUNG UND EINGRENZUNG DES THEMAS
Zum thematischen Kontext der Primärprävention sexuellen Kindesmissbrauchs:
Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen ist eine Form der Kindesmisshandlung
und hat eine lange und traurige Tradition in vielen Ländern, so auch in der Schweiz. In den
letzten beiden Jahrzehnten wurde sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen
vermehrt öffentlich thematisiert. Er scheint dank einer grösseren Sensibilisierung und Enttabuisierung öfters ans Licht zu kommen. Zusätzlich wendet sich nun die Diskussion vermehrt
dem Missbrauch im sozialen Umfeld zu, wohingegen früher besonders fremde, pathologische
Triebtäter im Fokus waren. Da durch journalistische Medien verzerrte und involvierte
Personen stigmatisierende Bilder über sexuellen Kindesmissbrauch vermittelt werden können,
ist es wichtig, ihnen mit wissenschaftlichen Publikationen zu begegnen.
Studien zur Häufigkeit sind bei diesem Grauzonenthema mit Vorsicht zu geniessen. Internationale Vergleichsstudien lassen laut Bange (1992, 86, 32f) vermuten, dass circa jedes vierte
Mädchen und jeder zwölfte Junge sexuell missbraucht wird. Dabei scheinen 60-70 Prozent
der Missbrauchsfälle einmalige Übergriffe zu sein. Innerhalb der Familie kommt Ausbeutung
offenbar wiederholt vor und zieht sich vielfach über Monate bis Jahre hin. Schätzungsweise
ein Drittel der Handlungen besteht aufgrund Banges Studienanalyse in oraler/analer/vaginaler
1
Vergewaltigung, ein Drittel in genitaler Manipulation und ein Drittel in Handlungen wie
Zungenküssen/Brustberührungen. Das Durchschnittsalter der Opfer beträgt zehn bis elf Jahre,
es sind aber Säuglinge bis circa 16-Jährige betroffen.
Auch wenn solche Zahlen nie als sicher angeschaut werden können, scheint doch ein nicht
geringer Teil der (weiblichen) Bevölkerung im Verlauf seines Lebens von sexuellen Übergriffen betroffen zu sein. Betrachtet man in Forschungen und Praxisberichten beschriebene
mögliche Erklärungen sowie Auswirkungen auf das soziale Verhalten und das psychische
Wohl der Betroffenen, so wird offensichtlich, dass das Thema sozialwissenschaftliches
Interesse verdient. Es erhielt in verschiedenen psychosozialen Disziplinen, so auch in der
Sozialen Arbeit, in den letzten beiden Jahrzehnten einige Bedeutung zugemessen.
Besonders feministisch orientierten Fachleuten und ForscherInnen, die sexuellen Missbrauch
primär als Machtfrage in einer patriarchalen Gesellschaft sehen, sind die teilweise
Enttabuisierung des Themas, ein grösseres Bewusstsein zur Problematik sexueller
Ausbeutung – als einer Handlung, die im Wesentlichen nicht durch eine fremde Täterschaft
vorgenommen wird – seit den 80er Jahren, eine Vergrösserung des beraterischen Hilfsangebotes für Betroffene sowie aktuelle Beiträge zur Primärprävention zu verdanken; deshalb wird
diesen AutorInnen in dieser Lizentiatsarbeit ein besonderes Augenmerk geschenkt.
Die Diskussion um den Kinderschutz vor sexueller Ausbeutung findet im interdisziplinären
Umfeld verschiedener Fachrichtungen statt. Bemühungen sind beispielsweise in der Sozialarbeit, der Schul-, Heil- und Sozialpädagogik, der Psychologie, der Psychiatrie, der Medizin
und im Recht auszumachen.
In der Sozialarbeit bewegt sich Prävention1 vorwiegend im Bereich von Intervention/Beratung und Vorbeugung und kann auf personaler, institutioneller oder gesellschaftlichstruktureller Ebene stattfinden. Auf personaler Ebene kann sie sich an die Zielgruppen der
(potentiellen) TäterInnen und Opfer, an Kinder wie Erwachsene (auch HelferInnen, Bezugspersonen, Eltern, etc.) wenden.
Die Opferberatung für Betroffene (zur Sekundärprävention gehörig) ist in der Schweiz im
Vergleich zur vorbeugenden Arbeit (Primärprävention) mehr beachtet und besser ausgestaltet. Des Weiteren scheint sich das Angebot meistens aus der Opferperspektive zu verstehen.
Die deutschen Autorinnen Koch und Kruck (2000, 34) machen darauf aufmerksam, dass sich
1
Prävention wird in dieser Arbeit als Überbegriff für vorbeugende, interventionsbezogene/beraterische und
therapeutische/rückfallbezogene Arbeit im Missbrauchsbereich verwendet. Dieses Konzept wird im fünften
Kapitel erläutert und begründet. Die in diesem Abschnitt anzutreffenden kursiv gedruckten Begriffe werden dort
ebenfalls ausführlich beschrieben.
2
die (Primär-)Prävention aktuell nur am Rande mit den Erwachsenen beschäftigt, die TäterInnen sind oder werden können, und mit gesellschaftlichen Bedingungen, die durch
Erwachsene mitbestimmt werden. Im Zentrum stünde die Vorbeugungsarbeit mit Kindern,
mit Kindern als (potentiellen) Opfern. – Auch in der Schweiz scheinen sich trotz wenigstens
konzeptuell und ideell vermehrt vorhandenen Bemühungen, auch mit Erwachsenen und auf
Institutionsebene die Thematik anzugehen, in der Praxis mangels politischen Willens doch
einfache, kurze Aktionen mit (potentiellen) Opfern durchgesetzt zu haben (siehe auch Meier
Rey, 2003; zit. nach Elmer, 2004, 18f).
Vorbeugende Arbeit mit Kindern und Jugendlichen im Missbrauchsbereich überlappt sich
inhaltlich und methodisch mit einer allgemeinen emanzipatorischen Erziehung, mit der
Sexual- und Gesundheitserziehung, aber auch mit Elementen der allgemeinen Gewaltvorbeugung. Primärpräventive missbrauchsbezogene Arbeit muss im Rahmen der Schule – auf den
diese Lizentiatsarbeit abstellt – letztlich in Absprache mit diesen anderen verwandten Bereichen geplant und koordiniert werden, um Synergieeffekte zu nutzen und Doppelspurigkeiten
und/oder Widersprüchlichkeiten zu vermeiden.
Thematische Eingrenzungen für die vorliegende Lizentiatsarbeit:
Ich habe mich entschieden, mich innerhalb der Prävention auf die Primärprävention zu
konzentrieren, insofern sie überhaupt von der intervenierenden Beratungsarbeit bei vermutetem oder bereits erfolgtem Missbrauch (Sekundärprävention) abzugrenzen ist. Die Abgrenzung fällt dort schwer, wo es um im Voraus erarbeitete Aufdeckungs- und Interventionsstrategien für ein rasches Stoppen eines stattfindenden Missbrauchs geht. Hier scheint mir der
Übergang fliessend und deshalb werde ich dem schulischen Vorgehen bei vermutetem oder
offenbartem Missbrauch ein Unterkapitel widmen. Meinen primärpräventiven Fokus wählte
ich, da ich ideell für wichtig erachte, möglichst vielen Übergriffen zuvorzukommen und
missbrauchsbegünstigende Faktoren und Gefahrensituationen zu minimieren, um konkrete
Personen gar nicht erst zu Opfern oder zu TäterInnen werden zu lassen. Einige inhaltliche
Elemente sind der Primär-, der Sekundär- und der Tertiärprävention sicherlich gemeinsam, da
Annahmen zu Entstehungsbedingungen und Hintergründen sexuellen Kindesmissbrauchs und
dementsprechende Veränderungskonzepte in die Prävention als Ganzes einfliessen. Der
therapeutische Aspekt (Tertiärprävention) wird in dieser Lizentiatsarbeit ausgeklammert,
zumal er vorwiegend im Bereich der Psychologie und Psychiatrie anzusiedeln ist.
3
Eine zusätzliche Fokussierung nehme ich vor, indem ich die Primärprävention im Hinblick
auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen im Grund- und Sekundarschulalter (obligatorische Schulzeit) aufgreife, welche am besten ausgearbeitet ist. Der Bereich des Vorschulalters wird ausgeklammert, da dort die organisatorischen Umstände separat betrachtet werden
müssten; inhaltlich sind aber die Ideen für kleinere Kinder dieselben. – Es würde zu weit
führen, die erwachsenbildnerische Ebene (Nicht-TäterInnen) sowie die vereinzelten Bemühungen mit (potentiellen) erwachsenen und jugendlichen Tätern als eigene Themen auch
behandeln zu wollen. Zudem ist diese Lizentiatsarbeit im Wesentlichen eine theoretische
Literaturreview, und es gibt recht wenige Fachpublikationen zur Vorbeugungsarbeit mit
erwachsenen (Nicht-)TäterInnen.
Hingegen bedeutet die langfristige Arbeit mit Kindern und Jugendlichen nicht nur Opfervorbeugung, obgleich sie dort ihren Schwerpunkt hat, sondern in gewissem Umfang auch
TäterInnen-Primärprävention. Denn die Kinder von heute sind die Erwachsenen (also auch
die möglichen TäterInnen) von morgen. Bei einem Teil der Zielgruppe könnte es auch sein,
dass sie sich bereits übergriffig verhalten hat, Primärprävention quasi zu spät kommt. Für
diese Heranwachsenden hätte die in dieser Lizentiatsarbeit vorgestellte Aufklärungsarbeit
möglicherweise die Funktion, einer Verstärkung ihres missbrauchenden Verhaltens vorzubeugen, also eine eher sekundärpräventive Funktion. Jugendliche TäterInnen würden neben
diesem Angebot zusätzlich eine auf sie zugeschnittene Beratung und therapeutische
Rückfallprävention benötigen, was aber nicht Gegenstand dieser Lizentiatsarbeit ist.
Der gewählte Fokus auf diese Zielgruppe soll nicht zur irrigen Annahme verleiten, den
Kindern solle also die Verantwortung für ihren Schutz oder dennoch erfahrene sexuelle
Gewalt (zum Beispiel bei mangelnder Gegenwehr) zugeschoben werden. Es liegt auf der
Hand, dass dem Schutz der Kinder nicht Genüge getan werden kann, wenn sich die Vorbeugungsarbeit auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen beschränkt. Vielmehr müssten
besonders die Erwachsenen zur Verantwortung gezogen und auf institutioneller wie gesellschaftspolitisch-struktureller Ebene Ausgangsbedingungen der sexuellen Gewalt überdacht
und verändert werden. Diese Wirkungsebenen und Ansprechpartner sollen in diese Arbeit
insofern einfliessen, als die Arbeit mit Kindern am Ort Schule (eine weitere Eingrenzung
meiner Arbeit, die im folgenden Abschnitt erläutert wird) ohne Bereitschaft und weiterbildende Vorbereitung der Institution Schule und ihrer KooperationspartnerInnen wenig Sinn
ergibt.
4
Sozialarbeit kommt in der Auseinandersetzung mit Kindern nicht darum herum, sich der
Sozialpädagogik anzunähern, und unter anderem mit der Pädagogik beziehungsweise den
Erziehungsinstanzen (Erziehungsberechtigte, Heime und Schulen) zusammenzuarbeiten.
Kinder sind fast täglich und über Jahre hinweg in der Schule, weshalb sich der Ort Schule am
besten für langfristig angelegte, primärpräventive Bemühungen mit dieser Zielgruppe eignet.
Auch die Arbeit in Vereinen und Freizeitorganisationen böte sich an (sollte parallel und
koordiniert auch stattfinden), aber dort sind weniger Kinder beteiligt. Möglicherweise nehmen
stärker durch innerfamiliären Missbrauch gefährdete Kinder seltener an freizeitpädagogischen
und sportlichen (Vereins-)Aktivitäten teil, da solche Familien nicht selten isoliert zu leben
scheinen2. Deshalb konzentriere ich mich auf die Primärprävention am Ort Schule und
entwerfe dazu ein Konzept der örtlichen Kooperation der Sozialisationsinstanz Schule mit
Fachleuten aus dem Umfeld der Sozialen Arbeit.
B FORSCHUNGSFRAGEN
Hauptfragen:
1. Was kann man unter sexuellem Kindesmissbrauch verstehen und welche Ursachen
und Folgen werden in der praxisleitenden Fachliteratur beschrieben?
2. Welche primärpräventiven Möglichkeiten gegen sexuellen Missbrauch birgt die
Kooperation von Schule und Sozialer Arbeit am Ort Schule?
3. Welche Kriterien sind in der vorbeugenden Arbeit mit Kindern und Jugendlichen
zu beachten und welche Inhalte lassen sich im schulischen Rahmen vermitteln?
Unterfragen:
a) Wie werden in praxisleitenden, vorwiegend deutschsprachigen Fachpublikationen
Definitionen, Missbrauchsdynamik und Ursachen des sexuellen Missbrauchs an
Kindern und Jugendlichen dargelegt? Wie kann eine für den Zweck vorliegender
Lizentiatsarbeit formulierte Arbeitsdefinition aussehen? Welche Folgen kann
sexueller Missbrauch bei den Opfern zeitigen?
2
vgl. Kapitel 3.2.3.
5
b) Was meint Primärprävention im Kontext des sexuellen Kindesmissbrauchs? Welche
Konzepte, Ziele, Ebenen und Zielgruppen werden in (vorwiegend deutschsprachigen) Fachpublikationen genannt und wie die diesbezügliche Ausrichtung der
(schweizerischen) Praxis beschrieben?
c) Ist Missbrauchsvorbeugung eine interdisziplinäre Aufgabe? Inwiefern können
(respektive warum sollen) die Schule und die Soziale Arbeit einen Beitrag leisten?
d) Welche inhaltlichen und formalen Kriterien lassen sich für die schulische
primärpräventive Missbrauchsarbeit mit Kindern und Jugendlichen herauskristallisieren? Welche Inhalte könnten – gestützt auf feministisch orientierte Veröffentlichungen – dabei vermittelt werden?
e) Wie könnten Schule und Soziale Arbeit am Ort Schule kooperieren, um Primärprävention für Kinder und Jugendliche vorzubereiten, einzubetten und anzubieten?
Welche KooperationspartnerInnen sind dabei zu berücksichtigen? Welche Beiträge
könnten die Schulsozialarbeit und auf Primärprävention spezialisierte Fachstellen als
zentrale Kooperationspartnerinnen aus dem Umfeld der Sozialen Arbeit leisten?
C THEORETISCHER BEZUGSRAHMEN
Für meine Arbeit stütze ich mich im Allgemeinen auf Theorien mittlerer Reichweite ab, also
auf jene theoretischen, handlungsleitenden Schriften, die heutzutage für die Soziale Arbeit
relevant sind, um die Missbrauchsthematik im Hinblick auf die Primärpräventionsarbeit in
sozialen und pädagogischen Institutionen theoretisch einzubetten.
Aspekt sexueller Missbrauch und Primärprävention:
Zur sexuellen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche sollen verschiedene anwendungsorientierte Definitionen (gesellschaftliche, entwicklungspsychologische, klinische,…) und theoretische Erklärungsansätze berücksichtigt werden, vor allem aber traditionelle Ursachenmodelle
und feministisch orientierte Ansätze als zwei Gegenspielerinnen herausgearbeitet werden.
Die Präventionsdebatte hat in den letzten Jahrzehnten einen grossen Wandel durchlaufen, von
der traditionellen Abschreckungsvorbeugung mit dem Bild vom bösen, kranken fremden
Mann, der sich an kleinen Mädchen vergreift, hin zur Vorstellung feministisch ausgerichteter
AutorInnen, dass sexuelle Gewalt in einer nach wie vor patriarchal strukturierten Gesellschaft
wie der unseren beinahe zum „Alltag“ von Frauen und Kindern gehöre. Alltag insofern, weil
6
vorwiegend durchschnittliche Menschen ohne besondere Merkmale zu (vorwiegend
männlichen) TäterInnen würden, und weil viele Personen, besonders Frauen, in kleinerem
oder grösserem Umfang während ihrer Kindheit auf verschiedenste Formen von Gewalt, auch
auf sexuelle Gewalt, stiessen.
Aus dieser Betroffenheit als Frauen heraus begannen sich Feministinnen (teils selber Opfer)
ab den späten 70er Jahren zugunsten von (potentiellen) Opfern für Prävention einzusetzen.
Sie wollten in der Primärprävention sowohl eine Gesellschaftskritik auf struktureller Ebene
vornehmen, also am gesellschaftlichen Selbstverständnis rütteln, als auch bei der Hilfe für
und der Emanzipation und der Aufklärung von Individuen, Gruppen und Institutionen
ansetzen. Am besten ausgearbeitet wurde die konkrete Arbeit mit (potentiellen) Opfern.
Hinter den meisten heutigen Primärpräventionskonzepten steckt feministisches Gedankengut.
Die ursprünglichen US-amerikanischen Empowerment-Programme (Empowerment als Ermächtigung, Befähigung, psychische Stärkung verstanden) liegen vielen deutschsprachigen
Projekten zugrunde. Obwohl feministisches Engagement auch auf einer theoretischen Ebene
stattfand, kamen wissenschaftliche Analysen und Studien zur inhaltlichen Gestaltung oder der
Effektivität von Programmen mit Kindern und Jugendlichen nur zögerlich auf.
Neben feministisch motivierten PraktikerInnen und ForscherInnen sind (kritische) Beiträge
zur Primärprävention auch Fachleuten aus dem Bereich des Kinderschutzes (zum Beispiel
Kupffer, 1984; Ziegler, 1990, 2004) zu verdanken.
In die konkrete Primärpräventionsarbeit mit Kindern und Jugendlichen gegen sexuelle Gewalt
fliessen je länger je mehr verschiedene Forschungsbereiche mit ein, auf die man auch in der
Literatur zur allgemeinen Gewalt(primär)prävention an Schulen Verweise findet (siehe Dann,
1997, 362-364): viele der von den AutorInnen dargestellten Kriterien, Inhalte und Methoden
können aus der Sozialisations-, der Selbstkonzept-, der Kommunikations-, der Geschlechterrollen- und der Erziehungsstilforschung hergeleitet werden und/oder enthalten Anleihen aus
dem symbolischen Interaktionismus, aus sozialen Austauschtheorien, aus der sozial-kognitiven Lernforschung und aus dem systemischen Ansatz. Die meisten AutorInnen halten solche
Hintergründe aber nicht explizit fest; deswegen und auch wegen der Komplexität dieser
einzelnen Forschungsgebiete werde ich darauf verzichten, diese zu erläutern oder an den
entsprechenden Stellen in der Arbeit auf den jeweils aufscheinenden Forschungshintergrund
zu verweisen, es sei denn, ein/e AutorIn hielt ihn explizit fest. Es geht mir mehr darum, dass
man sich hier die vielfältigen theoretisch und empirisch erforschten Gebiete vor Augen hält,
welche in die Primärpräventionsentwürfe hineinspielen.
7
Aspekt Kooperation:
Zur Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule, in der Literatur fast ausschliesslich in Form
der Schulsozialarbeit anzutreffen, findet sich wenig theoretisch fundiertes Material,
insbesondere in der Schweiz, wo Publikationen zur Schulsozialarbeit erst seit den 90er Jahren
richtig in Schwung gekommen sind. Es gibt verschiedene Ansätze und Modelle, was sie sei
und zu leisten habe. Die Literatur beinhaltet oft lediglich Projektbeschreibungen einzelner
Schulen, allenfalls mit einer kleinen internen Evaluation, aber meist ohne wissenschaftliche
Begleitung. Es fehlt weitgehend eine Metaebene der Reflexion, eine eigentliche Professionalisierung und theoretische Fundierung. (vgl. Drilling, 2001)
In der Literatur fand ich keine ausgearbeiteten Konzepte, wie die Kooperation zwischen
Sozialer Arbeit und Schule aussehen könnte, wenn man an der Schule Primärprävention im
Missbrauchsbereich ansiedeln möchte. Ich werde deshalb versuchen, in einem eigenen
Beitrag ein anwendungsorientiertes Konzept der primärpräventiven Zusammenarbeit
zusammenzustellen. Dazu nehme ich kooperationsbezogene Publikationen zur Schulsozialarbeit, zur allgemeinen Gewaltprimärprävention an Schulen (bezieht sich vor allem auf
SchülerInnengewalt, behandelt sexuelle Gewalt sehr nebensächlich) und zur teilweise
vorhandenen interdisziplinären Kooperationspraxis in der Sekundärprävention sexueller
Gewalt zu Hilfe.
D METHODISCHES VORGEHEN
Ich wollte eine theoretische Arbeit oder eine Reviewarbeit verfassen und habe dementsprechend meine Fragestellung innerhalb der mich interessierenden Thematik des sexuellen
Kindesmissbrauchs ausgesucht. Da zahlreiche Veröffentlichungen zum sexuellen Missbrauch
vorliegen und auch die Primärprävention häufig, aber noch recht chaotisch, diskutiert wird,
schien mir eine theoretische Reviewarbeit zu meinem Thema zu passen.
Ich verschaffte mir als Erstes eine Übersicht über die aktuelle Missbrauchs- und Primärpräventionsliteratur im deutschen Sprachraum und strukturierte sie. Da aufgrund meiner
Fragestellungen die Kenntnisse zu den Hintergründen sexuellen Kindesmissbrauchs helfen
sollten, die Primärprävention mit Kindern im Rahmen der Schule zu gestalten, wurde für
mich aktuell diskutierte handlungsleitende Forschung zu Definitionen, Ursachen und Folgen
von sexueller Ausbeutung an Kindern relevant. Ich verwendete für meine Arbeit empirischwissenschaftliche, praxisnahe sowie anwendungsorientierte theoretische Publikationen. Als
8
Hauptstrang in der Diskussion um sexuellen Kindesmissbrauch und Primärprävention
zeichneten sich feministisch orientierte Veröffentlichungen ab.
Es ist nicht der Anspruch dieser Lizentiatsarbeit, eine evaluatorische Studie über alle aktuellen, fast nur lokalen (schulischen) Primärpräventionsprogramme mit Kindern in der Schweiz
vorzunehmen. Im Zentrum stehen vielmehr zu beachtende inhaltliche und formale Kriterien
und Inhalte für eine weiterführende schulische Primärpräventionsarbeit mit Kindern und
Jugendlichen, erarbeitet aufgrund publizierter Studien und Fachartikel im (zumeist) deutschsprachigen Raum, vielfach aus den 90er Jahren stammend, die auch auf Tendenzen und
Schwächen von bisherigen programmartigen Projekten hinweisen.
Wo sich die Lizentiatsarbeit bei den Themen Missbrauch und Primärprävention vorwiegend
als strukturierende und fokussierende Literaturreview gestaltet, steht in den Kapiteln zur
Kooperation eher ein konstruktiv-kreatives Vorgehen an. Im Verlauf der Lektüre stiess ich des
Öfteren auf die Bemerkung, wie wichtig das interdisziplinäre Denken in der Missbrauchsprävention sei, und deshalb wollte ich mich vertieft auf diesen Aspekt einlassen. Da die
AutorInnen der Literatur zur Kooperation von Sozialer Arbeit und Schule die Missbrauchsprävention kaum ansprechen, und die VerfasserInnen der Literatur zur Primärprävention von
sexuellem Missbrauch ihrerseits die Kooperation zwischen den beiden Disziplinen lediglich
punktuell erwähnen (meistens nur im Zusammenhang mit Interventionen), fühlte ich mich
herausgefordert, diesen Teil meiner Arbeit eher kreativ nachdenkend anzugehen. Ich wollte
mir überlegen, wo ich aufgrund der von mir studierten Literatur zu Missbrauch, Primärprävention und Kooperation von Schule und Sozialer Arbeit die Schnittmenge der drei sähe.
Dies sollte ein Teil meines eigenen Beitrags werden: in einem Konzept zu formulieren, wie
im schulischen Rahmen die Kooperation in der primärpräventiven Arbeit gestaltet werden
könnte, und welche AkteurInnen dafür von Bedeutung sein könnten. Teils gestützt auf die
Literatur werden deren Beiträge und Bedingungen für eine erfolgreiche Umsetzung skizziert.
Dies alles soll unter dem Aspekt der institutionellen Vorbereitung und Einbettung der Arbeit
mit Kindern und Jugendlichen betrachtet werden.
E AUFBAU DER ARBEIT
In einem ersten Schwerpunkt wird sich die Arbeit im ersten Teil ausführlich damit
auseinandersetzen, was unter sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen verstanden
werden kann, wer ins Missbrauchsgeschehen involviert ist, und was für Formen, Miss9
brauchsstrategien, Ursachen und Folgen in der Fachliteratur beschrieben werden. Dabei sollen
verschiedene handlungsleitende theoretische Positionen berücksichtigt werden, wobei dem
feministischen Gedankengut ein besonderes Augenmerk geschenkt wird.
Der zweite Teil der Arbeit widmet sich der Prävention von sexueller Gewalt. Im fünften
Kapitel wird (Primär-)Prävention definiert und vorbeugende Ziele beschrieben. Modelle,
Zielgruppen und Ebenen der Primärprävention sowie die diesbezügliche Positionierung der
Praxis in der Schweiz werden festgehalten. Ferner schildere ich kritische gesellschaftliche
Aspekte der Kinderschutzarbeit.
Im sechsten Kapitel wird die Interdisziplinarität der Primärprävention sexuellen Kindesmissbrauchs aufgegriffen und überlegt, wessen Aufgabe Kinderschutz sein könnte. Inwiefern
könnte der Schule ein vorbeugender Auftrag zukommen und warum eignet sich dieser Ort für
die Primärprävention gut? Ferner zeige ich (primär)präventiv tätige Fachstellen aus dem
Umfeld der Sozialen Arbeit auf und beleuchte anschliessend die Schulsozialarbeit, die als
zentrales Zusammenarbeitsmodell zwischen Schule und Sozialer Arbeit gilt.
Im letzten und zentralsten Kapitel werden in der Literatur beschriebene Bedingungen einer
erfolgreichen Kooperation am Beispiel der Schulsozialarbeit und des Lehrkörpers sowie
inhaltliche und formale Kriterien für die schulische Primärpräventionsarbeit mit der
Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen skizziert und diskutiert. Als hauptsächlichen
Eigenbeitrag erstelle ich ein Konzept, das die meines Erachtens für die konkrete Arbeit mit
Kindern zentralsten KooperationspartnerInnen benennt: neben der Institution Schule respektive der Schulleitung sind dies der Lehrkörper, Primärpräventionsfachleute, SchulsozialarbeiterInnen und die Eltern. Für jede/n dieser PartnerInnen wird (teils gestützt auf die Literatur)
der potentielle Beitrag respektive die Vorbereitung thematisiert. – Ein Kernstück des Kapitels
stellt die Beschreibung von konkreten, feministisch abgestützten Inhalten der Primärprävention mit Jugendlichen und Kindern und von Arbeitsmethoden dar, die am Ort Schule
angewendet werden können. Da vorbeugende Arbeit eine aufdeckende Wirkung haben kann,
wird abschliessend ein Ausblick auf die interventionsbezogene Ebene im schulischen Rahmen
geworfen.
Im Schlussteil sollen Chancen und Grenzen diskutiert werden, mit Kindern und Jugendlichen
primärpräventiv im komplexen, vielschichtigen Missbrauchsbereich etwas zu erreichen. Diese
Lizentiatsarbeit wird durch einen zusammenfassenden Ausblick auf die Forschungsfragen und
durch Hinweise zum ausstehenden Forschungsbedarf abgerundet.
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1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen
1. TEIL: THEORETISCHE AUFFASSUNGEN ZUM SEXUELLEN MISSBRAUCH
1. PRAXISLEITENDE DEFINITIONEN VON (SEXUELLER) GEWALT AN
KINDERN UND JUGENDLICHEN
Es gibt keine einheitliche, allerseits anerkannte Definition von sexuellem Missbrauch an
Kindern und Jugendlichen, selbst die Termini sind je nach Fokus des/der Betrachtenden
verschieden. Ebenso wenig besteht eine von der Mehrheit der ForscherInnen akzeptierte
übergeordnete Theorie, die sexuelle Gewalt als Ganzes erklärt.
Dieses Kapitel will als erstes zeigen, was für Arten von Gewalt an Kindern und Jugendlichen
in der Literatur beschrieben werden, und danach sollen Termini für den sexuellen Missbrauch
vorgestellt, eine Klassifizierung von Definitionen in verschiedene theoretische Positionen
vorgenommen und mögliche Definitionskriterien besprochen werden, um anschliessend
praxisleitende Definitionen zu sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen vorzustellen. Als Abschluss des Kapitels wird eine eigene Arbeitsdefinition konstruiert, die dem
Zweck dieser Lizentiatsarbeit, der Primärprävention mit Kindern und Jugendlichen im
Rahmen der obligatorischen Schulzeit, dienen soll.
1.1. Formen von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche
Der Begriff der Gewalt ist sehr vielschichtig und es ist schwierig, zu einer Definition zu
finden; je nach zum Beispiel Gesellschaft, Kultur, Religion, Individuum, Geschlecht oder
Generation kann die Gewalttätigkeit eines Handelns anders eingestuft werden. Einen Ansatz
zu wählen, fällt nicht leicht, da es verschiedene Standpunkte mit je gewisser erkenntnistheoretischer Berechtigung gibt.
Galtung (1979, 57f) konstruierte eine weithin akzeptierte Definition von Gewalt:
„Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle somatische
und geistige Wirklichkeit geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung.(…) Gewalt ist das,
was den Abstand zwischen dem Potentiellen und dem Aktuellen vergrössert oder die
Verringerung des Abstandes erschwert. (…) Mit andern Worten, wenn das Potentielle grösser
ist als das Aktuelle und das Aktuelle vermeidbar, dann liegt Gewalt vor.“
Diese Definition ist sehr vage gehalten und sehr weit gefasst. Sie hält fest, dass es um
Beeinflussung durch etwas oder jemand geht, und um die Diskrepanz zwischen dem, was
etwas oder jemand tatsächlich ist oder aber hätte sein können. Galtung (ebd.) geht dabei
davon aus, dass die potentielle Menge an Verwirklichung diejenige ist, die zu erreichen mit
11
1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen
einer gegebenen Menge an Einsehen und Hilfsmitteln möglich wäre. Er verweist aber auch
auf die Schwierigkeit des Begriffs, wenn man nicht nur im physischen, sondern auch im
geistigen Bereich einen Konsens zum realisierbaren Wert finden muss.
Galtung (ebd., 59-67) nennt sechs Dimensionen, die sich in seiner Definition verbergen und
sich als Dichotomien formulieren lassen, wobei letztere in beliebiger Kombination denkbar
seien:
-
psychische oder physische Einwirkung: Physische Gewalt kann als körperlicher
Schmerz, Einschränkung der physischen Möglichkeiten oder der Bewegungsfreiheit
gesehen werden; psychische Gewalt hingegen als Reduktion geistiger Möglichkeiten
durch Manipulation, Drohung, Lüge, etc.
-
negative oder positive Beeinflussung: Egal, ob ein Objekt für ein vom Subjekt
gewünschtes Verhalten belohnt oder für ein vom Subjekt unerwünschtes Tun bestraft
wird, beides kann den Menschen daran hindern, sein Potential zu realisieren.
-
Gewalt mit oder ohne Objekt: Werden Mittel zur Gewaltausübung erzeugt, so können
sie als Androhung den Handlungsspielraum von Menschen beschneiden.
-
Gewalt mit oder ohne handelnde Person: Wo es eine/n AkteurIn gibt, spricht er von
direkter oder personaler Gewalt; wo keine konkrete Person in Erscheinung tritt, von
indirekter oder struktureller Gewalt.
-
Intendierte oder nicht intendierte Gewalt: Seine Definition konzentriert sich nur auf
die Folgen, nicht auf die Absichten, da Aktionen gegen strukturelle Gewalt sonst ins
Leere tappen könnten.
-
Manifest oder latent: Manifeste Gewalt ist sichtbar, latente hat sich noch nicht gezeigt.
In dieser Typologie erscheint mir für meine Lizentiatsarbeit die Unterscheidung in personale
und strukturelle Gewalt die Wesentlichste (siehe Abbildung 1). In der direkten Gewalt richtet
sich üblicherweise eine Täterschaft, aus einer oder mehreren Personen bestehend, auf
physische oder psychische Art gegen ein oder mehrere Opfer. Diese Gewalt ist meistens
sichtbar und oft intendiert; sie kann aber auch latent sein, solange eine Bedrohungssituation
noch nicht in eine Handlung umgeschlagen ist, und sie kann auch ohne ein bestimmtes Objekt
auskommen. Auf der andern Seite können gesellschaftliche Bedingungen, also kein konkretes
Subjekt, strukturell ganze Bevölkerungsgruppen oder auch Einzelne psychisch oder physisch
in der Entfaltung ihrer Möglichkeiten beeinträchtigen.
12
1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen
Im Kontext der Gewalt gegen Kinder und Jugendliche möchte ich im Folgenden mit Kohler
(o.J., 11f) innerhalb der personalen Gewalt noch weitere Formen unterscheiden und
skizzieren, nämlich neben der physischen und psychischen Gewalt auch die emotionale
Vernachlässigung und die sexuelle Gewalt. Als erstes soll aber strukturelle Gewalt näher
definiert werden, wobei ich bei ihr auf eine weitere Aufsplitterung verzichte.
In einer Abbildung könnte man diese aufgegriffenen Dimensionen wie folgt darstellen:
- mit oder ohne konkretes Objekt
- manifest oder latent
- intendiert oder nicht intendiert
- negative oder positive Beeinflussung
- physische oder psychische
Gewalt an Kindern
und Jugendlichen
personal: direkt, mit konkreter
handelnder Person
strukturell: indirekt, ohne
konkrete handelnde Person
Nährboden
weitere Aufteilung: physische,
psychische, emotionale und
sexuelle Gewalt
Abbildung 1:
Dimensionen der Gewalt an Kindern und Jugendlichen
1.1.1. Strukturelle oder indirekte Gewalt
Strukturelle Gewalt ist jene, die im Hintergrund einer Gesellschaft abläuft. Sie begünstigt
viele andere Formen von Gewalt, so auch die sexuelle oder physische, und sie wird vom
gesellschaftlichen System quasi geschaffen und erhalten.
Galtung (1979, 62-67) schildert diese Form der Gewalt als ins System eingebaut, was sich in
ungleichen Machtverhältnissen und Lebenschancen zeige. Er nennt die Bedingung der
indirekten Gewalt zuweilen soziale Ungerechtigkeit. Nicht nur Ressourcen seien ungleich
verteilt, sondern auch die Entscheidungsmacht darüber, wer Ressourcen verteilen könne. Dies
13
1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen
geschehe oft von den Gewaltbetroffenen unbemerkt, diese Form der Gewalt sei eigentlich
statisch und recht stabil. Und je statischer eine Gesellschaft sei, umso unbemerkter vollziehe
sich die strukturelle Gewalt.
Kohler (o.J., 12) hält fest, dass es hier um ein erweitertes Verständnis von Gewalt geht. Sie
entstehe durch den asymmetrisch-hierarchischen Aufbau unserer (westlichen) Gesellschaft
und durch die daraus resultierenden Macht- und Abhängigkeitsbeziehungen. Obwohl selber
nicht unmittelbar identifizierbar, sei die strukturelle Gewalt Ausgangspunkt für die
Gewaltanalyse in Verhältnissen sozialer Ungleichheit. Sie schaffe nämlich den Nährboden für
Ungleichheiten, direkte Gewalt und alltägliche Diskriminierungen.
Wenn man sich dies im Kontext von Kindern und Jugendlichen vor Augen führt,
widerspiegelt sich die strukturelle Gewalt in der schwachen Position der Kinder in unserer
Gesellschaft, und zwar in politischer, rechtlicher wie sozialer Hinsicht. Es wird oft über ihre
Köpfe hinweg bestimmt, ihre Bedürfnisse und Wünsche werden vernachlässigt, und sie
werden unter anderem von Eltern zuweilen als Besitz angeschaut. Das birgt die Gefahr von
Grenzverletzungen, von Missachtung der Kinderrechte, von Beeinträchtigungen und von
Übergriffen in sich. Von Kohler (ebd.) zitierte Beispiele für diese nicht kinderfreundlichen
Lebens- und Entwicklungsbedingungen sind sexistische Berichterstattung, kommerzielle
Ausbeutung von Kindern im Internet, Werbung, aber auch unsere mangelnde Gesetzgebung,
die körperliche Züchtigung von Kindern nicht explizit verbiete, während es bei Erwachsenen
als Tätlichkeit gelte.
1.1.2. Personale Gewalt in Form physischer Gewalt
Galtung (1979, 60) unterteilt das Zufügen physischer Schmerzen des Weiteren in biologische
Gewalt, die körperliche Fähigkeiten mindere im Vergleich zu ihrem Potential, und physische
Gewalt an sich, die verstärkt die kindliche Bewegungsfreiheit begrenze, zum Beispiel
Einsperren oder Fesseln.
Physische Kindesmisshandlung ist insofern schwer zu definieren, als je nach Kultur und
Gepflogenheiten in einer Gesellschaft unterschiedliche Grenzen zwischen „normaler“
Kindererziehung beziehungsweise -massregelung und Gewalthandlungen gezogen werden.
Briere (1992, 6f) hält fest, dass Erwachsene in unserer Kultur Kindern zuweilen physischen
Schmerz zufügen, um ihr Verhalten zu kontrollieren und sie zurechtzuweisen. Da sei es
schwierig zu entscheiden, ob zum Beispiel Schläge auf die Hand mit einem Stock oder eine
Ohrfeige bereits als Gewalt zu bezeichnen seien. Trotzdem gebe es Handlungen, die von der
14
1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen
Mehrheit der Menschen als körperliche Gewalt eingeschätzt würden: so zum Beispiel das
Treten eines Kindes, das ins Gesicht Schlagen mit der Faust oder einem Gegenstand, das
Bedrohen mit einer Waffe oder einem Messer, das Beissen, das Zufügen von inneren und
äusseren Verletzungen wie Blutungen, Knochenbrüchen, Verbrennungen oder Hirnerschütterungen. Diese körperlichen Gewaltakte seien bei Eltern oft mit psychischer Gewalt gegen ihre
Kinder gekoppelt.
Dies gilt wohl auch für Akte des Verwahrlosen Lassens, wenn Eltern die nötige Körperpflege,
Bekleidung oder Ernährung eines Kindes vernachlässigen, was ich ebenfalls als physische
Gewalt sehe.
1.1.3. Personale Gewalt in Form psychischer Gewalt
Diese Form ist die vermutlich häufigste, da sie in verschiedenen Intensitätsgraden mit fast
allen anderen Gewaltformen gekoppelt vorkommt; entsprechend schwierig lässt sie sich
abgrenzen. Sie kann als aus ein- oder mehrmaligen Handlungen bestehend aufgefasst werden,
die durch Gleichgültigkeit, Feindseligkeit oder Abweisung gekennzeichnet sind, und die auf
einen Angriff auf die kindliche Entwicklung und Autonomie hinauslaufen. (Kohler, o.J., 12)
Briere (1992, 8-10) versucht eine ostentative3 Definition, indem er acht Verhaltensweisen von
ErzieherInnen oder Eltern beschreibt, die psychische Gewalt darstellten, aber nicht
ausschliesslich in psychischem Missbrauch anzutreffen seien:
Zurückweisung, Abwertung, Terrorisieren, Isolieren von sozialen Kontakten, Korrumpieren
(Kind in antisozialem Verhalten Trainieren, sozial unakzeptable Verhaltensweisen Fördern),
Ausnutzen für eigene Bedürfnisbefriedigung, Mangel an notwendiger emotionaler
Zuwendung und an Stimulation (Vernachlässigung, zu wenig Liebe Schenken) sowie Unzuverlässigkeit/Inkonsistenz der Eltern (ambivalente Forderungen, inkonsistente Unterstützung).
– Diese Liste zeigt, wie schwer eine Einigung zur Definition oder Operationalisierung dieser
Gewaltform fallen muss. Es kann zu einer Diskussionsfrage werden kann, was ein Genug an
Liebe, ein Zuviel an eigener Bedürfnisbefriedigung, etc. ist.
1.1.4. Personale Gewalt in Form emotionaler Vernachlässigung
Dieser Begriff überschneidet sich teils mit der soeben beschriebenen psychischen Gewalt.
Schakels (1987; zit. nach Briere, 1992, 11) Definitionsversuch stellt emotionale Vernachlässigung als einen Akt der Unterlassung dar, der häufig das Resultat von elterlicher Ignoranz
3
Ostentative Definitionen versuchen eine möglichst breite Aufzählung der Inhalte.
15
1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen
und Gleichgültigkeit sei. Das Kind erhalte nicht genügend emotionale Unterstützung und
Stimulation, auch wenn die physische Versorgung durchaus vollständig sein möge. Das Kind
werde zum Bespiel lange allein gelassen, man spreche oder spiele nur selten mit ihm,
ermutige es nicht.
1.1.5. Personale Gewalt in Form sexueller Gewalt
Schliesslich bleibt noch jene Form der Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, auf die diese
Lizentiatsarbeit Bezug nimmt, nämlich die der sexuellen Gewalt. Bevor ich handlungsleitende
Definitionen und mögliche Erscheinungsformen beschreibe, möchte ich ins Auge fassen,
welche Termini dafür in der Fachliteratur verwendet werden, und schliesslich einen für meine
Arbeit passenden wählen.
1.2. Termini für die sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen
In der Literatur begegnete ich folgenden Termini: sexuelle Ausbeutung von Kindern, sexueller
Missbrauch an Mädchen und Jungen, sexuelle Gewalt gegen Kinder, innerfamiliärer
sexueller Missbrauch, Inzest, Seelenmord, etc. Warum eine solche Vielzahl von Begriffen?
Meinen sie alle in etwa dasselbe? Wo unterscheiden sie sich? Eine begriffliche Klärung zu
Beginn einer Arbeit ist zentral. Je nach Zweck derselben braucht man eine strenge Definition,
oder aber man will den Gegenstandsbereich möglichst vollständig abdecken.
Am Häufigsten traf ich auf die Begriffe sexueller Missbrauch (an/von Kindern) oder sexuelle
Gewalt (an/gegen Kinder/n) oder sexuelle Ausbeutung (von Kindern). Diese wurden in der
Literatur recht synonym verwendet. Verschiedene AutorInnen setzen durch ihre bewusste
Begriffswahl aber unterschiedliche Akzente.
Kohler (o.J., 12) meint, der Ausdruck sexuelle Ausbeutung ersetze heute weitgehend den
Begriff sexueller Missbrauch, da das Wort Miss-brauch indiziere, dass es auch einen richtigen
Ge-brauch eines Kindes gebe. Doch ein Gebrauchen eines Menschen sei per se schon ein
Missbrauch. Um dieses missverständliche Wort zu vermeiden, wähle man darum in der
aktuellen Diskussion vermehrt den Begriff Ausbeutung, um den Aspekt des Machtmissbrauchs zum eigenen egoistischen Vorteil und die Unterdrückungsmechanismen hervorzuheben. (siehe auch Limita, 2004)
Hartwig (1992) verwendet die oben genannten drei häufigsten Begriffe an sich synonym:
beim familiären Umfeld spricht sie allerdings eher von Missbrauch; wenn es um die
16
1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen
Handlungsabsicht geht, verwendet sie Ausbeutung, und für die Betonung der gesellschaftlichen Bedingungen benützt sie den Terminus Gewalt.
Kempe und Kempe (1980, 62; 1984; zit. nach Amann & Wipplinger, 1998a, 18) ihrerseits
subsumieren unter sexuellen Missbrauch auch Pädophilie4, Vergewaltigung, Inzest (sexuelle
Handlungen zwischen nahen Verwandten) sowie Exhibitionismus (unerwünschtes, sexuell
motiviertes Entblössen der Geschlechtsorgane vor andern Menschen), Belästigung,
Prostitution und Kinderpornographie. In ihrem Verständnis des Terminus findet man also
bereits die breite Palette an Erscheinungsformen oder Handlungen angedeutet, die in der
sexuellen Gewalt gegen Kinder vorkommen können.
Andere AutorInnen (zum Beispiel Gutjahr & Schrader, 1988) verwenden den Begriff sexueller Missbrauch an Mädchen, um die zumeist weiblichen Opfer hervorzuheben, und „an“
sagen sie zur Betonung der Tatsache, dass die Tat an den Mädchen geschieht, sie nicht
eigenaktiv Männer verführen5.
Wirtz (1989) betont mit ihrer Begriffswahl Seelenmord den Aspekt der Unmenschlichkeit und
der Vernichtung der menschlichen Würde, indem ein Kind nicht mehr so denken und fühlen
kann wie andere Kinder. Die Zerstörung der persönlichen und der sexuellen Identität werden
in den Vordergrund gerückt.
Die Begriffe Inzest und innerfamiliärer sexueller Missbrauch heben im weiter verstandenen
Sinne die Tatsache hervor, dass sexuelle Gewalt gegen Kinder sehr oft im sozialen Nahraum
durch Verwandte, Bekannte und andere Vertrauenspersonen geschieht.
Für diese Arbeit werde ich zumeist den Begriff sexueller Missbrauch (von/an Kindern und
Jugendlichen) verwenden und ihn synonym zu sexueller Gewalt (gegen/an Kinder/n und
Jugendliche/n) und zu sexueller Ausbeutung (von Kindern und Jugendlichen) setzen, weil das
in der Fachliteratur oft so gehandhabt wird. Dennoch soll man die feinen Nuancen im
Hinterkopf behalten.
1.3. Klassifikation von Definitionen
Amann und Wipplinger (1998a, 20-30) klassifizieren Definitionen von sexuellem Missbrauch
einerseits in enge und weite, andererseits in gesellschaftliche, feministische, entwicklungs4
Für die Begriffsklärung von der so genannten „Kinderliebe“ siehe auch Kapitel 2.4.2.
Das häufig in der Öffentlichkeit vertretene Bild der Verführung durch Heranwachsende („Lolita-Phänomen“)
wird im Kapitel 3.1.1. angesprochen werden.
5
17
1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen
psychologische und klinische Definitionen. Gestützt auf diese Autoren werden diese nicht
trennscharf gegeneinander abgegrenzten Definitionsklassen im Folgenden erläutert. Sie setzen
je andere Schwerpunkte und deuten damit verschiedene dahinter liegende Vorannahmen,
theoretische Positionen sowie Erklärungsmodelle für sexuelle Gewalt an. Sie sind oft mit
verschieden gearteten ethischen und emotionalen Haltungen verbunden.
1.3.1. Enge Definitionen
Sie sind präzise formuliert und wollen sexuellen Missbrauch möglichst von anderen
Handlungen abgrenzen. Sie konzentrieren sich auf Handlungen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit beim betroffenen Kind einen Schaden auslösen und sind oft empirischen Forschungsarbeiten zugrunde gelegt, da diese möglichst Nicht-Missbrauchte ausschliessen wollen. Der
sexuelle Missbrauch wird in solchen Definitionen vorwiegend als direkter körperlicher
Kontakt in Form von oralem, analem oder genitalem Geschlechtsverkehr zwischen TäterIn
und Opfer gesehen.
1.3.2. Weite Definitionen
Weite Definitionen versuchen hingegen, sexuellen Missbrauch in seinem gesamten Umfang
zu erfassen, jede geschlechtliche Handlung zu integrieren, also auch obszönes Anreden,
Belästigungen, Exhibitionismus, die Anleitung zur Prostitution und die Herstellung
pornographischen Materials. Es sind somit auch Handlungen ohne direkten Kontakt
eingeschlossen. – Hier angesiedelte Definitionen geben oft ostentativ die möglichen Missbrauchshandlungen wieder. Das Problem dabei ist, dass eine abschliessende Auflistung nicht
möglich ist, dass sie also einer gewissen Willkür unterliegt. Ferner ist an solchen Definitionen
auch schwierig, dass neben der eigentlichen Handlung auch die Handlungsintention der
Täterschaft zentral ist.
1.3.3. Gesellschaftliche Definitionen
Gesellschaftliche Definitionen haben das Machtgefälle zwischen Erwachsenen und Kindern
im Fokus, Autoritäts- und Gewaltstrukturen, die der Erwachsene dem Kind gegenüber zur
Verfügung hat. Es ist ein Vorteil dieser Klasse, dass der Machtmissbrauch miteinbezogen
wird. Es geht um das Machtgefälle, nicht einfach um das Altersgefälle; die gesellschaftlich
bedingte Beziehung zwischen Opfer und TäterIn wird thematisiert. Nur aufgrund dieser
Kriterien allein lässt sich sexueller Missbrauch aber schwer erfassen.
18
1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen
1.3.4. Feministische Definitionen
Feministische Definitionen betonen, dass die Täter(innen) zumeist männlich und die Opfer
meistens weiblich sind. Hier wird der sexuelle Missbrauch als Ausnützung eines männlichen
Macht- und Autoritätsverhältnisses gesehen, als sexualisierte Gewaltanwendung, die in den
patriarchalen Strukturen ihre Wurzeln hat. Das subjektive Erleben des Opfers wird zentral,
was eine objektive Erfassung des Missbrauchsgeschehens aber verunmöglicht. Insofern diese
Klasse ebenfalls auf ein strukturelles Machtgefälle verweist, ist sie den gesellschaftlichen
Definitionen ähnlich. Ein Nachteil ist, dass sie im Extremfall männliche Opfer und weibliche
Täter ausschliesst.
1.3.5. Entwicklungspsychologische Definitionen
Sie berücksichtigen besonders, dass dem Kind entwicklungsbedingt wesentliche kognitive,
emotionale und psychische Fähigkeiten fehlen, um die gesamte Tragweite von sexuellen
Handlungen zu erfassen und ihnen zuzustimmen. Zur informierten Zustimmung gehören auch
Wissen, Freiwilligkeit (ohne Zwang) und Kompetenz, was auch das Wissen des Kindes
darüber mit einschliesst, welchen Handlungen es ausgesetzt sein wird und welche Nachteile
zu erwarten sind. – Nur einige Laientheorien und wenige (zumeist pädophilenfreundliche oder
selber pädophile) Wissenschafter gehen davon aus, dass Kinder in der Lage sind, sexuellen
Kontakten zu Erwachsenen zuzustimmen, und dass sie diese sogar wünschen und forcieren.
Zusätzlich kann eine Verletzung von sozialen Tabus und Verhaltensregeln in einer Familie als
Kriterium für sexuellen Missbrauch dienen. Zum Beispiel mag dem gemeinsamen Baden von
Vater und kleinem Kind in einer aufgeschlossenen Familienatmosphäre eine andere
Bedeutung zukommen als in einer gehemmten. – Entwicklungspsychologische Ansätze
bringen also nicht nur den Entwicklungs- sondern auch einen gesellschaftlich-kulturellen
Aspekt auf der Mesoebene (hier der Ebene der Familie) hinein.
1.3.6. Klinische Definitionen
Eine solche Definition soll für therapeutisches Handeln klinisch brauchbar sein. Es soll
erfahrbar werden, welche Symptome zu erwarten sind, damit man den sexuellen Missbrauch
erkennen und behandeln kann. Die einen ForscherInnen sagen, nur Handlungen, die auch ein
Trauma zur Folge hätten, seien als sexueller Missbrauch zu werten, andere hingegen sind der
Auffassung, gewisse Handlungen innerhalb des sexuellen Missbrauchs führten zu traumati19
1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen
schen Folgen, andere hingegen nicht. – Das Vorhandensein eines Traumas als einziges Kriterium bei der Definition von sexueller Ausbeutung zu sehen ist unbefriedigend, da der Bedeutungsumfang eines Traumas weit über den des sexuellen Missbrauchs hinausgeht. Eine klinische Definition macht nur Sinn, wenn ein Ereignis spezifische Folgen hätte, die als eindeutiger Beleg für erlebte sexuelle Gewalt zu werten wären; doch solcherlei konnte in der bisherigen Forschung nicht nachgewiesen werden. Menschliche Verhaltensweisen und Störungen
sind multikausal verursacht und die Reaktionen individuell verschieden.
1.4. Mögliche Definitionskriterien für den sexuellen Missbrauch an Kindern und
Jugendlichen
Bei Definitionen von sexuellem Missbrauch kann es also um Machtgefälle zwischen den
Geschlechtern einerseits und zwischen Erwachsenen und Kindern andererseits gehen. Ferner
drehen sie sich um den Entwicklungsstand des Kindes und um zu erwartende Folgen. Weitere
wesentliche Kriterien finden sich in der Definition vom Bundesministerium für Jugend,
Familie und Gesundheit (1979, 15; zit. nach Besten, 1995, 14):
„ Sexueller Missbrauch ist jeder nicht zufällige
bewusst oder unbewusste
nicht zwangsläufig physisch, aber immer auch psychisch gewaltsame,
immer nur der Befriedigung der Bedürfnisse von Erwachsenen dienende und durch
Ausnutzung von Macht erwirkte
psychische oder physische
Übergriff auf die sexuelle Sphäre von Kindern, der häufiger in
Familien oder/und Institutionen
als durch Fremde geschieht,
meistens keine Einzeltat ist und zu
physischen und vor allem psychischen
Verletzungen, die oft das ganze weitere Leben negativ beeinflussen, führt, und der
das Wohl und die Rechte
eines Kindes
beeinträchtigt und/oder bedroht,
und von den Kindern selbst am ehesten als Missbrauch erkannt werden kann.“
Aus dieser exemplarischen, sehr umfassenden Definition wird ersichtlich, dass das Alter, die
Altersdifferenz, der Bekanntheitsgrad, die Art, die Intensität, die Häufigkeit und die Folgen
der Handlungen, ferner allfällige physische Gewaltanwendung, die subjektive Einschätzung
des Opfers (sich missbraucht Fühlen, kein wissentliches Einverständnis Geben) und die
Absicht der Täterschaft (Bedürfnisbefriedigung des/der Mächtigeren, Missachtung des
kindlichen Willens) Definitionskriterien für sexuellen Missbrauch sein können. Koch und
Kruck (2000, 3-5) fügen diesen noch den Machtmissbrauch, den Druck zur Geheimhaltung
und kulturelle Hintergründe der Tat hinzu. Besten (1995, 18) verweist auch auf die Relevanz
verschiedener familiärer Regeln und Familienklimas, deren Spannweite erschweren, eine
20
1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen
Grenze zwischen förderlicher, zuwendungsorientierter Zärtlichkeit und ausnutzendem
Kontakt zu setzen. (siehe Tabelle 1 für eine Kriterienübersicht)
Nicht alle Kriterien sind gleich klar oder einfach in eine Definition zu integrieren. Amann und
Wipplinger (1998a, 20) beurteilen die Brauchbarkeit von Kriterien aufgrund ihrer Operationalisierbarkeit. Bei oben genannten gelingt diese nur beim Alter, der Altersdifferenz, dem
Bekanntheitsgrad, der Art und Intensität sowie der Dauer der Handlungen und allenfalls noch
bei der körperlichen Gewaltanwendung. Für die empirische Untersuchung zur Einschätzung
der Anzahl sexueller Missbrauchsfälle zum Beispiel ist es angemessen, eine so hohe
Messlatte zu setzen. Doch für die Arbeit mit den einzelnen Betroffenen oder für die
Primärprävention erscheint mir die Reduktion auf diese wenigen objektiven Kriterien zu
streng. Die Vorbeugung sollte möglichst früh ansetzen.
Doch selbst bei diesen starken Kriterien herrscht keine Einigkeit unter den ForscherInnen: das
Alterskriterium für das Opfer schwankt in Amann und Wipplingers (ebd., 22) Studienreview
zwischen 14 und 18 Jahren, und viele Untersuchungen fordern dort eine Altersdifferenz von
mindestens fünf Jahren, andere eine von drei. Sie soll die Asymmetrie zwischen
Erwachsenem und Kind objektiv festlegbar machen. Damit riskiere man aber viele Fälle von
sexuellem Missbrauch insbesondere durch Gleichaltrige nicht einzubeziehen, die durch
Druck, Zwang oder subtilere Methoden physischer wie psychischer Art (zum Beispiel Lohn
versprechen) gekennzeichnet seien.
Auch bei den „weicheren“ Kriterien gibt es Einiges zu bedenken:
Viele WissenschafterInnen gehen davon aus, dass zwischen Kindern und Erwachsenen ein
strukturelles Machtgefälle vorliegt, da Kinder rechtlich den Erwachsenen unterstellt sind, von
deren Liebe und deren sozialen Fürsorge abhängig sind, und aufgrund ihrer Entwicklungsstufe nicht den gleichen Informationsstand haben. Deshalb sei ein sexueller Kontakt zwischen
zwei ungleichberechtigten PartnerInnen immer als sexueller Missbrauch zu werten. (Bange,
1995b, 32) – Das bedeutet, dass er unabhängig vom Willen des Kindes, von der Intensität der
sexuellen Handlung und davon, ob Gewalt angewendet wurde oder nicht, Missbrauch wäre.
Laut Bange (1992, 53) kann es durchaus auch eine Bewältigungsstrategie des Opfers sein, die
Missbrauchssituation so umzuinterpretieren, als hätte es selbst Einfluss auf die Situation
gehabt, als hätte es die Handlung auch gewollt.
Beim Kriterium der Bedürfnisbefriedigung der Täterschaft gilt es zu beachten, dass es nicht
nur um sexuelle Bedürfnisse geht, sondern auch um narzisstische, die sich auf Macht und
Anerkennung erstrecken, und ebenso um Bedürfnisse nach Nähe und Körperkontakt (Amann
21
1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen
& Wipplinger, 1998a, 24-26). Im Sinne der gesellschaftlichen Definition ist für diese Autoren
klar, dass es keine offensichtliche körperliche Gewalt braucht, da der/die TäterIn immer
seine/ihre Autorität oder Macht einbringt.
Bei der Art der Handlungen wird kontrovers diskutiert, ob auch sexuelle Handlungen ohne
Körperkontakt (zum Beispiel Exhibitionismus) zu sexuellem Missbrauch zählen sollen.
Übereinstimmung herrscht bei den AutorInnen, dass alle sexuellen Handlungen, die durch
Drohungen und körperliche Gewalt erzwungen werden, sexuellen Missbrauch darstellen
(Bange, 1992, 56). Ferner gilt auch Einvernehmen darin, dass es eindeutig Missbrauch ist,
wenn ein Erwachsener gegen den Willen des Kindes eine sexuelle Handlung vornimmt
(Bange, 1995b, 32). Aber hier taucht wie bereits erwähnt die Frage auf, ob ein Kind aufgrund
seiner Entwicklung in der Lage ist, eine solche Handlung in ihren Folgen und ihrer Tragweite
zu beurteilen, und ihr folglich bewusst zuzustimmen oder seinen Willen kundzutun.
Eine visuelle Darstellung der hier diskutierten Kriterien liefert folgende Tabelle:
Tabelle 1:
Übersicht über „objektive“ und „weiche“ Definitionskriterien:
Operationalisierbare, „objektive“
Definitionskriterien:
Alter
Altersdifferenz zwischen Opfer und TäterIn
„Weiche“ Definitionskriterien
strukturelles Machtgefälle zwischen
Geschlechtern
strukturelles Machtgefälle zwischen
erwachsener Person und Kind (geistig, rechtlich,
sozial; entwicklungsbedingter Informations- und
Verstehensunterschied,…)
Dauer der sexuellen Handlungen
Art und Intensität der sexuellen Handlungen
Bekanntheitsgrad zwischen Täterschaft und
Opfer
Eventuell physische Gewaltanwendung
zu erwartende Folgen der Handlungen
Subjektive Einschätzung des Opfers (zum
Beispiel gegen seinen Willen, sich missbraucht fühlen,
kein wissentliches Einverständnis geben (können))
Absicht der Täterschaft (zum Beispiel vielseitige
Bedürfnisbefriedigung)
Machtmissbrauch durch Täterschaft
Druck zur Geheimhaltung
Kulturelle Hintergründe der Tat
familiäre Regeln, Familienklima, -normen
psychische und emotionale
Gewaltanwendung
Im Folgenden werden diese Kriterien in ausgewählte Missbrauchsdefinitionen eingebettet.
Anschliessend möchte ich eine eigene, für diese Arbeit angemessene, umschreibende
Definition konstruieren, die bisher Diskutiertes berücksichtigt.
22
1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen
1.5. Definitionen und Erscheinungsformen von sexuellem Missbrauch an
Kindern und Jugendlichen
1.5.1. Definitionen zum sexuellen Kindesmissbrauch aus der Fachliteratur
Eine mögliche Definition des sexuellen Missbrauchs wurde bereits im Zusammenhang mit
den Definitionskriterien vorgestellt6. Jene Begriffsbeschreibung vom Bundesministerium für
Jugend, Familie und Gesundheit geht mehr auf die Umstände, Ursachen und Folgen ein als
auf die Art sexueller Handlungen oder die Altersdifferenz zwischen TäterIn und Opfer.
In der ostentativen, recht weiten Definition von Carlson (1994, 561; zit. nach Amann &
Wipplinger, 1998a, 23) kommen auch letztere Aspekte zum Tragen. Er versteht unter
sexuellem Missbrauch
„sexuellen Kontakt zwischen einem Kind (gewöhnlich definiert als unter 18 Jahren) und einem
Erwachsenen oder einer Person, die zumindest fünf Jahre älter ist als das Opfer, zum Zweck der
sexuellen Befriedigung des Täters. Der Kontakt schliesst ein: Vergewaltigung,
Geschlechtsverkehr oder Geschlechtskontakt, Oral- oder Oral-Anal-Kontakt, Streicheln,
erzwungene Berührungen des erwachsenen Körpers, Konfrontation mit oder erzwungene
Betrachtung von sexuellen Handlungen ob in der Realität, auf Fotos oder im Film oder die
Verwendung von Kindern zur Herstellung von pornographischem Material“.
Ein solches Begriffsverständnis hat den Vorteil, dass Missbrauchshandlungen recht präzise
umschrieben werden. Allerdings drohen durch die vorgegebene Altersdifferenz und die nur
scheinbar abschliessende Aufzählung von möglichen sexuellen Handlungen unter Umständen
gewisse Übergriffe übergangen zu werden. Die sexuelle Befriedigung der Täterschaft als
Motivation ins Zentrum zu rücken erscheint mir unzureichend, da es laut Amann und
Wipplinger (1998a, 23) auch um Bedürfnisse nach Macht, Anerkennung und Nähe gehen
kann. – Mir erscheint das Alter des Opfers mit 18 Jahren vergleichsweise hoch angesetzt. Es
ist zu überlegen, ob zum Beispiel eine Liebesbeziehung mit Geschlechtsverkehr zwischen
einem 24-jährigen Mann und einer geistig und emotional weit entwickelten Jugendlichen von
gut 17 Jahren in jedem Fall als Missbrauch oder unter Umständen auch als gleichberechtigte
Beziehung zu sehen ist.
Als letzte Fremddefinition soll jene von Engfer (1986, 622) zitiert werden:
„Unter sexuellem Missbrauch versteht man die Beteiligung noch nicht ausgereifter Kinder und
Jugendlicher an sexuellen Aktivitäten, denen sie nicht verantwortlich zustimmen können, weil
sie deren Tragweite noch nicht erfassen. Dabei benutzen bekannte oder verwandte (zumeist
männliche) Erwachsene Kinder zur eigenen sexuellen Stimulation und missbrauchen das
vorhandene Macht- und Kompetenzgefälle. Sexueller Missbrauch umfasst alle möglichen
vaginalen, oralen und analen Praktiken, anzügliche Bemerkungen, Berührungen,
Exhibitionismus, Missbrauch von Kindern zur Herstellung pornographischen Materials, auch die
Anleitung zur Prostitution.“
6
siehe Kapitel 1.4.
23
1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen
Das Spezielle an dieser ostentativen Begriffsklärung ist, dass sie als TäterInnen nur Bekannte
oder Verwandte ins Spiel bringt, nicht aber den Missbrauch durch Fremde. Damit will Engfer
wohl betonen, dass die Übergriffe mehrheitlich durch bekannte TäterInnen erfolgen. Mir ist
an der Nennung dieser Definition insofern gelegen, als hier der unzureichende
Entwicklungsstand des Kindes und das Machtgefälle zwischen TäterIn und Opfer nochmals
aufgegriffen werden. Diese weite Definition hat damit einen entwicklungspsychologischen
Hintergrund, weist aber auch feministische Elemente auf durch ihr Verweisen auf die zumeist
männliche Täterschaft und die Machtkomponente.
1.5.2. Meine Arbeitsdefinition und deren Erläuterung
Der Begriff des sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen soll für diese Arbeit
sowohl gesellschaftliche, feministische wie auch entwicklungspsychologische Aspekte berücksichtigen. Anstelle einer Definition im engeren Sinne möchte ich in einer handlungsleitenden Arbeitsdefinition festhalten, was mir für die vorliegende Arbeit als eine nützliche
Beschreibung
von
Missbrauchsszenarien
(Erscheinungsformen
und
Konstellationen)
erscheint; sie ist ein Konstrukt, in dem ein Problemverhalten auf eine ostentative Weise
abgesteckt wird. Diese Arbeitsdefinition soll dem Zweck der in dieser Arbeit verfolgten
schulischen Primärprävention mit Kindern und Jugendlichen gerecht werden. Beim
Konstruktionsprozess werde ich bausteinartig die verschiedenen – oben besprochenen –
Kriterien einer Definition für meine Arbeit abwägen und zusammensetzen.
Bandbreite der sexuellen Missbrauchshandlungen:
Für die Primärprävention scheint eine Definition dienlich, die ein möglichst breites Spektrum
an potentiell schädigenden sexuellen Erscheinungsformen mit Kindern und Jugendlichen
abdeckt, ohne aber liebevolle, wohlwollende Zärtlichkeit und Fürsorge in Eltern-KindBeziehungen oder aufkeimende Liebe zwischen gleichberechtigten, etwas unterschiedlich
alten Jugendlichen/jungen Erwachsenen zu verunglimpfen. Das Problem soll an der Wurzel
angegangen werden, daher das Gewicht auf eine breite Spannweite sexueller Handlungen.
Als Ausgangslage möchte ich Engfers (1986, 622) vorherige Aufzählung von (auch indirekt)
sexuellen Handlungen nehmen: “(...) alle möglichen vaginalen, oralen und analen Praktiken,
anzügliche Bemerkungen, Berührungen, Exhibitionismus, Missbrauch von Kindern zur
Herstellung pornographischen Materials, auch die Anleitung zur Prostitution.“ Hierzu möchte
ich einige Ergänzungen anbringen:
24
1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen
Auszuformulieren wären die Berührungen: das Kind kann von der Täterschaft (auch ohne
Worte) veranlasst, aufgefordert oder gezwungen werden, sie im Genitalbereich zu berühren,
ihr einen Zungenkuss zu geben; andererseits kann der/die TäterIn das Kind an intimen Orten
anfassen oder den Kindskörper mit seinen/ihren Genitalien berühren. – Was in der Literatur
vielfach umstritten ist, ist die Frage der anzüglichen oder sexistischen Bemerkungen. Selbst
wenn sie nicht eindeutig als sexueller Missbrauch zu definieren sind, so sind sie doch
unerwünscht, und insofern sind sie in meinem vorbeugungsbezogenen Verständnis mit zu
berücksichtigen. – Eine weitere hinzuzufügende Erscheinungsform von sexuellem Missbrauch ist ferner die Masturbation, die der/die mächtigere TäterIn vor dem Kind vornimmt
oder vom Kind am kindlichen Körper zu tun verlangt, weil dies ebenfalls ausbeuterisch auf
die momentane Bestätigung der Täterschaft gerichtet ist.
Als kritische Verhaltensweisen möchte ich die folgenden sehen, da sie laut Saller (1987, 29f;
zit. nach Besten, 1995, 19) im Nachhinein häufig als Beginn sexueller Ausbeutung erkannt
werden: der/die Erwachsene möchte den Kindskörper „begutachten“, beobachtet das Kind
beim Duschen und Ausziehen, macht Hilfsangebote dazu, klärt es in einer unangemessen Art
über Sexualität auf, die nicht dem kindlichen Interesse entspricht, sondern dem
exhibitionistischen oder voyeuristischen Interesse des/der Älteren. Die Grenzziehung
zwischen notwendigem und förderlichem zärtlichem Kontakt und Missbrauch ist Besten
(1995, 18) zufolge schwierig, da das Familienklima, die Regeln in der Familie und die
Absichten der Personen dabei eine wesentliche Bedeutung spielen. – Ebenso ein Faktor ist der
kulturelle Hintergrund: was in der einen Kultur als klar missbräuchlich angeschaut wird, kann
in einer andern natürlicherweise und traditionsgemäss auftreten. Die vorliegenden
Ausführungen beziehen sich insofern auf westeuropäische Länder und Menschen mit einem
ähnlichen kulturellen Hintergrund wie die Schweiz.
Kommerzielle Ausbeutung (Anleitung zu Prostitution und Produktion pornographischer
Aufnahmen): ich möchte diese Form der Ausbeutung klar auch dem sexuellen Missbrauch
zuordnen. Allerdings ist anzunehmen, dass hier teils andere Mechanismen spielen, da es um
ZwischenhändlerInnen, um materiellen Gewinn und um Armut geht, um zuweilen im grossen
Stil organisierte kriminelle Organisationen, die mit enormer Brutalität vorgehen. Die im
Primärpräventionsteil beschriebene Stärkung von Kindern kann hier wohl wenig ausrichten.
Die Arbeit mit Kindern wird sich deshalb eher auf die andern erwähnten Missbrauchshandlungen beziehen.
25
1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen
Altersdifferenz:
Im Kontext der Primärprävention scheint mir die Altersdifferenz zwischen Täterschaft und
Opfer an sich nicht zentral: bei Kindern und Jugendlichen sollen generell schlechte Gefühle,
Schmerzen und allfällige Schädigungen aufgrund sexueller Nähe verhindert werden. Dabei
kann der/die TäterIn (sogar bei jugendlichen Opfern) auch jugendlich sein, sich aber zum
Beispiel aufgrund seiner/ihrer Körperkraft, seiner/ihrer Grösse oder seines/ihres Wissensvorsprungs mächtiger fühlen und das bewusst einsetzen. Wichtig erscheint mir also ein
materielles, emotionales, geistiges, soziales oder/und körperliches Machtgefälle oder
Abhängigkeitsverhältnis (sei es zum Beispiel zwischen Mann und Frau, erwachsener Person
und Kind oder behinderter und nicht-behinderter Person), innerhalb dessen die Täterschaft das
Opfer zu ihrer eigenen Bedürfnisbefriedigung (Anerkennung, Nähe, Macht, sexuelle Lust)
benutzt, und das Opfer den Handlungen nicht willentlich zustimmen beziehungsweise die
Lage in ihrer Tragweite nicht beurteilen kann. Bei gleichberechtigten minderjährigen
Gleichaltrigen ist die Grenze zwischen kindlicher Neugierde und Missbrauch allerdings
schwierig zu ziehen. Deswegen betont Bange (1992, 55), dass bei ihnen die Kriterien wider
Willen beziehungsweise physische oder/und psychische Gewaltanwendung besonderes
Gewicht bekommen.
In dieser Arbeit werde ich vorwiegend die erwachsene Täterschaft ansprechen, obwohl es
auch jugendliche TäterInnen gibt, und offenbar etliche Männer als Jugendliche mit ihren
ersten Übergriffen begonnen haben (siehe Deegener, 1986). Ich erlaube mir diese Vereinfachung, um das Machtgefälle gegenüber dem Opfer hervorzuheben. Es erscheint mir auch
insofern legitim, als TäterInnen offenbar mehrheitlich erwachsen sind und über sie viel mehr
bekannt ist als über jugendliche SexualtäterInnen, zu denen Forschung noch recht spärlich ist.
Laut Meyer-Deters (2003, 96) ist diese mangelnde Aufmerksamkeit gegenüber der jugendlichen Täterschaft unter anderem auf die Opferorientierung der Hilfe für Heranwachsende
zurückzuführen. Dass Täter- und Opferarbeit je eine Seite der Sexualgewalt seien, setze sich
fachlich und politisch erst langsam durch. – Auch die Vorbeugungsliteratur orientiert sich
entsprechend zumeist an erwachsenen Missbrauchern. Ich nehme an, dass wesentliche Inhalte
der Lizentiatsarbeit (Missbrauchsstrategien, Inhalte der Primärprävention, etc.) auch bei der
jugendlichen Täterschaft Anwendung finden könnten, wenn auch nicht in einem 1:1Verhältnis. So hält zum Beispiel Meyer-Deters (ebd., 82-96) fest, dass eine Beratungsstelle
für jugendliche Missbraucher ähnliche Missbrauchsformen, Annäherungsstrategien ans Opfer,
Opferauswahl und Beweggründe für die Tat antraf.
26
1. Praxisleitende Definitionen von (sexueller) Gewalt an Kindern und Jugendlichen
Altersgrenze der Opfer (respektive AdressatInnen der schulischen Primärprävention):
Die in dieser Arbeit behandelte schulische Primärprävention bewegt sich innerhalb der
obligatorischen Schulzeit (Primar- und Sekundarstufe I), richtet sich also an Kinder und
Jugendliche bis rund 16 Jahre. Der Entwicklungsstand innerhalb einer Alterskategorie kann
stark variieren. Insofern erachte ich es als kritisch, eine Altersgrenze für kindliche und
jugendliche Opfer festzulegen. Das subjektive Empfinden (zum Beispiel von Ekel, Angst,
Scham, Ohnmacht, Nicht-Wollen) während einer sexuellen Handlung und deren (Nicht-)Verstehen empfinde ich deshalb als wichtige ergänzende Kriterien zum rein physischen Alter,
sowohl beim Opfer wie bei der Täterschaft.
Bekanntheitsgrad und Geschlecht der Täterschaft:
Ich möchte sowohl bekannte wie fremde TäterInnen in meine Arbeitsdefinition aufnehmen,
und bei Opfern wie TäterInnen sowohl männliche als auch weibliche Personen mit
einbeziehen. Die weibliche Täterschaft ist noch weniger erforscht und es fragt sich, ob und
inwiefern ihre Strategien von denen der Männer divergieren und ob Vorbeugungsstrategien
verändert werden müssten, um Kinder gegen weibliche Übergriffe zu stärken. Die Fachliteratur zur Primärpräventionsarbeit unterscheidet inhaltlich kaum nach dem Geschlecht der
Täterschaft beziehungsweise geht meistens von einer männlichen Täterschaft aus. Wo sich
Kapitel dieser Arbeit spezifisch auf Bekannte oder Fremde, auf Männer oder Frauen als
TäterInnen beziehen, werden sich entsprechende Hinweise dazu finden.
2. POTENTIELLE OPFER, TÄTERSCHAFT UND TÄTERSTRATEGIEN
Dieses Kapitel will einerseits einen kleinen Einblick in Schätzwerte zur sexuellen Ausbeutung
in westlichen Gesellschaften geben, andererseits soll diskutiert werden, ob gewisse Kinder
besonders gefährdet sind, Opfer zu werden. Ebenfalls will ich als Teilantwort auf die
Forschungsunterfragen a) Forschungsergebnisse dazu darstellen, wer die TäterInnen sind, was
sie motiviert7 und wie sie beim Missbrauchsgeschehen vorgehen. Um diese Dynamik zu
unterbrechen, ist für die (Primär-)Prävention solcherlei Wissen zentral. Ferner soll auch die
Rolle von Müttern im innerfamiliären Missbrauch zur Sprache kommen, da sie zentrale
Kooperationspartnerinnen für den Schutz der Kinder sind.
7
Ursachen beziehungsweise Erklärungsmodelle werden im 3. Kapitel vertieft.
27
2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien
2.1. Vermutete Häufigkeit von sexuellem Kindesmissbrauch
Aufgrund der bisherigen Ausführungen liegt auf der Hand, dass mit unterschiedlichen
Definitionen des Missbrauchs auch eine unterschiedliche Prävalenz einhergeht. Ferner
beeinflussen auch die untersuchten Einheiten (klinische versus nicht-klinische Samples,
Grösse der Stichproben) und die angewandten Untersuchungsmethoden die Angaben zur
Häufigkeit. Es ist von grossen Dunkelziffern auszugehen, da es nach wie vor ein sensibles,
tabuisiertes Gebiet ist. Verschiedene AutorInnen kommen denn auch zu teils recht unterschiedlichen Resultaten in ihren Studien. Für die vorliegende Arbeit sind absolute Zahlen
nicht so zentral, da es wünschenswert wäre, jeglichen Missbrauch zu verhindern. Dennoch
kann ein kurzer Einblick hilfreich sein, die Dimensionen des Missbrauchs in etwa zu erahnen
und die Notwendigkeit des Kindesschutzes nachzuvollziehen, wenn die Zahlen auch aus
genannten Gründen mit Vorsicht zu geniessen sind.
Internationale Vergleichsstudien lassen vermuten, dass circa jedes vierte Mädchen und jeder
zwölfte Junge sexuell missbraucht wird (Bange, 1992, 86). Ferner scheinen 60-70 Prozent der
Missbrauchsfälle einmalige Übergriffe zu sein, wobei Missbrauch durch Fremde per
Definition nur einmalig sein kann. Innerhalb der Familie kommt Ausbeutung offenbar
wiederholt vor und zieht sich über Monate bis Jahre hin. (ebd., 32f)
Schätzungsweise ein Drittel der Handlungen besteht aufgrund Banges Studienanalyse (ebd.)
in oraler/analer/vaginaler Vergewaltigung, ein Drittel in genitaler Manipulation und ein
Drittel in Zungenküssen/Brustberührungen. Das Durchschnittalter der Opfer betrage zehn bis
elf Jahre, es seien aber Säuglinge bis circa 16-Jährige betroffen. – Ich möchte hervorheben,
dass in einigen der von Bange analysierten Studien nur sexuelle Übergriffe mit direktem
Körperkontakt zwischen Täterschaft und Opfer berücksichtigt wurden. Möglicherweise fallen
deshalb exhibitionistische Handlungen oder die Benutzung von Kindern zur Herstellung
pornographischen Materials nicht ins Gewicht. Aus der breiten Streuung des Alters kann man
ausserdem schliessen, dass das Durchschnittsalter sehr wenig aussagt. Koch und Kruck (2000,
20) meinen denn auch, Verallgemeinerungen seien zu vermeiden. Kinder im Grundschulalter
seien zwar am Meisten betroffen, aber der sexuelle Missbrauch ziehe sich dennoch über alle
Altersgruppen hinweg.
2.2. Gibt es das „typische“ Opfer?
Bange (1992, 117, 125-131) kommt zum Fazit, dass es keinen Zusammenhang zwischen
Schichtzugehörigkeit und sexuellem Missbrauch gibt. Obwohl grundsätzlich jedes Kind Opfer
28
2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien
werden könne, scheine hingegen ein belastetes Familienklima das Risiko von innerfamiliärem
Missbrauch zu erhöhen. Denn zerbrochene Familien würden das Stresspotential der Kinder
und deren Unsicherheit erhöhen, was das Bedürfnis nach Nähe fördere. Diese Anfälligkeit
werde von TäterInnen bewusst ausgenutzt, um eine Vertrauensbeziehung herzustellen.
Koch und Kruck (2000, 20) nennen als besonders gefährdet isolierte, extrem angepasste und
unterwürfige Kinder aus strengen Familien mit wenig Bezugspersonen und FreundInnen.
Auch In Abweichung zu Bange schreibt Richter-Appelt (1998, 203), dass sexueller
Missbrauch nicht zufällig auf verschiedene Bevölkerungsgruppen verteilt vorkomme, auch
wenn das in der Literatur ab und zu behauptet werde. Körperliche Misshandlungen kämen in
unteren sozialen Schichten gehäuft vor, und da es empirisch erhärtet sei, dass sexueller
Missbrauch häufig kombiniert mit seelischer und/oder körperlicher Misshandlung sowie Vernachlässigung vorkomme, sei in unteren Schichten auch mit einer höheren Anzahl sexueller
Ausbeutung zu rechnen.
Einig geht sie mit Bange darin, dass innerfamiliärer sexueller Missbrauch vor allem in gestörten oder problematischen Familienkonstellationen vorkomme. Darunter versteht sie zum Beispiel sozial isolierte Familien, die Abwesenheit der Eltern ohne Ersatzperson, körperlich
und/oder psychisch beeinträchtigte Eltern oder Eltern mit Partnerschaftsproblemen, aber auch
Eltern mit einer lieblosen und emotional distanzierten Beziehung zum Kind. Auch eine
längere Abwesenheit eines Elternteils während der Kindheit oder die Anwesenheit eines
Stiefvaters scheinen Risikofaktoren. (ebd.)
Kinzl (1998, 142) hält vorsichtiger fest, dass bei sexuell Missbrauchten viele unterschiedliche
dysfunktionale Familienstrukturen gefunden wurden, dass aber nach heutigen Erkenntnissen
nicht gesagt werden könne, ob gewisse spezifische Familienstörungen das Risiko für sexuellen
Missbrauch und die Gefahr lang anhaltender psychosexueller Störungen erhöhten. Gestörte
Familienstrukturen würden aber sowohl inner- wie ausserfamiliären sexuellen Missbrauch
begünstigen.
2.3. Statistische Schätzwerte der Zusammensetzung der Täterschaft
Hartnäckig hält sich in der Öffentlichkeit auch heute noch oft das Bild des älteren, sozial
isolierten, fremden und geistig kranken Kinderschänders, der sich auf Spielplätzen und
einsamen Wegen herumtreibt, um hilflose Kinder zu verführen und ihnen Gewalt anzutun.
Ein Festhalten an dieser Sicht würde in der Präventionsarbeit und auch in Erklärungsmodellen
29
2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien
zu sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen auf Irrwege führen. Seit den 80er-Jahren ist
dieses Stereotyp zumindest in der Fachliteratur am Abbröckeln.
Internationale Dunkelfeldstudien zeigen, dass nur schätzungsweise ein Fünftel der Missbrauchsfälle durch Fremde erfolgt (Bange, 1992, 32-37).
Tabelle 2:
Bekanntheitsgrad der Täterschaft bei Mädchen respektive Jungen (in %)
Geschlecht des Opfers→
Täterschaft ↓
Fremde
Bekannte und Freunde
Verwandte (inkl. Stiefeltern)
Mädchen
Jungen
15-25
45-50
25-35
35
50-55
10-20
Wie in Tabelle 2 ersichtlich, fand Bange für Mädchen eine recht grosse Betroffenheit durch
das nahe soziale Umfeld (Verwandte) und bei Jungen eine grössere Gefahr des Missbrauchs
durch Fremde als bei Mädchen. Bei beiden Geschlechtern ist das Risiko, durch Bekannte
(zum Beispiel FreundInnen der Familie, NachbarInnen, TrainerInnen, LehrerInnen oder
JugendgruppenleiterInnen) missbraucht zu werden, am Grössten, wobei laut aktuelleren
Studien bei Jungen diese Tendenz stärker zutrifft (vgl. Bange, 2002, 679ff; zit. nach Elmer,
2004, 16). – Dunkelfeldstudien sind nur Schätzungen, doch zieht man sie beispielsweise der
Verzeigungsquote bei der Polizei/Justiz vor. Letztere dürfte bei Übergriffen durch FremdtäterInnen im Verhältnis zum absoluten Vorkommen wohl höher sein als bei Taten durch
Bekannte, bei denen sich Opfer noch schwerer tun, darüber zu reden oder gar Anzeige zu
erstatten.
Das Durchschnittsalter der (zumeist männlichen) Täter war in diesen von Bange (1992, 3237) analysierten Studien 30 Jahre, wobei zahlreiche noch Jugendliche waren und mit dem
Missbrauch oftmals schon vor dem 16. Altersjahr begonnen hatten. Heiliger (1996, 207)
betont ebenfalls, dass viele Missbraucher schon im Kindes- oder Jugendalter andere Kinder
und Jugendliche – oft unentdeckt – sexuell zu missbrauchen begännen. Der Einfluss auf eine
allfällige spätere „Täterkarriere“ werde unterschätzt. Trotz spärlicher Forschung zur
jugendlichen Täterschaft geht man international davon aus, dass 20-25 Prozent der
Vergewaltigungen und 30-40 Prozent der sexuellen Missbrauchshandlungen durch (männliche) Heranwachsende begangen werden (Deegener, 1998, 61). Ferner muss laut diesem
Autor angenommen werden, dass 30-50 Prozent der erwachsenen Sexualtäter bereits im
Jugendalter sexuell deviante Interessen oder Handlungen aufwiesen. Ausserdem sei bei
Tätern, die sehr früh begonnen hätten, das Risiko hoher Opferzahlen gross.
30
2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien
Die TäterInnen scheinen bei weiblichen Opfern zu etwa 95 Prozent männlich zu sein, bei
männlichen Opfern zu etwa 85 Prozent (Marquardt-Mau, 1995, 37). Auch bei Täterinnen sind
die Opfer eher weiblich (Kavemann, 1996, 253). – Es ist von einer recht hohen Dunkelziffer
bei männlichen Opfern und Täterinnen auszugehen, weil von Opfern darüber noch weniger
offen berichtet wird als es ohnehin bei diesem tabuisierten, mit Scham verbundenen Thema
der Fall ist. Die männliche Sozialisation lässt die sexuelle Opferrolle eigentlich gar nicht zu,
weshalb es vermutlich Jungen noch schwerer fällt als Mädchen, eine solche Grenzverletzung
anzuerkennen oder gar zur Sprache zu bringen.
2.4. Aspekte der Täterpersönlichkeit
2.4.1. Gibt es den „typischen“ Täter?8
Täter sind selten „abartige Triebtäter“, sondern im Allgemeinen eher unauffällige Menschen,
die sozial integriert sind, häufig gute Posten bekleiden und sich oft für die Allgemeinheit oder
für Jugendanliegen engagieren (Koch & Kruck, 2000, 12). Es gibt offenbar keine einheitliche
Täterpersönlichkeit, und die Täter können nicht als pathologische Sondergruppe begriffen
werden (Heiliger, 1996, 203f). Es handle sich weder um Menschen mit spezieller sozialer
Herkunft noch um psychisch oder in ihrem Sozialverhalten auffällige Menschen. Im
Gegenteil verpflichteten sie sich oft ausgesprochen bürgerlichen Werten, da das den
wirksamsten Schutz vor Entdeckung gewähre.
Seit die Erkenntnis aufkam, dass sexuelle Gewalt vielfach im sozialen Umfeld vorkommt,
wird sie irrtümlich immer wieder im Wesentlichen als Beziehungsdelikt dargestellt. Diese
Sichtweise impliziert, dass das Delikt aus einer Beziehungsdynamik entsteht, an der das Opfer
und der Täter gleichermassen beteiligt sind. Dabei ist es vielmehr so, dass im sozialen
Nahbereich der Schutz von Frauen und Kindern am Kleinsten und der Zugriff am Einfachsten
ist. Die Unterstellung einer Mitschuld oder gar Provokation führt am Ehesten zum Dulden
und Schweigen der Opfer. (ebd.)
Heiliger (ebd., 205f) betont, dass Versuche, für die Rückfallprävention Täterprofile zu
erstellen, daran scheitern, dass es eindeutige Hinweise auf gesellschaftsstrukturelle Faktoren
der Verursachung von sexueller Gewalt gebe. Ferner liessen sich solche Profile nicht
verallgemeinern, da sie zumeist von der gefassten und/oder verurteilten Täterschaft abgeleitet
8
Dieses Unterkapitel bezieht sich auf Forschungen zu männlichen Tätern.
31
2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien
würden. Derart gefundene Charakteristika liessen höchstens Schlussfolgerungen zu, warum
jemand gefasst worden sei, nicht aber, warum jemand die Tat begangen habe.
Von gefassten Tätern kommen laut Heiliger (ebd.) regelmässig stereotype Rechtfertigungen
und konstruierte Lügengebäude. Indem diese Selbstentlastungs-Strategien bei Gericht oder
selbst in wissenschaftlichen Arbeiten als Wahrheit reproduziert würden, würden folgende
Mythen über die Tätermotive aufrechterhalten:
-
sexueller Notstand, da man durch Erwachsene zu wenig befriedigt werde
-
starker Geschlechtstrieb, der erfüllt werden wolle
-
Persönlichkeits- oder geistige Störungen
-
starke „Liebe“ zum Kind (bei Pädophilen)
-
Familienprobleme, berufliche Überanspannung, eigene schwierige Kindheit oder
eigene Opfererfahrung
-
Verführung durch das Kind
Solche Aussagen sollen Mitleid erregen, von der eigenen Verantwortung ablenken und Schuld
andern Personen oder Umständen zuweisen. Selbst die häufig zitierte schwierige Kindheit
oder eine eigene sexuelle Opfererfahrung sieht Heiliger (ebd., 206f) als Strategien zur
Entlastung von Verantwortung, da die Fachliteratur dennoch den Schluss zulasse, dass die
Täter relativ selten auch Opfer sexueller Gewalt waren. Es gehe wohl eher darum, den
Widerspruch zwischen dem patriarchalen Männlichkeitsbild und der eigenen Selbstwahrnehmung als relativ machtlos, ängstlich und unsicher durch sexuelle Gewalt zu kompensieren.
Man dürfe dabei nicht den Aspekt des massiven Gewalthandelns und des Herrschaftsbedürfnisses ignorieren. – Im Gegensatz zu Heiligers Schlussfolgerung vertreten verschiedene
andere AutorInnen die Ansicht, dass die eigene Opfererfahrung (zumal von körperlicher
Gewalt) bei Tätern recht häufig der Fall zu sein scheint (zum Beispiel Besten, 1995;
Deegener, 1998).
Das Motiv der „Liebe“ zum Kind wird vor allem von pädophilen Tätern ins Feld geführt.
Denn lange nicht jeder Mann, der sich sexuell an einem Kind vergreift, muss auch pädophil
sein. Täter missbrauchen Kinder meist nicht darum, weil sie sich von kindlichen Körpern und
der kindlichen Sexualität besonders angezogen fühlen, sondern scheinbar zum Beispiel aus
Gründen der Macht, aus einem Herrschaftsbedürfnis heraus oder aufgrund der Wahrnehmung
ihrer eigenen Unzulänglichkeit. Der Untergruppe der pädophilen Sexualtäter soll deshalb ein
eigenes Unterkapitel gewidmet werden.
32
2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien
2.4.2. Der „Spezialfall“ der pädophilen Täter
Pädophile zeichnen sich durch (sexuelle) Neigungen zu Kindern und Jugendlichen beiderlei
Geschlechts aus und verfügen über eine starke Lobby und ihre eigenen – oftmals ebenfalls
pädophilen – Wissenschafter, die sehr kontroverse Diskussionen unter Fachleuten
provozieren. Enders (1996, 220f) hält fest, dass für Pädophilie grundsätzlich Männer wie
Frauen als TäterInnen und hetero- wie homosexuelle Kontakte infrage kämen, dass sie aber
oft als Form männlicher Homosexualität dargestellt werde. Für homosexuelle Pädophilie von
Männern gebe es aber einen eigenen Fachbegriff, nämlich Päderastie.
Ich stiess in der Literatur auf keine Angaben, wie viele der kindesmissbrauchenden TäterInnen schätzungsweise pädophil sind. Ferner weiss man über pädophile Frauen fast nichts, deshalb, und weil sie den deutlich kleineren Teil der Pädophilen ausmachen, bezieht sich folgendes Porträt auf männliche Täter.
„Rein“ Pädophile, die ihre Sexualität ausschliesslich auf Kinder ausrichten, scheinen eher
selten vorzukommen. Laut dem Hochschuldozenten Lautmann (1994, 40ff, 121) taucht bei
vielen Pädophilen die Neigung in Kombination mit heterosexuellen Wünschen auf, und selbst
Päderasten fühlen sich offenbar nicht selten auch zu (erwachsenen) Frauen hingezogen.
Päderasten schienen sich, wenn sie mit Erwachsenen vorlieb nehmen müssten, eher an Frauen
als an Männern zu orientieren.
Pädophile stellen sich selbst als Lehrmeister und Pädagogen dar, die Jungen durch die
Sexualität die Liebe lehren, und den Mädchen helfen, durch die Liebe zur Sexualität zu
kommen (Brongersma, 1991; zit. nach Enders, 1996, 223). Sie argumentieren, dass Kinder
gleichberechtigte SexualpartnerInnen von Erwachsenen seien und sich frei für sexuelle
Kontakte entscheiden können (Enders, 1996, 225). – Dieser Meinung stimmt in der
Fachliteratur kaum jemand zu, zumal Studien zahlreiche Schädigungen entdeckt haben, die
Jugendliche und Kinder im Zusammenhang mit einer solchen sexuellen „Beziehung“ oftmals
davontragen. Nicht zuletzt gibt es auch sehr viele Fallbeispiele und Berichte von Opfern, die
klar gegen diese Annahme sprechen. Das ist mit ein Grund, warum einige AutorInnen
vermeiden, von Pädophilen zu sprechen, da diese Endung Liebe zu den Kindern suggeriert,
wo es aber um Macht und Gewalt geht; so findet man in einigen Werken stattdessen den
Begriff Pädosexuelle (zum Beispiel bei Limita, 2004).
Sogar einige pädophile Täter gestehen ein, dass den Kindern weder der Körper noch die
Erregung noch der Orgasmus des Erwachsenen viel bedeuten, und dass sie den Samenerguss
sogar bisweilen als eklig erleben (Lautmann, 1994, 90). Obwohl Lautmann (ebd., 48-53)
33
2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien
einräumt, dass die sexuelle Kommunikation am Anfang nur eindimensional vom Älteren aus
verlaufe, und dass das Empfinden des Kindes gänzlich von dem des Erwachsenen abweiche,
kommt er doch zur Ansicht, dass Pädophile Kinder immer als Subjekte (nicht als Objekte)
sähen und ihre eigenen sexuellen Bedürfnisse auf die Kinderwünsche einstellten.
Professor Kentler (1994, 145-151) vom Lehrstuhl Sozialpädagogik an der Universität Hannover hält zwar das Verbot sexuell-genitaler Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen
in unserer heutigen Gesellschaft für angebracht, doch bestreitet er den schädigenden Effekt
für verschiedene Konstellationen. Er schreibt, dass echte Pädophile hochsensibel seien gegen
Schädigungen von Kindern. Sexuelle Kontakte zu Kindern könnten gewaltfrei gestaltet werden, wenn sich der Erwachsene kindlich verhalte. Dies könne er nur, wenn er längere Zeit
keinen erwachsenen Partner zur Verfügung gehabt habe oder gar nicht erst in der Lage sei,
einem Erwachsenen gerecht zu werden, und deshalb auf Kinder als Sexualobjekte angewiesen
sei. Kentler (ebd.) gesteht zwar ein, dass Kinder die sexuelle Erregtheit und bestimmte
sexualisierende Äusserungen des Erwachsenen und die allmähliche Erotisierung einer Situation nicht erkennen würden, hält aber Pädophilie im Allgemeinen für eine so differenziert
ausgeformte Perversion, dass das Kind bei erfahrenen Pädophilen, die ihre Neigung zu
Kindern integriert und bejaht hätten, vor Schädigung bewahrt sei. Gewalttaten seien echten
Pädophilen fremd, es sei meist nur strukturelle Gewalt im Spiel und Schädigungen entstünden
allenfalls sekundär, weil Kinder solche Beziehungen verbergen müssten und allfällige
Verhöre sie schädigten.
In Fällen von Päderastie9 handelt es sich seiner Meinung nach nur in Einzelfällen um
sexuellen Missbrauch, nämlich bei päderastischen „Anfängern“, die Jungen mit Geschenken
verwöhnen oder die Notlage des Jungen ausnutzen; doch selbst diese Gewalttaten führten
nicht zwingend zu einer Persönlichkeitsschädigung. Wenn sie in einer sozial verpflichtenden
Beziehung stattfänden, und die Umwelt sie nicht diskriminiere, wirkten sie sich sogar positiv
aus. Bei Beziehungen zu Jugendlichen fände meistens nicht einmal strukturelle Gewalt statt,
um sexuelle Kontakte herzustellen. Viele Jungen würden eine homosexuelle Übergangsphase
durchmachen und das Probieren, auch mit älteren Männern, geniessen. Ab dem 12.-14.
Lebensjahr könne von einverständlichen sexuellen Beziehungen zwischen Erwachsenen und
Heranwachsenden gesprochen werden. – Seine These ist, dass nicht die erotische oder
sexuelle Beziehung zu einem Erwachsenen das Kind schädige, sondern die Überforderung
9
Darunter versteht Kentler auf männliche Jugendliche festgelegte Männer (in seltenen Fällen auch Frauen); als
echt Pädophile bezeichnet er auf vorpubertäre Kinder fixierte Männer und Frauen, die ihre sexuelle Festlegung
akzeptieren und leben.
34
2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien
durch die Bindungsansprüche, das Nicht-Loslassen-Wollen, die Wut und Frustration des
Erwachsenen über die Ablösung des Kinds. (ebd.)
Wenn man die entwicklungspsychologischen Erkenntnisse über die kindliche Sexualität
berücksichtigt10, und sich die zahlreichen Forschungsresultate zu Missbrauchsfolgen sowie
die praktische Erfahrung in der Opferarbeit vor Augen hält, wird man zum Schluss kommen,
dass diese pädophilenfreundliche Ansicht Kindern und ihrer Sexualität nicht gerecht werden
kann, obwohl ihnen eine eigene Sexualität zugestanden werden kann; allerdings scheint sie
sich grundlegend von derjenigen Erwachsener zu unterscheiden. Gerade langfristige sexuelle
Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern erhöhen offenbar das Risiko tief greifender
schädigender Folgen11. Je mehr der Täter eine Vaterfigur, ein Vertrauter des Kindes ist, umso
tiefer wird der Vertrauensbruch vom Opfer erlebt, selbst wenn der Übergriff ohne körperliche
Gewalt stattfand.
Die Vorgehensweise der Missbrauchenden kommt bei pädophilen Tätern besonders zur
Geltung, da sie sich sehr geschickt in kindliche Lebenszusammenhänge hineinschleusen
können und den Vertrauensaufbau sukzessive angehen, bevor sie dann mit dem eigentlichen
Missbrauch beginnen. Da die Strategien Pädophiler mit denen anderer Täter vergleichbar
scheinen, sollen sie zusammen im Kapitel 2.5.1. abgehandelt werden.
2.4.3. Frauen als Täterinnen
Der Diskurs über weibliche Missbrauchende findet sich vor allem in der deutschsprachigen
Fachliteratur oder in der Presse selten. Sie kommen eher als Mittäterinnen zur Sprache, also
zum Beispiel als Mütter, die stillschweigend den Missbrauch ihrer Töchter durch ihre Männer
dulden, miterleben oder bewusst die Augen davor verschliessen. Die Gründe für das zögerliche Diskutieren der weiblichen Täterschaft sieht Kavemann (1996, 247) darin, dass vor
allem Feministinnen sexuelle Gewalt primär als eine männliche Tat auffassen, und dass sie
sich durch solche Diskussionen in ihrer feministischen Arbeit und ihrer Patriarchatskritik, die
im engeren Sinne verstanden eine Kritik an der Frauenunterdrückung ist, angegriffen fühlen.
– Es muss aber klar sein, dass in der Frage des Kindesmissbrauchs die schwächsten Glieder
der Gesellschaft, nämlich die Kinder selbst, des Schutzes bedürfen, und man deshalb auch
nicht aus eigenen Interessen Tatsachen verschleiern und Diskurse verhindern darf.
10
11
siehe Kapitel 1.3.5.
siehe auch viertes Kapitel
35
2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien
Eine grosse Mehrheit der kindesmissbrauchenden Täter sind Männer, schätzungsweise 90
Prozent. Das hat aber nichts damit zu tun, dass Frauen einen friedlicheren oder moralisch
höher stehenden Charakter hätten, sondern das verweist auf die Macht- und Gewaltstrukturen
in unserer Gesellschaft. Die weibliche respektive männliche Sozialisation ermöglicht unterschiedliche Zugänge zu Aggressionen und Gewalt: die Sexualisierung von Gewalt bietet sich
vor allem für Männer an, um ihre Männlichkeit zu etablieren, Schwächen und Kränkungen zu
kompensieren. Für Frauen liegt in der sexualisierten Gewalt nicht die Möglichkeit, sich ihrer
Weiblichkeit zu versichern, im Gegenteil. Die vorhandenen Sexualitäts- und Geschlechterrollenkonzepte bei Frauen verhindern grösstenteils, dass Frauen ihre Gewalttätigkeit in
sexueller Form ausleben. (ebd., 248)
Kavemann (ebd., 249f) verweist auf ein breiteres Verständnis der Patriarchatskritik: man soll
berücksichtigen, dass jede Person gleichzeitig Mitglied verschiedener sozialer Gruppen ist.
Eine Frau kann gleichzeitig auch Erwachsene und Weisse sein. So ist sie zwar im Verhältnis
zum Mann in einer schwächeren Position, gegenüber Farbigen oder Kindern aber in der
stärkeren. Insofern sind auch Frauen an der Reproduktion der Herrschaftsverhältnisse mitbeteiligt, können Opfer und zugleich Täterin werden. Die Frauen sind in die patriarchale Logik
eingebunden. Feministische Arbeit erfordert ein kritisches Verständnis vom aktiven Opfer.
Ein Kind ist zum Beispiel in einer Gewaltsituation zwar gezwungenermassen „aktiv“, aber
das bedeutet nicht auch, dass es mitschuldig ist oder gar die Gewalt initiiert hat. Die Öffentlichkeit sieht Frauen zumeist nur als Opfer, wenn sie nur Opfer sind. Der Opferstatus einer
Person bestimmt sich aber allein dadurch, dass sie Opfer von Gewalt geworden ist, unabhängig vom Verhalten vor, während oder nach der Tat. Kavemann schliesst aus ihren
Überlegungen, dass feministische Parteilichkeit beide Seiten mit einschliessen muss: Frauen,
die Opfer und/oder Täterin werden.
Würde offener über den Missbrauch durch Frauen und über missbrauchte Jungen diskutiert,
würden vermutlich auch die entsprechenden Quoten zunehmen, wenn auch in Fachkreisen
nicht angenommen wird, dass sich zwischen den Geschlechtern auch nur annähernd die
Waage halten würde. Bei pädophilenfreundlichen Autoren wie Kentler (1994, 152) findet
man aber zuweilen die Behauptung, beim sexuellen Missbrauch von Jungen seien vorwiegend
die Mütter die TäterInnen. – Was die Palette an Missbrauchshandlungen betrifft, zeigt die –
bisher noch zu wenig systematische – Forschung laut Kavemann (1996, 254f) bei Täterinnen
ein ähnlich breites Spektrum. Insofern erweise sich die Vermutung, dass Frauen in der
alltäglichen Kinderpflege Übergriffe gut kaschieren könnten, als fragwürdig. Massive Über36
2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien
griffe liessen sich nicht so ohne weiteres verstecken. Ausserdem seien auch männliche Täter
sehr bewandert darin, Taten zu verbergen; auch sie würden selten in der Öffentlichkeit
missbrauchen.
Aufgrund der spärlichen Forschung zur weiblichen Täterschaft lässt sich im Vergleich zu
männlichen Missbrauchern Folgendes vermuten: viele weibliche Täter führen den Missbrauch
mit einem andern Täter aus, oft assistieren sie oder werden vom Partner dazu überredet oder
gezwungen, was vielfach ein Resultat ihrer Abhängigkeit und ihres niedrigen Selbstwertes ist
(Mathews, 1989; zit. nach Jennings, 1995, 310-313). Zweitens wenden sie dabei vermutlich
weniger körperliche Gewalt an als Männer, sondern setzen vermehrt ihre Überredungskünste
ein (Jennings, 1995, 310-313). Drittens betont Jennings, dass Frauen ihre Opfer häufiger gut
kennen würden, weil sie aus Erziehungsgründen einen einfacheren Zugang zu den Kindern
hätten. Ferner scheinen Frauen ihre Opfer weniger lang und seltener zu missbrauchen, sie
haben offenbar innerhalb ihrer Täterinnenkarriere weniger viele Opfer und verüben weniger
oft als Männer noch in hohem Alter Übergriffe (Wolfe, 1985; zit. nach Jennings, 1995, 310313). Die Enthemmung durch Drogen-, Medikamenten- und Alkoholmissbrauch sowie
psychische Störungen scheint bei missbrauchenden Frauen ein weiterer wichtiger Faktor zu
sein, wobei die Frage der geistigen Beeinträchtigung in der Literatur äusserst kontrovers
diskutiert wird (Jennings, 1995, 310-313). Zusätzlich scheinen Kindesmissbraucherinnen
ihrerseits in ihren aktuellen Beziehungen oft selber Opfer zu sein (Kavemann, 1996, 255f). –
Diese Tatsachen entbinden Frauen aber keinesfalls von der Verantwortung, wenn sie auch
teils ihre Motive erklären können.
Die Verwechslung von sexueller Gewalt und Zärtlichkeit ist bei beiden Geschlechtern
unzulässig. Man muss die gleichen Definitionen und Bewertungsmassstäbe ansetzen. Bei
beiden handelt es sich um Machtmissbrauch, und Frauen wie Männer müssen ihr Tun
innerhalb der vorhandenen Machtverhältnisse verantworten. (ebd.)
2.4.4. Tatort soziale und (heil)pädagogische Einrichtungen
Im Zusammenhang mit der Diskussion zu pädophilen Tätern kam bereits zum Ausdruck, dass
sich (potentielle) TäterInnen nicht selten in beruflichen oder ehrenamtlichen Positionen
begeben, in denen sie leichten Kontakt zu potentiellen Opfern aufnehmen können. Das gilt für
Freizeitorganisationen (Sportvereine, Jugendtreffs, Jugendvereinigungen, kirchliche Vereine,
etc.), Behindertenstätten, verschiedene Heime ebenso wie für Schulen. Die Schule mit ihren
Freizeit-, Lager- und Sportaktivitäten, Nachhilfe- und Lerngruppensettings ermöglicht das
37
2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien
permanente Zusammensein mit Kindern, und im schulischen Umfeld lassen sich das
Vertrauen und die Abhängigkeit der Kinder und Jugendliche einfach herstellen.
Da ich in meiner Lizentiatsarbeit die Primärprävention zum Thema mache, wie sie von der
Schule zusammen mit der Sozialen Arbeit am Ort Schule praktiziert werden kann, kommt
dem Spezialfall des Missbrauchs von SchülerInnen durch LehrerInnen und ErzieherInnen eine
besondere Bedeutung zu. Soll an einer Schule Sensibilisierungsarbeit zu sexuellem
Missbrauch an Kindern und Jugendlichen geleistet werden, ist es von eminenter Bedeutung,
ob man nur über eine aussenstehende Täterschaft oder auch über schulinterne Bedrohungen
spricht. Die Betroffenheit vom Lehrkörper und die Atmosphäre in einer Klasse sind zum
Beispiel gänzlich anders, wenn an einer Schule der konkrete Verdacht auf eine Unterrichtsperson fällt. Gefühle der Solidarisierung, Verunsicherung, Ungläubigkeit und Machtlosigkeit
können auftauchen. Im Kontext der Vorbeugung wird dieser Situation speziell Rechnung
getragen werden müssen.
Maurer (2002, 12-14) kristallisiert verschiedene Risikofaktoren heraus, die sexuelle Ausbeutung in einer (sozial)pädagogischen Institution begünstigen können und in die (Primär-)Präventionsarbeit einfliessen sollten:
-
Rigide, autoritäre Führungsstrukturen können ein Klima von Kälte, Misstrauen, Härte
und mangelndem Respekt erzeugen, wo Entscheide einseitig mit Macht von oben
gefällt werden, ohne Anliegen des Teams zu beachten.
-
Diffuse Führungsstrukturen mit willkürlichen Entscheidungsprozessen erschweren
fachliche
Kontrolle.
Undefinierte
Abläufe
und
Zuständigkeiten
führen
zu
Orientierungslosigkeit, da keiner wirklich Verantwortung übernimmt, jede/r
MitarbeiterIn für sich selber Entscheidungen fällt. (siehe auch Conen, 1998, 715-720)
-
Umgang mit Macht und Gewalt wird nicht reflektiert, es herrschen stereotype
Geschlechterrollen und kulturelle Vorurteile vor. Achtung, Respekt und gewaltloser
Umgang werden nicht gefördert.
-
Mangelnde Offenheit und Transparenz führen dazu, dass Konflikte nicht ausgehandelt
und Tabuthemen wie Gewalt, Sexualität oder Macht vermieden werden; die Information gegen innen und aussen ist mangelhaft und die Institution grenzt sich stark gegen
aussen ab.
-
Kinder und Jugendliche in sozialpädagogischen Institutionen sind überdurchschnittlich häufig bereits vor ihrem Eintritt Missbrauchsopfer geworden und fordern durch
sexualisiertes Verhalten ihre ErzieherInnen heraus. Die Leitung sieht keine Supervi38
2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien
sion vor, um unter kollegialem Rückhalt diese Abgrenzungsthematik offen zu besprechen.
-
Kinder und Jugendliche erfahren wenig Wertschätzung, Mitsprache und Mitbestimmung. Ihre Bedürfnisse werden kaum ernst genommen und ihre Selbstbestimmung, Selbständigkeit und ihr Selbstwert kaum gefördert. Der pädagogische Alltag
kann dabei durch autoritäre Erziehungshaltungen geprägt sein oder aber durch grenzenlose Beliebigkeit.
-
Grenzen zwischen Generationen und zwischen Beruflichem und Privatem sind verwischt, die beruflichen Erfordernisse werden zu wenig klar eingehalten.
-
Das Thema sexueller Ausbeutung wird gemieden und die Möglichkeit der eigenen
Betroffenheit in der Institution verdrängt.
Diese Aussagen von Maurer entspringen ihrer langjährigen Erfahrung in der Präventionsarbeit
und ihrer Lektüre wissenschaftlicher Publikationen. Die Relevanz der institutionellen Kultur
und Struktur für die Begünstigung sexueller Übergriffe – sowohl an Kindern und Jugendlichen durch Betreuende als auch unter MitarbeiterInnen oder unter den Heranwachsenden
selbst – findet sich auch bei andern AutorInnen (zum Beispiel Conen, 1998). Empirische
Forschung zu diesem Thema ist Mangelware, und institutionelle Vorbedingungen sexueller
Gewalt innerhalb der Organisation, zum Beispiel an der Schule, müssen verstärkt
systematisch untersucht werden, zumal bei Schulen teils andere strukturelle Rahmenbedingungen gegeben sind als bei zum Beispiel Heimen oder Kindestagesstätten.
2.5. Psychodynamik des sexuellen Missbrauchs
Die folgenden Ausführungen beziehen sich vor allem auf inzestuöse und andere
Vertrauensbeziehungen, in denen Missbrauch durch männliche erwachsene Täter vorkommt.
Missbrauchshandlungen durch gänzlich fremde Personen sind viel seltener als solche durch
Bekannte oder Verwandte, deshalb sollen deren Strategien nicht separat behandelt werden.
Bis zu einem gewissen Ausmass lassen sich offenbar die nachstehenden Gedanken zur
Missbrauchsdynamik auch auf sie anwenden. Allenfalls spezifische Vorgehensweisen von
Täterinnen und jugendlichen Tätern sind noch wenig erforscht, jedoch lassen die wenigen
Publikationen dazu eine ähnliche Dynamik vermuten (siehe Deegener, 1998; Kavemann,
1996)12. Indem ich in diesem Kapitel die männliche Form für die Täterschaft verwende,
referiere ich auf die grössere Erforschtheit erwachsener, männlicher Täter.
12
siehe auch Kapitel 2.4.3.
39
2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien
2.5.1. Das Vorgehen der erwachsenen Täterschaft (Täterstrategien)
Die Fachliteratur lässt einheitlich den Schluss zu, dass man nicht zufällig zum Täter wird,
weil sich die Gelegenheit dazu gerade ergibt, sich ein Kind sexuell gefügig zu machen,
sondern dass die Übergriffe meistens von langer Hand geplant sind. Die Tatsachen, dass ein
Täter vielfach ein Kind nicht nur einmalig missbraucht, und es pro Täter meistens nicht bei
einem Opfer bleibt, unterstreichen diese Vermutung. Ein Missbrauch wird vom Täter bewusst
herbeigeführt und entwickelt sich zumeist sukzessiv aus einer bestehenden Vertrauensund/oder Abhängigkeitsbeziehung heraus. Die Missbräuche durch Fremde, die durchaus auch
detailliert geplant sein können, sind da definitionsbedingt eine Ausnahme. Da die Opfer sie
nicht kennen, ist auch keine Vertrauensbeziehung vorhanden. Allerdings können auch Fremde
versuchen, mittels Geschenk oder Lügen beim Kind Zutrauen zu erschleichen, um es danach
zu missbrauchen. Eine subtile Verwicklung in emotionale Abhängigkeit und das Suggerieren
von Mitbeteiligung wird bei ihnen weniger Gewicht haben, dafür werden sie wohl vermehrt
(körperliche) Gewalt, Einschüchterung und Drohungen anwenden.
Die feministisch orientierte Autorin Enders (1995, 25; 1996, 225-233) beschreibt verbreitete
Täterstrategien. Obwohl ihre Ausführungen auf den Missbrauch durch Pädophile in
Institutionen zugeschnitten sind, lassen sich vermutlich viele der von ihr beschriebenen
Vorgehensweisen auch bei nicht-pädophilen Tätern und bei ausserhalb von Institutionen
missbrauchenden Tätern entdecken. Demnach suchen viele Täter bewusst Arbeitsbereiche,
ehrenamtliche Tätigkeiten, die mit Kindern zu tun haben, so zum Beispiel in der ausserschulischen Jugendarbeit, in politischen Jugendverbänden, kirchlichen Gruppierungen, als
Hausmeister an Grundschulen, als Trainer, Lehrer, Pfarrer, Arzt oder Therapeut. Ferner
gehören die Einrichtung von Schulaufgabenhilfen, Freizeitangeboten, Babysitterdiensten oder
Schlafstätten für AusreisserInnen dazu. Beliebt sind vor allem soziale Brennpunkte, wo
Kinder isoliert da stehen. Täter nähern sich laut Enders (ebd.) vorzugsweise emotional
vernachlässigten, Autoritäten blind gehorchenden und vaterlosen Kindern an, die für ein
bisschen Liebe bereitwillig ihren Körper geben. Oft suchen sie auch Kontakt zu bereits
ausgebeuteten, sehr jungen oder behinderten Kindern. Diesen fällt es besonders schwer,
Grenzen zu setzen und Grenzverletzungen publik zu machen.
Auch der pädophilenfreundliche Lautmann (1994, 18, 84) nennt die Sondierung der Kinder
aufgrund ihrer Zugänglichkeit und ihrer Widerstandsfähigkeit als wesentliche Komponente
der Opfersuche. Täter würden ihr Vorgehen in sprachlicher, zeitlicher und sachlicher Hinsicht
strukturieren. – Das bedeutet also, dass ein Täter im Vorfeld beobachtet, welches Kind zu
40
2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien
welcher Zeit wo ist, wie es ihm geht, wie es zu andern Kindern und Erwachsenen steht. Er
passt seine Sprache dem Kind an, verwendet inhaltlich verführerische Themen für das
isolierte, sich nach Liebe sehnende Kind und beobachtet dessen Reaktionen auf erste
Annäherungen.
Besonders bei kleinen Kindern werden die ersten Versuche „kindgerecht“ und spielerisch in
den Alltag verpackt (Doktorspiele, Pflege, Rauferei, Aufklärung, Untersuchung, Hilfestellung). Man testet Kinder und ihre Reaktion aus, ob sie sich wehren, ausrufen, sich Dritten
anvertrauen. Am Anfang stehen meistens verbale und nonverbale sexuelle Übergriffe, noch
keine Vergewaltigungen. Zur Desensibilisierung werden oft pornographische Materialien wie
Videos, Fotos oder mit pädophilem Blick illustrierte Aufklärungsbücher verwendet, um den
Kindern den Eindruck des Alltäglichen zu vermitteln. Ferner bemühen sich Täter um den
Anschein von Arglosigkeit, wollen nach der ersten Kontaktnahme einen guten Eindruck
machen und sich tarnen, damit ihnen niemand etwas zutraut. (Enders, 1996, 228-232) – In
Jugendgruppen aktive Missbraucher benutzen hingegen oft Aufnahmerituale und Gruppendruck, um ihr Ziel zu erreichen. Da sich dort nicht selten Gleichgesinnte treffen, verüben sie
die Gewalttaten auch gemeinsam und geben sich gegenseitig Alibis. (ebd.)
Damit es den Tätern möglich ist, sich subtil ihren Opfern anzunähern und auch längerfristig
über sie verfügen zu können, müssen sie sie zum Schweigen bringen. Enders (1996, 232f)
beschreibt, dass Täter in Institutionen wie auch Väter das Tun oftmals als gemeinsames
Geheimnis deklarieren und eine aktive Beteiligung des Kindes suggerieren. In Institutionen
würden oft mehrere Kinder in die Missbrauchshandlungen verwickelt, so dass sie sich
gegenseitig als Opfer und Täter erlebten und aus Scham umso eher schwiegen. Sie fühlten
sich mitschuldig, wollten keine FreundInnen verpetzen. Meistens würden die Täter drohen,
sei es mit emotionaler Zurückweisung, sozialer Stigmatisierung oder mit Krankheiten von
Verwandten. Viele Täter benutzten auch ihre berufliche Machtstellung, um die Kinder zum
Schweigen zu bringen. Durch das passive Verhalten und das Schweigen der Umwelt, die
oftmals den Täter decke oder sein Tun in Kauf nehme, werde das Schweigen des Opfers noch
gesichert. Auch Besten (1995, 22f) beschreibt, dass Täter Kinder bestechen, mit Heimeinweisung oder Gewalt drohen, das kindliche Bedürfnis nach Liebe, Nähe und Zuwendung
ausnutzen und falsche moralische und sexuelle Normen vorgaukeln.
Aufgrund dieser in der Literatur beschriebenen Täterstrategien lässt sich ein prototypischer
Aufbau einer Missbrauchsbeziehung (besonders durch bekannte und verwandte Täter) in fünf
Phasen unterteilen:
41
2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien
Phase 1: Motivation und Plan(ung)
Missbrauchsabsicht und Planungsprozess
Phase 2: Sondierung
Beobachten und Sondieren von Lage und
angepeilten, geeigneten Kindern
Phase 3: Vertrauen(saufbau)
systematisches Erzeugen und Benutzen
von Vertrauen und Abhängigkeit
Phase 4: Testphase (erste Übergriffe)
erste Übergriffe, begleitet von Desensibilisierung, Tarnung, Ablenkung des
Umfelds, Sicherstellen des Schweigens
Phase 5: massive Übergriffe
bei „Erfolg“ respektive positivem Aufwand-Ertrag-Verhältnis: Verstärkung und
Sicherung von sexuellen Übergriffen und
Geheimhaltungsstrategien
Abbildung 2:
Phasen des Aufbaus einer Missbrauchsbeziehung zum Kind (Täterstrategien)
2.5.2. Missbrauchsdynamik beim Opfer und kindliche Sexualität
Die Mechanismen des Schweigens spielen bei Opfern in vielfältiger Art und Weise. Einerseits
haben sie sicher einmal Angst, andererseits empfinden sie Scham- und Schuldgefühle. Gerade
auch bei Jungen können Ohnmacht- und Schamgefühle, aber auch Aggressionsgefühle gross
sein, da sie durch die zumeist männliche Täterschaft in ihrem verinnerlichten Bild von
Männlichkeit verunsichert werden und Angst vor Homosexualität und Verspottung haben
können. Bange (1992; 1995, 39f) hält fest, dass sie Zweifel an ihrer männlichen Identität
bekommen können und den Druck verspüren, als Jungen stark sein und sich wehren zu
müssen. Einige sähen den Ausweg, sich mit dem Aggressor zu identifizieren, um den Kontrollverlust einigermassen zu kompensieren und die Verletzung zu überwinden. – Häufig wer42
2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien
den in Untersuchungen die Missbrauchsdynamik und die Folgen aber nicht geschlechtergetrennt erfasst. Dies mag einerseits daran liegen, dass über Jungen weniger bekannt ist und das
Forschungsinteresse geringer ist, andererseits aber auch an der zu kleinen Anzahl Jungen in
den Samples der bisherigen quantitativ-empirischen Studien, was aussagekräftige Vergleiche
zwischen männlichen und weiblichen Opfern erschwert (siehe auch Kendall-Tackett, Meyer
Williams & Finkelhor, 1998, 165). Deshalb beziehen sich die folgenden Ausführungen13 auf
kindliche Opfer im Allgemeinen.
Besten (1995, 22f) als feministisch engagierte Autorin formuliert die Dynamik (besonders im
Bezug auf den innerfamiliären Missbrauch) so: Kinder haben Angst, sie würden nicht mehr
geliebt, würden bestraft, man glaube ihnen nicht, man werde sie verantwortlich machen, die
Familie werde zerbrechen oder sie verlassen. Die Kinder lernen, den Fehler bei sich zu
suchen, da die Erwachsenen sowieso immer Recht haben, nie Böses tun. Man hat gelernt, den
Erwachsenen nicht zu widersprechen. Der Widerstand wird deshalb schnell aufgegeben.
Strategien des Widerstands beim innerfamiliären Missbrauch können sein, dass Kinder
bekleidet zu Bett gehen, auf dem Heimweg trödeln, die Türe absperren, Bettnässen, fettsüchtig werden und dergleichen. (ebd., 22f, 40)
Ausserdem haben die Kinder mangels Sexualaufklärung oft ein fehlendes Vokabular, um das
Geschehen zu benennen. Sexualität wird nicht selten als etwas Schlechtes vorgestellt, weil
zum Beispiel Eltern ihre Kinder einmal für das Berühren oder Zeigen von Genitalien in der
Anwesenheit Dritter rügten, ohne sich zu erklären. Dadurch wächst die Vorstellung, Sexualität sei etwas, worüber man nicht reden darf. (ebd., 22f)
Beim innerfamiliären Missbrauch vertraut sich ein Kind eher einem Aussenstehenden als
seiner Mutter an, da es die Familie nicht zerstören will und Angst vor Ungläubigkeit hat. Der
Täter nützt dies oft gezielt aus und zerstört das Vertrauensverhältnis zwischen Mutter und
Kind. Besonders mangelndes Vertrauen und schwache gefühlsmässige Bindungen in der
Familie fördern das Schweigen der Kinder. (ebd., 22-27)
Von Tätern wird vielfach gesagt, die Kinder oder Jugendlichen hätten es ja gewollt oder
provoziert, und sie würden die Sexualität mit ihnen sehr wohl geniessen14. Dabei stellt sich
die Frage, wie geartet die Sexualität eines Kindes im Vergleich zu der eines Erwachsenen ist.
Natürlich sehnt sich auch ein Kind nach Wärme, Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit.
Besten (ebd., 43) hält fest, dass je nach Altersphase das sexuelle Interesse eines Kindes
13
14
Dasselbe gilt für das vierte Kapitel zu den Folgen von sexuellem Missbrauch.
siehe auch Pädophilendiskussion in Kapitel 2.4.2.
43
2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien
unterschiedlich stark und ausgeprägt ist, und dass es sich auf sich selbst oder ungefähr
Gleichaltrige ausrichtet. Trotz Erregung und Genuss dominiere aber immer das Spielerische.
Kinder würden keine Frustrationen kennen, liessen sich rasch ablenken, da die Wichtigkeit
der Sexualität nicht so gross sei.
Auch die Unerfahrenheit und die Neugierde machen es aus, dass Kinder und Jugendliche
sexuell aktiv werden, spielerisch experimentieren oder den Reiz des Verbotenen ausprobieren.
Dabei beschränkt sich das Erkunden meistens aufs Aussehen und Funktionieren der Genitalien. Die Fehlinterpretation Erwachsener, wenn sie solche Annäherungen als Aufforderung
zur eigenen sexuellen Befriedigung verstehen, ist riesig, da ein Kind diese Interpretation
aufgrund seines Entwicklungsstands nicht antizipieren kann. Selbst jugendliche Mädchen, die
kokettieren und provozieren, sind sich der vollen Wirkung ihres Verhaltens nicht bewusst. Sie
wollen das Frausein spielerisch ausprobieren. Nimmt ein Mann das ernst, ziehen sie sich oft
zurück, zeigen ein für Männer unverständliches, ablehnendes Verhalten. Ein Mann, der hier
die kindliche Sexualität ausnutzt, überreizt das Kind auf eine Art, die seiner Entwicklung
nicht entspricht. Die Verantwortung liegt ganz klar beim Erwachsenen, er muss die Situation
kontrollieren. (ebd., 41-44)
2.5.3. Die Rolle der Mütter von Inzestopfern
Besonders beim innerfamiliären Missbrauch kommt den Müttern eine Schlüsselrolle zu.
Manchmal bekommen sie von den Vorfällen nichts mit, oft aber spüren sie, dass etwas nicht
stimmt oder sie wissen sogar um die Übergriffe. Besonders wenn Väter die Täter sind, wird es
für die Mütter schwierig, da sie sich in einem Loyalitätskonflikt befinden. Einerseits lieben
sie ihr Kind und wollen ihm nichts Schlechtes, andererseits lieben sie ihren Mann und sind in
vielfältiger Weise an ihn gebunden. Beim inzestuösen Missbrauch werden existenzielle
Belange der Familie angesprochen.
Besten (ebd., 25-27) beschreibt, dass die Mütter einerseits Mühe haben, Hinweise ernst zu
nehmen und dem Kind zu glauben, wenn es etwas andeutet oder erzählt, andererseits fühlen
sie sich machtlos und hilflos. Vielfach würden Mütter die Strategie des Schweigens wählen,
aus Angst vor einem Familienzerwürfnis, vor einer ungewissen Zukunft, vor einer
Blossstellung gegenüber Aussenstehenden, vor einem Leben ohne ihren Mann oder gegebenenfalls vor Gewalttätigkeiten, die ihnen selber vom Partner drohten. Sie fühlten sich oft
vom Partner betrogen und kämen sich vor, als ob sie als Mutter und Gattin versagt hätten.
44
2. Potentielle Opfer, Täterschaft und Täterstrategien
Ferner hätten sie auch Angst, dass ihr Kind durch eine Anzeige im polizeilichen und
juristischen Verfahren zusätzlich belastet würde.
Andere Mütter erdulden stillschweigend den Missbrauch oder begehen sogar selber Übergriffe, dann jeweils häufig zusammen mit ihrem Partner. Mütter mit eigenen Opfererfahrungen im Hintergrund raten dem Kind oft zum Vergessen und Verdrängen oder spielen die
Vorfälle herunter. (ebd.) Ich vermute, sie versuchen dadurch, ihre eigenen schmerzhaften
Erinnerungen oder aktuellen Gewalterfahrungen zu verdrängen, um sie besser überstehen zu
können. Einige mögen auch denken, ihnen hätte auch niemand geholfen, oder irgendwann
würde der Partner dann von selbst vom Kind ablassen.
Auch wenn die Situation der Mütter nicht einfach ist, sie emotional und wirtschaftlich von
ihren Männern abhängig sind, so sollte dennoch der Schutz der bedürftigen, schwachen
Kinder im Zentrum stehen. Ein Augen Verschliessen vor den Tatsachen kann dem Kind sehr
viel seiner Jugend und seiner Persönlichkeit rauben und es langfristig beeinträchtigen. Auch
wenn Mütter selber in ihrer Kindheit Opfer wurden oder aktuell von ihren Partnern
misshandelt werden, darf das kein Grund sein, Übergriffe an ihren Kindern in Kauf zu nehmen oder gar zu fördern. Sie müssen ihren Teil an Verantwortung übernehmen. Wachsame
und selbstbewusste Mütter könnten durch eine klare Sympathisierung mit dem Kind
vermutlich häufig den – an sich gut kaschierten – Missbrauch in einer frühen Phase erkennen
und mit fachlicher Hilfe beenden. Einige Mütter stehen klar zu ihren Kindern und ziehen mit
dem Täter die schmerzhaften, aber notwendigen Konsequenzen zum Schutz des Kindes.
Das Abwägen zwischen dem Erhalt der Familie als einer schützenswerten Institution und der
elterlichen Trennung oder dem Herausnehmen des Kindes aus der Familie gestaltet sich
schwierig und kontrovers, da viele Interessen und Belange involviert sind. Ein vorschnelles
Handeln scheint nicht angebracht; sensible und aufmerksame Abklärungen müssen durchgeführt werden, bevor beispielsweise vormundschaftliche Massnahmen verhängt werden.
3. HANDLUNGSORIENTIERTE ERKLÄRUNGSANSÄTZE FÜR DEN
SEXUELLEN MISSBRAUCH AN KINDERN UND JUGENDLICHEN
Im dritten Kapitel soll weiter auf die erste Hauptforschungsfrage eingegangen werden, indem
Ursachen für die sexuelle Gewalt an Kindern diskutiert beziehungsweise handlungsleitende
Erklärungsansätze dazu vorgestellt werden. Für die Primärprävention ist es von eminenter
45
3. Handlungsorientierte Erklärungsansätze für den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen
Bedeutung, Annahmen über die Entstehungsbedingungen zu haben, damit man Strategien zur
Vermeidung von Übergriffen entwickeln kann. – In den Kapiteln zur Klassifikation von
Missbrauchsdefinitionen sowie zur Täterschaft wurden teils ursächliche Zusammenhänge
bereits angesprochen; diese sollen hier vertieft werden. Es geht also um Stichworte wie
(sexuelle) Sozialisation, Patriarchat, Macht(gefälle), Männlichkeit/Weiblichkeit, individuelle
Problemlagen oder Rollenbilder. Um diese herum weben sich verschiedene Hypothesen, in
welcher Form (männliche)15 sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder begünstigt werden
könnte.
3.1 Zwischen Mythos und Erklärungsansatz
Es gibt einige „Erklärungsansätze“ von sexuellem Missbrauch, denen teils mehr der Begriff
„Mythos“16 entsprechen würden, da sie verschiedene Familienkonstellationen prototypisch als
Ursache karikieren. Rommelspacher (1996, 17-19) beschreibt solche Ideologisierungen, die
mehrheitlich auf den Vater-Tochter-Inzest zugeschnitten sind:
-
familientherapeutisches Bild: Die Familie ist nach aussen hin unauffällig und trägt
gegen innen heftige Kämpfe aus. Der Vater ist sexuell und psychisch bedürftig, die
Ehe hoch problematisch. Der Missbrauch steht als Symptom unverarbeiteter Spannungen.
-
Feministische Literatur: Die Familie ist gegen aussen und innen normal, zwischen den
Eheleuten herrscht ein grosser Statusunterschied. Die Mutter geht in der
Kindererziehung auf, das Wohlergehen der Familie ist ihr Lebensziel. Der Vater
hingegen missbraucht seine Tochter, seitdem der Geschlechtsverkehr mit der Gattin
selten wurde. Der Mann tut dies aus dem Verständnis heraus, dass ihm die Tochter
quasi zusteht, gerade weil er sie liebt. Er gibt vor, sie so ausserdem in die
Erwachsenenwelt einzuführen.
-
Kinderschutztradition: Die Familie ist ein Problemmilieu, wo viele Faktoren
aufeinander treffen. Schlechte und unstabile Lebensverhältnisse, gewalttätiger Gatte
und/oder Stiefvater, Scheidung, schlechte berufliche Position des Vaters, etc.
15
Da die grosse Mehrheit der Täter als männlich angenommen werden muss, richten sich Erklärungsansätze
meistens an männliche Täter; deshalb verwende ich in diesem Kapitel die männliche Formulierung.
16
Hillmann (1994, 587) hält fest, dass der Mythos „infolge seiner gefühlsmässig-unreflektierten Verankerung in
stärkerem Masse als eine intellektuelle Erkenntnis das Verhalten einer grösseren Zahl von Menschen in
ähnlicher sozialer Situation koordinieren und festigen“ kann.
46
3. Handlungsorientierte Erklärungsansätze für den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen
Weitere Ideologisierungen sind das traditionelle Bild des „schwarzen Manns“ (kranker,
fremder Triebtäter), die Bilder des Bruders, Nachbarn, Cousins, Pfarrers oder Lehrers als
Täter, oder das Stereotyp des Pädophilen oder der Sexringe/Pornographie.
Solche Typologisierungen laufen immer Gefahr, oberflächlich zu sein, verallgemeinert oder
auch gegeneinander ausgespielt zu werden. Rommelspacher (ebd.) macht darauf aufmerksam,
dass uns diese Mythen jedoch dabei helfen können zu erkennen, dass wir nicht objektiv,
allparteilich oder neutral an das Thema herangehen können; wir trügen immer bestimmte
eigene theoretische Vorannahmen in uns. – Diese gilt es zu reflektieren, wenn man auf diesem
Gebiet forscht oder mit Menschen intervenierend oder primärpräventiv arbeitet.
Zumindest zwei dieser Mythen sind in der Fachliteratur zu wegweisenden Erklärungsmodellen (männlicher) sexueller Gewalt gegen Frauen und Kinder ausgebaut worden. Sie
werden im Folgenden nach Brockhaus und Kolshorn (1998, 90-95) skizziert und kritisiert:
3.1.1. Traditionelle Erklärungsmodelle
Traditionelle Erklärungsansätze sind jene, die von krankhaften Triebtätern einerseits und
verführerischen „Opfern“ andererseits ausgehen. In der Öffentlichkeit finden sich solche
Ansichten noch häufig. Traditionellen Erklärungen ist gemeinsam, dass sie die sexuelle
Gewalttat verharmlosen, und die sexuelle Handlung als beiderseitig gewollt darstellen. Jene
„Einzelfälle“, in denen es wirklich um sexuelle Gewalt gehe, seien eine krankhafte und
abweichende Form von Sexualität. Die Ursachen werden primär im Bereich der Sexualität
gesucht, und können in folgende Annahmen zusammengefasst werden:
-
Die männliche Sexualität ist biologisch bedingt aggressiver und auf Angriff gerichtet.
Frauen wollen erobert werden. Sexuelle Gewalt entsteht höchstens aus Missverständnissen, da die Männer schwer wissen können, wann Frauen wirklich „nein“ meinen.
-
Der männliche Sexualtrieb ist stärker als der der Frau und will ohne Aufschub befriedigt werden. Wenn er mal gereizt wird, kann er nicht mehr kontrolliert werden. Frauen
und Kinder reizen und provozieren oft leichtsinnig durch ihre Kleider und ihr
Verhalten. Gewisse Mädchen bringen durch ihr kokettes, erotisierendes Gebaren als
Quasi-Erwachsene („Lolita“-Verhalten) Männer an ihre Grenzen. Der dadurch drohende Ausbruch beim Mann kann auch Unbeteiligte treffen.
-
Der Mann ist sexuell frustriert, da sich die Partnerin oft dem Geschlechtsverkehr
verweigert, oder da der Mann gar keine Sexualpartnerin hat. Er stillt dann sein
Bedürfnis notdürftig beim Kind.
47
3. Handlungsorientierte Erklärungsansätze für den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen
-
Die eigentlichen Gewalttäter zeichnen sich durch psychische Probleme und Krankheiten oder soziale Auffälligkeiten wie eine schwere Kindheit, Suchtabhängigkeiten,
Asozialität oder Psychopathologie aus.
-
Beim inzestuösen Missbrauch ist die Familienstruktur gestört, die Tat nur ein
Ausdruck für andere Probleme. Jedes Familienmitglied trägt zur Symptomentstehung
bei und hat auch seinen Nutzen davon.
Schematisch lassen sich diese traditionellen Erklärungshypothesen wie folgt darstellen:
seltene „echte“ sexuelle
Gewalt: gestörte Gewalt- und
Triebtäter
Inzest als Symptom gestörter
Familien: Mitbeteiligung und
Nutzen aller
eigene Opfererfahrung,
schwere Kindheit
Form gewalttätiger
Sexualität von Individuen
(individuelles Problem)
sexueller
Missbrauch an
Kindern und
Jugendlichen
durch Männer
biologisch bedingt starker,
aggressiver Sexualtrieb
Abbildung 3:
kindliche Provokation und
Mitbeteiligung
Sexuelle Frustration durch
(fehlende) Partnerin; Kind als
Ersatz
Traditionelles Erklärungsmodell für sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen
(durch Männer)
Die Kritik an diesen Entstehungshypothesen ist laut Brockhaus und Kolshorn (ebd.) zahlreich:
Sie weisen Schuld zu, können aber nichts schlüssig erklären. Diese Ansätze lassen
dazwischen liegende Prozesse offen, zum Beispiel wie es von der Alkoholsucht zum
sexuellen Missbrauch kommt, wie es von der Motivation zur Tat kommt, warum das
Gewissen des Täters versagt, warum sich Opfer nicht wehren können. Keiner dieser traditionellen Ansätze konnte wissenschaftlich untermauert werden.
Empirische Fakten sind vielmehr, dass sexuelle Gewalt mehr ein Machtphänomen
(sexualisierte Gewalt) als ein sexuelles Phänomen (gewalttätige Sexualität) ist. Die Sexualität
dient allerdings als effektives Mittel dazu, sich mächtig zu fühlen, sich abzureagieren,
Männlichkeit zu beweisen oder andere zu bestrafen und zu demütigen. Untersuchungen
zeigen, dass sexueller Missbrauch meist zusätzlich zu freiwilligem Geschlechtsverkehr
stattfindet, nicht nur als Ersatz für mangelnde Gelegenheiten. Und selbst bei den Tätern,
48
3. Handlungsorientierte Erklärungsansätze für den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen
denen es wirklich primär um die sexuelle Befriedigung geht, stellt sich die Frage, warum sie
sich gerade der Gewalt bedienen, um Sexualität zu erleben, und nicht zum Beispiel der
Onanie. Macht muss also eine zentrale Kategorie der Zusammenhangsanalyse sexuellen
Missbrauchs darstellen. (ebd.)
Die traditionelle Sicht individualisiert das Problem. Dem widerspricht, dass sexueller Missbrauch recht verbreitet ist. Ausserdem haben viele Täterstudien gezeigt, dass Täter tendenziell
nicht kranker oder triebhafter sind als andere Menschen, sondern durchaus den gesellschaftlichen Normen und dem bestehenden Männlichkeitsideal anhängen. Täter sind ebenso unauffällig wie Opfer. – In diesem Ansatz werden die Verantwortlichen entlastet, die Schuld wird
den Opfern zugeschoben, und so wird die sexuell gewalttätige Kultur reproduziert. Es wird
suggeriert, dass Frauen und Mädchen nicht zu Opfern werden, wenn sie sich dem
konservativen Geschlechtsrollenstereotyp entsprechend als „typische“ Frau benehmen. Dabei
macht sie gerade dieses Rollenverhalten anfällig für Übergriffe. (ebd.)
Ferner ist laut Brockhaus und Kolshorn (ebd.) die traditionelle Sichtweise auch verkürzt, weil
sie die Geschlechterdimension des Problems vernachlässige. Immerhin seien die Täter
zumeist Männer, viele der Opfer Mädchen. Was hindert Frauen, ihre sexuelle Frustration in
sexueller Gewalt zu kompensieren? Diese und ähnliche Fragen blieben in diesem Modell
unbeantwortet.
Obwohl ich der vielfältigen Kritik von Brockhaus und Kolshorn an sich zustimme, so bin ich
doch der Ansicht, dass vom traditionellen Ansatz der Geschlechteraspekt nicht ausser Acht
gelassen, allenfalls aber einseitig betrachtet wird. Denn die Hauptargumentation dieser
Sichtweise liegt ja gerade in der Betonung angenommener (biologischer) Unterschiede
zwischen den Geschlechtern bezüglich ihrer Sexualität. So seien die Männer von Natur aus
trieborientierter und sexuell aggressiver, und folglich frustriert, wenn sie nicht zur sexuellen
Befriedigung gelangten. Frauen hingegen würden Männer provozieren und sich sexuell rar
machen, seien von Natur aus passiver.
Es ist zu vermuten, dass Brockhaus und Kolshorn mit ihrer Kritik darauf abzielen festzuhalten, dass Frauen wohl ebenso häufig sexuell frustriert seien, und es folglich erklärungsbedürftig sei, dass nicht auch sie die sexuelle Aggression als Ausweg wählten. Im Sinne des
traditionellen Bildes wäre ein allenfalls vorhandener sexueller Frust der Frau jedoch eher in
der Qualität, nicht aber in der Quantität des Sexuallebens zu suchen, da diese Sicht Frauen als
weniger triebhaft annimmt. Deshalb würde der Frau die Verhäufung ihrer sexuellen
49
3. Handlungsorientierte Erklärungsansätze für den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen
Aktivitäten durch erzwungene Sexualität auch nicht zur Kompensation verhelfen. – Insofern
könnte man die Argumentation dieser traditionellen Denkweise sehr wohl als geschlechtsspezifisch erachten, obgleich sie tatsächlich gewisse Unterschiede zwischen den Geschlechtern einfach unterstellt und zu wenig reflektiert.
Hingegen könnte man vom traditionellen Modell zum Beispiel eine Erklärung einfordern,
warum auch recht viele Jungen Opfer von männlichen heterosexuellen Missbrauchern
werden, wenn es wirklich um sexuellen Frust wegen ungenügender partnerschaftlicher
Sexualität und um Verführung durch „Lolitas“ ginge statt um Machtbedürfnisse und Gewalt.
Und wenn sich Täter entschuldigend auf ihre eigene Opfererfahrung berufen, würde ich
fragen, warum denn die meisten weiblichen Opfer nicht zu Täterinnen werden. Es ist zu
vermuten, dass es eher eine Frage des Umgangs mit der Männlichkeit und des Rollendenkens
ist als eine blosse Frage des eigenen Opferstatus.
3.1.2. Feministische Ursachenmodelle
Die von Brockhaus und Kolshorn (ebd., 93-95) beschriebenen feministischen Modelle der
70er Jahre gehen vom „patriarchalen Normalfall“ aus, womit sie meines Erachtens andeuten,
dass sexuelle Gewalt wesentlich durch patriarchale Verhältnisse bedingt sei und reproduziert
würde. „Normal“ deshalb, weil in einer solcherlei gestalteten Gesellschaft mit ihren
traditionellen Geschlechterrollen die männliche Bedürfnisbefriedigung ideologischen Vorrang
hat und sexuelle Übergriffe gegen Frauen und Kinder diese Machtverhältnisse ausdrücken
und also nicht nur durch pervertierte Individuen begangen werden.
Patriarchale Gesellschaft bedeutet laut Brockhaus und Kolshorn (ebd.) Vorherrschaft der
Väter, im feministisch erweiterten Sinne verstanden jene der Männer allgemein, welche
strukturell in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung verankert ist und sich ideell in den
traditionellen Geschlechterrollen widerspiegelt. Dabei werden Frauen als passiv, gefühlvoll,
unlogisch, abhängig und schwach gesehen, Männer als aktiv, kompetent und unabhängig.
Rollenstereotype und Mythen über sexuelle Gewalt sind eng miteinander verknüpft. Je stärker
Männer sexistischen Vorstellungen, Mythen und der traditionellen Sichtweise anhängen,
umso gewaltbereiter und gewalttätiger sind sie. Dass sexuelle Gewalt stark durch eine
patriarchale Kultur bedingt ist und dadurch aufrechterhalten wird, diese These ist laut Elmer
(2004, 21) theoretisch und empirisch schlüssig beziehungsweise wissenschaftlich belegt
worden. Dennoch dürfe die Bedeutung individueller Faktoren und Problemlagen nicht negiert
werden, obgleich auch diese in gesellschaftliche Zusammenhänge einzubetten seien.
50
3. Handlungsorientierte Erklärungsansätze für den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen
Die institutionalisierte Ungleichheit der Geschlechter begünstigt aus feministischer Sicht
sexuelle Übergriffe in vielschichtiger Art und Weise. Die Geschlechterhierarchie ist in allen
Gesellschaftsbereichen anzutreffen und wird als sexistische Vorstellung verinnerlicht, was
Selbst- und Fremdbilder, Verhalten, Überzeugungen und Wahrnehmungen prägt.
Frauen sind in einer patriarchalen Gesellschaft mit weniger materiellen und ideellen
Ressourcen versehen, was den Männern die Machtausübung und den Zwang zur Sexualität
erleichtert. Frauen sind nach wie vor oft von Männern ökonomisch abhängig und versehen
seltener Positionen gesellschaftlicher und sozialer Macht. Ausserdem wird ihre Sexualität
tendenziell noch immer verdinglicht, es wird das Bild der männlichen Verfügungsgewalt
vermittelt. Dieser Tauschcharakter der weiblichen Sexualität findet seine Wurzeln in der
geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Frauen haben eher strukturell niedrige Positionen, die
auch gesellschaftlich weniger Wertschätzung erfahren. Durch solche Abwertungen der
„typischen“ Frauenberufe und -tätigkeiten werden die Gewaltanwendung und Dominanz der
Männer gefördert. (Brockhaus & Kolshorn, 1998, 93-95)
Für mich scheint das Problem in der Materialisierung der Welt zu bestehen. Geld macht Wert
und Wertschöpfung aus. Die Arbeit in Haushalt und Erziehung wird typischerweise noch
immer von den Frauen erledigt und erfährt in der Gesellschaft einen geringeren Stellenwert
als die (bezahlte) Arbeit (der Männer), obwohl sie für die Gesellschaft ebenso konstituierend
ist, da Kinder die produktive Bevölkerung der Zukunft bedeuten. Offenbar hängt die
Wertschätzung einer Arbeit in unserer Gesellschaft sehr stark mit deren finanziellen
Entlöhnung zusammen.
Im Überblick stellt sich die feministische Argumentationsweise wie folgt dar:
Patriarchale Gesellschaft mit
traditionellen Mythen zu sexueller Gewalt sowie strukturellen
und ideellen Geschlechterungleichheiten:
o geschlechtsspezifische
Arbeitsteilung
o ungleiche Macht- und
Ressourcenverteilung
o traditionelle
Geschlechterrollen
o
o
o
o
o
Ökonomische Abhängigkeit
der Frauen
Tauschcharakter weiblicher
Sexualität
Dominanz männlicher
Bedürfnisbefriedigung
sexistische Ideen, traditionelle Sichtweise sexueller
Gewalt
Abwertung von Frauenberufen und -tätigkeiten
Sexuelle Gewalt
an Frauen und
Kindern als Form
der
Machtausübung
eingebettet in
Individuelle Faktoren und Problemlagen
Abbildung 4:
Feministische Erklärungsmuster für sexuelle Gewalt an Frauen (und Kindern)
51
3. Handlungsorientierte Erklärungsansätze für den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen
Brockhaus und Kolshorn (ebd.) halten fest, dass auch der feministische Ansatz keine
übergeordnete Theorie über angenommene Bedingungsfaktoren und Wirkmechanismen der
sexuellen Gewalt liefert. Ferner bleibe auch hier eine Analyse der psychischen und
interaktiven Prozesse aus. – Dies holen Brockhaus und Kolshorn in ihrem Drei-PerspektivenModell sexueller Gewalt nach, das aus Finkelhors Modell der vier Voraussetzungen sexueller
Ausbeutung (1984) hervorging, in dem er die ursächlichen Faktoren beim Täter in vier
Kategorien ordnete: seine Motivation, innere und äussere (situationale) Tathemmnisse und
Überwindung des kindlichen Widerstands. Diese Vorbedingungen verknüpfte er laut Elmer
(2004, 21) in einem multifaktoriellen Modell mit soziokulturellen und individuellen Faktoren;
er bezog also die gesellschaftliche Dimension des Problems mit ein, liess es nicht als Problem
einzelner krankhafter Täter im Raum stehen.
3.1.3. Feministisches Drei-Perspektiven-Modell sexueller Gewalt gegen Kinder
von Brockhaus und Kolshorn
Das 1993 von Brockhaus und Kolshorn entwickelte Modell basiert auf eben beschriebenen
feministischen Grundlagen und betrachtet zusätzlich psychische Prozesse und äussere
Bedingungen zwischen der ursprünglichen Motivation zur Tat und deren Ausführung. Als
theoretischen Überbau verwenden die Autorinnen den symbolischen Interaktionismus sowie
soziale Austausch- und soziale Lerntheorien. Im Wesentlichen schauen sie innerpsychische
und teils auch interindividuelle Prozesse an, die das Handeln von Opfern, Tätern17 und der
Umgebung auszeichnen; daher auch der Name Drei-Perspektiven-Modell.
Im Mittelpunkt steht die Auswirkung patriarchaler Gesellschaftsfaktoren auf die Entstehung
von sexuellen Übergriffen. Dabei geht es vor allem darum zu zeigen, wie der einzelne
Mensch trotz einer gesellschaftlichen Vorstrukturierung sein individuelles Handeln selber
bewusst und eigenverantwortlich gestalten kann. Brockhaus und Kolshorn (1998, 97-102;
1993, 216-259) entwickeln ihr Modell folgenden Eckpfeilern entlang: Handlungsmotivation,
begünstigende versus hemmende Faktoren, Handlungsmöglichkeiten und Kosten-NutzenAbwägungen. Dabei läuft der Prozess dazwischen nicht zwingend bewusst, logisch oder
stringent ab; es liegt eine Dynamik zwischen diesen Eckpfeilern und innerhalb derselben.
Ferner findet auch eine Wechselwirkung zwischen der Opfer-, Täter- und Umfeldperspektive
statt. Dieses Modell vermag viele Ansatzpunkte zu liefern, wie man bei sexuellem
Missbrauch vorbeugend oder intervenierend tätig werden könnte.
17
Da sich dieses Modell an der männlichen Täterschaft orientiert, wird in diesem Unterkapitel nur die männliche
Form verwendet.
52
3. Handlungsorientierte Erklärungsansätze für den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen
Das Zusammenspiel dieser verschiedenen Perspektiven und Einflussfaktoren, die im Folgenden gestützt auf Brockhaus und Kolshorn (1993, 1998) näher beschrieben werden, bringe ich
in nachstehender Abbildung zum Ausdruck:
Täter
Handlungsmotivation
Handlungsmöglichkeiten
Sexuelle
Gewalt
an
Kindern
fördernde und
hemmende
Repräsentationen
Kosten-Nutzen-Kalkül
Umfeld
Opfer
patriarchale Gesellschaftsfaktoren
Abbildung 5:
Feministisches Drei-Perspektiven-Modell sexueller Gewalt an Kindern (und Frauen) von
Brockhaus und Kolshorn (optische Realisierung durch die Verfasserin der Lizentiatsarbeit)
Obwohl es sich grundsätzlich am männlichen Täter und dem weiblichen Opfer orientiert,
verweisen die Autorinnen (1993, 250-255) darauf, dass ihr feministisches Perspektivenmodell
auch zur Erklärung von weiblicher Gewalt, zu deren Seltenheit sowie zur Erklärung
männlicher Opfer dienen kann, wenn man die Eckpfeiler mit entsprechend an die patriarchalen Bedingungen angepassten Inhalten füllt. Die Interventionswahrscheinlichkeit sei bei
Täterinnen und männlichen Opfern noch geringer, da die Unsicherheit im Umfeld noch
grösser sei, patriarchale Mechanismen noch mehr spielten. Frauen hätten eine vergleichbare
Chance, Kinder zu missbrauchen, da sich Kinder aufgrund struktureller Unterlegenheit und
Abhängigkeit ebenso wenig gegen Frauen wehren könnten. Bei Frauen liessen sich eine
geringere Motivation, ein Übergewicht von hemmenden Faktoren und eine negativere
Kosten-Nutzen-Bilanz erwarten, was aber noch weiter erforscht werden müsse.
53
3. Handlungsorientierte Erklärungsansätze für den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen
Nachfolgend sollen die vier Eckpfeiler, die aus je drei Perspektiven (Opfer, Täterschaft, Umfeld) betrachtet werden können, vorgestellt werden:
Handlungsmotivation:
Das Patriarchat erhöht das Risiko für sexuelle Gewalttaten insofern, als es die Motivation der
potentiellen Täterschaft dazu fördert und gleichzeitig die Motivation des Umfeldes zu
intervenieren senkt (ebd., 1998, 97-102).
Die Motivation für sexuelle Kontakte mit Kindern liegt für potentielle Täter in sexuellen und
sexualisierten (ursprünglich nicht sexuellen) Motiven. Sie können Kinder als Quelle sexueller
Befriedigung sehen, bestimmte emotionale Bedürfnisse im sexuellen Kontakt mit dem Kind
stillen oder es kann an alternativen sexuellen Befriedigungsquellen mangeln. Das alles baut
darauf auf, dass ein potentieller Täter von den patriarchalen Gesellschaftsbedingungen mit
den traditionellen Geschlechterrollen geprägt ist, die Kinder und Frauen objektivieren, Beziehungen sexualisieren und Sexualität als Mittel zur Männlichkeits- und Machtdemonstration
sowie zur Selbstbestätigung nahe legen. (ebd., 1993, 227-229)
Aus Sicht des Opfers geht es oft um eine ambivalente Motivation: es ist im Konflikt, dass es
eine Beziehung zu einer vertrauten Täterschaft wünscht, aber nicht deren Missbrauch. Dies
verwischt die Motivation zur Gegenwehr. (ebd., 235)
Eine Person aus dem Umfeld mag ihre Motivation einzugreifen daraus ziehen, dass sie aus
Empathie, moralischem Empfinden, Unrechts- oder Pflichtbewusstsein heraus ein Kind
schützen, ein Unrecht aufdecken und beenden will. Sie fühlt sich vermutlich umso motivierter
einzugreifen, je deutlicher sie die Ausbeutung wahrnimmt, als solche definiert und eine
Handlungsnotwendigkeit und -zuständigkeit erkennt. Dabei kommen bereits die Repräsentationen ins Spiel.
Begünstigende und hemmende Repräsentationen (Hemmschwellenfaktoren):
Eine Motivation wird nur dann zu einer Handlung, wenn die verinnerlichten Einstellungen,
Werte, Stereotype, Normen, Überzeugungen, Rollenbilder und von aussen kommenden
Verhaltenserwartungen das Verhalten nicht hemmen oder sogar begünstigen. Diese verinnerlichten sozialen Repräsentationen leiten die Wahrnehmung und Orientierung einer Person und
bestimmen die Situationsdefinitionen mit. Es kommt darauf an, was man sich und der Umwelt
für eine Bedeutung zuschreibt, wie man sie deutet und versteht. Dabei geht es also auch um
die gesellschaftlich geprägte Identität, die Vorstellung eines Menschen darüber, was er ist und
wie er sich dabei fühlt. Dies beeinflusst seine Handlungsintention und sein Verhalten, auf
54
3. Handlungsorientierte Erklärungsansätze für den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen
Täter-, Opfer- wie auf Umfeldseite. – Schlussendlich kommt es darauf an, wie ein Individuum
die fördernden (zum Beispiel „das Kind könnte sich ja wehren“) und hemmenden (zum
Beispiel „ein Kind ist nicht fähig, bewusst zuzustimmen“) Faktoren gewichtet. Dies ist unter
anderem davon abhängig, wie stark eine Person Mythen toleriert, traditionelle Geschlechterrollen vertritt und interpersonale Gewalt akzeptiert. Je mehr dies der Fall ist, umso stärker
wird dem Opfer vom Umfeld die Schuld zugeschoben, die Tat verharmlost, dem Täter
Verständnis entgegengebracht und wegen der negativen Reaktionen des Umfelds der
psychische Widerstand des Opfers erschwert. (ebd., 1998, 97-102)
Für ein Opfer sind je nach Alter, Härte der Gewaltausübung, sozialer Stellung des Täters und
der Intensität der Handlungen andere Situationsdefinitionen, andere Verantwortungs-, Schuldund Rollenzuschreibungen zu erwarten. Je valider sein Wissen über sexuelle Gewalt und je
mehr Repräsentationen in seinem Umfeld da sind, die die Bewertung einer Situation als
Gewalt zulassen, je weniger patriarchal sie also sind, umso eher kann ein Kind die Lage als
sexuelle Ausbeutung wahrnehmen. (ebd., 1993, 234-240)
Handlungsmöglichkeiten:
Nur wer neben Motivation und Repräsentationen auch die ideellen und materiellen
Ressourcen und Kompetenzen hat, kann sein Ziel(handeln) erreichen, sein Interesse verwirklichen. Das gilt für Täter, Opfer und auch das Umfeld. Zu den ideellen Möglichkeiten gehören
Macht, Wissen, Autorität, Status, Glaubwürdigkeit oder Erfahrung. Zu den materiellen vor
allem Geld und Statussymbole. Das Verfügen über viele Ressourcen eröffnet mehr Handlungsspielraum. Über wie viele Ressourcen jemand verfügt, hängt von gesellschaftlichen und
biographischen (zum Beispiel Alter, Familiengeschichte, berufliche Position) Faktoren sowie
der individuellen Persönlichkeitsentwicklung ab. (ebd., 1998, 97-102)
In einer patriarchalen Gesellschaft besitzen Männer im Vergleich zu Frauen und Erwachsene
im Vergleich zu Kindern mehr materielle und ideelle Ressourcen. Beim potentiellen Opfer
können gute Aufklärung, Selbstverteidigungstechniken, Selbstsicherheit oder das Wissen um
Hilfeangebote und soziale Unterstützung durch das Umfeld solche Ressourcen darstellen.
Beim Täter können es zum Beispiel Geld und Geschenke sein, mit denen er Kinder besticht,
aber auch sein Wissen um die Wehrlosigkeit und Isolation eines potentiellen Opfers oder sein
gutes Ansehen im sozialen oder beruflichen Umfeld. – Auch die traditionellen Geschlechterrollen und Mythen dienen als Ressourcen. Widerstandsstrategien, die mit den Mythen und
55
3. Handlungsorientierte Erklärungsansätze für den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen
typischen weiblichen Attributen der patriarchalen Vorstellung übereinstimmen, sind oft sehr
unwirksam. (ebd.)
Kosten-Nutzen-Abwägung:
Die negativen und positiven Folgen einer Handlung werden in der Austauschtheorie Kosten
respektive Nutzen genannt. Antizipierte Überlegungen dazu beeinflussen bei Tätern, Opfern
und beim Umfeld das Verhalten. – Ein Opfer überlegt sich, was die Gegenwehr nützt, ob ihm
jemand glauben wird, wenn es von Übergriffen erzählt. Der potentielle Nutzen der Gegenwehr besteht in weniger Angst und der Beendigung oder Verhinderung schlimmerer
Gewalttaten; die möglichen Kosten liegen in der Selbstüberwindung, in der Schuldzuschreibung durch das Umfeld, im Risiko der massiveren Gewaltanwendung des Täters, im Verlust
der positiven Seiten der Beziehung zum Täter und im drohenden Auseinanderbruch der
Familie bei innerfamiliärem Missbrauch. (ebd.)
Dem Täter nutzt die Gewaltausübung insofern, als er dadurch unter Umständen seine Männlichkeit bestätigen, Macht erleben, sexuelle Bedürfnisse befriedigen und sozialen Kontakt zu
Kindern leben kann. Dafür muss er möglicherweise mit dem Widerstand des Kindes rechnen,
mit dem Aufwand der Vorbereitung und des Geheimhaltens des Missbrauchs, mit seinem
schlechten Gewissen und mit sozialer Ächtung oder gar mit Gefängnisstrafe und Jobverlust.
(ebd.)
Das Umfeld bezieht seinen Nutzen des Intervenierens daraus, dass es dazu beitragen kann, ein
Unrecht aufzudecken und zu beenden. Es erlebt unter Umständen Macht und kann nach
seinen eigenen Wertvorstellungen handeln. Die möglichen Kosten sind, dass Eingreifen einen
emotionalen und zeitlichen Aufwand bedeutet, dass man eigenen und fremden Zweifeln und
Ungläubigkeit begegnen wird, die Rache der Täterschaft oder sonstige Konsequenzen zu
tragen hat (zum Beispiel Verlust des Gatten, wenn die Mutter den Kindesmissbrauch durch
ihren Mann beendet). (ebd.)
3.2. Bestens ganzheitliches Dreifaktorenmodell über die Zusammenhänge
sexuellen Missbrauchs
Die eben vorgestellten feministischen Erklärungsansätze sexueller Gewalt entlang der Frage
der Sexualität, der Macht, der Geschlechterverhältnisse und/oder der innerpsychischen Prozesse könnte man in ein umfassenderes Modell einbetten. Denn letztendlich kann man die
vielfältigen Zusammenhänge und Ursachen als auf gesellschaftlich-kultureller, persönlicher
56
3. Handlungsorientierte Erklärungsansätze für den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen
und familiärer Ebene angesiedelt sehen, in jene die von Brockhaus und Kolshorn erwähnten
psychischen und interaktiven Prozesse hineinspielen.
Besten (1995, 49-56) hat die Zusammenhänge männlicher sexueller Gewalt gegen Kinder
(und Frauen) in einem ganzheitlichen, erklärenden Dreifaktorenmodell zusammengefasst,
welches hier nun vorgestellt wird. Sie merkt an, dass die verschiedenen Einzelfaktoren für
sich allein genommen nicht ungewöhnlich sind, sich aber im Faktorenkomplex negativ
verstärken können. Sie wirkten nicht ursächlich ausschlaggebend, sondern begünstigend auf
das Missbrauchsgeschehen. Es ist also quasi ein Kann und nicht ein Muss.
3.2.1. Gesamtes gesellschaftliches System
Innerhalb der gesellschaftlichen Faktorengruppe unterscheidet Besten vier Einzelfaktoren:
-
Geschlechtsspezifische Erziehung: Mädchen werden zu sozialen Fähigkeiten wie
Verständnis, Fürsorge, Rücksichtsnahme, Passivität und Unterordnung erzogen. Bei
den Jungen sind diese Eigenschaften zwar teils auch da, werden aber durch Aktivität,
Eigenständigkeit, das Verfolgen eigener Ziele, Verantwortungsübernahme, Ehrgeiz
und Durchsetzungsvermögen ergänzt, was sie möglicherweise weniger ausbeutbar
macht.
-
Rollenverteilung: Noch immer herrscht in unserer Gesellschaft tendenziell das Bild
vor, das den Mann als materiellen Versorger und die Frau als soziale Fürsorgerin
sieht. Die Frau ordnet sich sozial unter und hängt finanziell von ihrem Partner ab.
Männer haben wegen ihrer ausserhäuslichen Tätigkeit zu wenig Zeit mit den Kindern,
weswegen sie sich womöglich schlechter in sie hineinversetzen können, was die
Hemmschwelle zum Missbrauch herabsetzt. Gleichzeitig fühlen sich Männer zuweilen
in der Rolle des Starken und Unerschütterlichen überfordert, fühlen sich nicht
verstanden und haben das Gefühl, sie werden von ihrer Frau oder ihren Chefs
erdrückt. Dieses Minderwertigkeitsgefühl in der einen Beziehung manifestiert sich
dann unter Umständen in einer kompensatorischen Machtdemonstration in einer
anderen Beziehung, zum Beispiel in der (sexuellen) zum Kind.
-
Machtgefälle und Abhängigkeit: Die sexuelle Ausbeutung ist nicht nur ein
Sexualdelikt, sondern auch ein Gewaltdelikt. Es geht um Macht, ums Ausnutzen von
Abhängigkeiten, einerseits zwischen den Geschlechtern und andererseits zwischen
Kindern und Erwachsenen. Wenn sich ein Mann in einer gleichberechtigten
Erwachsenenbeziehung nicht in seiner Männlichkeit, verstanden als Stärke und Potenz
57
3. Handlungsorientierte Erklärungsansätze für den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen
(worin sich Triebkraft mit Leistungsfähigkeit, Macht und Einfluss paart), bestätigt
fühlt, findet er im sexuellen Kontakt zu Mädchen Kompensation. Zumindest für kurze
Zeit kann er so sein Selbstbild aufbessern.
-
Sexualisierung von Beziehungen: Männer neigen häufig dazu, ihre Beziehungen zu
sexualisieren, zum Beispiel wegen fehlendem Umgang mit Kindern und wegen dem
gängigen Bild männlicher Sexualität. Für viele ist Zärtlichkeit gleichgesetzt mit
Sexualität und dementsprechend gestalten sie ihre Annäherungen an andere
Menschen. Kinder sind für sie insofern herausfordernd, da sie in Extremform
attraktive weibliche Merkmale aufweisen: sie sind abhängig, jung und schwach.
3.2.2. Biographische Faktoren
Die biographischen Faktoren meinen Umstände, die sich aus der persönlichen
Lebensgeschichte der Opfer oder Täter ergeben, und die eventuell die Entstehung des
sexuellen Missbrauchs begünstigen. Darunter fallen beispielsweise „gestörte“ Familienverhältnisse. Wenn die Kinder keinen sozialen Außenkontakt haben, sind sie eher zu sexueller
Nähe mit Erwachsenen bereit, da das die einzige Form emotionaler Nähe ist, die sie
erheischen können. Auch „Autoritätshörigkeit“ tritt als Risiko auf: Kinder, die extrem angepasst und gehorchend sind, sich den Eltern nie widersetzen oder sie mal ablehnen dürfen, das
Gefühl haben, die Erwachsenen seien immer im Recht, sind anfälliger für Übergriffe. Ferner
scheint die Täter-Vorgeschichte als Opfer sexueller Gewalttaten gewisse Bedeutung zu
besitzen. Gewisse Täter sind selber einst Opfer gewesen oder haben es an ihren Geschwistern
miterlebt, und geben dies dann unter Umständen unverarbeitet an ihre Opfer weiter. Auch ein
begünstigender Faktor kann ein geringer Selbstwert beim Täter sein. Der Täter gleicht in
sexuellen Handlungen mit Kindern seine Minderwertigkeitsgefühle und seine Gefühle des
nicht Verstanden Werdens aus. Ein Risikofaktor sind auch ungenügende soziale Fähigkeiten
des Täters: häufig können Täter sich selber keine Grenzen setzen und diejenigen anderer nicht
akzeptieren. Sie können sich zu wenig ins Opfer einfühlen, kaum deren Gefühle verstehen
und weisen ein mangelndes soziales Bewusstsein auf. Ihr Bedürfnis nach Anerkennung,
Liebe, Austausch und Geselligkeit soll in der Beziehung zum Kind Erfüllung finden.
3.2.3. Familiäre Umstände
Schliesslich sind vor allem beim inzestuösen Missbrauch gestörte Beziehungsmuster in der
Familie anzutreffen, die als missbrauchsfördernd betrachtet werden können. Anfällig scheinen
58
3. Handlungsorientierte Erklärungsansätze für den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen
isolierte Familien ohne Aussenkontakte, die sich gegenseitig mehr Bedürfnisse befriedigen
müssen und glauben, dass nur sie selbst diese Funktion erfüllen können. Damit verbunden
besteht eine starke Abhängigkeit der Familienmitglieder, die sich finanziell oder/und
emotional manifestieren kann, sodass weder Mutter noch Kind ihr Schweigen brechen
würden, um das System nicht zu zerstören. Gefährdet sind auch Familien, die keine Grenzen
kennen: wenn Kinder wie Erwachsene keine eigenständige Personen mehr sind, sondern in
ihren Pflichten, Rechten und Grenzen eng verflochten sind. Auch Sonderrollen des Kindes
können gefährlich sein: dabei wird dem Kind zum Beispiel die Rolle eines/einer Vermittlers/Vermittlerin zwischen den Eltern zugedacht, es wird nicht mehr als Kind in seinen
Bedürfnissen wahrgenommen. Beispielsweise wird die Tochter quasi zur Ersatzpartnerin des
Vaters und die Mutter betrachtet sie als Hausfrau.
Ich will diesen Faktoren noch den Punkt hinzufügen, dass auch von Bedeutung ist, wie das
Wertesystem einer Familie aussieht. Es scheint förderlich für Missbrauch zu sein, wenn ein
speziell konservatives, verklemmtes Milieu vorherrscht, wo nicht offen über Beziehungen,
Sexualität und Probleme gesprochen werden kann (siehe auch Besten, 1995, 18f).
Diese Erklärungszusammenhänge von Besten sollen zum Abschluss des Kapitels über
handlungsleitende Erklärungsansätze zum sexuellen Kindesmissbrauch in folgender Darstellung zusammengefasst werden:
59
3. Handlungsorientierte Erklärungsansätze für den sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen
o
o
o
o
o
familiäre Umstände (v. a. bei Inzest):
Isolation gegen aussen
starke innerfamiliäre Abhängigkeit
kindliche Sonderrolle (z.B. VermittlerIn)
keine Grenzen zueinander
Wertesystem, -milieu
Sexueller Missbrauch an Kindern
(und Frauen)
biographische Faktoren:
o gestörte Familienverhältnisse beim Kind
o Autoritätshörigkeit vom Kind
o Tätervorgeschichte als Missbrauchsopfer
o geringer Selbstwert beim Täter
o mangelnde soziale Fähigkeiten des Täters
Abbildung 6:
o
o
o
o
gesamtgesellschaftliches System:
geschlechtsspezifische Erziehung
Rollenverteilung
Machtgefälle, Abhängigkeit
Sexualisierung von Beziehungen
Visualisierung von Bestens ganzheitlichem Dreifaktorenmodell über die Zusammenhänge
sexueller Gewalt von Männern gegenüber Kindern (und Frauen)
Nachdem nun die vermuteten Ursachen des sexuellen Missbrauchs in einem grösseren
Rahmen verortet wurden und so einen Hintergrund für später folgende (primär)präventive
Überlegungen liefern, soll als nächstes nach möglichen kurz- und langfristigen Folgen gefragt
werden.
4. FORSCHUNGSRESULTATE ZU DEN FOLGEN FÜR DIE OPFER
Viele Untersuchungen – wenn auch zum Teil zu wenig systematische – haben zum Thema,
was die Symptome sowie kurz- und langfristigen Folgen von sexuellem Missbrauch sein und
wie die Betroffenen damit umgehen können. Besten (ebd., 45) vermutet, dass die Missbrauchsintensität (Dauer, Länge, Art der Handlungen), die Persönlichkeitsstruktur, das
Kindesalter, die Reaktion der Umwelt und die erhaltene (respektive die ausbleibende) Hilfe
nach der Tat mitbestimmen, wie stark sich das Erlebte auswirkt18. – Ich möchte nun zuerst
(vor allem deskriptive) Literatur wiedergeben zur Frage, wie Kinder und Jugendliche
unmittelbar während dem Missbrauch reagieren können und wie sich der Übergriff nach
18
siehe auch Kapitel 4.3., das diese Kriterien untersucht.
60
4. Forschungsresultate zu den Folgen für die Opfer
seiner Beendigung längerfristig in der Psyche oder auch im Verhalten einer Person
manifestieren kann. Allerdings überlappen sich die Folgen vielfach, sind nicht klar kurz- oder
langfristig, sondern treten oft während dem Missbrauch schon auf und verändern sich dann
später in die eine oder andere Richtung, nehmen neue Formen an oder verschwinden.
4.1. Das Kontinuum von kurzfristigen Symptomen zu langfristigen Folgen
Die Eigenart des sexuellen Missbrauchs ist es, dass vielfach keine körperlichen Symptome
festgestellt werden können. Dadurch wird ein Missbrauch oft nicht aufgedeckt und kann über
lange Zeit unbemerkt andauern. Nichtsdestotrotz beschreiben Furer und Stähli (1998, 45-48),
wie bei gravierenden Übergriffen auch körperliche Indikatoren auf den sexuellen Missbrauch
hinweisen können. Dies seien zum Beispiel unerklärliches Bluten, Hämatome, Scheiden- und
Analrisse, Fremdkörper in der Scheide oder im After, Geschlechtskrankheiten wie Herpes,
Pilz, AIDS aber auch Risikoschwangerschaften von sehr jungen Teenagerinnen. Ebenso
könne es zu blauen Flecken, Knochenbrüchen, inneren Verletzungen, Narben, Verstümmelungen und neurologischen Störungen kommen. – Körperliche Gewalt wird vor allem angewendet, um sich ein Opfer willig zu machen oder es zur Geheimhaltung zu bringen. Rein
körperliche Symptome machen sich gleichzeitig oder leicht verzögert zum Missbrauch
bemerkbar, halten unterschiedlich lange an und können durchaus nur einmalig auftreten, auch
wenn der sexuelle Übergriff viel länger andauert.
Ein Teil der Opfer zeigt auch psychosomatische Störungen wie Einnässen, Schlafstörungen,
Alpträume, Erstickungsgefühle, gestörtes Essverhalten, Waschzwang, Harnweg- und
Genitalinfektionen, Schmerzen in Hals, Unterleib, Magen oder Kopf (ebd.). Nach Bange
(1996, 81) kommen auch Hautkrankheiten, Legasthenie, Asthma und Hormonstörungen dazu,
wobei er keine Vergleichsdaten zu nicht-missbrauchten Kindern zur Verfügung hatte, um zu
schauen, ob der Unterschied zwischen den beiden Gruppen beträchtlich ist. – Diese Folgen
können sowohl während des Missbrauchs als auch erst einige Zeit später auftauchen. Sie
dauern eher länger an respektive treten meist mehrmalig auf.
Schliesslich sind da psychische und soziale Folgen (vgl. Bange, 1992; Bange, 1995b, 39-49;
Furer und Stähli, 1998, 45-48; vgl. Wirtz, 1989), die sowohl kurz- wie auch langfristig zum
Vorschein kommen können. Betroffene Kinder haben oft einen niedrigen Selbstwert, wenig
Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten, Identitätsprobleme, Hemmungen, Kontaktschwierigkeiten, misstrauen andern und sind eher passiv. Gerade auch im Moment des Missbrauchs
quälen Angst- und Schuldgefühle, Scham, Ambivalenz und Sprachlosigkeit sowie Zweifel an
61
4. Forschungsresultate zu den Folgen für die Opfer
der eigenen Wahrnehmung die Kinder. Die psychosoziale Entwicklung leidet vielfach, sei es
im Bereich der Sprache, des Lernens, der Intelligenz oder der Motorik. Kinder sind oft
schlecht oder aber übereifrig in der Schule, sind hyperaktiv und aggressiv (Mädchen
scheinbar eher autoaggressiv), haben Konzentrationsstörungen und Anpassungsschwierigkeiten. Einige reissen auch von Zuhause aus, hegen Suizid- und andere Selbstverletzungsgedanken, verfallen der Delinquenz/Kriminalität, Suchtproblemen (vor allem Alkohol)
oder/und unangemessenem Sexualverhalten. Letzteres meint laut Beitchman, Zucker, Hood,
da Costa und Akman (1991; zit. nach Kendall-Tackett et al., 1998, 154) bei Kindern zum
Beispiel sexualisiertes Puppenspiel, Einführen von Gegenständen in die Vagina oder den
Anus sowie extremes oder öffentliches Masturbieren und Ersuchen um sexuelle Stimulation
durch andere Personen. Bei Jugendlichen sind es eher Promiskuität (häufiger SexualpartnerInnenwechsel) und Prostitution.
Es besteht auch die Gefahr der Reviktimisierung (Risiko, erneut Opfer zu werden) und der
Verdrängung, was bis zu Persönlichkeitsstörungen und Amnesien führen kann. Bei Jungen
kann wegen der zumeist männlichen Täterschaft auch die Angst auftauchen, homosexuell zu
sein oder zu werden. Um die Kontrolle wiederherzustellen und den Hass zu überwinden,
scheint für gewisse Jungen die eigene Täterkarriere ein Ausweg zu sein.
Ich vermute, dass abweichende Verhaltensweisen wie Promiskuität, Sucht, Prostitution,
Kriminalität oder Täterkarriere als langfristige Folgen bei missbrauchten Kindern zu sehen
sind oder sich eher bei missbrauchten Jugendlichen zeigen.
4.2. Geschätzte Häufigkeit der Folgen
Es stellt sich nun die Frage, wie häufig die beschriebenen möglichen Folgen auftreten und in
welcher Missbrauchskonstellation Kinder besonders verwundbar sind 19. Empirische Forschungen zu diesem Thema sind zwar vorhanden, kommen aber zu teils sehr unterschiedlichen Resultaten. Bange (1995b, 41) schreibt, dass bisherige Versuche, missbrauchsspezifische Symptome zu eruieren, recht erfolglos gewesen seien. Einzig dem sexualisierten
Verhalten scheine eine besondere Bedeutung zuzukommen.
Bei Kendall-Tackett et al. (1998, 154-162), die eine Synthese und Review von 46 neueren
empirischen Arbeiten vornahmen, erfährt man mehr zu dieser Frage. Der Vergleich der
Studien, die oft mit klinischen Missbrauchssamples arbeiteten, zeigte, dass zwischen missbrauchten Gruppen und nicht-missbrauchten nicht-klinischen Stichproben in fast allen der
19
Letzteres soll im Kapitel 4.3. behandelt werden.
62
4. Forschungsresultate zu den Folgen für die Opfer
folgenden Symptome ein Unterschied gefunden wurde: Furcht, Alpträume, neurotische
Störungen, Grausamkeit, unangemessenes Sexualverhalten, regressives Verhalten, Weglaufen, Rückzugsverhalten, allgemeine Verhaltensprobleme, selbstverletzendes Verhalten, Internalisierung (für negative Ereignisse werden intrapersonale Ursachen gesucht), Externalisierung (positive Ereignisse werden extrapersonalen Ursachen zugeschrieben) und posttraumatische Belastungsstörung (PTBS20). Besonders deutlich sei der Unterschied beim sexualisierten Verhalten; das sei aber noch lange kein eindeutiges Diagnosekriterium für sexuell
Missbrauchte.
Klinisch erfasste sexuell Missbrauchte scheinen erwähnte Symptome nicht häufiger zu zeigen
als andere klinische Stichproben, ausgenommen unangemessenes Sexualverhalten und die
PTBS. Ausser dieser Belastungsstörung zeigte sich in diesen verglichenen Studien kein
Symptom bei der Mehrheit der Opfer; die meisten tauchten bei 20-30 Prozent der
missbrauchten Befragten auf. (ebd.)
Viele der Symptome sind über die Altersklassen verschieden oft anzutreffen. Wo bei den bis
sechsjährigen21 Kindern Angst, Alpträume, allgemeine PTBS, Internalisierung, Externalisierung und unangemessenes Sexualverhalten dominieren, sind bei den sieben bis 12-jährigen
Kindern (Grundschulalter) vermehrt Furcht, Schulversagen, allgemeine psychische Störungen, Alpträume, Hyperaktivität und Aggression anzutreffen. Bei den Jugendlichen schliesslich treten eher Depressionen, Rückzugsverhalten, Delinquenz, Weglaufen, Substanzmissbrauch und selbstdestruktives Verhalten/Suizidverhalten auf. (ebd.)
Ein geschädigter Selbstwert als zentrale traumatische Folge wurde in der Empirie kaum
gefunden. In den mehrheitlich 12-18 Monate dauernden Längsschnittstudien schienen sich die
Symptome über die Zeit zu reduzieren. Etwa 50 Prozent bis zwei Drittel der Befragten verbesserten sich seit der Aufdeckung des Missbrauchs in ihren Symptomen. Fast 20 Prozent der
Kinder verschlechterten sich aber auch. Da Symptome auch vom Entwicklungsstand
abhängen, bedeutet eine Veränderung des Zustands aber nicht automatisch ein Abklingen des
Traumas. (ebd., 166-169)
Einige Symptome erscheinen kurzlebiger (zum Beispiel Ängste und somatische Erscheinungen), andere hingegen länger andauernd oder sogar sich verstärkend, so wie zum Beispiel die
sexuelle Fixierung oder die Aggressivität. Man hat noch nicht eindeutig herausgefunden,
20
Die PTBS beinhaltet Trauma, Symptome des Wiedererlebens und der Vermeidung sowie des erhöhten
Erregungsniveaus (zum Bespiel Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Wut und Aggression, Reizbarkeit,
psychosomatische Phänomene wie Schwitzen, starkes Herzklopfen, Atembeschwerden, Durchfall, etc.). (Institut
für Psychotraumatologie Zürich, 2004)
21
Alter zum Zeitpunkt der Erhebung massgeblich für die Zuteilung (nicht der Zeitpunkt des Missbrauchs)
63
4. Forschungsresultate zu den Folgen für die Opfer
welche Variablen für eine Verbesserung der Symptome verantwortlich sind. Weder Geschlecht, Rasse noch sozioökonomischer Status scheinen einen Einfluss auf die Genesung zu
haben, ein unterstützendes Familienumfeld hingegen schon. (Gomes-Schwartz, Horowitz,
Cardarelli & Sauzier, 1990; zit. nach Kendall-Tackett et al., 1998, 169)
Es gibt scheinbar auch recht viele symptomlose Opfer. Zahlen sind schwierig einzuschätzen,
da Untersuchungen meistens mit klinisch erfassten Missbrauchsfällen arbeiten. Die Anzahl
nicht aufgedeckter Missbrauchsopfer (mit oder ohne Symptome) wird als gross angenommen;
insofern weiss man nicht, wie viele Opfer tatsächlich negative Folgen davontragen. KendallTackett et al. (1998, 162) fanden in verschiedenen Studien einen Anteil von 20-50 Prozent an
Kindern ohne Symptome. Dieser hohe Anteil könne an ungeeigneten Erhebungsinstrumenten
liegen oder an noch nicht manifestierten Symptomen, da sie unterdrückt sein könnten oder
eine Erfahrung nicht verarbeitet oder vom Kind mangels Reife noch nicht als Missbrauch
eingeschätzt worden sein könnte. Oder vorhandene Symptome seien in der Untersuchung
nicht erhoben worden. Vielleicht seien symptomfreie Kinder tatsächlich weniger belastet, was
einer geringeren Missbrauchsintensität oder besseren psychosozialen und Behandlungsressourcen des Kindes zuzuschreiben sein könnte. Dieses Forschungsthema sei aber vernachlässigt worden.
Als Quintessenz kann man sagen, dass die Befunde der Empirie uneinheitlich sind und
retrospektive Untersuchungsdesigns keine Aussagen über Kausalität zulassen, man aber von
einem starken Zusammenhang ausgehen kann zwischen sexuellem Missbrauch und emotionalen, interpersonalen und sexuellen Störungen (siehe auch Beitchman, Zucker, Hood, daCosta,
Akman & Cassavia, 1992, 101-118; Kilpatrick, 1992; beide zit. nach Moggi, 1998, 190).
4.3. Intervenierende Variablen (Traumatisierungsfaktoren)
Es gibt nun Missbrauchskonstellationen, die für das Opfer in besonderem Masse ungünstig
sind, weil sie das Risiko erhöhen, ein tief schürfendes Trauma mit vielen und auch
langfristigen Folgen davon zu tragen. Den Beitrag der einzelnen Faktoren an die Traumatisierung kann man schwer erheben, da sie untereinander sehr stark zusammenhängen.
Laut Bange (1995b, 42f) sind primäre Traumatisierungsfaktoren, die massive Auswirkungen
erwarten lassen, eine vertraute Täter-Opfer-Beziehung, die Anwendung von Gewalt oder
Zwang, massive Übergriffe wie orale, anale oder vaginale Vergewaltigung und Genitalmanipulation sowie häufige und lang andauernde Übergriffe (siehe auch Finkelhor, 1979; Kendall-
64
4. Forschungsresultate zu den Folgen für die Opfer
Tackett et al., 1998, 163-166). Ob das Alter des Kindes zum Missbrauchszeitpunkt Relevanz
habe, sei umstritten.
Sekundäre Traumatisierungsfaktoren sind eine nicht unterstützende Elternreaktion, das NichtVorhandensein und/oder die mangelnde Professionalität einer Therapie sowie unangemessene
institutionelle Reaktionen, welche bisher kaum empirisch erforscht wurden (Bange, 1995b,
42f). Zur Traumatisierung scheinen ferner negative Erfahrungen bei Gericht, eine vorhandene
Vulnerabilität beim Opfer und ein misshandelndes Umfeld beizutragen (Kendall-Tackett et
al., 1998, 169).
Kendall-Tackett et al. (ebd., 163-166) analysierten in ihrer Studienreview mit zumeist klinischen Samples einige Traumatisierungsfaktoren näher. Das Alter bei Missbrauchsbeginn wies
keinen klaren Zusammenhang mit den späteren Folgen auf, sondern eher mit der Identität der
Täterschaft. Kinder hingegen, die zum Erhebungszeitpunkt schon älter waren, zeigten mehr
Symptome. Allerdings wurden dabei Variablen wie die Dauer und die Schwere des Missbrauchs oder die Identität des/der Täters/Täterin nicht kontrolliert.
Entgegen der vielfachen Meinung waren bezüglich des Geschlechts des Opfers in dieser
Review keine eindeutigen Unterschiede in externalisierenden beziehungsweise internalisierenden Folgen zutage getreten. Nur in wenigen Studien zeigten sich konsistente Unterschiede
zwischen dem Verhalten von Mädchen und Jungen. Für einen aussagekräftigen Vergleich war
die Anzahl Jungen in den meisten Stichproben zu wenig gross.
Es scheint, dass dem Opfer näher stehende TäterInnen ihm mehr Schaden zufügen. Dabei
kommt es laut Kendall-Tackett et al. (ebd.) mehr auf die emotionale Nähe als auf die
verwandtschaftliche an, was leider in Studien zu wenig berücksichtigt werde. Ob sich die
Anzahl der TäterInnen und die verstrichene Zeit zwischen dem letzten Übergriff und der
Erhebung auf die Folgen auswirken, sei noch unklar. Hingegen hätten die mütterliche
Unterstützung zum Zeitpunkt der Aufdeckung und die Einstellung des Kindes einen Einfluss.
Je negativer der Bewältigungsstil des Opfers sei und umso weniger es durch die Mutter
unterstützt werde, umso mehr Folgen zeitige es.
Symptome können allerdings auch durch Begleitumstände der sexuellen Misshandlung oder
durch davon unabhängige Bedingungen wie zum Beispiel den Erziehungsstil oder eine
Scheidung beeinflusst werden (Moggi, 1998, 192). Ich stelle mir dabei die Frage, inwiefern
die Folgen letztlich dem sexuellen Missbrauch zuzuschreiben sind oder aber eher den
Umständen, die ihrerseits den Missbrauch respektive die kindliche Anfälligkeit begünstigten
65
4. Forschungsresultate zu den Folgen für die Opfer
(traditionelle Mythen zur Sexualität und Rollenvorstellung, Familiendysfunktionalität, etc.),
wodurch der Missbrauch zu einem Symptom unter anderen würde.
Das bisher Diskutierte zu den Folgen und intervenierenden Variablen des sexuellen Missbrauchs kann man anhand folgenden Schemas überschauen:
Begleitumstände
sexueller
Misshandlung
sexueller
Missbrauch an
Kindern und
Jugendlichen
vom Missbrauch unabhängige Bedingungen (Erziehungsstil, Scheidung,…)
starker empirischer Zusammenhang
(retrospektive Designs)
Anteil symptomloser Opfer
Folgen (klinische Missbrauchssamples):
- sozial-interpersonale Störungen
- psychisch-emotionale Störungen
- körperliche Symptome
- psychosomatische Folgen
- sexuelle (Verhaltens-)Störungen
Traumatisierungsfaktoren
Primäre Faktoren:
- vertraute TäterIn-Opfer-Beziehung
- Gewalt-, Zwanganwendung
- orale, anale, vaginale Vergewaltigung und
Genitalmanipulation
- grosse Häufigkeit und Dauer der Akte
- umstritten: Geschlecht und Alter des
Opfers
Abbildung 7:
Sekundäre Faktoren (auf Opferseite):
- fehlende elterliche (v. a. mütterliche)
Unterstützung zum Aufdeckungszeitpunkt
- kindliche Vulnerabilität und negative
Einstellung/negativer Bewältigungsstil
- negative Erfahrungen bei Gericht
- misshandelndes Umfeld
- fehlende oder mangelhafte Therapie
Schema zu den Folgen und Traumatisierungsfaktoren sexuellen Missbrauchs
Es fragt sich nun, ob es auch Erklärungsmodelle für die Folgen sexuellen Kindesmissbrauchs
gibt. Denn oft werden in Studien Folgen nur geschildert, aber es wird vielfach nicht nach
Erklärungen dafür gesucht. Moggi (ebd., 193) verweist dazu auf Finkelhors (1988) Modell
der traumatogenen Dynamiken, das versuche, eine übersichtliche Systematik in die
Missbrauchsfolgen hineinzubringen. Finkelhor nennt darin vier Faktoren, deren Kombinationsweise dafür ausschlaggebend sei, wie schwer und welcher Art die Langzeitfolgen sein
würden: traumatische Sexualisierung, Vertrauensbruch, Stigmatisierung des Opfers und Hilfund Machtlosigkeit. – Ich verstehe dieses Modell so, dass ein Opfer beispielsweise schwerere
Folgen zeigt, wenn es sich in der Missbrauchssituation (und/oder auch danach) besonders
hilflos und/oder in seinem Vertrauen stark missbraucht fühlte, wenn körperliche Gewalt den
66
4. Forschungsresultate zu den Folgen für die Opfer
Überbegriff begleitete und/oder wenn ihm nachträglich nicht geglaubt wurde, wodurch es in
seinem Vertrauen nochmals erschüttert wurde, Machtlosigkeit erlebt hat und sich schuldig
fühlte.
Dieses (hier nur angedeutete) Modell ist hilfreich fürs Verständnis von anfänglichen Wirkungen und Spätfolgen, kann allerdings spezifische Folgen laut Moggi (1998, 193) nicht
ursächlich erklären. Er verweist darauf, dass es dazu psychologische Ätiologiemodelle
bräuchte, die je nach Folge/Symptom einzeln formuliert werden müssten.
Nachdem nun ein tief greifender Überblick über Definition, Ursachen und Folgen von
sexuellem Kindesmissbrauch geschaffen wurde – und damit die erste Forschungsfrage
ausführlich behandelt und mittels verschiedener Abbildungen zusammenfassend illustriert
wurde – soll nun der Bogen zur (Primär-)Prävention gespannt werden.
Was ist Missbrauchsvorbeugung und wessen Aufgabe ist sie? Was sind ihre Inhalte? Was
muss man dabei im vorliegenden Kontext beachten, und inwiefern können die Schule und die
Soziale Arbeit etwas dazu beitragen? Diesen Fragen sollen die nachfolgenden Kapitel
nachgehen.
67
5. (Primär-)Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs
2. TEIL: PRAXISLEITENDE PRÄVENTION
5. (PRIMÄR-)PRÄVENTION DES SEXUELLEN KINDESMISSBRAUCHS
Der Begriff Prävention stammt aus dem Lateinischen und setzt sich zusammen aus dem
Präfix prae und dem Verb venire, was dann soviel wie zuvor-/vorher-kommen bedeutet.
Ursprünglich fand der Begriff vor allem in der Medizin Verwendung, doch immer mehr
bedient sich auch die Literatur zur Gewalt dieses Begriffs. Dies liegt nahe, da die Anwendung
von Gewalt zur Beeinträchtigung der seelischen, physischen wie auch psychischen
Gesundheit von Menschen führen kann, Gewalt und Medizin also verbunden sind.
Im Zusammenhang mit diesem Terminus fällt oft das Stichwort der Gesundheitserziehung,
welche sich mit Einstellungs- und Verhaltensänderungen bei Individuen und Gruppen
beschäftigt. Kollektive Massnahmen der Prävention, die auf Veränderung von Umwelt,
Lebensbedingungen und gesundheitsrelevanter Organisation zielen, fallen nicht darunter.
Gesundheitserzieherische Massnahmen greifen in unterschiedlichen Phasen des Kontinuums
zwischen Gesundheit und Krankheit ein. (Basler, 1989, 685) Es geht nicht nur um die
Zielgruppe der SymptomträgerInnen, sondern Kranke wie Gesunde sollen in ihrer
körperlichen, seelischen und geistigen Gesundheit ganzheitlich gefördert werden.
Bartsch (1989, 689f) hält in einem erziehungswissenschaftlichen Nachschlagewerk fest, dass
sich Gesundheitserziehung in der Schule einer interdisziplinären, fächerübergreifenden,
lebensweltbezogenen, schülerInnen- und verhaltensorientierten und ganzheitlichen Didaktik
bedient und durch Themenbereiche wie Psychohygiene, Behindertenanliegen, allgemeine
Suchtprävention, Ernährungserziehung, Hygiene, Krankheitserkennung und -vorsorge,
Schulhygiene und Sicherheitserziehung repräsentiert werde. Etliche Teilbereiche einer weit
gefassten Gesundheitserziehung wie jene der Sexual-, Umwelt, Verkehrs- oder Sozialerziehung hätten sich isoliert zu einem Lernfeld entwickelt.
So stösst man auf die Verwandtschaft von Sexualerziehung, Gewalt-, Gesundheits-, Drogenoder AIDS-Prävention, die in der schulischen Praxis oft gemeinsam thematisiert werden.
Obwohl in der schulischen Arbeit wegen inhaltlichen Überschneidungen mit den andern
Themen und auch aus Ressourcengründen Missbrauchsprävention nicht isoliert vermittelt
werden soll, steht sie im Zentrum dieser Lizentiatsarbeit, und darum möchte ich herausarbeiten, was im Kontext des sexuellen Kindesmissbrauchs unter Prävention verstanden
werden kann.
68
5. (Primär-)Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs
Die nächsten Unterkapitel widmen sich dem Fragenblock b) der Forschungs-Unterfragen
(siehe Seite 5), der nach Definition, Konzepten, Zielen, Zielgruppen sowie Ebenen/Wirkungsbereichen der Vorbeugung sexuellen Kindesmissbrauchs fragt. Dazu gehört auch eine
Einschätzung des diesbezüglichen Stands der schweizerischen Praxis. In Exkursform sollen
einige kritische gesellschaftliche Aspekte der (Primär-)Prävention das Kapitel abrunden.
5.1. Definition von Prävention sexuellen Kindesmissbrauchs
Ist die Rede von Gewaltprävention bei Kindern, dann handelt eine wissenschaftliche Arbeit in
der Regel davon, wie man unter Kindern (primär physische, verbale und psychische) Gewalt
verhindern kann. In der vorliegenden Arbeit aber geht es um die sexuelle Gewalt gegen
Kinder, und hier sind zumeist Erwachsene oder deutlich ältere Jugendliche als TäterInnen
angesprochen. Fachliche Debatten dazu werden mehrheitlich auf zwei separaten Schienen
geführt, obschon sich in der Arbeit mit der Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen einige
inhaltliche und methodische Gemeinsamkeiten vermuten lassen. Beim einen Bereich steht die
Forschung zum Jugendalter, zu Sozialisationsproblemen von Adoleszenten, zum Umgang mit
Aggression und Gewalt, zu Geschlechterrollen, etc. im Hintergrund, beim andern Bereich die
breit gefächerte Literatur zur sexuellen Gewalt. Um diesen unterschiedlichen Zugang hervorzuheben, spreche ich in dieser Arbeit nicht von Gewaltprävention, sondern von Prävention
sexuellen Kindesmissbrauchs oder von Missbrauchsprävention.
Konzept der präventiven und korrektiv-rehabilitativen Interventionen:
Um den Begriff Prävention vom inflationären Gebrauch zu entlasten, schlagen Engel und
Hurrelmann (1989, 201-203) alternativ den Überbegriff Interventionen vor, die sie in
präventive und korrektive beziehungsweise rehabilitative Interventionen einteilen. Unter
Interventionen verstehen sie (allerdings im Kontext der Jugendgewalt) alle Eingriffshandlungen des Staates, der Ämter, öffentlichen Institutionen und Organisationen, Verbände oder
Vereine, die in helfender, kontrollierender oder korrigierender Absicht bei Jugendlichen in
den Prozess der Entstehung von Abweichung und Beeinträchtigung ihrer Persönlichkeit
eingreifen. Wenn es darum gehe, bevorstehende Störungen der Persönlichkeitsentwicklung
mittels Massnahmen abzuwenden, die auf die Veränderung der personalen und sozialen
Ausgangsbedingungen abzielen, seien es präventive Interventionen; wenn bereits bestehende
Verhaltensauffälligkeiten mittels Therapie, Beratung oder anderer Hilfe gemindert oder
beseitigt werden sollen, seien es korrektive oder rehabilitative Interventionen.
69
5. (Primär-)Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs
Obwohl sich Engel und Hurrelmann dabei auf gewaltbereite jugendliche AkteurInnen
beziehen, lässt sich ihr Konzept auf die Prävention beim sexuellen Kindesmissbrauch
anpassen. Alle Massnahmen der genannten Interventionsträger, die risikohafte personale und
soziale Bedingungen so verändern, dass ein drohender Missbrauch abgewendet werden kann
oder eine potentielle Missbrauchssituation gar nicht erst entsteht, wären folglich präventive
Interventionen. In der Literatur werden diese Interventionen vielfach als Primärprävention
bezeichnet. Hingegen wären korrektive Interventionen jene, die beim ersten Auftreten von
sexuellem Missbrauch die beteiligten Personen und die sozialen Gegebenheiten derart
beeinflussen, dass das schädliche Verhalten künftig verhindert sowie seine Folgewirkungen
minimiert werden können. Dieser Interventionstyp wird in der Literatur auch als Sekundärund Tertiärprävention beschrieben.
Konzept der Massnahmen der primären, sekundären und tertiären Prävention:
Im angloamerikanischen Psychiatriebereich unter Caplan (1964; zit. nach Gebert Rüttimann,
2001, 34) kamen die Konzepte der Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention erstmals zur
Anwendung. Die Weltgesundheitsorganisation griff sie auf und sie wurden auch häufig in die
psychosoziale und pädagogische Fachliteratur zur Gewalt übertragen. Das soll der Anlass
sein, im Folgenden diese Termini zu benutzen und näher zu definieren, statt die seltener
anzutreffenden, inhaltlich ähnlich gelagerten Begriffe präventive und korrektive Intervention
von Engel und Hurrelmann. In der Missbrauchsliteratur trifft man ferner auch die Aufteilung
in Prävention, Intervention/Beratung und Therapie, wobei dann ein Überbegriff entfällt. Ich
ziehe Caplans Konzept vor, Prävention als Überbegriff zu sehen, da die beraterische und die
therapeutische Arbeit auch einen präventiven Aspekt haben, indem sie weiteren sexuellen
Übergriffen vorbeugen wollen.
5.1.1. Primärprävention als Vorbeugung und Ursachenbekämpfung
Primärprävention will Entstehungsbedingungen von sexueller Gewalt beeinflussen und
potentiell gefährdende Situationen reduzieren. Sie wird von verschiedenen AutorInnen als die
eigentlich präventive Arbeit aufgefasst (zum Beispiel von Koch & Kruck, 2000, 33), weshalb
sie den Begriff Prävention im Gegensatz zu dieser Lizentiatsarbeit in einem engeren Sinne
verwenden, nämlich wenn sie nur den Vorbeugungsaspekt meinen. Primärprävention versteht
sich als Ursachenbekämpfung und setzt an, wo noch keine Schädigungen und Gewalttaten
erfolgt sind (Klarwein & Schaffhauser, 1997, 71). Potentielle Opfer und TäterInnen sollen
70
5. (Primär-)Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs
davor geschützt respektive abgehalten werden, in Missbrauchssituationen zu kommen,
tatsächliche Opfer oder TäterInnen zu werden (Vorbeugung). Dabei werden besonders
Populationen angepeilt, die Risikogruppen darstellen, aber noch nicht von Störungen
betroffen sind. Amann und Wipplinger (1998b, 657) formulieren als übergeordnetes Ziel eine
Reduktion der Inzidenzrate, also von neuen Fällen sexuellen Missbrauchs.
Da sexueller Kindesmissbrauch, wie in den vorangegangen Kapiteln gezeigt wurde, als ein
vielschichtiges und multikausal bedingtes Problem gesehen werden kann, muss es auf
verschiedensten Ebenen angegangen werden, nicht nur auf der personalen.22 Laut Ziegler
(1990, 138, 145, 226f) ist das Ziel, für Kinder entwicklungs- und sozialisationsgünstige,
gewaltfreie inner- und ausserfamiliäre Bedingungen zu schaffen, wozu die Gewalt an Kindern
vermehrt als soziales, kulturelles und gesellschaftliches Problem erfasst werden müsse.
Insofern die Veränderung von Strukturen, die Aufklärung und Anleitung von gefährdeten
Zielgruppen auch zu einer Enthüllung von sexuellem Missbrauch führen kann, bedingt die
primäre Prävention immer auch die sekundäre, sie steht mit ihr in Wechselwirkung und ist
zum Teil schwer von ihr abzugrenzen. Die nötigen Ressourcen und die erforderliche
Kompetenz von Personen und Systemen zum Intervenieren in ein Missbrauchsgeschehen sind
unabdingbare Voraussetzungen dafür, dass man überhaupt Primärprävention anbieten darf, da
man aufgedeckte Missbrauchsfälle adäquat behandeln und eine Fortsetzung des sexuellen
Übergriffs verhindern können muss.
Die vorliegende Arbeit wird sich hauptsächlich auf die Primärprävention beziehen, da mir
Vorbeugung sehr wichtig erscheint, wenn man dadurch Übergriffe verhindern kann. Für den
von mir gewählten schulischen Rahmen stellt sie eine zentrale Möglichkeit dar, auf personaler
und institutioneller Ebene in den Kreislauf von sexuellem Missbrauch einzugreifen.
5.1.2. Sekundärprävention als Früherkennung, Intervention und Beratung
Laut Brunner (1997, 104; zit. nach Gebert Rüttimann, 2001, 34) geht es in der Sekundärprävention um das Erkennen von Anzeichen der Gewalt (Früherkennung) und um die
Reduktion bereits aufgetretenen problematischen Verhaltens. Verdachtsmomente sollten
abgeklärt werden, und es müssten im Voraus Instrumente bestimmt sein, wie man im Fall von
Gewalt reagieren wolle. Meines Erachtens fällt hier eine Abgrenzung von Primär- und
Sekundärprävention
schwer,
da
das
Bestimmen
von
Vorgehensweisen
für
den
Missbrauchsfall vor seinem Eintreten aufgrund des zeitlichen Aspekts auch zur
22
Im Kapitel 5.2.2. werden die verschiedenen Ebenen ausgeführt.
71
5. (Primär-)Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs
Primärprävention gehörig verstanden werden kann. – Durch die Früherkennung will man ein
weiteres Verfestigen des Gewalthandelns verhindern und deshalb bei ersten manifesten
Anzeichen eines Gewalthandelns eingreifen (Klarwein & Schaffhauser, 1997, 73). Deshalb
nennt man die sekundärpräventiven Massnahmen auch Intervention23.
In der Sekundärprävention will man auch bereits zurückliegende Missbrauchsfälle aufdecken,
da sich viele Täter immer neue Opfer suchen. Aus der Opfersicht ist ein weiteres Ziel,
schädigende Folgen des Eingreifens und des sexuellen Übergriffes möglichst zu minimieren.
(Amann & Wipplinger, 1998b, 657) Hier kommen die Krisenintervention, die beratende
Arbeit im Aufdeckungsprozess und die beratende Hilfestellung zum Vorgehen bei erfolgter
sexueller Ausbeutung ins Spiel, die gleichzeitig die Brücke von der sekundären zur tertiären
Prävention schlagen. Für meine Arbeit werde ich, wenn die interventive Beratung im Zentrum
steht, von Sekundärprävention sprechen, wenn es um Hilfestellungen zur therapeutischen
Aufarbeitung geht, von Tertiärprävention.
5.1.3. Tertiärprävention als Therapie und Rückfallbekämpfung
Ziel der tertiären Missbrauchsprävention ist die Aufarbeitung von Gewalterfahrungen, die
therapeutische Begleitung und Behandlung der Opfer und ihres Umfelds (Koch & Kruck,
2000, 33). Laut Amann und Wipplinger (1998b, 657) sollen aus Opfersicht durch Therapie
Langzeitfolgen reduziert und Betroffene in der Bewältigung der Erfahrungen unterstützt
werden (Schadensbegrenzung).
Tertiärprävention kann aber auf der anderen Seite auch die Therapie und Behandlung der
TäterInnen beinhalten, damit sie Hilfe erhalten und Rückfälle reduziert werden können.
Böllert (1995, 108) hält fest, dass es dabei um alle Massnahmen geht, die bessern,
nacherziehen, sozialisieren und die Reintegration ins Sozial- und Arbeitsleben fördern, zum
Zweck der Verhinderung künftiger Normverstösse (Rückfallbekämpfung). Klarwein und
Schaffhauser (1997, 73) weisen auf die Möglichkeit hin, durch Strafen zur Einübung von
Normvertrauen und -einhaltung zu gelangen. Dabei möchte ich auf die kontroverse
Diskussion hinweisen, ob respektive unter welchen Voraussetzungen Gefängnisstrafen von
SexualstraftäterInnen zugunsten therapeutischer Behandlung in den Hintergrund treten
können oder sollten. Strafrechtliche Sanktionen haben auch zum Ziel, die Entschädigung und
Genugtuung des Opfers zu gewährleisten und die Befriedigung der moralischen Entrüstung
23
Diese Lizentiatsarbeit wird dieses engere Verständnis des Begriffs Intervention verwenden; sie grenzt sich
damit ab von Engel und Hurrelmann (1989, 201-203; siehe Einführung des Kapitels 5.1.), die alle präventiven
und korrektiven Massnahmen im Begriff Intervention zusammenfassten.
72
5. (Primär-)Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs
der Gesellschaft sicherzustellen. Andererseits scheinen die Ziele der Reintegration und
Rückfallprävention über therapeutische Prozesse eher erreichbar zu sein.
5.2. Kategorisierung von primärpräventiven Zielen und Konzepten
In der primären Präventionsarbeit stecken vielerlei Inhalte, Ziele, Hoffnungen und Absichten.
Ich versuche sie entlang den Dimensionen Gesellschaftsbild/Ansatz, Raum/Ebene und
Zielgruppe aufzuzeigen und zuzuordnen. Ferner soll angedeutet werden, wo sich in der
Schweiz die Primärpräventionsarbeit bezüglich dieser Kriterien positionieren lässt.
5.2.1. Traditionelles versus feministisches Modell
In den vorbeugenden Ansätzen begegnet man nun wieder den Gesellschaftsbildern und
Rollenvorstellungen, die im dritten Kapitel zu den Ursachen ausführlich erklärt wurden. Zur
Erinnerung: während es im traditionellen Erklärungsmodell der sexuellen Gewalt 24 um die
Stichworte fremde, pathologische Triebtäter, „Lolita“-Mädchen, sexuell frustrierte Männer
und um individuelle Problemlagen ging, betonten feministische Modelle25 die Funktion der
patriarchalen Gesellschaft mit ihren traditionellen Geschlechterrollen, dem Machtgefälle
zwischen den Geschlechtern einerseits und zwischen Erwachsenen und Kindern andererseits,
der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und der ungleichen ideellen und materiellen Ressourcenverteilung zwischen Mann und Frau. Aus feministischer Sicht erhöhen diese Faktoren die
Handlungsmotivation der Täter, lassen ihr Kosten-Nutzen-Kalkül aufgehen und eröffnen
ihnen viele Handlungsmöglichkeiten, die auf der anderen Seite den schwächeren Frauen und
Kindern vorenthalten bleiben.
Eine auf den traditionellen Vorstellungen beruhende Primärprävention warnt folglich vor
dem bösen und unsympathischen Fremden, der krankhaften Trieben nachgibt. Kindern wird
abgeraten, sich von Unbekannten ansprechen zu lassen oder mit ihnen mitzugehen, sich
provokativ zu verhalten oder zu kleiden, dunkle Orte aufzusuchen, in der Dunkelheit allein
unterwegs zu sein, etc. Eine solche Strategie kultiviert gehorsame und angepasste Kinder,
produziert aber gleichzeitig unselbständige, abhängige, ängstliche, naive und misstrauische
Kinder, die in ihrer Entwicklung zur Selbständigkeit, zu selbstbewussten jungen Menschen
beeinträchtigt sind, und die Gefahren in ihrem sozialen Nahraum mangels angemessener
Aufklärung nicht erkennen können. (siehe auch Märki-Lüthy & Schwegler-Donat, 1993, 71f)
24
25
siehe Kapitel 3.1.1.
siehe Kapitel 3.1.2., 3.1.3. und 3.2.
73
5. (Primär-)Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs
Sie ist völlig unzureichend, da sie an der gesellschaftlichen Dimension des Problems
vorbeizielt und die Fakten zum sexuellen Missbrauch ausser Acht lässt.
Aktuelle Literatur zur Primärprävention beruft sich seit den 80er-Jahren vorwiegend auf
feministische Überlegungen. Wie diesbezügliche Forderungen und Ziele auf verschiedenen
Ebenen aussehen, soll im folgenden Unterkapitel aufgezeigt werden.
Diese Lizentiatsarbeit wird sich aus diesen Gründen wesentlich auf das feministische
Gedankengut abstützen, dem sich auch die meisten praktischen Primärpräventionsprojekte der
neueren Zeit im deutschen Sprachraum verpflichtet fühlen. Im schulischen Alltag ist es aber
noch nicht so konsequent an die Stelle des traditionellen Modells getreten.
5.2.2. Gesellschaftlich-strukturelle, institutionelle und personale
Wirkdimensionen und Ziele
Ziele in der Primärprävention und auch diesbezügliche Forderungen nach Massnahmen sind
auf verschiedensten Ebenen anzutreffen, damit eine breit abgestützte Veränderung der
Entstehungsbedingungen sexueller Gewalt gegen Kinder möglich ist.
Ziele und Massnahmen auf der gesellschaftlich-strukturellen Ebene
Entsprechend den feministischen Annahmen zum Entstehen sexueller Gewalt an Frauen und
Kindern liegt der Lösungsansatz des Problems besonders in gesamtgesellschaftlichen,
kulturellen und strukturellen Veränderungen. Aus Bestens Dreifaktorenmodell (1995, 50-56)
ist der Ruf nach einer nicht-geschlechtstypischen Erziehung, einer ausgewogeneren (auch
beruflichen) Rollenverteilung, einer „Entsexualisierung“ der Geschlechterbeziehung und einer
Reduktion des (ökonomischen) Machtgefälles und der weiblichen (materiellen wie emotionalen) Abhängigkeit vom männlichen Versorger herauszulesen. Die geschlechtliche Diskriminierung soll aufgehoben, die Akzeptanz von (körperlicher) Gewalt gegen Frauen und Kinder
verringert sowie soziale Netzwerke, Aufklärung und Erziehung ge- und verstärkt werden
(Godenzi, 1994, 328-334). Brockhaus und Kolshorn (1998, 90-102) fordern dazu für die
Frauen und Kinder mehr ideelle und materielle Ressourcen, also mehr soziale, politische und
wirtschaftliche Macht, Partizipation, Wissen, Autorität und Geld.
Es geht um gesellschaftspolitische Konzepte, die strukturelle Bedingungen in der Sozial-,
Wirtschafts-, Familien- und Gesundheitspolitik verbessern und Vorbeugungsmassnahmen
sowie Beratungs- und Interventionseinrichtungen (Schnittpunkt zum sekundär- und tertiärpräventiven Bereich) der psychosozialen Versorgung ausbauen wollen. Dazu müssen auf der
Makroebene legislative Voraussetzungen vorhanden sein. – May (1997, 39-42) fordert, dass
74
5. (Primär-)Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs
Primärprävention nicht in Form grossflächiger, alibiartiger Aufklärungskampagnen eine rein
symbolische Funktion erfüllen soll, wo politische und gesellschaftliche Handlungs- und
Bewältigungsbereitschaft demonstriert und vorbeugende Wirkung unterstellt würden. Es soll
der Bevölkerung nicht suggeriert werden, das geeignete Instrumentarium sei bereits
vorhanden. Die Chance solcher – von öffentlicher Seite nur symbolisch unterstützter –
Kampagnen bestehe aber doch darin, dass man auf die traumatisierenden Gewalthandlungen
aufmerksam machen, Stellung zum Thema und zu den Forderungen nach Interventionsmassnahmen beziehen könne. Neben dieser symbolischen Funktion von vorbeugenden
Massnahmen müsste ferner die ideologische, die ökonomische und die systemerhaltende
Funktion berücksichtigt werden. Die Motive zur Primärprävention auf der Makroebene
könnten demzufolge altruistisch, moralisch, ökonomisch und/oder (sozial-) politisch geprägt
sein. Durch sexuellen Missbrauch seien Kinder (und Frauen) in ihren Rechten gefährdet,
deshalb müssten vorbeugende Makromassnahmen die politischen und ökonomischen
Verhältnisse stabilisieren und verbessern.
Dabei sind wichtige Arbeitsbereiche die Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit, die
engagierte Medien- und Öffentlichkeitsarbeit; es geht um Problemanalyse, Befähigung,
Initiative, Emanzipation sowie um die Integration zwischen dem privaten Nahbereich und
dem öffentlich-politischen Bereich (Ziegler, 1990, 226f). Die Bevölkerung muss grossflächig
über Ursachen, Folgen und Formen des sexuellen Kindesmissbrauchs informiert sein, das
Thema soll durch Aufklärung enttabuisiert werden.
Letztendlich ist das Ziel die Schaffung von gesellschaftlichen Bedingungen, in denen Kinder
freie und selbstbewusste Menschen werden sowie klares (Un-)Rechtsbewusstsein entwickeln
und benennen dürfen. Die Schwächeren sollen von den Stärkeren geschützt werden, und es
soll eine tolerante Gesellschaft geschaffen werden, in der man auch auf die TäterInnen
zugehen und ihnen Hilfe anbieten kann. (Knop & Helms, 1997, 113)
Institutionelle Wirkebene:
Auf dieser Ebene sollen gesellschaftlich-strukturelle Ziele und Forderungen auf die
Mesoebene herunter gebrochen und dort umgesetzt werden. Dazu braucht es unter anderem
Institutionen des psychosozialen, pädagogischen, medizinischen und juristischen Bereichs mit
Engagement auf TäterInnen- und/oder auf Opferseite. Das können Fachdienste wie zum
Beispiel Beratungsstellen, Kinderschutzzentren, Präventionsfachstellen, soziale Dienste,
Ärzte, Psychologische Dienststellen sein. Es kann sich dabei aber auch um Vereinsarbeit oder
75
5. (Primär-)Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs
Engagement in der Nachbarschaft oder auf kommunaler Ebene handeln, wo man sich für die
(politischen) Rechte der Kinder (und Frauen) stark macht. Dabei kommt der Vernetzung und
Kooperation von AkteurInnen eine zentrale Bedeutung zu.
Andererseits geht es bei der institutionellen Ebene auch um jene Institutionen und Organisationen, die Kinder beherbergen, betreuen oder beschäftigen (zum Beispiel Kinderheime,
Betreuungsstätten), und selber ihre Machtstrukturen, ihr Betriebsklima, ihre Ressourcen und
Leitlinien dahingehend reflektieren müssen, damit sie interner Gefährdung vorbeugen
können. – Auch die Institution Schule26 und die Familie werden auf dieser Ebene
angesprochen.
Das Familienleben spielt sich auf dem Hintergrund von ökonomischen, technologischen und
politischen Realitäten ab und verändert sich entsprechend. Der Selbstwert der Familie,
Familienregeln und die Isolation innerhalb der Familien einerseits und gegenüber FreundInnen und der Nachbarschaft andererseits sind tangiert. In der Primärprävention sollen positive
emotionale Beziehungen zwischen Eltern und Kindern gefördert werden, Isolationsgefühle
abgebaut, Eltern in der Wahrnehmung der eigenen und der kindlichen Bedürfnisse gestärkt
und familiäre Stressereignisse in der Umwelt (zum Beispiel am Arbeitsplatz) abgebaut
werden. Dazu dienen institutionalisierte Angebote von Erziehungshilfen, (therapeutischen)
Interventionen und anderen Unterstützungssystemen. (Lally, 1984, 249-252)
Personale Zielebene:
Auf dieser Ebene geht es um die Arbeit mit einzelnen Personen oder (Risiko-)Gruppen, wobei
man ihre persönlichen Ressourcen und Kompetenzen im Sinne der feministischen
Überlegungen steigern will. Hier werden feministische Grundsätze und Forderungen auf der
tiefsten und unmittelbarsten Ebene umzusetzen versucht. Die primärpräventiven Ziele auf
personaler Ebene sind autoritätskritische, aufgeklärte, selbständige, selbstbewusste und starke
Bürger und Kinder, die befähigt sind, ihre Rechte auf körperliche, seelische und sexuelle
Integrität zu verteidigen (Märki-Lüthy & Schwegler-Donat, 1993, 71-76). – Als ein Mittel für
die Gleichstellung der Geschlechter bietet sich die emanzipatorische Erziehung an, die
Mädchen und Jungen nicht mehr auf ihre typisch-traditionellen Eigenschaften, Denkweisen
und Verhaltenserwartungen festlegt. Es geht aber auch darum, dass Menschen für das Thema
26
Am Beispiel der Schule im Kapitel 6.1. und im 7. Kapitel kann die institutionelle Ebene der Primärprävention
gut nachvollzogen werden.
76
5. (Primär-)Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs
sensibilisiert werden und nicht mutlos und überfordert die Augen verschliessen, wenn sie bei
einem Kind Anzeichen von sexuellem Missbrauch wahrnehmen.
Im Zusammenhang mit den Zielgruppen der Primärprävention sollen die Ziele auf personaler
Ebene näher ausgeführt werden.
5.2.3. Zielgruppen: Täter versus Opfer, Erwachsene versus Kinder
Eingebundene Zielgruppen in die Primärprävention sind PädagogInnen, MitarbeiterInnen in
sozialen, medizinischen, psychologischen und juristischen Bereichen, PolitikerInnen, die
„Gesellschaft an und für sich“, Kinder und Erwachsene als (potentielle) TäterInnen wie Opfer
(May, 1997, 51). Die Gesellschaft als Ganzes wurde bereits im Kapitel 5.2.2. angesprochen,
als es um strukturelle Veränderungen ging. An dieser Stelle soll aufgezeigt werden, inwiefern
Primärprävention sowohl Täter- wie auch Opferarbeit sein kann, mit Erwachsenen (zum
Beispiel Eltern und ErzieherInnen) wie auch mit Kindern arbeiten kann.
Meine Lizentiatsarbeit wird sich in der Ausarbeitung der konkreten Primärprävention (siebtes
Kapitel) an die kindliche Zielgruppe wenden und die Erwachsenen insofern einbeziehen, als
sie die schulische Arbeit mit den Kindern vorbereiten, verankern und kooperativ gestalten
müssen.27
Warum Kinder als Zielgruppe? Kinder sind leicht beeinflussbar und können rasch lernen. Sie
können in der Institution Schule durch LehrspezialistInnen langfristig unterrichtet und
regelmässig erreicht werden. Man kann sie erfassen, bevor sie schwerwiegende Probleme
haben und jenen, die bereits Gewalt erfahren haben, kann beim Ausbruch aus dem
Gewaltkreislauf geholfen werden. In der Arbeit mit Kindern können Kompetenzen auf
instrumenteller, affektiver, sozialer und gesellschaftlicher Ebene vermittelt werden. Man
erhofft sich durch die Verbesserung des Wissens auch im Bezug auf die Gewalt- und
Missbrauchsthematik, dass Kinder Konflikt- und Gewaltsituationen besser verstehen und sich
im Sinne der Vorbeugung verhalten lernen. (Ziegler, 1990, 144-150)
Sommer (1977, 70-98; zit. nach Ziegler, 1990, 145-150) klassifizierte die für die Vorbeugung
relevanten Kompetenzen28 in drei Schwerpunkte:
-
Instrumentelle Kompetenzen: Hier handelt es sich um sachliches Wissen, das in der
traditionellen Schule primär vermittelt wird; also Lesen, Schreiben, Rechnen,
27
Eine ausführliche Begründung zu dieser Auswahl findet sich in der Einleitung der Lizentiatsarbeit.
Definition Kompetenz: „die Verfügbarkeit und angemessene Anwendung von Verhaltensweisen (motorischen,
kognitiven und emotionalen) zur effektiven Auseinandersetzung mit konkreten Lebenssituationen, die für das
Individuum und/oder seine Umwelt relevant sind“ (Sommer, 1977, 75; zit. nach Ziegler, 1990, 145)
28
77
5. (Primär-)Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs
technisch-naturwissenschaftliches
sowie
biologisch-medizinisches
Grundwissen,
Informationssammlung und -verarbeitung, grundlegende wissenschaftliche Vorgehensweisen und Problemlösefähigkeiten. Dabei wäre eine hohe Lebensrelevanz
wünschenswert, damit das Individuum in der hoch komplexen industrialisierten
Gesellschaft zurechtkommt.
-
Individuelle und soziale Kompetenzen: Diese helfen im erfolgreichen Umgang mit
sich und andern, im Umgang mit Bedürfnissen und Gefühlen. Man soll an sich selber
Interessen spüren, bejahen und sie mitteilen können und diejenigen der andern
mitberücksichtigen. Dabei soll das eigene Verhalten kritisch hinterfragt werden, die
soziale Wahrnehmung verbessert, Kommunikation und Kooperation erhöht und ein
hohes Mass an Selbständigkeit, Eigensteuerung, Selbstwertgefühl und Angstfreiheit
erreicht werden.
-
Gesellschaftlich-politische Kompetenzen: hier geht es um die Einsicht in die
Notwendigkeit der Demokratisierung. Das Individuum soll politisches und
gesellschaftliches Wissen haben, damit es seine eigene Umwelt aktiv mitgestalten und
demokratisch handeln kann.
Mit diesen Kompetenzen ausgestattet sollten die Kinder weniger angreifbar für sexuelle
Übergriffe sein. Durch das Trainieren vielfältiger Kompetenzen sollen sie unter anderem auch
Empathie, gewaltfreien Umgang mit andern und alternative Konfliktlösefähigkeiten erlernen.
Obwohl der Schwerpunkt der Arbeit mit Kindern auf der Opferperspektive liegt, sollen
Kinder – insbesondere Jungen – laut Marquardt-Mau (1993, 24f; zit. nach Amann &
Wipplinger, 1998b, 660) auch so erzogen werden, dass sie nicht zu TäterInnen werden.
Wesentlichstes Ziel der Täterarbeit ist das Fördern der Empathie gegenüber dem Opfer. Spezifische Primärpräventionsprogramme zielen darauf ab, dem Bagatellisieren von sexueller
Gewalt entgegen zu wirken, die vorherrschende Auffassung von Männlichkeit, Sexualität und
Gewalt zu hinterfragen und Einsicht in die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern zu
vermitteln. Sie wollen lehren, mit Machtbedürfnissen und Ohnmachtgefühlen umzugehen, die
Grenzen des andern zu respektieren sowie Alternativen zu sexuell gewalttätigem Verhalten zu
erlernen. Die Kontrolle von TäterInnen und ihre Behandlung scheinen wichtig zu sein, da
sexueller Missbrauch selten eine Einzeltat ist. (Amann & Wipplinger, 1998b, 661)
Diese Aspekte tauchen denn auch in der Arbeit mit (potentiellen) erwachsenen TäterInnen
auf. Nebst der Täterorientierung kann die vorbeugende Arbeit mit Erwachsenen auch eine
78
5. (Primär-)Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs
Opferperspektive einnehmen, sich an Erwachsene richten, die für den Schutz der Kinder
verantwortlich sind, was als indirekte Opferarbeit bezeichnet werden kann. Für die in dieser
Lizentiatsarbeit behandelte schulische Vorbeugungsarbeit ist dieser Aspekt der Erwachsenenarbeit zentraler. Wesentliches Ziel der Arbeit mit Eltern, ErzieherInnen, LehrerInnen, SozialarbeiterInnen oder andern Bezugspersonen als potentiellen ZeugInnen ist deren Befähigung,
den Kindern zu helfen, sich vor Missbrauch zu schützen, und die Kinder selbst aktiv zu
schützen.
Dazu empfiehlt sich, dem Kind eine gleichberechtigte, nicht geschlechtsstereotype Sozialisation zu vermitteln, sein Selbstbewusstsein zu stärken und es aufzuklären, so dass es die Anfänge von sexuellem Missbrauch erkennen und eventuell sogar abwehren kann. Die erwachsene Gruppe soll durch die Primärprävention befähigt werden, über Missbrauch Bescheid zu
wissen, kindergerecht über das Thema Sexualität zu sprechen, selber Indizien von sexuellen
Übergriffen zu erkennen und primärpräventive Inhalte in ihren Erziehungsalltag einfliessen zu
lassen. Durch dieses regelmässige Konfrontieren mit dem Thema stellt sich ein Trainingseffekt ein, der sehr zu begrüssen wäre. Im Fall eines Missbrauchs sollen erwachsene Bezugspersonen befähigt werden, dem Kind adäquate Hilfe zukommen zu lassen. (Amann &
Wipplinger, 1998b, 658f)
5.2.4. Diesbezügliche Situierung der aktuellen primären Präventionsarbeit in
der Schweiz
Godenzi (1994, 327, 334) hält fest, dass primärpräventive Ansätze auf übergeordneter, also
strukturell-gesellschaftlicher, Ebene recht selten sind und dahingehend einzig die Strategien
der Aufklärung und Erziehung verfolgt werden, da sie in Projektform einfacher zu organisieren sind und nicht an den wesentlichen Strukturen rütteln. Laut Elmer (2004, 23) fehlt es
an politischem Willen und genug mächtigen Interessensvertretungen. Mit dem Argument von
hohem organisatorischen, zeitlichen und finanziellen Aufwand und unsicherem Ertrag würden
gesellschaftliche Massnahmen auf der zuständigen Ebene meist abgelehnt. Es fehle das
Zusammenspiel von wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Kräften.
Das dürfte nicht zuletzt auch damit zu tun haben, dass die Männer mehrheitlich diese
entscheidenden Positionen innehaben und sich durch emanzipatorische Forderungen in ihrem
Selbstverständnis und ihrer Vormachtstellung bedroht und in ihrer Männlichkeit angefeindet
fühlen. Veränderungen auf dieser Ebene werden vor allem von engagierten und teils
vernetzten Frauen- und Kinderorganisationen, von FeministInnen und SozialforscherInnen
wiederholt gefordert und vorangetrieben, so dass sich der träge Apparat allmählich doch in
79
5. (Primär-)Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs
Bewegung setzt. – Bezüglich des grossen Kostenaufwands besteht bei den BefürworterInnen
die langfristige Erwartung, dass man Kosten (und Leid) sparen könnte, indem bei einer
möglichst ganzheitlichen und effektiven Vorbeugung durch eine reduzierte Rate an Sexualdelikten weniger Folgekosten (medizinische und psychosoziale Betreuung, Therapie,
Gefängnisaufenthalte, etc.) entstünden.
Bei Ziegler (1990, 145-150, 225) findet sich die Einschätzung, dass viele Programme mit
Kindern ihren Schwerpunkt auf der instrumentell-rationalen Kompetenzebene hätten, und der
gesellschaftlich-politische Unterricht weitgehend vernachlässigt würde. Gerade dieser könnte
aber die Individuen befähigen, aktiv die Umwelt mitzugestalten und für menschenwürdige
Arbeits- und Lebensverhältnisse zu sorgen. Heutige Hilfsangebote und Programme sprächen
fast nur die familiale und individuelle Ebene der Gewaltproblematik an.
Bisher wurden in erster Linie begrenzte vorbeugende Massnahmen und Projekte durchgeführt. Es ist kein übergeordnetes Konzept der Primärprävention von Gewalt erkennbar und
kein verbindlicher Artikel existiert dazu in der Gesetzgebung. Selbst die Ratifizierung der
UNO-Kinderrechtskonvention und des Bundesverfassungsartikels (Artikel 11) zum Schutz
der Unversehrtheit von Kindern haben keinen Anlass zu länger dauernder und nationaler
Primärprävention gegeben. Projekte sind meistens weder inhaltlich, noch zeitlich, noch
regional verbunden und koordiniert. Von heraufbeschworenen Synergieeffekten ist wenig zu
spüren. Projekte sind meistens kurzzeitig, regional begrenzt, decken nur einzelne Aspekte ab
und richten sich zum grossen Teil ans Zielpublikum der potentiellen Opfer. Bis heute ist
Primärprävention, die sich an Erwachsene und (potentielle) TäterInnen richtet, nur in sehr
begrenztem Rahmen zu finden. (Ziegler, 2004, 43-47, 51)
Jedoch schildert Elmer (2004, 16-18) im gleichen praxisorientierten Buch der Fachstelle
Limita wie Ziegler, dass sich in der Schweiz der Fokus vom innerfamiliären sexuellen
Missbrauch (80er Jahre) auf den Missbrauch im weiteren sozialen Nahraum (90er Jahre)
verschoben habe, und deshalb verstärkt die institutionelle Primärprävention angestrebt werde.
Eine flächendeckende vorbeugende Opferarbeit an Schulen sei im Gegensatz zu den USA
hierzulande nie Anspruch gewesen. Die Feministinnen, die die Kernideen der Primärprävention sexueller Ausbeutung in die Schweiz gebracht hätten, hätten sich Ende der 80er
Jahre unter dem Namen „Limita“ versammelt und von Anfang die Verantwortung der
Erwachsenen für den Kinderschutz, also die indirekte Opferarbeit, ins Zentrum gestellt.
Es könnte also sein, dass sich hierzulande eine Entwicklung von der Arbeit mit Kindern hin
zu der Arbeit mit Institutionen und deren VertreterInnen abzeichnet, wobei Meier Rey (2003,
80
5. (Primär-)Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs
zit. nach Elmer, 2004, 18f) zugleich eine allgemeine Ermüdung der Primärpräventionsbewegung ausmacht, da die gesellschaftliche Anerkennung und Entlohnung gering seien.
Letztlich hätten sich doch schnelle, einmalige Übungen mit Kindern durchgesetzt statt
nachhaltige, strukturelle und wissenschaftlich begleitete Arbeit.
Es scheint eine grosse Kluft zwischen Praxiswunsch (aufgrund Einsicht in die Notwendigkeit)
und effektiver Praxis zu geben. Um empirisch gesicherte Aussagen über die aktuellste Lage in
der Schweiz zu machen, müsste aber eine wissenschaftliche Studie durchgeführt werden, die
alle bestehenden Projekte erfasst und analysiert, was meines Wissens noch niemand in
Angriff genommen hat.
5.3. Schematische Zusammenfassung der Dimensionen der (Primär-)Prävention
Auf den letzten Seiten wurde dieser Lizentiatsarbeit ein Verständnis der (Primär-)Prävention
zugrunde gelegt, das sich in der folgenden Abbildung ausdrücken lässt:
PRÄVENTION
SEXUELLEN
KINDESMISSBRAUCHS
PRIMÄRPRÄVENTION:
Vorbeugung, Ursachenbekämpfung, Aufklärung
Wirkdimension
(Ebene):
- gesellschaftlichstrukturell
- institutionell (zum
Beispiel Schule)
- personal
Abbildung 8:
SEKUNDÄRPRÄVENTION:
Früherkennung, Aufdeckung,
Intervention, Beratung
TERTIÄRPRÄVENTION:
Therapie, Rückfallbekämpfung, Schadensbegrenzung
(personale) Zielgruppen:
- (potentielle) Opfer
- (potentielle) TäterInnen: Kinder wie
Erwachsene
- Bezugspersonenarbeit (Eltern, Erziehende,
Lehrkörper, …)
- Fachleute aus dem psychosozialen,
juristischen, pädagogischen, medizinischen
Bereich
- Öffentlichkeit, PolitikerInnen,…
gesellschaftlicher
Ansatz (Modell):
- traditionell
- feministisch
orientiert
Übersicht über die betrachteten Dimensionen der Prävention sexuellen
Kindesmissbrauchs (kursiv hervorgehoben: Schwerpunkte der Lizentiatsarbeit)
Die Abbildung zeigt, dass diese Lizentiatsarbeit Prävention als Übergriff verstehen möchte.
Ins Zentrum wird die Primärprävention mit ihren verschiedenen Ebenen, Modellen und
81
5. (Primär-)Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs
Zielgruppen gestellt. Kursiv gedruckt sind in der Abbildung jeweils jene Aspekte, die im
siebten Kapitel zur konkreten Primärprävention besonders berücksichtigt werden. Aus der
schematischen Darstellung wird ersichtlich, dass schwerpunktmässig die feministisch
orientierte Vorbeugungs- und Aufklärungsarbeit mit insbesondere potentiellen Opfern
(respektive SchülerInnen) behandelt wird, wobei auch ihre institutionelle Einbettung,
Vorbereitung und Zusammenarbeit berücksichtigt wird.
5.4. Exkurs: Kritische gesellschaftliche Aspekte des (primär)präventiven
Kinderschutzes
Vorbeugung von sexueller Gewalt gegen Kinder ist im Wesentlichen ein moderner Kinderschutz. Diesbezüglich behandelt Kupffer (1984, 80-95) Spannungsfelder entlang folgender
Fragen: Wer schützt wen? Wie will er schützen, und wovor? Da dabei kritische gesellschaftliche Aspekte der (primär)präventiven Kinderschutzarbeit angesprochen werden, die auch
heute noch aktuell sind, sollen Kupffers Ausführungen hier dargelegt werden:
Es gibt kein bewährtes, allgemein anerkanntes Menschenbild, welches uns das Urteil erlaubt,
was für die Kinder gut oder schädlich ist. Das ist jeweils eine gesellschaftliche
Definitionsfrage. Ebenso muss man sich bewusst machen, dass eine einheitliche Kinderwelt
mit einem Erziehungsstil Fiktion ist. Weist man mit Bezug auf sein eigenes Menschenbild auf
eine vermeintlich drohende Gewalt hin, so setzt man sie als objektiv vorhanden und in ihren
Auswirkungen klar bestimmbar. Es könnte jedoch sein, dass erst dadurch das System von
„gut/schlecht“ hervorgebracht wird, weil man seinem eigenen Menschenbild eine universelle
Gültigkeit verpasst.
Kinderschutz ist nicht zwingend eine Staatsaufgabe, es sei denn, strafrechtliche Normen
werden verletzt. Das Gesellschaftsverständnis definiert, ob Kinderschutz eine gesellschaftliche Aufgabe sein soll oder nicht. Die Auffassung über den Stellenwert von Kontrolle und
privatem Leben sind ausschlaggebend. Zählt die Freiheit des Individuums stark – was dem
westlich-demokratischen, gesellschaftlichen und individuellen Freiheitsbegriff entspricht – so
möchte man Menschenrechte für alle. Man strebt den Abbau von Herrschaft und die Freiheit
des Einzelnen vor erniedrigender Behandlung durch Mitmenschen, Staat, Justiz, etc. an.
Konkurrierend dazu gibt es aber einen mitteleuropäisch-personalen Freiheitsbegriff, der
ebenfalls der christlichen Tradition entspringt, und in dem die Subsidiarität der Familie, ihre
natürliche Einheit und ihre Freiheit Vorrang haben vor der Freiheit des Individuums. – Es
stehen sich also die liberalistische Überbewertung des Einzelnen und die Gefahr der passiv
tolerierten Gewalttaten innerhalb in sich geschlossener Familiensysteme gegenüber. Bei
82
5. (Primär-)Prävention des sexuellen Kindesmissbrauchs
Kriseninterventionen muss deshalb immer entschieden werden, ob die Freiheit des Kindes
Vorrang hat vor derjenigen der Familie.
Grundsätzlich ist der Staat kein Gesamterzieher, er kann keine zwischenmenschlichen
Konflikte lösen. Jedoch kann er Netzwerke knüpfen, äussere Rahmenbedingungen schaffen
und Überleben sichern, indem er als zentrale Organisationseinheit zum Beispiel Kindergärten
und Schulen oder materielle und rechtliche Hilfe für Familien institutionalisiert.
Es gehört zum Kinderschutz, dass sich Erwachsene damit auch selbst schützen wollen. Sie
möchten, dass die Kinder „funktionieren“, um den gesellschaftlichen Errungenschaften ein
Fortbestehen zu sichern. Dabei gilt es zu überlegen, was noch vertretbare Schutzmassnahmen
für Kinder sind und was bereits die Freiheit von Kindern oder Erwachsenen angreift. Durch
zuviel Schutz können nämlich neue Gewaltverhältnisse, Bevormundung und Keimfreiheit
entstehen, die ihrerseits die Widerstandskraft schwächen, das Übel also noch begünstigen.
Das Kind würde sich nur im von uns geschaffenen Lebensrahmen sicher fühlen, ausserhalb
dieses Schutzraums aber umso gefährdeter leben. Wird Verantwortung als Kontrolle des
Kindes gelebt, kann sie bei einem allfällig hierarchischen Schema der Zuständigkeit zur
Verantwortungslosigkeit werden.
Im Kontext der Prävention von Gewalt droht also ein dialektischer Prozess: durch bürokratischen und staatlichen Schutz erhalten ausführende Instanzen mehr Macht gegenüber ihren
Zielgruppen. Besonders in den Unterschichten erfolgt aber eine ablehnende Reaktion auf
staatliche Eingriffe, die eigentlich gerade ihnen helfen sollten. Deshalb sollte der Kinderschutz möglichst keiner Behörde zuarbeiten und mit freiwilligen und professionellen HelferInnen arbeiten, um Zugang zu allen Zielgruppen zu erhalten.
Primärprävention soll sich entlang von Freiheit, Recht und Emanzipation entwickeln.
Kinderschutz muss Kindern Freiheit und Recht einräumen, auch wenn dies kein Individuum
geltend macht. Emanzipatorischer Kinderschutz wehrt nicht nur Gefahr ab, sondern nimmt
auch eine Anwaltsrolle für das Kind ein. Er zeigt demokratische Möglichkeiten der
Gesellschaft auf, stellt konkrete Utopien vor und strebt Veränderungen im öffentlichen
Bewusstsein an. –
Diese von Kupffer aufgezeigten Spannungsfelder im Kontext des Kinderschutzes sollen beim
Ausarbeiten der Kriterien für die schulische Primärprävention29 berücksichtigt werden. – Im
folgenden Kapitel wird zunächst die Frage behandelt, von wem Missbrauchsprävention in der
29
siehe Kapitel 7.2.
83
6. Primäre Missbrauchsprävention als interdisziplinäre Aufgabe?
Schweiz konkret wahrgenommen werden könnte. Dies soll zusammen mit den vorher
gelieferten Hintergrundinformationen über (Primär-)Prävention als Ausgangslage dienen, um
die zweite Hauptforschungsfrage nach den primärpräventiven Möglichkeiten von Schule und
Sozialer Arbeit gegen sexuellen Missbrauch zu behandeln.
6. PRIMÄRE MISSBRAUCHSPRÄVENTION ALS INTERDISZIPLINÄRE
AUFGABE?
Es stellt sich die Frage (Fragenblock c) der Forschungsunterfragen), wessen Aufgabe hierzulande die vorbeugende Arbeit mit Kindern im sexuellen Gewaltbereich überhaupt ist. Kann
es als Privatsache oder als gesellschaftliche Verpflichtung gesehen werden? Welche wissenschaftlichen Disziplinen bekümmern sich damit? Ist es eine Aufgabe der Sozialarbeit, Schulpädagogik, Kriminalistik/Rechtswissenschaft, Medizin, Psychologie, Psychiatrie, Politikwissenschaft oder womöglich all dieser Disziplinen zusammen, Kinderschutz zu verfolgen?
Mit Kupffer (ebd.) machte ich im vorhergehenden Unterkapitel darauf aufmerksam, dass das
Gesellschaftsverständnis bestimmt, ob der Kinderschutz zur staatlichen Aufgabe erklärt wird.
In der Schweiz hat die Gesellschaft eine eher ethisch-moralische Pflicht, ihre Mitglieder,
insbesondere die Kinder, vor sexueller Gewalt zu schützen. Artikel 122ff und 187ff des
Schweizerischen Strafgesetzbuches (Rehberg, 1999, 182-193, 273-288) halten strafbare
Handlungen gegen Leib und Leben respektive gegen die sexuelle Integrität fest; sexuelle
Handlungen mit Kindern werden explizit unter Strafe gestellt. Die Forderung nach
Kinderschutzbemühungen leiten sich aus der von der Schweiz 1997 ratifizierten UNOKinderrechtskonvention vom 20. November 1989 (siehe dazu kinderrechte.net, o.J.: Artikel
1930 und 3431) ab. Ziegler (2004, 43) verweist zudem auf den Artikel 11 der Bundesver-
30
Artikel 19 [Schutz vor Gewaltanwendung, Misshandlung, Verwahrlosung]
(1) Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmaßnahmen, um das Kind vor jeder
Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor
schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschließlich des sexuellen Missbrauchs zu schützen, solange es sich in der Obhut der Eltern oder
eines Elternteils, eines Vormunds oder anderen gesetzlichen Vertreters oder einer anderen Person befindet, die das Kind betreut.
(2) Diese Schutzmaßnahmen sollen je nach den Gegebenheiten wirksame Verfahren zur Aufstellung von Sozialprogrammen enthalten, die
dem Kind und denen, die es betreuen, die erforderliche Unterstützung gewähren und andere Formen der Vorbeugung vorsehen sowie
Maßnahmen zur Aufdeckung, Meldung, Weiterverweisung, Untersuchung, Behandlung und Nachbetreuung in den in Absatz 1
beschriebenen Fällen schlechter Behandlung von Kindern und gegebenenfalls für das Einschreiten der Gerichte.
31
Artikel 34 [Schutz vor sexuellem Missbrauch]
Die Vertragsstaaten verpflichten sich, das Kind vor allen Formen sexueller Ausbeutung und sexuellen Missbrauchs zu schützen. Zu diesem
Zweck treffen die Vertragsstaaten insbesondere alle geeigneten innerstaatlichen, zweiseitigen und mehrseitigen Maßnahmen, um zu
verhindern, dass Kinder
a) zur Beteiligung an rechtswidrigen sexuellen Handlungen verleitet oder gezwungen werden;
b) für die Prostitution oder andere rechtswidrige sexuelle Praktiken ausgebeutet werden;
c) für pornographische Darbietungen und Darstellungen ausgebeutet werden.
84
6. Primäre Missbrauchsprävention als interdisziplinäre Aufgabe?
fassung, der das Recht auf Unversehrtheit und besonderen Schutz und Förderung der Kinder
festhält; ein verbindlicher Gesetzesartikel zur Vorbeugung fehle aber.
In Deutschland hat die Delegiertenversammlung am Kinderschutztag 1975 die deutsche
Charta des Kindes in Form von zehn Thesen verabschiedet, die vom damaligen Präsidenten
des Kinderschutzbundes, Professor Doktor Kurt Nitsch, formuliert wurden. Darin sind auch
primärpräventive Forderungen enthalten, die man für die Schweiz ebenso formulieren könnte:
-
Die Kinder sollen vor den Gefahren durch Medien geschützt werden.
-
Da die älteren Schulklassen die Eltern von morgen sind, sollen sie in Gesundheit und
Erziehung unterrichtet werden.
-
Kinder haben das Recht auf seelisch-geistige und soziale Gesundheit dank Ärzten,
Gesetzgebung, Ausbildung der Eltern und kinderkundlichen Berufen. Eine Verbesserung der primärpräventiven und frühtherapeutischen Möglichkeiten in allen Gesundheitsbereichen der Jugendlichen wird gefordert.
-
Die Sozialgesetzgebung hat die Aufgabe, dem Schutz des Kindes zu dienen.
-
Sexualerziehung muss dem Alter und dem Entwicklungsstand des Kindes angepasst
sein. Eines ihrer bedeutenden Ziele ist der Schutz des Kindes vor sexuellem
Missbrauch. Interdisziplinäre Forschung soll dafür beachtet werden. (Wilken, 1984,
114-120)
Wenn man sich diese Forderungen vor Augen hält, wird einem bewusst, dass alle Disziplinen,
die mit Kindern beruflich zu tun haben, gefordert sind, ihren Beitrag zur Vorbeugung zu
leisten. In der Schweiz beschäftigen sich diese Berufsfelder in unterschiedlicher Intensität mit
sexuellem Kindesmissbrauch, wobei sich die meisten Bemühungen auf den sekundär- und
tertiärpräventiven Bereich beziehen; also um den Schutz und die Behandlung des Kindes
nach erfolgtem Missbrauch.
Wo sich so viele Fachrichtungen um ein Thema bemühen, scheint die Interdisziplinarität ein
zentrales Anliegen zu sein, Vernetzung und Austausch, Zusammenarbeit und fachübergreifende Forschung. Denn Wissen soll geteilt, effizienter Schutz von Kindern ermöglicht und
Synergien genutzt werden. Es ist eine grosse Herausforderung, sich bei einer so enormen
thematischen Nähe nicht zu konkurrenzieren, zu misstrauen und zu missverstehen, da jede
Disziplin über andere Prinzipien, andere theoretische Positionen und andere Funktionsmechanismen verfügt. Eine klare Rollenzuteilung, eine gemeinsame Zieldefinition, eine
85
6. Primäre Missbrauchsprävention als interdisziplinäre Aufgabe?
Aufgabenklärung sowie transparente Kommunikation über die je eigenen Vorannahmen und
Arbeitsweisen einer Disziplin scheinen mir dabei zentral.
Meine Arbeit siedelt sich im Schnittbereich von Sozialer Arbeit und Schule/Schulpädagogik
an, und wird deshalb im Folgenden die Zuständigkeit dieser beiden Disziplinen für die
(primäre) Missbrauchsprävention herausgreifen und nach fachübergreifender Zusammenarbeit
in Form der Schulsozialarbeit fragen.
6.1. Primäre Missbrauchsprävention als Aufgabe der Schule?
Für die Schule ist es erstmal nahe liegend, sich mit sexuellem Missbrauch zu beschäftigen, da
er vor der Schule nicht halt macht. Einerseits sind Kinder untereinander auf dem Schulhof
oder im Klassenzimmer gewalttätig – wenn auch bei der kindlichen Gewalt der sexuelle
Aspekt nicht im Vordergrund steht – andererseits verhalten sich zuweilen auch LehrerInnen
gegenüber ihren SchülerInnen sexuell missbräuchlich. Wenn in einem LehrerInnenteam der
Verdacht auf eine/n Kollegen/Kollegin fällt, können die Primär- und Sekundärprävention
besonders brisant werden. Hier stellt sich für die Schule im Falle einer schulweiten
Einführung eines Primärpräventionsprojekts das Problem, dass sie meistens nicht wissen
kann, ob eine/r ihrer MitarbeiterInnen die Schützlinge sexuell ausbeutet. Umso wichtiger wird
die Bedeutung von institutionellen Massnahmen, um im schulischen Setting den Zugang für
potentielle TäterInnen zu erschweren, die Transparenz und Hemmschwellen für Übergriffe zu
erhöhen.
Da sexueller Missbrauch nicht selten innerfamiliär auftritt, kommt der Schule eine besondere
Rolle in der Stärkung und Unterstützung der Kinder zu, da in diesem Fall die Eltern ihre
Aufgabe nicht zureichend wahrnehmen (können) beziehungsweise wahrgenommen haben.
Primärpräventionsinhalte in Kindergarten und Schule zu vermitteln bietet sich ferner an, da
ErzieherInnen und Lehrkörper tagtäglichen Kontakt mit den Kindern haben. Ausserdem sind
sie jene, die oft die Chance hätten, Anzeichen von sexuellem Missbrauch wahrzunehmen,
wenn sie sensibilisiert und informiert genug wären. – Johns und Kirchhofer (1995, 226f)
nennen es deshalb als umso unbegreiflicher, dass LehrerInnen selten an Entscheidungsprozessen bei sexuellem Missbrauch beteiligt seien und wenig diesbezügliche Fortbildung
hätten. Zudem begänne der Missbrauch in den meisten Fällen im Grundschulalter, deshalb
bestehe für die Schule besonderer Handlungsbedarf. – Bange (1992, 92f) betont auch die
Wichtigkeit, sexuellen Missbrauch in der Schule zu thematisieren, weil Freunde und
Freundinnen dadurch befähigt werden könnten, unterstützend zu reagieren, da sie vielfach von
86
6. Primäre Missbrauchsprävention als interdisziplinäre Aufgabe?
einem Opfer als erstes eingeweiht werden. Besonders gelte das für Jungen, die später als
Partner von missbrauchten Mädchen oder Frauen figurieren.
Die Gesellschaft hat zahlreiche Erwartungen an die Schule, so dass sich LehrerInnen leicht als
die Reparaturwerkstätte der unzureichenden elterlichen Erziehung wahrnehmen könnten und
sich angesichts der zahlreichen Herausforderungen neben der rein stofflichen Vermittlung
überfordert fühlen. Die Schule als von der Gesellschaft geschaffenes System hat die Funktion,
Kinder auf das berufliche Leben vorzubereiten, sie aufgrund Leistung zu selektionieren und
zu bewerten, und sie stellt dabei eine gewisse Konformität unter SchülerInnen her. Doch ihr
kommt auch eine Sozialisationsfunktion zu, sie muss Kinder aufs künftige Leben in einer
demokratischen Gesellschaft mit mündigen BürgerInnen vorbereiten, also auch soziale
Kompetenzen innerhalb einer ganzheitlichen Erziehung fördern. Hopf (1995, 261) nennt die
Auflage an die Schule, die gesamte erzieherische Arbeit in der Grundschule habe alle
SchülerInnen unter Berücksichtigung ihrer individuellen Voraussetzungen in ihrer
Persönlichkeitsentwicklung und in sozialen Verhaltensweisen zu fördern. Furer und Stähli
(1998, 53) zitieren den Berner Lehrplan der Volksschule vom Jahre 1995, der sich von der
Schule einen Beitrag zur Mündigkeit verspricht, indem er unter anderem schulische
Sexualerziehung vorsieht, was laut Furer und Stähli biologische, zwischenmenschliche,
ethische und gesellschaftlich-kulturelle Aspekte beinhaltet. Dazu gehörten auch Fragen der
sexuellen Belästigung, Gewalt und Ausbeutung.
Im Zusammenhang mit Primärprävention ist jene gegen sexuellen Missbrauch nur eine
Hoffnung, die man mit der Schule verknüpft. Auch in der Gesundheitserziehung, der
Gewaltvorbeugung an sich, in der Sucht- und AIDS-Vorbeugung wünscht sich die Gesellschaft den aktiven Beitrag der Schule. Teilweise können diese Themen in der primärpräventiven Arbeit in der Schule miteinander verknüpft werden, da sie Gemeinsamkeiten
inhaltlicher und methodischer Art aufweisen.
Die Schule kann einerseits auf übergeordneter Ebene institutionelle Prävention konzeptualisieren (besonders auch gegen Binnengefahren), welche die TäterInnen- wie die Opferperspektive, Primär- wie auch Sekundärprävention beinhaltet, andererseits kann die Schule
auf personaler Ebene direkte Primärpräventionsarbeit mit Kindern anbieten; einerseits mit
SchülerInnen als (potentiellen oder tatsächlichen) Opfern, andererseits als künftigen (potentiellen) TäterInnen oder ZeugInnen. Für diese Arbeit muss die Schule auf verschiedenen
87
6. Primäre Missbrauchsprävention als interdisziplinäre Aufgabe?
Ebenen Vorbereitungen treffen respektive verschiedene AnsprechpartnerInnen einbeziehen.32.
6.2. (Primär-)Prävention im Umfeld der Sozialen Arbeit: öffentliche und private
AnbieterInnen in der Schweiz
Eingangs möchte ich kurz Stellung nehmen zum Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit. Ich verstehe
Soziale Arbeit als Überbegriff für die Berufszweige Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Soziokulturelle Animation. Aus verschiedenen Gründen soll hier keine begriffliche Debatte angestrengt werden, wo Sozialarbeit aufhört und wo Sozialpädagogik anfängt: erstens ist die
Debatte in der Literatur sehr umfangreich und mit einem grossen historischen Exkurs verbunden, zweitens ist sich die Lehre darüber selbst nicht einig – von verschiedenen AutorInnen
werden die Begriffe auch synonym verwendet – und drittens ist gerade im Zusammenhang
mit Präventionsarbeit mit Kindern ein Abgrenzungsversuch zum Scheitern verurteilt. Wo es
um die Arbeit mit Kindern geht, kommen immer soziale und erzieherische Aspekte zum
Tragen. Und schliesslich möchte diese Arbeit eben gerade das Interdisziplinäre der missbrauchsvorbeugenden Bemühungen hervorheben; ein Denken in der je eigenen Profession
würde sehr rasch an Grenzen stossen. Deshalb spreche ich in meiner Arbeit im Allgemeinen
von der Sozialen Arbeit statt von der Sozialarbeit.
Betrachtet man öffentliche oder private Fachdienste und Institutionen in der Praxis der
(Primär-)Prävention gegen sexuellen Kindesmissbrauch, stellt man fest, dass eine eindeutige
Zuordnung der Einrichtungen zum medizinisch-psychologischen, sozialarbeiterischen, sozial-, heil- oder freizeitpädagogischen Feld sehr schwer fällt, zumal sie oft aus interdisziplinären Teams bestehen. Aus diesem Grund habe ich im Titel dieses Unterkapitels die
Bezeichnung „AnbieterInnen im Umfeld der Sozialen Arbeit“ gewählt: AkteurInnen sollen
dem sozialen Bereich im weiteren Sinne angehören.
In diesem Kapitel möchte ich nicht wie im vorhergehenden ausführlich die Frage diskutieren,
ob Vorbeugung sexuellen Missbrauchs zum Aufgabenfeld der Sozialen Arbeit gehört, da es
viel evidenter ist als im Bereich der Schule. Nur soviel: laut Drilling (2001, 95) gehört
Prävention zusammen mit Ressourcenorientierung, Beziehungsarbeit, Prozessorientierung,
Methodenkompetenz, Systemorientierung und Freiwilligkeit zu den Grundsätzen der Theorie
der Sozialarbeit. Dabei versteht er unter Prävention dasselbe wie in dieser Arbeit mit dem
Begriff Primärprävention gemeint ist. – Will Soziale Arbeit nicht nur als ein Reparaturdienst
32
siehe hierzu das siebte Kapitel
88
6. Primäre Missbrauchsprävention als interdisziplinäre Aufgabe?
für erlittene Benachteiligungen funktionieren, muss sie sich der Vorbeugung in verschiedenen
Bereichen (Arbeitsintegration, Sexualität, Gesundheit, Gewalt, etc.) zuwenden.
Vielmehr möchte ich an dieser Stelle nach privaten und staatlichen schweizerischen
AnbieterInnen der Primärprävention im Umfeld der Sozialen Arbeit fragen und stelle dabei
die Unmöglichkeit fest, Angebote entweder nur der sekundären oder nur der primären
Prävention zuzuordnen. Insofern die Begriffe nicht ganz trennscharf zueinander sind und die
beiden Arbeitsbereiche über grosse Gemeinsamkeiten verfügen, ist das allerdings nicht
erstaunlich. Es liegt im Sinn der Sache, dass sich AnbieterInnen sowohl im einen wie im
andern Bereich bewegen. Aus meiner Internet- und Publikationenrecherche wurde ersichtlich,
dass die meisten ihren Schwerpunkt in der Sekundärprävention und/oder in der
Tertiärprävention haben. Viele Stellen bekümmern sich um verschiedene Gewaltformen,
einige fokussieren sich auf die sexuelle Gewalt (an Kindern).
Im Folgenden versuche ich, verschiedene aktive Institutionen, Fachstellen, etc. aufzuzählen
und grob in drei Gruppen zu ordnen, wobei es eigentlich eine fliessende Skala zwischen
AkteurInnen mit eher interventionsbezogener bis eher vorbeugender Tätigkeit ist. Es soll
keine abschliessende Aufzählung oder eine starre Zuordnung aufgrund wissenschaftlicher
Kriterien darstellen, sondern eine Hilfestellung, damit man eine Vorstellung bekommt,
welche KooperationspartnerInnen tendenziell gemeint sind, wenn ich im siebten Kapitel
besonders die Rolle von Fachleuten aus der Primärprävention betone. Ausserdem soll hier die
Spannweite der PräventionsakteurInnen im psychosozialen Umfeld illustriert werden. Meine
Einschätzung ihrer Schwerpunkte habe ich mit Hilfe ihrer Internetauftritte vorgenommen33.
Nachfolgend liste ich exemplarisch solche Helferdienste auf, die mir in der Intervention und
Beratung (teils verbunden mit Therapie) ihren Schwerpunkt zu haben scheinen. Sie greifen
meistens erst nach erfolgtem Missbrauch ins Geschehen ein, auf Opfer- oder/und Täterseite.
-
kantonale Kinderschutzstellen: Anlaufstelle für Behörden, Institutionen,
Fachpersonen, die mit Kindsmissbrauch konfrontiert werden; erarbeiten auf
strategischer Ebene Grundlagen (Abläufe, Massnahmen,…) für effektiven
Kinderschutz
-
(kantonale) Interventionsprojekte, -stellen gegen Gewalt: meist als Runder Tisch
organisiert zwischen Behörden und Institutionen aus dem Bereich der häuslichen
Gewalt; Ablaufsoptimierungen zum Schutz der Opfer und Belangung der TäterInnen
33
Eine konkrete Internetquelle gab ich nur an, wo ich Informationen von einem bestimmten Projekt oder einer
bestimmten Institution darstelle. Diese Angaben finden sich im Literaturverzeichnis.
89
6. Primäre Missbrauchsprävention als interdisziplinäre Aufgabe?
-
kantonale Opferhilfeberatungsstellen (nach Opferhilfegesetz), andere Beratungsstellen für Gewaltbetroffene: Krisenintervention, Aufdeckungsarbeit, Beratung zum
Vorgehen nach erfolgtem Missbrauch, Triage an Fachleute (TherapeutInnen,
JuristInnen, ÄrztInnen, etc.)
-
interdisziplinäre Kinderschutzgruppen an Kinderkliniken: stark medizinisch ausgerichtet; koordinieren Schutz, Beratung und Behandlung von betroffenen Kindern
-
Männerbüros: Beratung von Männern als Tätern oder Opfern im Zentrum
-
Sorgentelefone: hören akuten Fällen zu, trösten und geben Rat zum weiteren
Vorgehen
-
Verschiedene Beratungsstellen wie Erziehungsberatung, Sozialberatung, Kinder- und
Jugendpsychologischer Dienst, etc.
Insofern die meisten dieser Stellen auch Öffentlichkeitsarbeit, Vernetzungsarbeit, Weiterbildung, Informations- und Aufklärungsarbeit in Beratungen und dergleichen leisten, enthalten ihre Angebote immer auch einen primärpräventiven Aspekt.
Gewisse Organisationen erscheinen mir gleichermassen vorbeugende und interventionsbezogene Arbeit zu leisten, indem sie auf verschiedenen Ebenen Projekte und Interventionen
mitfördern und/oder entwickeln, die sich gegen (sexuelle) Gewalt an Kindern richten. Dies
sind zum Beispiel:
-
Netzwerke und Interessengemeinschaften zur Buben- oder Mädchenarbeit: täter- und
opferorientiert; vernetzte, geschlechtsspezifische Projekte mit Buben und Mädchen zu
Gewalt und vielen andern Themen
-
Verein Kinderschutz Schweiz (ehemaliger Kinderschutzbund): einzige landesweite
Organisation mit Engagement gegen alle Formen von Gewalt gegen Kinder, unter
anderem Projektierung und Förderung von Vorbeugung und Intervention (vgl.
Kinderschutz Schweiz, 2005a)
-
Pro Juventute Stiftung: hilft, fördert, hilft und leistet Vorbeugung im Sinne der Vision,
dass die Kinderrechte umgesetzt werden sollen; unterstützt (Primär-)Präventions- und
Förderprojekte (vgl. Pro Juventute, o.J.a, o.J.b)
-
ECPAT Switzerland: Vertreterin der internationalen Nichtregierungsorganisation End
Child Prostitution in Asia Today (ECPAT): gegen kommerzielle sexuelle Ausbeutung
(Kinderhandel, -pornographie (Internet), -prostitution)(vgl. Kinderschutz Schweiz,
2005b)
Ausgeprägt in der Primärprävention tätige Institutionen sind nicht so zahlreich und oft in
Vereinsform organisiert. Sie setzen sich für die Arbeit mit Erwachsenen und/oder Kindern,
mit Institutionen und Einzelpersonen, im schulischen, familiären und/oder Freizeitbereich ein.
90
6. Primäre Missbrauchsprävention als interdisziplinäre Aufgabe?
Ihr Anliegen ist, das Entstehen von Missbrauch zu verhindern. Ferner vermitteln sie auch
Wissen zur Aufdeckung und schnellstmöglichen Beendigung, da ihnen klar ist, dass
Missbrauch oft trotz Vorbeugungsbemühungen geschieht. Ihre Arbeit weist also immer auch
ein Interventionsmoment auf, ohne eigentliche Opferberatung anzubieten. Beispiele dafür
sind:
-
Fachstelle Limita: Primärprävention und Intervention sexueller Ausbeutung von
Mädchen und Jungen; entstanden aus der feministischen Frauenbewegung; Arbeit mit
Erwachsenen und Kindern; Schwerpunkte in institutioneller Primärprävention, Inputs
zur Primärprävention mit Kindern, auch Abklärung, interventive Aufdeckung und
Beendigung von Übergriffen (vgl. Limita Zürich, o.J.)
-
Fachstelle Mira: Primärprävention sexueller Ausbeutung im Freizeitbereich,
Verantwortliche von Vereinen und Verbänden als Zielpublikum; entstand aus der
Arbeit des Schweizer Verbands der christlichen Vereine Junger Frauen und Männer
(Cevi Schweiz) (vgl. Fachstelle Mira, 2004)
-
Fachstelle PräVita: Primärprävention von Gewalt und sexueller Ausbeutung: in
Frauenfeld von engagierten psychosozialen Fachkräften gegründet, Angebote im
Bereich von Familie, Schule, Er- und Beziehung (vgl. PräVita, o.J.)
Fachleute aus diesem interdisziplinären Bereich, die sich auf Primärprävention spezialisiert
haben (sie können auch an eher interventionsorientierten Stellen arbeiten, wichtig sind ihre
persönlichen fundierten Kenntnisse der Primärprävention), verfügen über einen enormen
Wissensvorsprung gegenüber den themenferneren SchulsozialarbeiterInnen, LehrerInnen und
gegenüber der Institution Schule. Deshalb berücksichtige ich im Kapitel 7.3. zur Kooperation
von Schule und AkteurInnen aus dem Umfeld der Sozialen Arbeit nebst der Schulsozialarbeit
besonders die Funktion der auf Primärprävention spezialisierten Fachleute, und nicht den
ganzen Bereich, wie Schule mit der offenen und/oder behördlichen Jugendhilfe34 (wie
Sozialämtern, Erziehungsberatungsstellen, Vormundschaftsbehörden, etc.) kooperieren
könnte, da letzterer vor allem im Bezug auf die Sekundärprävention Wichtigkeit erlangt.
6.3. Schulsozialarbeit als Kooperationsmodell von Schule und Sozialer Arbeit
Da der Schule das Wissen und die Fachkompetenz im Missbrauchsbereich weitgehend fehlen,
stellt sich die Frage, wie sie von Fachleuten aus dem Sozialbereich die entsprechende
Hilfestellung via Zusammenarbeit bekommen könnte. Für die Fachleute aus dem sozialen
34
Jordan und Sengling (1992,12) sehen den Begriff Jugendhilfe als Dachbezeichnung für verschiedene und
unterschiedlich motivierte Stränge der Jugendfürsorge und -pflege. Heute richte sich die Jugendhilfe in ihren
Aufgaben tendenziell an alle Kinder und habe ein modernes leistungs- und angebotsorientiertes Hilfs- und
Unterstützungssystem.
91
6. Primäre Missbrauchsprävention als interdisziplinäre Aufgabe?
Bereich hingegen fragt sich, wie sie sich Zugang zur Institution Schule verschaffen können,
um die Zielgruppe der Kinder zu erreichen. Dabei begegnet man zwangsläufig dem
Kooperationsmodell der Schulsozialarbeit. Der Schulsozialarbeit werden je nach örtlicher
Entstehungsgeschichte, Schulform, dahinter liegender fachlicher Verortung und Überzeugung
sowie je nach Trägerschaft und Organisationsform sehr unterschiedliche Definitionen,
Aufgaben und Ziele zugedacht. Die Thematik ist sehr komplex und vielfältig. Im Rahmen
dieser Arbeit macht es wenig Sinn, auf die verschiedenen Grundpositionen, Organisationsformen und Trägerschaften detailliert einzugehen. Jedoch soll der Begriff skizziert werden
und nach Ziel- und Aufgabenbereichen gefragt werden, wenn man Schulsozialarbeit mit
Drilling (2001) als selbständiges Tätigkeitsfeld der Jugendhilfe versteht, die sich an der
Schule als gleichberechtigte Kooperationspartnerin ansiedelt. Damit möchte ich herausfinden,
ob diesem Modell in der Schweiz eine missbrauchsvorbeugende Arbeit zugedacht wird oder
werden könnte.
6.3.1. Zum Begriff der Schulsozialarbeit
Der Begriff Schulsozialarbeit basiert auf der Übersetzung des Tätigkeitsfelds der School
Social Work in den USA, welches seit 1906 entwickelt wurde (Kersting, 1985, 451; zit. nach
Wulfers, 1996, 25) und gemäss Wulfers (1996, 22-25) in den USA über einen fest umschriebenen Aufgabenkatalog verfügt und sich klar auf Einzelfallhilfe („casework“) konzentriert.
Im deutschsprachigen Raum bleibe es nach wie vor schwierig, Schulsozialarbeit als
Arbeitsfeld von Sozialarbeit oder Sozialpädagogik abzugrenzen, da sich die Fachleute selbst
zu letzteren Begrifflichkeiten nicht einig seien; alle für die Schulsozialarbeit relevanten
Arbeitsbereiche seien entweder der einen oder der andern Bezeichnung zuzuordnen.
Christen und Pfeiffer (1999, 12f) halten fest, dass den meisten Definitionen von Schulsozialarbeit die Problemorientierung gemeinsam ist und sie einen Vorbeugungsaspekt beinhalten.
Es handle sich nicht um ein klar umrissenes Berufsfeld, sondern um verschiedene sozialarbeiterische und sozialpädagogische Tätigkeiten im Bereich Schule, wobei die Strukturen und
Inhalte sehr vielfältig seien und die Definitionsspannweite von Jugendhilfe bis Schulentwicklung reiche. – Damit wird angedeutet, dass Schulsozialarbeit aus der Grundposition
-
der sozialpädagogischen Schule (LehrerInnen übernehmen selbst sozialpädagogische Funktion),
-
der Sozialarbeit in der Schule (Hilfe und Einsatz der Jugendhilfe für
Problemkinder, in kritischer Distanz zur Schulpädagogik)
92
6. Primäre Missbrauchsprävention als interdisziplinäre Aufgabe?
-
oder der Sozialpädagogik in der Schule (humane Schulklimaentwicklung
mit SozialpädagogInnen als Hilfe für Lehrkörper und Schülerschaft)
gesehen werden kann. Die Einbindung der Schulsozialarbeit am Ort Schule kann loser oder
fester sein und reicht von Organisationsmodellen mit
-
einer lockeren, recht unabhängigen, örtlich losgelösten „Zusammenarbeit“
(Distanzmodell),
-
hin zu einer Einverleibung der Schulsozialarbeit durch die Schule, wobei
Auftrag und Aufgaben durch die Schule bestimmt werden (Integrationsoder Subordinationsmodell),
-
bis zu einer örtlich integrierten, partnerschaftlichen, vertraglich abgesicherten Zusammenarbeit (Kooperationsmodell).
Zudem wird damit auch auf die vielfältigen Trägerschaften hingewiesen, die
-
frei (Kirche, Vereine, gemeinnützige Organisationen, etc.),
-
schulisch (Schule als Auftraggeberin)
-
oder behördlich (Stellen innerhalb der Stadt- oder Kommunalverwaltung als
ArbeitgeberInnen) sein können.
(Siehe dazu Christen & Pfeiffer, 1999, 13f; Drilling, 2001, 39-50; Drilling & Stäger, 2000,
120; Wulfers, 1996, 74-77.)
Für ein Pilotprojekt in Basel-Stadt haben Baumgarten, Arnold und Ruch (2000, 9-21)
Schulsozialarbeit in Zusammenarbeit mit Drilling (2001, 95)35 als eigenständiges Handlungsfeld der Jugendhilfe definiert, welches primär auf Begleitung, Unterstützung, Beratung
und Förderung der Schülerschaft ausgerichtet ist, aber auch Eltern und Lehrkörper als
Anlaufstelle dient. Sie beruhe dabei auf freiwilliger Grundlage, verstehe sich als
Primärprävention vor Ort, arbeite niederschwellig und eigenverantwortlich. Sie greife auf
Methoden der professionellen Sozialarbeit und Sozialpädagogik zurück und beziehe
systemisch nicht nur die Schule, sondern auch die soziale Umgebung mit ein. –
Ich möchte meine Lizentiatsarbeit auf dieses sozialarbeiterische, lebensweltorientierte,
ganzheitliche und integrative Basler Verständnis von Schulsozialarbeit stützen. Dabei werden
aufgrund meiner Fragestellungen besonders die Aspekte der Primärprävention, der
sozialarbeiterischen Methodik, der Vernetzung und der Zielgruppenorientierung auf die
Schülerschaft zentral.
35
Drilling sowie die andern drei Autoren arbeiteten gemeinsam am Pilotprojekt in Basel, wo sie zusammen diese
Perspektive der Schulsozialarbeit entwickelt haben.
93
6. Primäre Missbrauchsprävention als interdisziplinäre Aufgabe?
6.3.2. Ziele und Zielgruppen der Schulsozialarbeit
Schulsozialarbeit kann als ein integrationsorientiertes Konzept gesehen werden, in dem
Schulsozialarbeit auf formeller und institutioneller Ebene mit der Schule kooperiert mit dem
Ziel, SchülerInnen beim Erwachsenwerden zu begleiten und ihre Kompetenzen zu fördern,
damit sie ihr Leben befriedigend bewältigen und mit sozialen, persönlichen oder schulischen
Problemen umgehen können. Er orientiert sich an der Lebenswelt und den Stärken der
Jugendlichen und Kinder, will den Lern- und Leistungsort Schule um den Lebens- und
Erfahrungsbereich Schule bereichern, also auch eine Beziehungskultur aufbauen und die
Schulhausatmosphäre verbessern. (Drilling, 2001, 95-114) Das Ziel der aktiven Kooperation
zwischen Schulsozialarbeit und Schule liegt in der Persönlichkeitsentwicklung der
Schülerschaft und kann in Bereichen wie der Gesundheitsförderung, Drogenprävention und
Gewaltprimärprävention oder Krisenintervention realisiert werden; eine verbesserte Lernfähigkeit und Schulhausentwicklung sind nur Nebenprodukte (ebd., 11f).
Wulfers (2000, 55f) bezeichnet ferner als Ziele der Schulsozialarbeit, Aufgaben im schulischen Bereich nur in Kooperation zu übernehmen, zwischen den verschiedenen Bereichen der
Jugendarbeit und -hilfe zu vermitteln, selber in Absprache mit SchulvertreterInnen die KlientInnengruppen zu bestimmen und sich nicht zu Hilfsaufgaben degradieren zu lassen.
Als Zielgruppen können die Schülerschaft, der Lehrkörper, das System Schulhaus, die Eltern,
die Helferorganisationen sowie die (Fach-)Öffentlichkeit gesehen werden. Drilling (2001, 96)
hält fest, dass sich Angebote im Sinne von Arbeit an Generalthemen an alle SchülerInnen
richten sollten, auch wenn in Realität besonders leistungsschwache, schulüberdrüssige
SchülerInnen KlientInnen seien. – Im nächsten Unterkapitel sollen exemplarisch Tätigkeitsbereiche und Aufgaben mit den verschiedenen Zielgruppen angesprochen werden.
6.3.3. Methoden, Aufgaben und Tätigkeiten der Schulsozialarbeit
Die Arbeitsschwerpunkte hängen von personellen und materiellen Ressourcen, von schulspezifischen, örtlichen Bedingungen, vom Einfluss der Trägerschaft und von getroffenen
Absprachen ab (Wulfers, 1996, 57). Ferner ist das Organisationsmodell und die Grundposition mit ausschlaggebend dafür, wer mit welchen Zielgruppen wie arbeitet.
Als Aufgabenfelder identifizieren Drilling und Stäger (2000, 121-126) die folgenden:
-
Individualhilfe: hier stehen Hilfe zur Selbsthilfe für SchülerInnen mit persönlichen,
familiären oder schulischen Problemen sowie soziale Beziehungen im Zentrum, also
die Förderung der Persönlichkeit sowie auch die Konfliktentschärfung.
94
6. Primäre Missbrauchsprävention als interdisziplinäre Aufgabe?
-
soziale Gruppenarbeit: Erziehung und Bildung soll durch gemeinsame Problembearbeitung und Integrationsprozesse erfolgen. Es ist altersheterogene wie -homogene
und geschlechterspezifische Arbeit denkbar.
-
Projektarbeit: Der zeitlich begrenzte Prozess von der (Problem-)Definition über die
Projektierung, Realisierung und Evaluation steht im Zentrum, wobei man sich einer
bestimmten Thematik mit einem bestimmten Ziel widmet.
-
Gemeinwesenarbeit: Hier werden kulturelle, psychosoziale, materielle, ökonomische
und politische Lebensbedingungen aufgegriffen. Schulsozialarbeit versucht zielgruppenspezifisch oder auch -übergreifend die Kräfte und Initiative der Einzelnen im Sozialraum zu aktivieren. Dabei ist sie auf Veränderungsbereitschaft der EntscheidungsträgerInnen angewiesen und auf ein gemeinsames Ziel aller Beteiligten.
SchulsozialarbeiterInnen können auf verschiedene Methoden zurückgreifen, insbesondere in
der Einzelfallhilfe: sie können mit Parteien verhandeln, Zielgruppen beraten, SchülerInneninteressen vertreten, an Fachstellen weitervermitteln (Triage) oder in Konflikten intervenieren
(siehe auch ebd.).
Ich möchte an dieser Stelle exemplarische Aufgaben mit den Hauptzielgruppen aufzeigen,
wenn man Schulsozialarbeit vorwiegend aus Sicht der Sozialarbeit betrachtet und als
Kooperationsmodell gestaltet (siehe auch ebd. sowie Wulfers, 1996, 57-61). Da es eine
Vielzahl von möglichen Aktivitäten und Arbeitsweisen gibt, sei hier nur das Spektrum
angedeutet. Die diversen Aufgaben erstrecken sich über drei Grundbereiche, nämlich den
unterrichtlichen, ausserunterrichtlichen (schulische Freizeit) und ausserschulischen (schulisches Umfeld).
-
Schülerschaft: Hier gibt es vielfältige Beratungs-, Begleitungs- und Hilfsangebote. Da
ist niederschwellige Hilfe bei persönlichen oder sozialen Problemen im Sinn von
entwicklungs-psychologischer Förderung denkbar, die Befähigung der Kinder zur
sozialen, kulturellen und kommunikativen Kompetenz, zur gemeinsamen Problembearbeitung und zur Wahrnehmungsfähigkeit. – Es können Beratungsgespräche, Motivationsarbeit, Triage, Begleitung zu Fachstellen, Mitarbeit in Klassenprojekten, Schulhausanlässen, Freizeiträumen oder Lagern, Mitwirkung beim Aufbau von sozialpädagogischen Unterrichtseinheiten, Unterstützung bei Schulaufgaben und Ausbildungsfragen oder Konfliktvermittlung zwischen SchülerInnen angeboten werden.
95
6. Primäre Missbrauchsprävention als interdisziplinäre Aufgabe?
-
Lehrkräfte: die SchulsozialarbeiterInnen helfen dem Lehrpersonal im Konfliktfall und
in der Präventionsarbeit. Ziel ist die Sensibilisierung und Beratung der LehrerInnen,
damit sie rechtzeitig Probleme erkennen und andere Helferdienste beiziehen, wenn
Konflikte ausserhalb ihres Aufgabenbereichs liegen. Konkret wird ihnen auf niederschwellige Art geholfen, Präventionsanliegen umzusetzen, Elternarbeit und Kooperation mit andern Helferorganisationen zu gestalten. Ziel dabei ist eine bessere Beziehung zwischen Lehrkraft und SchülerIn, indem solidarische Arbeitsformen, Vertrauen
und mehr SchülerInnenorientierung hergestellt werden.
-
„System Schulhaus“: die Schulsozialarbeit kann zu einer positiven Schulhauskultur
beitragen und klare Kommunikationsstrukturen und Verantwortungsübernahme durch
alle im Schulhaus Anwesenden fördern. Konkret bietet sich ihre Mitwirkung in
Schulhausprojekten, -veranstaltungen und Gemeinwesenarbeit an. Sie kann themenund zielgruppenspezifische Gruppenarbeiten (zum Beispiel zur Ausländerintegration)
mit Bezug zum Schulklima oder Lern- und Spielstuben initiieren.
-
Eltern: Den Eltern soll der Zugang zu professionellen Helferdiensten erleichtert werden. Die Schulsozialarbeit vermittelt Fachstellen und gibt im Bezug auf die Kinder
niederschwellige Hilfe, da sie gerade vor Ort ist. Ebenfalls kann sie an Elternabenden
mitwirken oder bei Krisengesprächen, bei denen die Eltern anwesend sind.
-
Helferorganisationen (zum Beispiel Schulpsychologischer Dienst, Schulärztlicher
Dienst, Familien- und Erziehungsberatung, Vormundschaftsamt, Jugendamt): die
Schulsozialarbeit kann kooperieren und vernetzen, fall- und themenbezogene Tätigkeiten vermitteln, Fallbesprechungen, Austauschtreffen, Übergabegespräche und Projekte
organisieren.
-
Andere ausserschulische Organisationen und Institutionen: die Schulsozialarbeit soll
gezielt Kontakt zu ausserschulischen Zentren und Behörden suchen und mit privaten
Vereinen, kirchlichen Organisationen, Gewerkschaften und kommunalen Ämtern
zusammenarbeiten, um die soziale Infrastruktur und die kommunale Jugendarbeit im
Gemeinwesen zu verbessern und sich bekannt zu machen.
6.3.4. Situierung der Schulsozialarbeit in der Schweiz
Mangels wissenschaftlicher Publikationen und Evaluationen von Forschenden- und Universitätsseite ist eine systematische Erfassung der Lage in der Schweiz schwierig. Drilling (2001,
71-83) stützt deshalb seine Einschätzungen auf vorgelegte Diplomarbeiten und anderes
96
6. Primäre Missbrauchsprävention als interdisziplinäre Aufgabe?
unveröffentlichtes Material. Projekterfahrungen seien selten wissenschaftlich aufbereitet
worden.
Gegen Ende der 90er Jahre gab es Drilling (ebd.) zufolge eine Zunahme von Projekten in der
Schweiz und die Fachhochschulen für Sozialarbeit gründeten kürzlich das „Netzwerk
Schulsozialarbeit Deutschschweiz“, womit eine zaghafte Kooperation unter den Projekten
gestartet wurde. Zuvor sei eine bewusste räumliche Trennung sowie sporadische Kooperation
zwischen Schule und Sozialarbeit praktiziert worden. Bisher sei es eher Praxis gewesen, dass
die Schulen Themen wie Gewaltprävention oder Gesundheit vorgegeben und sich für deren
Bearbeitung externe Fachleute geholt hätten. Mit ein Grund für das späte in Erscheinung
Treten des Schulsozialarbeit-Modells könnte die enge Verzahnung sein zwischen der Schule
und Fachdiensten wie dem Schulpsychologischen Dienst, dem Schulärztlichen Dienst oder
den Erziehungsberatungen.
In der Schweiz ist die Schulsozialarbeit vor allem auf Sekundar-, Real- und Berufsschulstufe
angesiedelt und am häufigsten haben politische Gemeinden und Schulbehörden die
Trägerschaft inne. Im Unterschied zu Deutschland sind freie Träger eher selten. Am
häufigsten wird bei uns Einzelfallhilfe angeboten, und oft erfolgt wegen grosser
Zuständigkeitsgebiete eine Reduktion auf SchülerInnen mit Schulproblemen oder sozialen
Auffälligkeiten. Die aktive Elternarbeit wird hierzulande vernachlässigt. Die LehrerInnen
griffen bis anhin offenbar vor allem auf die Schulsozialarbeit zurück, wenn es um
Elterngespräche, Konfliktbearbeitungen und ihren Umgang mit der Schülerschaft ging. (ebd.)
In der Schweiz wird offenbar bisher Prävention im Gewaltbereich schwerpunktmässig als
Krisenintervention gestaltet, nicht als vorbeugende Präventionsarbeit, obwohl es zum Aufgabenspektrum durchaus gehören würde und viele Forderungen danach zu hören sind. Inwiefern
könnte man Primärprävention im Missbrauchsbereich der Schulsozialarbeit zuordnen?
6.3.5. Mögliche Einbettung der Missbrauchsprävention in die
Schulsozialarbeit?
Die Lage in der Schweiz macht es auf der Praxisebene nicht einfach, Missbrauchsvorbeugung
in die Schulsozialarbeit zu integrieren. Erstens ist die primärpräventive Arbeit besonders im
Kindergarten und in der Primarschule relevant, zweitens spricht die aktuelle Praxis aus
Kapazitätsengpässen heraus offenbar schwerpunktmässig Problemkinder (Themen körperliche Gewalt, Schul- und Disziplinprobleme, Schwierigkeiten im Übergang zur Berufsausbildung) an und arbeitet wenig mit allen SchülerInnen an Generalthemen, drittens ist ein
selbständiges Kooperationsmodell mit selbst gesetzten Aufgabenschwerpunkten relativ
97
6. Primäre Missbrauchsprävention als interdisziplinäre Aufgabe?
schwierig zu realisieren für die Schulsozialarbeit, wenn die Schulbehörden oder die politische
Gemeinde die Trägerschaft innehaben. Da sich aber Schulsozialarbeit in der Schweiz erst am
Ausbreiten ist und die Probleme an der Schule nicht unbedingt kleiner werden, ist möglich
oder zumindest wünschbar, dass sich die Schulsozialarbeit trotz Spardruck noch weiter
ausbreiten und eine Praxis denkbar wird, die sich nicht so sehr auf die „Feuerwehrrolle“ und
die Oberstufe reduziert.
Ein Basler Pilotprojekt fand als Thema von Erstgesprächen mit SchülerInnen auch die Problematik der körperlichen oder sexuellen Gewalt in Schule, Familie und sozialem Nahraum,
wobei sie bei Mädchen öfters zur Sprache kam als bei Jungen (Drilling, 2001,87). Diese
Tatsache, dass für Kinder erlebte oder drohende Gewalt ein subjektives Problem darstellt, und
sie auch zu Problemkindern machen könnte, sehe ich als Antrieb, Gewaltprimärprävention
vermehrt in die hiesige Schulsozialarbeit zu integrieren; nicht nur jene der Gewalt von/unter
Kindern, sondern auch der (sexuellen) Gewalt an Kindern durch Erwachsene.
(Primär-)Prävention oder Gewaltprävention wurden vorher als durchaus zum Aufgabenbereich der Schulsozialarbeit gehörig beschrieben, wobei sich die AutorInnen besonders auf
die (körperliche) Gewalt unter SchülerInnen an der Schule bezogen. In vielen der damit
verbundenen, vorher angesprochenen Tätigkeiten und Arbeitsweisen werden Grundhaltungen
und Ideen vermittelt, die auch in der Primärprävention im Missbrauchsbereich auftauchen.
Insofern ist es durchaus nahe liegend, dass sich eine mit den nötigen Ressourcen ausgestattete
Schulsozialarbeit vermehrt auch der Vorbeugung sexuellen Missbrauchs annimmt. In welcher
Form sie darin eingebunden werden kann, soll im Kapitel 7.3.3. bedacht werden.
7. INHALTLICHE UND FORMALE ASPEKTE DER ARBEIT MIT
SCHÜLERINNEN SOWIE KOOPERATION VON SOZIALER ARBEIT UND
SCHULE IN DER PRIMÄRPRÄVENTION AM ORT SCHULE
Dieses Kapitel widmet sich der Beantwortung der zweiten und dritten Hauptforschungsfrage.
Es erhebt nicht den Anspruch, ein konkretes Handbuch zu liefern, welches man in der
primärpräventiven schulischen Arbeit direkt umsetzen kann. Hingegen soll eine Art Leitfaden
und Übersicht gegeben werden, welche Kriterien bei Kooperations- und Primärpräventionsbemühungen am Ort Schule im Vorfeld und bei der Durchführung (vermehrt) bedacht werden
müssen. Ferner soll ein Kooperationskonzept formuliert werden, welches KooperationspartnerInnen aufzeigt und deren spezifische Vorbereitung und Rolle beschreibt. Das Kapitel
98
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
stellt des Weiteren Primärpräventionsinhalte vor, die nach feministischem Verständnis mit
den Kindern sinnvollerweise behandelt werden, und wie sie ins Curriculum oder auch im
ausserunterrichtlichen Bereich eingebettet werden können. Ferner reisse ich einige
Materialien und Methoden für die konkrete Arbeit mit Kindern und Jugendlichen an. Da die
vorbeugende Arbeit zum Aufdecken sexueller Übergriffe im Rahmen der Schule führen kann,
soll abschliessend kurz thematisiert werden, wie an der Schule bei einem Verdacht oder bei
einem Einweihen durch ein Kind reagiert werden kann.
Am Ort Schule mit Kindern zu arbeiten steht und fällt wesentlich mit dem Engagement der
Lehrperson. Didaktische Methoden und die konkrete Unterrichtsführung liegen in ihrer
Zuständigkeit, solange sie sich ans Curriculum und die Schulleitlinien hält. Im ausserunterrichtlichen Bereich verfügt sie über noch mehr Handlungsspielraum, ob und wie sie sich
einbringen möchte. Weil Lehrpersonen am intensivsten mit den SchülerInnen zusammen sind,
müssen sie besonders für die Vorbeugungsarbeit gewonnen werden. Aus diesen Gründen
werden gewisse Unterkapitel (zum Beispiel die konkrete Primärpräventionsarbeit mit SchülerInnen, das Vorgehen bei einem Verdacht) aus Sicht des Lehrkörpers aufgezäumt. Die
dortigen Inhalte gelten für die KooperationspartnerInnen sinngemäss und im Rahmen ihrer
Kompetenzen und Mitsprachemöglichkeiten auch. Ihre spezifischen Beiträge halte ich in den
ihnen separat gewidmeten Unterkapiteln fest.
7.1. Voraussetzungen für eine konstruktive Kooperation am Beispiel der
Lehrkräfte und der Schulsozialarbeit
Eine gute Vernetzung kann die Effektivität der Prävention erhöhen, Betroffene besser
schützen und die Prävention an die Bedürfnisse der Opfer anpassen (Logar, 2000, 337).
Ambruster und Hoffmann (2000, 177) verweisen darauf, dass Kooperation im Kinderschutz
politisch gewollt sein muss, stark personenabhängig ist, sich materiell und ideell für die
HelferInnen lohnen sollte und dass regelmässiger Austausch sowie Feedbackschleifen nötig
wären, um die Effektivität und den Erfolg zu kontrollieren.
Bei kooperativen Prozessen müssen die unterschiedlichen Aufgaben und Haltungen beibehalten und Rollen klar verteilt, aber auch akzeptiert werden. Man muss sich offen und transparent auf Prozesse und Konflikte einlassen können. In der Fachdiskussion um sexuelle
Gewalt hat sich das Instrument der HelferInnenkonferenz durchgesetzt, um zwischen psychosozialen, medizinischen, juristischen und schulischen Stellen eine institutionalisierte Kooperation zu schaffen und um die Schritte in der Intervention gemeinsam abzustimmen. (Sichau,
99
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
2000, 149) – Ich denke, diese Aspekte haben gleichermassen in der primärpräventiven
Kooperation ihre Bedeutung.
Weil im Gewaltbereich die HelferInnen immer mit sehr vielen Gefühlen, Spannungen,
Ambivalenzen und Abwehrmechanismen wie Verleugnung, Verharmlosung, Rationalisierung
oder Projektion konfrontiert werden, sind Instrumente wie Selbstreflexion, Fehleranalyse,
Supervision, Fallkonferenzen und Qualitätszirkel nützlich (Pölzelbauer, 2000, 169-172).
Zugunsten der Primärpräventionsarbeit plädiere ich für eine institutionalisierte Form der
Zusammenarbeit von Schulpädagogik und Schulsozialarbeit (kooperatives Schulsozialarbeitsmodell). An Schweizer Schulen ist Schulsozialarbeit noch nicht enorm verbreitet. Für
LehrerInnen wie für (Schul-)SozialarbeiterInnen ist es keine Selbstverständlichkeit, eng mit
andern Fachleuten zusammen zu arbeiten, sich am selben Ort Aufgaben und Kompetenzen
aufzuteilen, keine Konkurrenz, Misstrauen, Kontrolle oder Einmischung zu empfinden. Beide
Berufsgruppen haben in ihrem Tätigkeitsgebiet eine recht grosse Autonomie, bestehen oft aus
EinzelkämpferInnen und vor allem haben Schulpädagogik und Schulsozialarbeit verschiedene
Standpunkte, Schwerpunkte, Funktionen und Wege ihrer Zielerreichung. Am Beispiel dieser
beiden an der Schule tätigen Disziplinen möchte ich weitere Bedingungen erfolgreicher
Kooperation
darlegen,
die
sich
aber
nicht
spezifisch
auf
die
primärpräventive
Zusammenarbeit beziehen.
Olk, Bathke & Hartnuss (2000, 193-197, 207-210) formulieren solche Voraussetzungen für
eine erfolgreiche Schulsozialarbeit, die ich auf die Schweizer Situation angepasst habe:
-
Auf der Ebene der einzelnen Schule, aber auch (über)örtlich, müssen organisatorische,
materielle und finanzielle Voraussetzungen verbessert und langfristig geplant werden.
-
Alle AkteurInnen müssen veränderungsfähig sein und die Kooperation braucht
Unterstützung durch verschiedene Institutionen.
-
Die Schule muss zur Öffnung bereit, an einer gewissen Reform der Schule interessiert
sein und freiwillig kooperieren. Ein guter Zeitpunkt für die Initiierung von
Kooperation wären Umbruchsituationen von Schulen, in denen neue Leitbilder,
Lernkulturen oder Unterrichtsformen formuliert werden.
-
Die Jugendhilfe, die eher kommunal geregelt ist, muss in ihrer Planung systematisch
mit der grundsätzlich kantonal organisierten Bildung abgestimmt werden.
-
Schulsozialarbeit soll in der gesetzlichen Jugendhilfe mit primärpräventiven und
interventiven Komponenten verankert werden.
100
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
-
Die Kooperation soll in den Schulgesetzen abgesichert und in Kooperationsverträgen
zwischen Schule, Schulpflege, Trägerschaft und ausführenden SchulsozialarbeiterInnen ausformuliert werden. Diese Vereinbarungen müssen nach einer Bedarfsabklärung auf die einzelnen schulischen Bedingungen eingehen, die konkrete Zusammenarbeit regeln, Aufgabenprofile, Fachkompetenzen, Ressourcen, personelle Anforderungen, Ziele und Leistungen festlegen.
-
Kooperative Arbeitsstrukturen auf örtlicher Ebene sind anzustreben, wie zum Beispiel
gegenseitige Besuche und gemeinsame Arbeitssitzungen. Eine gemeinsame systematische Fort- und Weiterbildung von Lehrerschaft und Jugendhilfekräften wäre zum
gegenseitigen Kennenlernen und Anerkennen von beruflichen Identitäten und Handlungsweisen hilfreich.
Drilling (2001, 62, 96-102) spricht unklare gegenseitige Erwartungen, Vorurteile, zu kurzzeitige Projekte, mangelhaft qualifiziertes Personal als generell in Projekten unterschätzte
Faktoren an. SchulsozialarbeiterInnen sollten ihre Vorurteile gegenüber schulischen Strukturen, Verfahrensregeln und Kommunikationsformen reflektieren, nicht als SystemkritikerInnen
in die Opposition gehen, sondern vielmehr nach Verbündeten und Übereinstimmungselementen suchen, um ihre eigene Position zu stärken und Vertrauen zu gewinnen. So gehe es
zum Beispiel darum, sich gegenseitig Denk- und Arbeitsweisen zu erklären, um gemeinsame
Problem- und Zieldefinitionen. Jede Disziplin müsse ihre eigenen Methoden, Theorien oder
ihre Fachsprache reflektieren können, sich Ideale, Menschenbild und Haltungen bewusst
machen. Drilling zufolge scheitert eine Kooperation weniger an den vorhandenen strukturellen Unterschieden der beiden Disziplinen als am Unwillen oder an der Unfähigkeit, sie
einander zu erklären und daraus die Konsequenzen zu ziehen. Lehrkräfte seien nicht gewohnt,
sich im Team in ihrer Arbeits- und Denkart reflektieren zu müssen.
Hält man sich diese nicht bescheidenen Voraussetzungen, Bedingungen und Wünsche vor
Augen, werden einem die enormen strukturellen, politischen, ideellen und personellen Hürden
bewusst, die eine Idealvorstellung von Schulsozialarbeit respektive Kooperationsarbeit erst
noch zu überwinden hätte, bis sie ihr Potential zugunsten von Kindern richtig entwickeln
könnte. Damit an einer Schule missbrauchsvorbeugende Arbeit geleistet werden kann, braucht
man nicht zwingend so weit zu gehen. Je nachhaltiger sie aber wirken soll und je stärker sie
von der Schulsozialarbeit mitgetragen werden soll, desto besser muss sie institutionell verankert sein und umso wichtiger ist die Beachtung obiger Kooperationskriterien. Auch eine
101
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
konsequente Umsetzung missbrauchspräventiver Ideale im Schulalltag hat einen schulreformerischen Aspekt in sich, nicht nur die Verortung der Schulsozialarbeit am Ort Schule.
7.2. Rahmenbedingungen und Kriterien primärpräventiver Projekte mit
Kindern und Jugendlichen am Ort Schule
In der Fachliteratur wird oft darauf hingewiesen, dass Primärpräventionsprojekte im
deutschsprachigen Raum recht blind aus den USA übernommen werden. Die grundlegenden
Primärpräventionselemente, die das Empowermentkonzept ausmachen36, sind in konkreten
deutschen Projekten nur teils modifiziert worden. Es existiert unterdessen eine Fülle an
Primärpräventionsmaterialien, die sich seit den 80er-Jahren auf dem Markt verbreiten. In der
BRD sind seit 1985 schulische Vorbeugungsbemühungen im Gange. Dennoch ist sexueller
Missbrauch im deutschsprachigen Schulalltag auch heute noch weitgehend ein Tabuthema,
welchem Lehrkräfte gern ausweichen. Wenn sie es nicht mehr können, greifen sie mangels
Kenntnis der zumeist ausserhalb der Schule entwickelten neueren Primärpräventionsansätze
noch oft auf die traditionelle Abschreckungsvariante zurück. Erst in der neuen
Lehrplangeneration für die Grundschule kommen die emanzipatorischen Vorbeugungskonzepte langsam vor. (Marquardt-Mau, 1995, 11, 17-19)
Wenn eine Schule Primärprävention zur sexuellen Gewalt in Angriff nehmen möchte, stellt
sich ihr die Qual der Wahl bei den Unterlagen. In diesem Unterkapitel sollen organisatorisch
und inhaltlich zu berücksichtigende Faktoren für die Projektierung und Materialauswahl
formuliert und damit auf einen Teil der Forschungs-Unterfragen d) Bezug genommen werden.
Marquardt-Mau (ebd., 12) hält fest, dass (Primär-)Prävention im Hinblick auf kulturelle,
sexualpädagogische, entwicklungspsychologische und sozialisationstheoretische Faktoren
sowie im Hinblick auf die institutionelle Vernetzung der Schule betrachtet werden müsse.
Bange (1993, 29ff) kommt in seiner wissenschaftlichen Analyse internationaler Primärpräventionsprojekte zum Schluss, dass dabei einigen der folgenden Kriterien (noch) nicht
genügend Rechnung getragen wird.
36
Die konkreten Bausteine der feministischen Empowerment-Programme werden im Zusammenhang mit der
praktischen Vorbeugungsarbeit mit Kindern (Kapitel 7.4.) beschrieben.
102
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
7.2.1. Äussere Rahmenbedingungen primärpräventiver Schulprojekte
Wissenschaftlichkeit und Evaluation der Programme und Materialien:
In der BRD wurden fast alle schulischen Primärpräventionsmaterialien und Unterrichtseinheiten ohne eine begleitende Evaluation entwickelt und vertrieben (Marquardt-Mau, 1995,
18). Es herrscht eine grosse Forschungslücke. – An einem Teil der vorhandenen amerikanischen Effekt-Studien ist die kleine Stichprobengrösse, ein mangelndes KontrollgruppenDesign, eine fehlende Altersdifferenzierung bei der Auswertung, ein nachteiliges Vor-/Nachtestdesign (wegen unkontrollierter Lerneffekte über die Zeit auch ohne Programm) und die
Unangemessenheit gewisser Messinstrumente zu beanstanden (Bange, 1993, 18f). Trotz
dieser Schwächen befindet er die Evaluationsstudien aber für wichtig und aussagekräftig.37
Der Schweizer Kinderschützer Ziegler (1990, 147) bemängelt des Weiteren begrenzte theoretische Begründungen und fehlende Langzeit-Studien. Gleichzeitig verweist er auf den
schwierig zu erbringenden Nachweis der Wirksamkeit primärpräventiver Programme, was
auch auf wissenschaftlich-methodologischer Ebene ein Problem darstelle (ebd., 165). Ich
denke dabei beispielsweise an viele unkontrollierte Variablen, so dass eine (ausbleibende)
Veränderung kaum unmissverständlich einem konkreten primärpräventiven Unterfangen
zugeordnet werden könnte.
Eine verstärkte Auswertung der eingesetzten Programme mittels starker Designs und eine
langfristige, wissenschaftliche Untersuchung der Effekte sind dennoch anzustreben,
insbesondere hierzulande. Auch die konkreten Arbeitsmaterialien sollten auf ihre Qualität hin
untersucht werden, indem sie bezüglich der in diesem Kapitel skizzierten Kriterien analysiert
und dadurch Verbesserungen angeregt werden.
Kontinuität, Repetition und Verankerung der Inhalte:
Eine Review von Finkelhor und Dziuba-Leatherman (1995, 88) von 25 amerikanischen und
kanadischen Untersuchungen zum Nutzen von Programmen liess deutlich werden, dass das in
Programmen Gelernte in gewissen Abständen aufgefrischt werden muss, da viel Wissen
verloren geht. Andere AutorInnen (zum Beispiel May, 1997, 45f) schlagen deshalb vor,
Primärprävention nicht wie in den USA als mehrheitlich punktuelle, programmartige, von
(externen) Schulungspersonen durchgeführte, isolierte Vermittlung von Informationseinheiten
37
Resultate der amerikanischen Evaluationsstudien zum Nutzen von Empowerment-Modellen finden sich im
Kapitel 7.2.3.
103
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
zum Missbrauch zu sehen, sondern als eine kontinuierliche Erziehungshaltung, die fächerund themenübergreifend in verschiedenen Kontexten zum Tragen kommt und so verinnerlicht
wird. Diesen Ansatz verfolgt auch die vorliegende Lizentiatsarbeit.
Kinder scheinen mehr zu profitieren, wenn verschiedene Personen die Primärprävention
durchführen, also zum Beispiel die Lehrer und die Eltern (Bange, 1993, 20). Finkelhor und
Dziuba-Leatherman (1995, 107) leiten aus ihrer Vergleichsstudie von Programmen ebenfalls
eine stärkere Elternbeteiligung ab, da Kinder das Gelernte vermehrt einsetzen, wenn sie sich
mit ihren Eltern über die in der Schule behandelten Themen und Konzepte austauschen
können. Drilling (2001, 89) hält fest, dass in der Schweiz die aktive Elternarbeit
vernachlässigt werde, dass es in der Schule kaum generalisierbare Konzepte gebe, was denn
ausser Elterngesprächen mit Elternarbeit gemeint sein könnte.
Potentielle interne und externe KooperationspartnerInnen:
Verschiedene AutorInnen (zum Beispiel Furer & Stähli, 1998, 45-65; Marquardt-Mau, 1995,
12; Wulfers, 1996) machen darauf aufmerksam, dass die institutionelle Vernetzung der
Schule noch in Kinderschuhen stecke, wenn es um die primärpräventive Arbeit an Schulen
gehe. Die Schule funktioniere gerne als geschlossenes System und die Lehrerschaft sei nicht
an enge Kooperation innerhalb des Lehrkörpers oder auch mit Fachleuten gewöhnt.
Für die Schule ergeben sich aber viele einzubeziehende Hilfestellen, Personenkreise und
Instanzen, wenn sie auf eine effiziente und ganzheitliche Art und Weise langfristig Primärprävention anbieten will. Die interne und externe Zusammenarbeit darf nicht nur sporadisch
sein, um erfolgreich zu verlaufen. Im Verlauf der primärpräventiven (und auch der sekundärpräventiven) Arbeit können folgende Personenkreise als AnsprechpartnerInnen relevant
werden beziehungsweise sollten eingebunden werden:
-
Schulhausintern (ohne Fachstellen und Behörden) sind der Lehrkörper, die
Schulleitung/das Rektorat, die Schülerschaft sowie die Abwartsleute betroffen.
-
Schulhausextern
(ohne
Fachstellen
und
Behörden)
sind
die
Eltern
die
AnsprechspartnerInnen, aber auch Kindergärten oder andere Schulen, mit denen
zusammen ein Projekt ausgearbeitet und/oder vernetzt werden könnte; auch
KommunalpolitikerInnen (zur politischen Meinungsbildung und Zustimmung) und die
Medien (Aufklärungsarbeit) sind nicht zu vernachlässigen.
-
Schulinterne und -externe Fachstellen, Gremien und Behörden: zentrale schulische
Angelpunkte können die Schulsozialarbeit, der Schulpsychologische Dienst, der
104
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
Schularzt und der Heilpädagogische Dienst darstellen. Als externe KooperationspartnerInnen sind Präventionsfachstellen, die Opferhilfeberatung, der allgemeine
Sozialdienst, die Erziehungs- und Familienberatungsstelle, der Verein Kinderschutz,
der Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienst, Kliniken, die Jugendanwaltschaft, die
Vormundschaftsbehörde, weitere Stellen der Jugendhilfe und die Polizei wichtig. Für
die finanzielle Absicherung und/oder Zustimmung für aufwändigere Projekte und
deren Implementierung sind immer auch übergeordneten Instanzen und schulische
Aufsichtsgremien wie Schulrat oder Erziehungs-, Gesundheits- und Sozialdepartemente (respektive deren zuständige Abteilungen) äusserst zentral. Die Erziehungsdirektorenkonferenz oder der LehrerInnenverband, die Empfehlungen abgeben,
interkantonale Absprachen vornehmen und Projekte vorantreiben können, sind nicht
zu vernachlässigen.
Es würde zu weit führen, die Funktionen jeder einzelnen Instanz darzustellen. Dennoch wird
im Zusammenhang mit dem Vorgehen bei Verdachtsfällen38 angesprochen, wie einzelne
dieser Ebenen exemplarisch kooperieren können. Die primärpräventive Rolle der Institution
Schule als Ganzes, der Schulsozialarbeit, der auf Primärprävention spezialisierten Fachstellen
und die Vorbereitung von Eltern und Lehrkörper sowie die konkrete Arbeit mit der
Schülerschaft werden in meinem Kooperationskonzept (Kapitel 7.3) separat behandelt und die
Auswahl begründet.
7.2.2. Inhaltliche Kriterien primärpräventiver Arbeit mit Kindern und
Jugendlichen
Befähigung statt Bevormundung:
Ich schliesse aus Kupffers (1984, 80-9539) Gedanken, dass moderner Schutz für Kinder und
Jugendliche vor sexuellem Missbrauch nicht dazu führen darf, dass man das Kind bevormundet, es auf Schritt und Tritt kontrolliert und begleitet, sondern dass man es vielmehr mit
Kompetenzen und Fertigkeiten ausstatten soll, damit es sich zu einem freien,
widerstandsfähigen, selbständigen und selbstverantwortlichen Menschen entwickeln kann, der
sich in der Gesellschaft mit ihren Anforderungen behaupten kann. Es darf nicht sein, dass von
Erwachsenen für Kinder lediglich ein Schutzraum konstruiert wird, ausserhalb dessen Kinder
hilflos und widerstandsunfähig bleiben.
38
39
siehe Kapitel 7.5.
siehe Kapitel 5.3.
105
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
Konkrete Informationsvermittlung ohne Angstmacherei:
Es soll verhindert werden, dass Kinder vor Sexualität Angst bekommen und allen Menschen
voller Misstrauen begegnen. Sie sollen vielmehr die guten, lustvollen, notwendigen
Zärtlichkeiten und die ausbeutenden Seiten von Sexualität kennen lernen. In ihrer Vergleichsstudie kamen Finkelhor und Dziuba-Leatherman (1995, 106) allerdings zum Fazit, dass eine
Zunahme von Befürchtungen und Ängsten nicht immer als ein negatives Resultat der
vorbeugenden Erziehung gelten müsse, denn in ihrer Umfrage fanden sie heraus, dass Eltern,
die bei ihren Kindern diese Effekte verstärkt wahrnahmen, den Primärpräventionsunterricht
besser bewerteten.
Obwohl sich nicht alle AutorInnen einig sind, sind viele der Ansicht (zum Beispiel Koch &
Kruck, 2000, 52), dass man auch bei kleinen Kindern die Körperteile konkret benennen und
in altersangemessenem Umfang auch ausbeuterische Handlungen beschreiben soll statt sich in
einer verklemmten Sprache und symbolhaften Andeutungen zu erschöpfen (wie es amerikanische Empowerment-Modelle oft tun), deren Transfer der kindliche Entwicklungsstand noch
nicht zulasse; schliesslich sei es ja gerade das Ziel, das Tabu zu brechen und dem Geschehen
eine Sprache zu geben. Es soll den Kindern erlaubt sein, über Missbrauch zu sprechen.
Ausserdem sollen Kinder nicht nur über (schöne und unerlaubte) Berührungen informiert
werden, sondern auch über missbrauchende Nicht-Kontakthandlungen (zum Beispiel Exhibitionismus), Pornographie und Prostitution; diese werden in Primärpräventionsmaterialien und
Empowerment-Programmen oft vernachlässigt (Wurtele, 1987, 486).
Finkelhor und Dziuba-Leatherman (1995, 108f) weisen allerdings auf die Schwierigkeit hin,
dass die kindliche Sexualität bedingt durch gesellschaftliche Tabus, politische Richtungskämpfe und durch eine gewisse moralische Doppelbödigkeit ein vernachlässigter Bereich ist
und sich deshalb im schulischen Unterricht als Thema schwer durchsetzen lässt.
Handlungsorientierung und Einüben:
Um die Effektivität von Abwehrstrategien zu erhöhen, ist es nötig, dass nicht nur
Informationsvermittlung stattfindet, sondern auch Techniken eingeübt und Situationen
ausprobiert werden; nicht nur in den schulischen Primärpräventionsprogrammen, sondern
auch im Alltag der Kinder. Bange (1993, 20) kommt in seiner Auswertung von
internationalen Studien zum Resultat, dass das Wissen über Handlungsstrategien in der Regel
nur zunimmt, wenn Programme handlungsorientiert sind (zum Beispiel mit Rollenspiel) und
106
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
Elemente repetitiv aufgegriffen werden, was aber in vielen amerikanisch ausgerichteten
Empowerment-Modellen fehle.
Gesellschaftliches Selbstverständnis und kulturelle Minoritäten an der Schule:
Was Kupffers40 kritische Überlegungen zum Menschenbild betrifft, sehe ich in der
feministischen (Primär-)Präventionsliteratur teils die Tendenz, von einem für alle
zutreffenden Menschenbild auszugehen, und
die Forderung nach dem – nämlich dem
feministisch-emanzipatorischen – Erziehungsstil schlechthin. Selbst wenn demokratische
westeuropäische und nordamerikanische Gesellschaften, auf welche sich die feministische
Literatur wohl vorwiegend bezieht, mit ihrem individuellen Freiheitsbegriff gewisse
gemeinsame Normen und Werte erwarten lassen, so werden vorhandene primärpräventive
Ansätze diesen zumeist ethnisch und kulturell durchmischten Gesellschaften zu wenig
gerecht. In konkreten Projekten, die an Schulen umgesetzt werden, muss deshalb immer auf
die örtlichen Umstände, zum Beispiel auf die kulturelle Zusammensetzung der Schülerschaft,
Rücksicht genommen werden. Forschung dazu ist noch rar.
Der deutsche Präventionsverein Strohhalm (2001, 72; zit. nach Elmer, 2004, 123) betont die
notwendige Öffnung der primärpräventiven Konzepte gegenüber anderen kulturellen
Zusammenhängen, also gegenüber zum Beispiel kollektivistisch organisierten MigrantInnen.
Man müsse auch die Frage zulassen, was jenseits unseres individualistischen (Primär-)Präventionskonzepts zugunsten der Kinder wirken könnte. Aber die Einschränkung der
Kinderrechte dürfe nicht als kulturell bedingt toleriert werden, da der kinderparteiliche Ansatz
beibehalten werden müsse.
Ahn und Gilbert (1995, 180) halten fest, dass es in verschiedenen Kulturen unterschiedliche
Gepflogenheiten im Umgang mit Kindern gibt, zum Beispiel beim Baden, Berühren von
Körperteilen, gemeinsam in einem Bett Schlafen. Für gewisse seien die Privatsphäre der
Eltern und die Autonomie der Kinder nicht so zentral wie es die feministischen Konzepte
nahe legen. Allgemeine normative Vorschriften bezüglich familiären Umgangsformen zu
machen, widerspreche anderen Wertvorstellungen und Traditionen. Allerdings seien trotz
kultureller Unterschiede jene Verhaltensweisen nicht akzeptierbar, die für das Kind seelisch
oder körperlich schädlich seien. – Ich frage mich, wer denn schliesslich definieren kann oder
soll, was für ein Kind schädlich ist, da Folgen nicht klar ursächlich zugeschrieben werden
können, und die Auffassungen zur Schädlichkeit offenbar sowohl kulturell, wie von Familie
40
siehe Kapitel 5.3.
107
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
zu Familie wie auch individuell verschieden sein können. Ausserdem gibt es auch
missbrauchte Kinder, die keine Schädigung zeigen. Sollen sie deswegen nicht als Missbrauchsopfer gesehen werden dürfen und die Handlungen jedenfalls gutgeheissen werden?
Milhoffer (1995, 187) schlägt einen Konsens vor: nur jene sexuellen Äusserungsformen mit
Kindern seien zu befürworten, die keine Abhängigkeiten und emotionalen Bedürftigkeiten
ausnutzten, die nichts gegen den Willen der Beteiligten geschehen liessen und die den
Kindern ihren eigenen Erlebnis- und Entfaltungsspielraum garantierten. – Die Schwierigkeit
bleibt bestehen; auch diese Formulierung kann von verschiedenen Standpunkten interpretiert
werden. Eine pädophilenfreundlich gesinnte Person wird sie anders auslegen wie ein/e
KinderschützerIn, diese/r unter Umständen wieder anders als eine feministisch orientierte
Person.
Bisherige Primärpräventionskonzepte sprechen zwar zuweilen an, dass man kulturelle
Unterschiede berücksichtigen muss, doch fand ich in aktuellen Programmen kaum
Umsetzungsvorschläge dazu. Auch Bange (1993, 30) hält fest, dass fast keine Materialien auf
ausländische Kinder eingehen. Elmer (2004, 122-128) verweist zwar auf Prasads (2000, 1113) Tipp, bei Elternabenden Referenten aus den entsprechenden Kulturkreisen zu integrieren,
um besser auf kulturelle Eigenarten eingehen zu können, gleichzeitig aber zitiert sie strenge
Sexualnormen, ökonomische und politische männliche Herrschaft über Frau und Kind sowie
die traditionelle Geschlechterrollenverteilung als von Bange und Deegener (1996, 166)
erforschte, anerkannte Risikofaktoren für Inzest. Ich frage mich, wie diese (feministisch
motivierten) Botschaften kollektivistisch und patriarchal organisierten MigrantInnen vermittelt werden können, ohne sie vor den Kopf zu stossen. Diese Frage lässt Elmer in ihrem
Artikel unbeantwortet. Es fragt sich, ob man für MigrantInnen nicht grundsätzlich eigene
Konzepte entwickeln müsste, die vom individualistischen Ansatz der feministischen
Primärpräventionsarbeit weitgehend losgelöst sind. Diese Frage kann diese Lizentiatsarbeit
nur aufwerfen, nicht aber beantworten. Sie richtet sich insofern eher an Menschen mit
ähnlichem kulturellem Hintergrund wie wir ihn unter SchweizerInnen vorfinden. Es wäre
interessant, einmal zu sehen, was in andern Kulturkreisen für Primärpräventionsinhalte
vermittelt werden, um Kinder vor sexueller Gewalt zu schützen, falls dieses Thema dort auch
Gegenstand wissenschaftlicher Forschung ist.
108
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
SchülerInnen mit Behinderungen:
Bei Menschen mit Behinderungen ist wegen der Angewiesenheit auf Betreuung/Pflege
und/oder wegen verschiedenartigen Einschränkungen (zum Beispiel geistige) das Ausbeutungsrisiko höher.
AutorInnen wie Bange (1993,30) oder Fegert und Müller (2001, 12) 41 halten fest, dass
behindertenspezifische Primärpräventionsprogramme eine Seltenheit sind. Sie würden
meistens nur von einzelnen Einrichtungen örtlich erstellt und angewendet, der öffentliche
Diskurs darüber stecke in Deutschland noch in Kinderschuhen. – Dasselbe stelle ich auch in
der Schweiz fest. Leider sprengt es den Rahmen dieser Arbeit, auf Kinder mit
verschiedenartigen Behinderungen und Lernschwierigkeiten spezifisch einzugehen. Die
skizzierten inhaltlichen und methodischen Vorschläge (besonders Kapitel 7.3. und 7.4.)
wenden sich an die hiesige klassische Grund- und Sekundarschule mit normal begabten, nicht
verhaltensauffälligen oder (lern-)behinderten SchülerInnen. In gewissem Masse lassen sich
inhaltliche Schwerpunkte vermutlich auch auf andere Schultypen (zum Beispiel Sonderschulen) übertragen. Hug (2004, 159) schreibt diesbezüglich, dass die Unterschiede zwischen
Kindern mit und ohne kognitive Beeinträchtigungen wohl nicht im Inhalt, sondern in der
Form der Arbeit liege; es müsse auf ihre spezifischen Kommunikationsmöglichkeiten und auf
ihre Lebensumstände (zum Beispiel Leben im Heim, Angewiesenheit auf lebenslange
Assistenz) eingegangen werden.
Bei schulischen Primärpräventionsprogrammen müssen von den ausführenden Organen
Anpassungen an den Schultypus vorgenommen werden. Damit sie sich dazu auf Fachwissen
abstützen können, müssen sie einerseits KooperationspartnerInnen suchen, andererseits aber
sollten die Forschungen dazu intensiviert und die Erfahrungen öffentlich diskutiert werden.
Berücksichtigen der kognitiven und sozialen Entwicklung:
Von verschiedenen AutorInnen wird gegen Primärpräventionsprojekte eingewendet, dass sie
kaum auf entwicklungspsychologischen Erkenntnissen beruhen (Wurtele, 1987, 485). In den
meisten Programmen fehlen Hinweise auf die Unterschiedlichkeit der kindlichen und der
erwachsenen Sexualität (Koch & Kruck, 2000, 51). Bange (1993, 29-31) macht ebenfalls auf
41
Zur Vertiefung der Behindertenthematik findet sich bei diesen beiden AutorInnen eine dokumentierte
Bibliographie zu den seit 1985 in Deutschland erschienenen Veröffentlichungen zu sexuellem Missbrauch an
Behinderten. Einzelne Kapitel gewisser darin beschriebener Bücher (zum Beispiel Voss & Hallstein, 1993;
Weinwurm-Krause, 1994) betreffen auch Primärpräventionsansätze.
109
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
den Mangel an guten, kindgerechten und sensiblen Materialien aufmerksam, die ganzheitlich
orientiert sind und für die Arbeit mit allen Altersgruppen etwas anbieten.
Gerade was das Alter der Kinder betrifft, müssen Materialien und Programme differenzierter
werden. Jüngere haben Mühe, gewisse (abstrakte) Konzepte zu verstehen, die die Empowerment-Modelle verwenden, so zum Beispiel das Bild des „Fremden“. Fremd wird von unter
sieben Jährigen mit Ausdrücken wie „schmutzig“, „unheimlich“ oder „böse“ verbunden;
sobald jemand als nett erachtet wird oder eine Person nur ihren Namen nennt, erachtet sie das
Kind vielfach nicht mehr als fremd. (ebd.) – Auch das Konzept von „guten“ und „schlechten“
oder „komischen“ Berührungen ist laut de Young (1988, 63ff; zit. nach Bange, 1993, 28) für
kleine Kinder nicht verständlich, da Kinder bis sieben Jahre eine Handlung nach ihren
Konsequenzen beurteilen und nicht nach der dahinter liegenden Intention fragen. Ihr
moralisches Urteil sei dichotom, bewerte etwas also entweder als richtig oder als falsch. Für
die Primärprävention ergebe sich daraus das Dilemma, dass vor allem kleine Kinder Mühe
bekundeten, schleichende, immer mehr sexualisierende Handlungen und Worte als Missbrauch zu erkennen. Bange (1993, 29) zieht deshalb vor, dem kleineren Kind konkrete,
einfache Regeln mit auf den Weg zu geben, welche Berührungen in Ordnung sind und welche
nicht, statt dass man abstrakte Konzepte zu vermitteln suche. – Dabei sehe ich allerdings ein
Problem wegen der innerfamiliär und interkulturell verschiedenen Auffassungen, was noch
akzeptabel sei und was nicht. Es läge also an den Eltern, ihren Kindern das mitzuteilen, was
bei innerfamiliärem Missbrauch allerdings erschwert ist.
Koch und Kruck (2000, 51) widersprechen dem Einwand gegen „schlechte“ und „gute“ Berührungen in seiner strikten Form; ihre Erfahrungen in der Primärpräventionsarbeit hätten
durchaus gezeigt, dass Kinder im ersten Schuljahr, die noch auf der präoperationalen Entwicklungsstufe nach Piaget seien, angenehme von unangenehmen Berührungen unterscheiden
könnten. – Wichtig scheint in diesem Zusammenhang jedenfalls zu sein, dass die Verantwortung und die Schuld nie beim Kind liegen, wenn es sich nicht wehren kann; das muss ihm
immer wieder vermittelt werden.
Denn anfangs der Schulzeit neigen Kinder zur generalisierten Verantwortungsübernahme,
was eng mit selbstbewertenden Emotionen wie Schuld und Scham zusammenhängt; dabei
sind die Kinder noch abhängig von der bewertenden Öffentlichkeit. Die realen Machtverhältnisse in den sozialen Beziehungen spielen dabei allerdings eine wichtigere Rolle als das
Autoritätsverständnis, welches spätestens ab Mitte der Grundschulzeit ausdifferenziert ist.
Berührungen, die dem Kind sogar angenehm, aber doch missbräuchlich sind, können im
110
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
Rahmen der Primärprävention bei den Kindern erst als Missbrauch verankert werden, wenn
die Kinder die Bedeutung sozial-konventioneller Regeln für das Funktionieren des sozialen
Systems verstehen. Deshalb versuchen die Empowerment-Konzepte, den sexuellen Missbrauch in den Bereich der Verletzung von (sozial-)moralischen Regeln zu rücken, denen
universelle Gültigkeit zugesprochen wird, damit die Kinder den Übergriff früher und besser
erkennen können und die von der Täterschaft aufgestellten konventionellen Regeln nicht
gleichrangig zu denen der Vorbeugungsprogramme erscheinen. (Schuhrke, 1995, 209-212)
Im Rahmen dieser Lizentiatsarbeit ist es nicht möglich, die Primärpräventionsinhalte und
Arbeitsmethoden nach Altersgruppen zu sondieren, da das ein komplexes Unterfangen ist, das
den Umfang meiner Arbeit sprengt und dem noch zu wenig wissenschaftliche Grundlagen
zugrunde liegen.
Geschlechterspezifische Arbeit:
Primärpräventionsprogramme richten sich zumeist in gleicher Art an Mädchen und Jungen.
Sie orientieren sich selten an den unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen und differenzieren ihre Inhalte nicht der Tatsache entsprechend, dass Mädchen häufiger Opfer werden und
besonders die Jungen nicht nur potentielle Opfer, sondern auch potentielle Täter darstellen.
Das muss in einer geschlechtsspezifischen Arbeit mitberücksichtigt werden. (Teilweise)
getrennte Gruppenarbeit ist deshalb sinnvoll, weil der Fokus bei den beiden Geschlechtern je
unterschiedlich liegt. Jungen werden vielfach von gleichgeschlechtlichen Tätern missbraucht,
weshalb bei ihnen zum Beispiel das Thema Homosexualität ein wichtiges Gesprächsthema
darstellt. (Koch & Kruck, 2000, 53) Ihnen soll im Kapitel 7.4. zur Arbeit mit Kindern deshalb
ein separates Augenmerk geschenkt werden.
7.2.3. Nutzen bisher praktizierter (amerikanischer) Empowerment-Modelle
Mangels deutschsprachiger Evaluationsstudien bezieht sich die Untersuchung des Nutzens der
(auch im deutschsprachigen Raum angewandten) beliebten Empowerment-Modelle mit
Heranwachsenden auf amerikanische Studien. Auch in den USA ist die wissenschaftliche
Effektüberprüfung von Programmen laut Berrick und Gilbert (1995, 82-86) allerdings ein
Schwachpunkt.
Das wesentlichste Kriterium, ob Kinder sich in realen Gefahrensituationen auch wehren
könnten, kann in der Sozialforschung wegen ethischer Probleme kaum untersucht werden.
Einfacher, aber weniger aussagekräftig, ist die Messung des Wissenszuwachses durch ein
111
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
Programm, der ja für eine Verhaltensänderung vorauszusetzen ist. Die ForscherInnengemeinschaft ist sich über den Nutzen dieser zumeist kurzfristig angelegten und von externen
ProgrammbetreuerInnen an Schulen durchgeführten Primärpräventionsprogramme, die auf
der psychologischen Stärkung der Kinder beruhen, nicht einig. Einige Evaluationsstudien
legen nahe, dass selbst der Wissenszuwachs nach einer Programmteilnahme nicht signifikant
grösser ist. Auch die entwicklungspsychologische Angemessenheit und kulturelle Sensitivität
der Programme sind fraglich. Die derzeitigen Projekte sind in jedem US-Bundesstaat mit
ähnlicher Grundidee vorhanden und trotz mangelndem Nachweis der Effektivität sehr
populär. Wie neuere Ansätze aussehen sollen, ist noch zu wenig klar, man überlegt sich
vereinzelt, gewisse Angebote zu ersetzen. (ebd.)
Dieser recht ernüchternden Bilanz stellen Finkelhor und Dziuba-Leatherman (1995, 88f),
gestützt auf ihre Auswertung verschiedener amerikanischer Untersuchungen (vgl. Finkelhor
& Strapko, 1992), eine optimistischere Sicht gegenüber: die Kinder seien vielfach durchaus in
der Lage gewesen, die jeweiligen Programminhalte zu verarbeiten, sie hätten sie sogar teils in
Rollenspielen und fiktiven Situationen anwenden können. Jedoch seien neu erworbene
Verhaltensmuster (zum Beispiel die Fähigkeit, „nein“ zu sagen) weniger stabil und
übertragbar als neu angeeignete Denkweisen. Ältere Kinder lernten von den vorbeugenden
Konzepten mehr (siehe auch Koch & Kruck, 2000, 49) und der aktive Einbezug (zum Beispiel
via Rollenspiel) sei erfolgreicher gewesen als eher darbietende Vermittlungsformen (zum
Beispiel Video, Unterrichtsgespräche) oder individuelles Lernen (zum Beispiel Arbeitshefte,
Comics). Insbesondere schwierige Konzepte, wie jenes, dass auch nahe Verwandte die
TäterInnen sein könnten, gingen bald nach einem Kurs wieder verloren, weshalb einmal
jährlich eine Auffrischung empfohlen würde.
Ermutigend ist die Feststellung, dass die Programme die Gespräche zwischen Eltern und
Kindern anregten, und dass Kinder in der Folge häufiger über erlittene Misshandlungen
erzählten (Finkelhor & Dziuba-Leatherman, 1995, 88f, 108f). Ferner könnte das regelmässige
Hören von Gesprächen über Missbrauch bei späteren Opfern das Stigmatisierungstrauma
abschwächen, nicht darüber reden zu können und ganz alleine mit der Erfahrung zu sein. Als
noch unbeantwortet bezeichnen auch diese AutorInnen jedoch die Frage, ob Missbrauch
durch solcherlei gestaltete Opferprimärprävention wirklich verhindert werden könne, und wie
sich die Programme auf die sexuelle Entwicklung der Kinder und ihre Einstellung zum
sexuellen Körperkontakt auswirkten.
112
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
Lage in der Schweiz:
Man sollte berücksichtigen, dass die in Kapitel 7.2.2 und 7.2.3 zitierten wissenschaftlichen
Evaluationen und Einschätzungen von Programmen und Primärpräventionsmaterialien und
deren Wirkung aus den 90er Jahren stammen und teils aus dem US-amerikanischen Raum.
Somit sind sie mit Vorsicht zu geniessen beziehungsweise auf die (heutige) Schweiz zu
übertragen. Es ist ausserdem zu vermuten, dass sich in den letzten zehn Jahren in diesem
Bereich einiges getan hat. Eine erst kürzlich erschienene wissenschaftliche Auswertung
aktueller Projekte im deutschsprachigen Raum fand ich keine.
Allerdings lässt das praxisorientierte Buch von der Präventionsfachstelle Limita (2004)
vermuten, dass in der Schweiz bei der zeitlich verschobenen Ausarbeitung des verwandten 7Punkte-Programms einige inhaltliche Schwächen der Empowerment-Programme der USA
behoben wurden, dass zumindest die von Limita herausgegebenen Konzepte und Arbeitsmaterialien teilweise verbessert wurden, zum Beispiel was die alters- und geschlechterspezifische Arbeit oder das konkrete Vokabular für den Sexualbereich betrifft. Andere Kriterien wie die Vernetzung scheinen aber weiterhin ein grosser Schwachpunkt zu sein. Bei
Ziegler (2004, 46f) findet sich die Feststellung, dass Projekte meistens weder inhaltlich, noch
zeitlich, noch regional verbunden und koordiniert sind und von heraufbeschworenen
Synergieeffekten im primärpräventiven Kinderschutz wenig zu sehen ist. Zudem seien
Projekte zeitlich begrenzt durchgeführt und würden oft nur einzelne Aspekte abdecken.
Eine neuerliche wissenschaftliche Auswertung der Projekte und Materialien wäre
wünschenswert, insbesondere auch eine separate für die Schweiz. Die hier vorliegende
Einschätzung der praktizierten primärpräventiven Programme mit Kindern und Jugendlichen
bezieht sich vor allem auf die amerikanische und deutsche Situation der 90er Jahre; wie genau
sie auch auf die aktuelle Lage in der Schweiz zutrifft, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Da
aber in der Schweiz auch Materialien (Kinderbücher, etc.) aus Deutschland verwendet
werden, scheinen gewisse Parallelen vorhanden zu sein.
7.2.4. Diskutierte Kriterien im Überblick
An dieser Stelle scheint ein Kurzüberblick (siehe Tabelle 3) über die soeben diskutierten
formalen und inhaltlichen Kriterien primärpräventiver Arbeit an Schulen mit Kindern und
Jugendlichen hilfreich, da damit ein Teil der dritten Hauptforschungsfrage beantwortet wurde.
113
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
Tabelle 3:
Inhaltliche und formale Kriterien der Primärpräventionsarbeit im Überblick
Formale, äussere Rahmenbedingungen
Wissenschaftlichkeit und Evaluation von
Programmen und Materialien
Kontinuität, Repetition und Verankerung der
Inhalte
Interne und externe Kooperation(spartner)
Inhaltliche Kriterien
Befähigung statt Bevormundung
Konkrete Informationsvermittlung ohne
Angstmacherei
Handlungsorientierung und Einüben
Beachtung gesellschaftlichen
Selbstverständnisses und kultureller
Minoritäten
Adaption an SchülerInnen mit
Behinderungen
Anpassung an kognitive und soziale
Entwicklung
geschlechterspezifische Inhalte/Arbeit
Viele dieser Anforderungen, die ich aus der Literatur zusammengetragen habe, sind in der
Praxis bis anhin nicht genügend erfüllt worden und müssen noch mehr erforscht werden.
7.3. Kooperationskonzept zur Vorbereitung und Verankerung der
Primärpräventionsarbeit am Ort Schule
Aufgrund der von mir studierten Fachliteratur scheint es wünschenswert, dass sich die
Institution Schule als Ganzes, unter Anleitung der Schulleitung und der Mitwirkung aller, um
das Anliegen der Primärprävention bemüht, es also nicht der einzelnen engagierten
Lehrperson überlässt, ob sie dem sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen die
Stirn bieten will. Die Primärprävention mit der Zielgruppe der psychosozialen und
pädagogischen Institutionen stellt eine eigenständige Ebene der Kinderschutzarbeit dar, die
weit über die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen hinausgeht, und zu der noch wenig
publiziert ist. Die institutionelle Ebene soll hier insofern behandelt werden, als ich sie als
Plattform für die kooperierende Vorbereitung und Einbettung der effektiven Arbeit mit
SchülerInnen sehe.
An dieser Stelle möchte ich ein Konzept zusammenstellen, das den potentiellen Beitrag
respektive die Vorbereitung der für die konkrete Primärpräventionsarbeit mit SchülerInnen
meiner Meinung nach zentralsten KooperationspartnerInnen skizziert. Damit greift es die
zweite Hauptforschungsfrage (Vorbeugungsmöglichkeiten durch Kooperation) auf und stellt
einen eigenständigen Vorschlag zur verbindlichen institutionellen Kooperation dar. Mein
Bemühen besteht darin, mögliche AkteurInnen zu bestimmen, welche die Forderung nach
Kooperation gemeinsam umsetzen könnten. Dabei soll jeweils – teils gestützt auf die Literatur
114
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
– idealtypisch ein möglichst breites Spektrum an Möglichkeiten beschrieben werden, aus dem
schlussendlich die involvierten AkteurInnen respektive Verantwortlichen, auf die konkreten
örtlichen Bedürfnisse und Möglichkeiten zugeschnitten, unter fachlicher Anleitung eine
Auswahl treffen sollen. Deshalb macht es keinen Sinn, hier eine Aufgabenverteilung festlegen
zu wollen. – In die konkrete Planung der Verantwortlichen sollten ebenfalls die vorgängig
dargestellten Bedingungen primärpräventiver und kooperativer Arbeit einfliessen. Diese
Kriterien funktionieren demnach als ein Raster, an dem die Vorbereitungen, der Rahmen der
Vorbeugungsarbeit und die Arbeitsinhalte und -methoden ausgerichtet werden müssen.
Auf Seiten der Schule soll gestützt auf verschiedene AutorInnen die institutionelle
Vorbereitung (Kapitel 7.3.1.) und die Rolle der Lehrerschaft (Kapitel 7.3.4.) herausgearbeitet
werden; für die Soziale Arbeit formuliere ich eigenständig mögliche Beiträge der
Schulsozialarbeit (Kapitel 7.3.3.) und der auf Primärprävention spezialisierten interdisziplinären Fachstellen (Kapitel 7.3.2.). Diese beiden erscheinen mir als zentralste AkteurInnen aus
dem Umfeld der Sozialen Arbeit, wenn es um Primärprävention mit SchülerInnen geht; die
integrierte Schulsozialarbeit ihrer örtlichen Verankerung im schulischen Alltag wegen, die
SpezialistInnen wegen ihrer besonderen Kenntnisse zum sexuellen Missbrauch und zur
Vorbeugungsarbeit. Ferner soll auch Literatur zur Vorbereitung und zum Einbezug der Eltern
(Kapitel 7.3.5.) Erwähnung finden, da deren Einverständnis und Unterstützung für ein
erfolgreiches Vorhaben massgeblich sind. – Die konkrete inhaltliche und methodische Arbeit
mit den SchülerInnen soll nicht je KooperationspartnerIn separat aufgeführt werden, sondern
exemplarisch aus Sicht der Lehrerschaft formuliert werden (Kapitel 7.4.); davon ausgenommen sind Methoden, die spezifisch der Schulsozialarbeit zuzuschreiben sind42.
7.3.1. Institutionelle Vorbereitung der Prävention und Kooperation
Für eine Schule stellt sich die Frage, welche Willenskraft und welche zeitlichen, personellen
und finanziellen Ressourcen sie mobilisieren kann und will, um missbrauchsspezifische
Vorbeugungsarbeit durchzuführen. Mitentscheidend dabei sind neben der Schulleitung, der
Lehrer- und der Elternschaft bei grösseren Vorhaben oder Veränderungen auch politische
EntscheidungsträgerInnen, Erziehungs- und Sozialdepartemente, etc., die beim Sprechen von
finanziellen und personellen Ressourcen unter anderem auch die Kosten-Nutzen-Frage
beachten und die als RepräsentantInnen der gesellschaftlichen Einstellung zum Thema
42
Diese wurden im Kapitel 6.3.3. im Zusammenhang mit dem methodischen Spektrum der Schulsozialarbeit
bereits erwähnt; viele davon können auch im primärpräventiven Kontext eingesetzt werden.
115
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
figurieren. Um sie zu einer Unterstützung zu bewegen, muss aufwändige Überzeugungsarbeit
geleistet werden, durch eine interessierte Lehrerschaft, durch KinderschützerInnen, durch
Gremien wie die Erziehungsdirektorenkonferenz oder auch durch SozialforscherInnen.
Qualität und Erfolgspotential der beabsichtigten (Primär-)Präventionsarbeit müssen dargelegt
werden können. Dabei können wissenschaftlich abgesicherte Projekte sicher hilfreich sein,
obwohl es vorbeugende Arbeit in sich trägt, dass ein Nachweis ihrer Wirkung schwierig
geführt werden kann. Langzeitstudien, die Kontrolle von Störvariablen und die Definition von
Erfolgskriterien wären beispielsweise nötig; im Ganzen gesehen ein aufwändiges Unterfangen.
Entschliesst sich ein Schulhausteam als ganze Institution die Vision des Schutzes der Kinder
vor sexueller Gewalt zu teilen und auf verschiedenen Ebenen umzusetzen, auch um
Übergriffe in den eigenen Mauern zu verhindern, müssen dementsprechend langfristige
Schritte vorbereitet und eingeleitet werden, wobei die Schulleitung die Übersicht behalten
sollte. Dazu sehe ich die Möglichkeit, eine Projektgruppe ins Leben zu rufen, bestehend aus
Lehrerschaftsvertretung, SchulsozialarbeiterIn, Schulleitung, Erziehungsdepartementsvertretung, wissenschaftlicher Begleitung und Primärpräventions-SpezialistIn. Sie kann einerseits
ein konkretes Konzept zur strukturellen Verankerung ausarbeiten, andererseits auch
Richtlinien zur Gestaltung der Primärpräventionsarbeit mit SchülerInnen vorschlagen.
Die Schule muss ständig in Bewegung bleiben und gegen innen und aussen kooperieren. Bei
Eberle und Leiser (2004, 106-115) beschreiben die institutionelle Prävention als kontinuierlichen, systemischen Entwicklungsprozess, der in einem Organisationsmodell festgehalten
werden kann43. Sie veranschaulichen das mittels des so genannten Flügelradmodells von
Biehal (1994) von der Trigon Entwicklungsberatung in Österreich. – Obwohl in einer
(öffentlichen) Schule durch ihren staatlichen Auftrag und zahlreiche Gremien und höhere
Instanzen mehr Bedingungen von aussen vorgegeben sein mögen als bei einer einzelnen
sozialen oder pädagogischen Institution (zum Beispiel bei einem Behindertenheim), auf die
dieses Modell zugeschnitten ist, so denke ich doch, dass dieses Modell auch von der
Institution Schule angewandt werden könnte. Deshalb schildere ich gestützt auf Eberle und
43
Dabei hält Biehal (1997/98) fest: „Unter Organisationsentwicklung verstehen wir einen Veränderungsprozess
der Organisation und der in ihr tätigen Menschen, welcher von den Angehörigen der Organisation selbst bewusst
gelenkt und aktiv getragen wird und somit zur Erhöhung des Problemlösungspotentials und der
Selbsterneuerungsfähigkeit dieser Organisation führt, wobei die Angehörigen der Organisation gemäss ihren
eigenen Werten und Vorstellungen die Organisation so gestalten, dass sie nach innen und nach aussen den
wirtschaftlichen, sozialen, humanen, kulturellen und technischen Anforderungen entsprechen kann.“ (zit. nach
Eberle & Leiser, 2004, 106)
116
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
Leiser (2004, 106-115) die Anwendung des Flügelradmodells auf die Prävention von
sexuellem Kindesmissbrauch.
Das Rad besteht aus drei Flügeln, in deren Zentrum das Kerngeschäft steht, in unserm Fall der
Schutz der Kinder vor sexueller Gewalt inner- und ausserhalb der Schule. Umgeben ist es von
verschiedenen äusseren Systemen (zum Beispiel den Forderungen externer Gruppierungen
oder der sozialpolitischen Lage), die das Rad in Bewegung setzen. Zusätzlich soll die
Bewegung aber auch durch inneren Antrieb erfolgen. Die Führung muss darauf achten, dass
alle drei Flügel ähnlich gewichtet werden, damit das Rad gleichförmig läuft. Alle drei
Subsysteme (Flügel) werden parallel in Veränderungsprozesse involviert, die systemisch und
zirkulär verlaufen. Dank dem Modell können einzelne Veränderungen im Sinne eines
überschauenden Controllings ins Gesamtsystem eingebettet werden. Die drei Flügel stellen
sich wie folgt dar:
-
Strategieentwicklung (Flügelrad der Identität, kulturelles Subsystem): hier ist die
Philosophie und die Vision einer Institution mit ihren Leitbildern, strategischen
Zielen, Plänen, Konzepten, mit ihrer eigenen Politik und ihrem ethischen
Selbstverständnis verortet. Die ersten Veränderungen müssen hier stattfinden, die
bewusste Entscheidung zur Verankerung von (Primär-)Prävention. Gemeinsame
Werte oder Instrumente (wie zum Beispiel ein Leitbild) sollen von allen Beteiligten
erarbeitet werden (ich schlage dazu oben genannte Projektgruppe vor), damit eine
gemeinsame Grundhaltung nach innen und nach aussen kommuniziert werden kann.
Ein konkretes Konzept zur Primär - und Sekundärprävention zu entwickeln, welches
Verantwortlichkeiten, Aufgaben, Inhalte und Abläufe festlegt, hilft, die gemeinsame
Haltung umzusetzen.
-
Personalentwicklung (Flügelrad der Menschen, soziales Subsystem): Hier geht es um
Wissen, Können und Erfahrungen aller Beteiligten, um ihre Einstellungen und
Motivation. Das Präventionskonzept soll hier in die Praxis umgesetzt werden. Dazu
müssen Verantwortlichkeiten festgelegt, die Zusammenarbeit (fachlicher Austausch)
möglichst gut ausgestaltet und angemessene Konfliktlösungen, Führungsmodelle und
Kommunikationsweisen diskutiert werden. Es bieten sich interne Weiterbildungen und
Teamsupervisionen/Teamsitzungen an, um das gegenseitige Verständnis und Vertrauen, also den Teamgeist, zu fördern, wobei möglichst alle Mitarbeitenden (auch
zum Beispiel allenfalls vorhandene SchulsozialarbeiterInnen) einzubeziehen sind,
nicht nur die Lehrpersonen. Die Interessen der verschiedenen Parteien sollen einbe117
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
zogen werden, damit ein konstruktives Arbeitsklima herrscht. Primärprävention setzt
einen bewussten Umgang mit Machtverhältnissen voraus, also sollen auch die
Machtstrukturen in der Schule reflektiert werden. Das erfordert, dass Transparenz,
Verantwortungsbewusstsein und Vorbildverhalten das Führungsverhalten auf verschiedenen Hierarchiestufen prägen.
-
Organisationsentwicklung (Flügelrad der Organisation, technisch-instrumentelles
Subsystem): hier kommt der organisatorische Rahmen zum Zug, der formell
Strukturen, Abläufe und Regeln festlegt. Die Ressourcen und deren Einsatz werden zu
einem wesentlichen Kriterium, in zeitlicher, materieller wie personeller Hinsicht.
Vorgängig wäre eine Bedarfsanalyse denkbar, die die Abstützung eines primärpräventiven Vorhabens abklärt. Es müssen genügend Personal und Finanzen vorhanden sein
oder organisiert werden, um die Primärprävention zu planen, umzusetzen und
möglichst auch auf ihre Qualität zu überprüfen. Dabei ist die Fluktuation der
MitarbeiterInnen mit zu berücksichtigen, Weiterbildung muss also immer wieder
aufgegriffen werden. Arbeitsvertrag und -reglement sowie der Stellenbeschrieb sollten
die Vision des Kinderschutzes – respektive Aufgaben und Abläufe des verfassten
Präventionskonzepts – bereits integrieren, um die Personalauswahl zu steuern.
Grundsätzlich fand man heraus, dass innerhalb von psychosozialen Institutionen die
Anfälligkeit für sexuelle Übergriffe grösser ist, je chaotischer oder aber je
hierarchischer eine Organisation strukturiert ist. Flache, transparente Strukturen mit
klaren Kompetenzen und Prozessabläufen (gerade auch für den Fall, wenn ein
Missbrauch durch eine Lehrperson oder eine/n Heranwachsende/n innerhalb der
Schule geschieht) wirken sich hingegen positiv aus. Dabei gewinnt das Festlegen von
Abläufen im koordinierten Handeln innerhalb des Schulhausteams also auch in der
Kooperation mit der Aussenwelt eine grosse Bedeutung. Dazu würden sich
Kooperationsverträge anbieten (zum Beispiel zwischen der Schule und der Schulsozialarbeit). – (Team-)Supervision oder Beratung in fachlicher und/oder thematischer
Hinsicht von aussen kann nötig sein für die Schulleitung, die SchulsozialarbeiterInnen,
für Lehrpersonen, für einzelne SchülerInnen oder Schulgruppen.
Stelle ich mir dieses Flügelradmodell im Rahmen der Schule vor, fallen mir einige
Stolpersteine auf. Zum einen ist die Freiheit der einzelnen Schule als Organisation begrenzt,
eingeschränkt durch kantonale Erlasse (und andere Vorschriften) und verfügbare Ressourcen,
118
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
die sich nur in geduldiger und kooperativer Arbeit verändern lassen, andererseits ist das
öffentliche Schulwesen sehr hierarchisch strukturiert (und recht „veränderungsresistent“).
Ferner sind Lehrpersonen, aber auch andere Involvierte, die Teamarbeit nicht gewohnt. Das
hier vorgeschlagene Modell umzusetzen kommt für die Institution Schule einer teilweisen
Schulreform gleich und ist entsprechend schwierig durchzusetzen. Für eine effektive und
vernetzte schulische Primärprävention sind aber deutliche Anstrengungen in diese Richtung
vonnöten, wenn Kinderschutz nicht nur ein Lippenbekenntnis bleiben soll.
7.3.2. Hilfestellung durch auf Primärprävention spezialisierte Fachleute
Fachstellen, die auf Primärprävention spezialisiert sind, wie zum Beispiel Limita oder
PräVita, bestehen meistens aus interdisziplinären Teams und bieten teils auch Sekundärprävention an. Erstens da die beiden eng miteinander verknüpft sind, zweitens weil sie sich
mit einem alleinigen Engagement in der Primärprävention finanziell nicht über Wasser halten
könnten.
Im vorliegenden Konzept werden Vorbeugungs-Spezialisten vor allem wichtig, wenn es um
die fachliche und planerische Hilfestellung bei der Projektentwicklung an Schulen, um
Vorbereitung und Weiterbildung von SchulsozialarbeiterInnen, Lehrkräften, Eltern oder der
Schulhausleitung geht. Sie stellen das primärpräventive und missbrauchsspezifische Wissen
zur Verfügung, das ihre KooperationspartnerInnen mehrheitlich noch nicht haben. Dabei
sollten sie sich immer an neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren und falls sie
dafür ausgebildet sind, könnten sie auf Wunsch der Schule die wissenschaftliche Begleitung
eines Schulprojekts an die Hand nehmen.
Auch bei Verdachtsabklärungen, bei der Aufdeckungsarbeit und bei der Beratung zum
weiteren Vorgehen der Bezugspersonen oder der betroffenen Kinder und Jugendlichen
können sie gemeinsam mit andern, stärker interventionsorientierten Stellen (Opferberatungsstellen, Erziehungsberatung, Kinder- und Jugendpsychologischer Dienst, Vormundschaftsamt,
etc.) hilfreich sein.
Um Primärpräventionsfachleute in die Institution Schule zu holen, ist die Schulsozialarbeit als
Drehscheibe denkbar, doch kann der Kontakt auch über andere schulische Instanzen
hergestellt werden (zum Beispiel Projektgruppe), oder aber von den Fachleuten selber aktiv
an die Schule herangetragen werden. Solche SpezialistInnen können in Schulstunden
hereingeholt, in Projekte, Lager, Informationsveranstaltungen, Vorträge oder andere
Aktivitäten einbezogen werden, um bei der Gestaltung der konkreten Primärprävention mit
119
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
den Heranwachsenden zu helfen. Auch können sie andere bei der Auswahl der
Arbeitsmaterialien und -methoden beraten. Die Schule als Ganzes kann sich von ihnen auf
institutioneller Ebene Tipps geben lassen, wenn sie sich nachhaltige, langfristige und
strukturell verankerte Primärpräventionsarbeit zu ihrem Ziel gesetzt hat. Die Schule kann die
Kooperation mit SpezialistInnen der (Primär-)Prävention in ihre Leitlinien aufnehmen und so
verbindlicher gestalten.
Letztlich hängt es vom Engagement der Schule, der Schulsozialarbeit und der Lehrerschaft,
von deren finanziellen und zeitlichen Möglichkeiten sowie von der Bereitschaft und den
freien Kapazitäten der Primärpräventionsfachleute ab, wie stark letztere in den schulischen
Prozess zur vorbeugenden Arbeit eingebunden werden (können).
7.3.3. Rolle der integrierten Schulsozialarbeit
Im Kapitel zur Schulsozialarbeit stellte ich das kooperative, lebensweltbezogene und am Ort
Schule integrierte Schulsozialarbeitsmodell als von mir favorisierte Art vor, Schulpädagogik
und Schulsozialarbeit zusammenwirken zu lassen. Werden Aufgaben, Ziele und Kompetenzen dabei in Kooperationsverträgen festgehalten, kann die Schulsozialarbeit darauf abgestützt, gleichberechtigt zum Lehrkörper, selbständig und aktiv ihre Arbeit gestalten.
Neben dem Auftrag, den Vereinbarungen mit der Schule respektive der Lehrerschaft, sind
auch die Vorbildung/Kompetenz, die Ausrichtung und das Interesses des/der Schulsozialarbeiters/in entscheidend darüber, wie wichtig er/sie für die Missbrauchsprävention wird. Hat
die Person in der Grundausbildung noch keine entsprechenden Kompetenzen erworben, wird
ihr aber bei der Primärprävention oder auch bei der Verdachtsabklärung eine Rolle zugedacht,
sollte sie sich entsprechend fortbilden. Die Inhalte einer Fort-, Weiterbildung könnten dann in
etwa denjenigen entsprechen, die auch für die Lehrerschaft44 erwünscht sind. Kurse könnten
im Sinne einer internen Weiterbildung gemeinsam besucht werden, um die Zusammenarbeit
zwischen Lehrkörper und Schulsozialdienst zu stärken. Als weitere, kontinuierliche Schulungsmöglichkeiten bieten sich beispielsweise Supervision, kollegiale Beratung, Reflexion,
Teamsitzungen oder der Besuch von Informationsveranstaltungen an.
Wenn sich die Person im Bereich der sexuellen Ausbeutung und Primärprävention bereits
auskennt oder sich entsprechend fortgebildet hat, kann sie in Absprache mit andern
potentiellen AkteurInnen inhaltlich und formal Projekte respektive Primärprävention – auch
44
siehe Kapitel 7.3.4.
120
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
Tipps zu deren Verankerung in der schulischen Struktur – initiieren und wesentlich
mitgestalten (zum Beispiel durch Einsitz im vorgeschlagenen Projektteam oder in einer
(sekundärpräventiven) HelferInnenkonferenz). In der Durchführung kann sie mit LehrerInnen
und der Schülerschaft (zusammen)arbeiten, im Unterricht wie ausserhalb, in der Schule selbst
wie auch im schulischen Umfeld. Eltern soll das Anliegen näher gebracht und sie einbezogen
werden, Kontakte zum Gemeinwesen sollen geknüpft und Erkenntnisse aus anderen (Projekt-)
Erfahrungen in die Schule hereingeholt werden. Der Schulsozialdienst kann aber auch
verschiedene Helferdienste vernetzen und soll wo immer nötig auf Fachleute (wie zum
Beispiel die PräventionsspezialistInnen) zurückgreifen. Damit kann ihm auch die Rolle eines
Koordinators oder einer Drehscheibe für präventionsspezifische Angebote, für diesbezügliche
Fortbildungen der schulischen MitarbeiterInnen und für die Zusammenarbeit mit den weiteren
Helferinstitutionen zukommen. Ein Stück weit sollte sich die Person auch an der politischen,
öffentlichen Debatte des Themas beteiligen. Unter anderem durch das Hereinholen von
ausserschulischen Inhalten und „Lehrpersonen“ aus anderen Berufsfeldern trägt sie zu einer
Öffnung der Schule bei.
Primärpräventive Inhalte aus dem Missbrauchsbereich45 lassen sich vom Schulsozialdienst
auf vielfältige Weise in den Schulalltag der SchülerInnen einbringen. Sie lassen sich mit
andern Themen wie dem Verhalten in Gruppen, dem Umgang mit dem andern Geschlecht
oder mit andern Kulturen, der allgemeinen Gewalt(primär)prävention oder der Suchtvorbeugung verbinden. Ferner können SchulsozialarbeitInnen das Gedankengut in Sitzungen,
Konferenzen, LehrerInnenberatungen, Gruppenarbeiten und Konfliktlösungen mit SchülerInnen oder in Informationsveranstaltungen mit Eltern einfliessen lassen.
In sozialpädagogisch orientierten Unterrichtsprojekten mit Aufklärungsinhalt kann der
Schulsozialdienst die Lehrerschaft unterstützen, emanzipierten Unterricht oder Mädchen- und
Jungenarbeit zu praktizieren, oder er kann durch seine eigene Teilnahme am Unterricht bei
projektorientierten, primärpräventiven Arbeiten mit der Klasse oder mit geschlechtshomogenen Gruppen mitwirken.
Letztlich bietet sich das in den Kapiteln 6.3.2. und 6.3.3. beschriebene Spektrum an
Zielgruppen, Aufgabenfeldern und Methoden der integrierten Schulsozialarbeit an, die für
unsern Fall spezifisch mit primärpräventiven Inhalten gefüllt werden.
45
Diese Inhalte werden im Kapitel 7.4. detailliert beschrieben.
121
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
7.3.4. Rolle und Vorbereitung des Lehrkörpers
Die aktuelle Lage gestaltet sich so, dass Lehrkräfte mehrheitlich auf sich selbst gestellt sind.46
Ihnen fehlen Kooperationsmöglichkeiten innerhalb der Schule und mit andern Institutionen.
Sie besitzen keine Handlungsleitlinien und werden durch die Schuladministration zu wenig
unterstützt. Diese mangelnde Einbindung der Grundschule ins Hilfesystem führt zu
Überforderung und Unsicherheit der Lehrpersonen und zu schlechter Hilfestellung für das
Kind. Selbst innerhalb der Schule erhalten Lehrkräfte scheinbar wenig kollegiale
Unterstützung, was auf eine schlechte Kommunikationsstruktur und fehlende schulische
Richtlinien für das Thema des sexuellen Missbrauchs zurückzuführen sein dürfte. (Johns &
Kirchhofer, 1995, 231-238)
Die Vorbereitung und Kompetenz der Lehrerschaft, ihre eigene reflektierte Position und ihre
Informiertheit im Themenkomplex des sexuellen Missbrauchs zentrale Voraussetzung für ihre
primärpräventive und damit potentiell den Missbrauch enthüllende Arbeit mit ihren
SchülerInnen. Bei einer langfristigen, konkreten Umsetzung im Schulalltag kann auf den
Beitrag der einzelnen Lehrpersonen (insbesondere auch der Klassenlehrkräfte) und somit auf
deren Weiterbildung kaum verzichtet werden.
Selbst wenn Primärprävention eher projektartig von externen Fachleuten angeboten wird und
beispielsweise durch ein Projektteam koordiniert wird, kommt der Fortbildung der
Lehrerschaft eine grosse Bedeutung zu. Die Lehrperson könnte dann laut Werner (2003, 131)
als MultiplikatorIn für die langfristige Umsetzung respektive Wirkung der vorbeugenden
Arbeit sorgen, indem sie im Erziehungsalltag immer wieder Elemente aus dem Projekt
aufgreift und vorlebt. Ich erachte die Mitwirkung des Lehrkörpers auch in von Fachleuten
gestalteten Primärpräventionsprojekten als zentral, um das Angebot breit abgestützt zu haben
und den Zugang der Externen in den Unterricht zu erleichtern.
Eine adäquate Vorbereitung von Lehrpersonen geht über die rein kognitive Information
hinaus. Am Anfang steht, dass sie sich mit traditionellen (Primär-)Präventionsvorstellungen
auseinandersetzen, eigene Blockaden analysieren, vorhandene Materialien mit fachlicher
Hilfe überprüfen und mögliche unerwünschte Nebeneffekte für die Kinder mit bedenken.
Im sekundärpräventiven Bereich, auf den man zwingend auch vorbereitet sein muss, wenn
man Primärprävention in den Schulalltag einbettet, muss eine Lehrperson befähigt sein,
46
Die Autoren haben dabei deutsche Grundschulen untersucht. Für die Schweiz lassen sich ähnliche
Verhältnisse vermuten.
122
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
kindliche Notlagen zu erkennen und dem Kind Hilfe zu vermitteln mittels interner und
externer Kooperation. Die Interpretation der beobachteten Symptomatik eines Kindes gehört
nicht mehr zu ihrer Aufgabe, ebenso wenig soll sie ein diagnostisches Gespräch im Sinne
einer Aufdeckung führen. Das ist meines Erachtens Sache von erfahrenen Fachleuten.
Johns und Marquardt-Mau (1995, 265-276) listen Aufgaben und Qualifikationen von
Lehrpersonen für die Präventionsaufgabe auf. Parallel dazu nennen sie die entsprechenden
Aus- und Weiterbildungselemente und Methoden, die in der LehrerInnenbildung dafür nötig
oder hilfreich sind (siehe Tabelle 4).
Tabelle 4:
Erforderliche LehrerInnenqualifikation und Ausbildungselemente für die
Präventionsarbeit
Aufgaben und Qualifikation von LehrerInnen
PRIMÄRPRÄVENTION
Ausbildungselemente
eigene Gefühle wahrnehmen, ausdrücken
gestaltpädagogische Übungen, Selbstausdruck mit kreativen Medien, Lehrerrolle
Identität der Kinder sensibel wahrnehmen,
Anthropologie des Kindes, Entwicklungs-
akzeptieren, stützen
und Sozialisationstheorien, Sexualität von
Kindern, Analyse kindlicher Denkweisen und
Handlungsformen
Ansprechpartner für Probleme und Fragen der Lehrerrolle, Beratungstechniken
Kinder
gutes Sozialklima in der Klasse herstellen
Konfliktlösestrategien, Beratungstechniken,
Rollenspiel
partnerschaftlicher Lehrstil, ganzheitliche und
Analyse von Unterrichtsstilen, didaktische
handlungsorientierte Lehr- und Lernformen
Konzepte wie offener Unterricht, Projektunterricht, Gestaltpädagogik
Kindern Freiräume zur eigenen Verantwor-
Schülermitbestimmung, Projektunterricht
tung schaffen
geschlechtsspezifische Erlebnis- und Wahr-
Forschung zur geschlechtsspezifischen
nehmungsweisen von Jungen/Mädchen beo-
Sozialisation in der Schule; Analyse von
bachten und in Unterrichtsplanung einbringen
Unterrichtsstrukturen
mit Kindern über Sexualität reden können
Sexualität von Kindern, sexuelle Entwicklung, eigene sexuelle Sozialisation
123
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
Primärpräventionselemente anlassbezogen in
Primärpräventions- und Unterrichtsmaterial
Unterricht einplanen, zum Beispiel an
analysieren, Evaluationsstudien beachten;
positive Sexualerziehung anknüpfen, Erleben
Methoden wie Rollenspiel, Lesetexte,
von Gefühlen benennen, körperliche und
Gefühlstagebuch, Phantasiereise; Menschen-
psychische Grenzen einfordern, an
und Kinderrechte, UNO-Charta; Gewalt in
geschlechtsspezifische Sozialisationsmuster
der Schule, Geschlechtsrollenstereotype,
und Erfahrungen von Übergriffen im
didaktische Ansätze für Jungen- und
Schulalltag anknüpfen, individuell und
Mädchenarbeit; ethnologische Studien zur
kulturell unterschiedliche Vorstellungen über
Kindererziehung, zu Sexualnormen, zur
familiäre Intimität thematisieren
Familiendynamik, zu kindlichen
Bedürfnissen
mit Eltern zusammenarbeiten
Beratungstechniken der Elternarbeit
SEKUNDÄRPRÄVENTION
für Kinder in ihrer sozialen und emotionalen
Entwicklungspsychologie inklusive sexueller
Entwicklung sensibel sein
Entwicklung
individuelle Problemlagen und Veränderun-
Klinische Psychologie, Verhaltensanalyse,
gen bei Kindern erkennen und benennen
Schulung der Selbst- und Fremdwahrnehmung
individuelle Veränderungen im Hinblick auf
Definition, Häufigkeit, Forschungsstand,
Symptome und Signale von Missbrauch er-
Folgen, Ursachen, Familiendynamik,
kennen
Psychodynamik des Kindes; Fallstudien
analysieren, eigene psychologische Barrieren
erkennen
Betroffenen Kindern helfen und unterstützen
Gesprächsführungstechniken
Einrichtungen kennen, die helfen können
praktisches Erkunden vor Ort; Institutionenkunde im psychosozialen Bereich
Hilfeprozess und Krisenintervention in Gang
Forschung zur sekundären Traumatisierung,
setzen
rechtliche Aspekte, Kriseninterventionskonzepte, Interventionspraxis, Kooperationsmodelle
eigene Rolle in HelferInnenkonferenzen
Modelle multidisziplinärer Zusammenarbeit,
kennen
Ablauf HelferInnenkonferenz
124
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
sich selbst bei vermutetem sexuellen Miss-
Vernetzungsmodelle schulintern und zwi-
brauch Unterstützung bei Kollegen und Bera-
schen Schule und psychosozialen Diensten,
tungsstellen holen
Entscheidungsprozesse
Hier präsentiert sich also eine vielschichtige und komplexe Palette von Ausbildungsinhalten,
die die LehrerInnenausbildung und/oder -fortbildung anbieten sollte, um den Lehrkörper
angemessen auf seine Rolle im Präventionsgeschehen vorzubereiten. Viele dieser Inhalte und
Methoden werden auch in ganz andern Zusammenhängen des schulisch-pädagogischen
Alltags relevant und nützlich. – Die Ausbildung sollte dabei zwischen Informationsblöcken
und Rollenspielen, Fallstudien und Übungen aus der Bewegungs- und Spielpädagogik
abwechseln, um die emotionale Ausdrucksfähigkeit der ganzen Person zu fördern (ebd.,
276f).
Zur LehrerInnenausbildung merken Johns und Marquardt-Mau (ebd.) an, dass es langfristig
darum gehe zu überprüfen, wie sich die speziellen Anforderungen zum Missbrauchsproblem
in ein umfassendes LehrerInnenbildungskonzept integrieren liessen, das sich am zukünftigen
Berufsbild orientiere. Dass dabei das Thema Kinderschutz und die Fähigkeit, für Kinder
sensibel zu sein, zentral seien, liege auf der Hand.
In diesem Kontext gilt zu erinnern, dass es auch unter Lehrpersonen MissbraucherInnen gibt.
LehrerInnen vermuten vielleicht von einem/einer ihrer KollegInnen, dass diese/r Übergriffe
verübt, verdrängen das aber möglicherweise aus Unsicherheit und Ungläubigkeit. Es ist
anzunehmen, dass sich ein/e missbrauchende/r LehrerIn gegen eine solche aufklärende LehrerInnenbildung und Kindererziehung stellen wird, da er/sie bei einer zunehmenden Sensibilisierung der KollegInnen und Kinder damit rechnen muss aufzufliegen. Die Frage, ob ein/e
unentdeckte/r MissbraucherIn, der/die in eine solche Fortbildung einbezogen wird, aufgrund
der dort gewonnenen Erkenntnisse von seinem/ihren Tun ablassen oder aus dem Lehrerberuf
ausscheiden würde, wäre als interessanter, wenn auch nicht sehr wahrscheinlicher Nebeneffekt der Primärprävention zu erforschen. Es scheint mir aber nicht sinnvoll, dass schülerInnenmissbrauchende LehrerInnen selber (Primär-)Präventionsarbeit mit Kindern gestalten,
da sie das nicht glaubwürdig oder widerspruchsfrei vermitteln können. Lohaus und Schorsch
(1998, 685) betonen deshalb die vorbeugende Aufgabe der Schule, bereits bei der Einstellung
von neuen Lehrpersonen auf Anzeichen zu achten, die ein erhöhtes Risiko für Missbrauch
darstellen und Informationen bei ehemaligen ArbeitgeberInnen einzuholen.
125
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
7.3.5. Vorbereitung und Einbezug der Eltern
Eltern könnten aufgrund ihrer situativen Nähe zum Kind die Gefahrensituationen am Besten
einschätzen, es sei denn, sie selber sind die TäterInnen (Koch & Kruck, 2000, 72). Sie sind in
der personalen (Primär-)Präventionsarbeit einer der wichtigsten Stützpfeiler überhaupt zum
Schutz der Kinder vor sexuellem Missbrauch, da sie die primäre Erziehungs- und Sozialisationsinstanz darstellen und die Verantwortung für ihre Kinder tragen.
Eltern erhalten offenbar in erster Linie durch die Medien ihr Wissen über sexuellen Missbrauch, welches von unterschiedlichster Qualität ist. Sie bekunden Mühe, dieses Wissen in
ihre Lebenswelt zu übertragen, glauben weiterhin, nur die Verwandten und Bekannten von
anderen Leuten seien betroffen (Verdrängungsmechanismus). Sie sind mit (primär)präventiven Handlungsansätzen vollkommen unterversorgt. Viele scheinen interessiert zu sein, sich
aber hilflos zu fühlen. (Knappe, 1995, 253f) In der Elternprävention finden sich laut Lohaus
und Schorsch (1998, 684f) primär- und sekundärpräventive Massnahmen, die oft nicht klar
voneinander getrennt werden könnten.
Die präventive Elternarbeit findet vor allem im Rahmen von Erwachsenenbildung, Erziehungskursen und -trainings, im individuell-therapeutischen Rahmen, in Veranstaltungen zur
Vorbereitung der Elternschaft, etc. statt. Sie ist primär ausserhalb und unabhängig von der
Institution Schule organisiert. Ziegler (1990, 154) beschreibt vier Schwerpunktthemen solcher
Kurse: Verbesserung des allgemeinen Problemlöseverhaltens, Stärkung von Selbstwertgefühl
und Selbstkontrolle, Analyse der Beziehung zwischen den Eltern sowie Befähigung der Eltern
für ihre erzieherische Aufgabe.
Laut Knappe (1995, 241, 253f) werden sie leider bis anhin viel zu selten in (schulische)
Projekte involviert. Wenn man in der Primärprävention von der Idee der emanzipatorischen
Erziehung ausgehe, dürften Bemühungen nicht an den Eltern vorbei laufen.
Meistens beschränkt sich die Schule aber auf eine Information über das Vorhaben, Aufklärungs- und Vorbeugungsunterricht anzubieten, und auf eine kurze Vorstellung der Inhalte. Es
handelt sich dabei eher um das Einholen einer Einverständniserklärung als um einen aktiven
Einbezug der Eltern. (Koch & Kruck, 2000, 74)
Die Arbeit mit Eltern ist herausfordernd und birgt manche Hürde in sich. Lohaus und Trautner (o.J., 9f; zit. nach Koch & Kruck, 2000, 51) weisen auf Inkongruenzen zwischen Programmzielen und elterlichen Erziehungszielen hin, die die Effektivität und Realisierung von
Vorbeugung erschweren können. Eltern müsste bewusst gemacht werden, welche Inhalte
126
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
warum in der primärpräventiven Arbeit mit Kindern gewählt würden, dass Kinder in der
Folge daheim unter Umständen nicht mehr so pflegeleicht sein würden. Insbesondere von
Familien, in denen Missbrauch vorkomme, sei dabei mit Widerstand zu rechnen.
Einige Eltern fürchten vielleicht, ihr Kind werde der Sexualität gegenüber negativ eingestellt,
andere haben Angst vor (falschen oder zutreffenden) Verdächtigungen, vor einem Auseinanderbrechen der Familie (im Inzestfall), vor einer Einmischung in die elterliche Erziehung oder
vor einer mangelnden Rücksichtnahme auf ihre kulturellen oder familiären Eigenheiten und
Traditionen. Es ist nicht zu erwarten, dass alle Schichten und Männer wie Frauen
gleichermassen über Missbrauch Bescheid wissen und für schulische Primärpräventionsprojekte offen sind. Insbesondere muss versucht werden, Männer und Eltern aus andern
Kulturen vermehrt anzusprechen; dazu könnte eine Fachperson von einer Männerberatungsstelle, von einer primärpräventiv ausgerichteten Beratungsstelle oder/und ein/e KulturvermittlerIn oder ÜbersetzerIn beigezogen werden.
Ferner halte ich auch für denkbar, die Gründung einer Elternprojektgruppe zu ermuntern, die
professionell begleitet wird, und in welcher Anliegen von Elternseite regelmässig besprochen
werden können, die im Zusammenhang mit der schulischen Primärprävention auftauchen.
Eine Elternvertretung oder die begleitende Fachperson (zum Beispiel von einer Präventionsfachstelle) könnte dann die Inputs ins schulische Projekt einbringen.
Die schulische Erziehung soll Eltern zu genauer Beobachtung, kompetentem Sachwissen und
zur Fähigkeit, den Kindern Hilfestellung zu geben, anleiten. Eine offene Atmosphäre im
Elternhaus, die auch über Sexualität und Gewalt zu sprechen ermöglicht, unterstützt die
schulische Primärpräventionsarbeit. Die LehrerInnen müssen Befürchtungen, Ängste und
Unsicherheiten der Eltern berücksichtigen, wenn sie sich im Rahmen eines Elternabends (oder
besser mehrerer Anlässe) über das Vorhaben austauschen. (Koch & Kruck, 2000, 71-77) –
Dasselbe gilt für aktiv mitbeteiligte Schulsozialarbeit oder Präventionsfachstellen.
Eltern sollen am Elternabend Hintergrundinformationen zum Missbrauch (Ursachen, Formen,
Dynamik, etc.) sowie zu ihren Aufgaben und Möglichkeiten bei der Primärprävention
erhalten. Man soll auf ihre Schwierigkeiten, sich auf das Thema einzulassen, eingehen sowie
nebst dem ausführlichen Präsentieren der geplanten Unterrichtsreihe/Projekte auch Materialien47 und Hintergrundliteratur48 sowie Adressen von regionalen Anlaufstellen (Selbsthilfegruppen, Therapie, Beratung) vorstellen. Dabei kann sich das gezeigte Material mit Fragen
47
48
siehe Kapitel 7.4.2.
Im Anhang sind einzelne Primärpräventionsbücher-Tipps aufgelistet.
127
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
wie „Wie rede ich mit einem Kinder über Sexualität?“, „Wie erziehe ich mein Kind zu einem
selbstbewussten Wesen?“, „Wie lernt man Gefühle benennen und Grenzen setzen?“ oder
„Was ist sexueller Missbrauch?“ beschäftigen. Man muss den Eltern aufzeigen, dass es nicht
nur um die negativen Aspekte der Sexualität geht, sondern dass es sich besonders um
Lebenskompetenzförderung handelt, um geschlechtsspezifische Arbeit (im Sinn einer
Berücksichtigung der verschiedenen Sozialisationserfahrungen) und um Sexualerziehung.
(ebd., 51)
Informationen an die Eltern können auch eine Vermittlung von (emanzipatorischen)
Erziehungsleitlinien beinhalten, durch deren Realisierung ihre Kinder weniger dem Risiko
sexuellen Missbrauchs ausgesetzt sein würden. Ferner ist es sinnvoll, ihnen mögliche
Anzeichen für Missbrauchssituationen aufzuzeigen und zu erklären, wie sie im Verdachtsfall
vorgehen können. (Lohaus & Schorsch, 1998, 684) – Dieses Thema ist allerdings mit viel
Sensibilität, Professionalität und Vorsicht anzugehen. Koch und Kruck (2000, 76) schlagen
vor zu betonen, dass keine vorschnelle Reaktionen angebracht sowie viel Ruhe und
sorgfältige Beobachtung nötig sind. Man soll nichts über den Kopf des Kindes hinweg
entscheiden, und am Elternabend soll auch betont werden, dass die Schule nie ohne
professionelle Instanzen aktiv werde.49
7.3.6. Das Kooperationskonzept im Überblick
Auf den letzten Seiten bemühte ich mich, relevante KooperationspartnerInnen für die
schulische Primärprävention herauszukristallisieren und die nötige Vorbereitung respektive
den potentiellen Beitrag der verschiedenen AkteurInnen zu beschreiben, damit eine nachhaltige Vorbeugungsarbeit am Ort Schule möglich wird, die nicht nur die Opferarbeit mit den
Kindern und Jugendlichen sieht, sondern sich auch der Notwendigkeit institutioneller
Einbettung bewusst ist, um eine erhöhte Wirkung und besseren Kinderschutz zu erzielen.
Meine zweite Hauptforschungsfrage zielte darauf zu überlegen, welche primärpräventiven
Möglichkeiten durch die Kooperation von Schule und Sozialer Arbeit entstehen könnten.
Dieser Frage wurde in diesem Kapitel, welches mit einer zusammenfassenden Abbildung
(siehe Abbildung 9) abgerundet werden soll, intensiv nachgegangen. Werden die in Kapitel
7.1. beschriebenen Voraussetzungen kooperativer Arbeit berücksichtigt, birgt die Zusammen-
49
zu Anzeichen und Vorgehen siehe auch Kapitel 4.1. und 7.5.
128
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
arbeit von Schule und Sozialer Arbeit zahlreiche Möglichkeiten. Zudem ist sie einfach ein
Muss, da die Schule allein über zu wenig missbrauchsspezifisches Wissen verfügt.
NACHHALTIGE SCHULISCHE PRIMÄRPRÄVENTION
Initiierung und zentrale Planung durch Projektgruppe:
- Konzepterarbeitung zur strukturellen Verankerung
- strategische Koordination mit AkteurInnen, verwandten Themen und Helferdiensten
- Einbezug externer Anspruchsgruppen
Institution Schule:
institutionelle Verankerung mittels Flügelradmodell (Biehal, 1994; Eberle &
Leiser, 2004) (Ausarbeitung teils durch Projektgruppe):
- Strategieentwicklung: strategische Vision des Schutzes der SchülerInnen
- Personalentwicklung: Umsetzung des Konzepts in die Praxis
- Organisationsentwicklung: formelle Strukturen und Abläufe, Ressourcenplan
-
integrierte Schulsozialarbeit:
Hilfe für Lehrkörper und Eltern, aktive Arbeit mit Schülerschaft
Öffnung der Schule gegen aussen (Gemeinwesen)
praktische Vernetzung und Koordination von Helferdiensten
Drehscheibe für (interne) Weiterbildungsangebote; eigene Fortbildung
-
Lehrkörper:
eigene Weiterbildung, Teamsupervision, Reflexion
Projektarbeit: eigenaktiv oder MultiplikatorIn für nachhaltige Wirkung
kontinuierliche Erziehungshaltung mit emanzipatorischen Elementen
interne und externe Kooperation
aktive Vorbeugungsarbeit mit Schülerschaft, Einbezug der Eltern
Erkennen kindlicher Notlagen und Symptome (Sekundärprävention)
Primärpräventionsfachstellen:
- fachliche und planerische Beratungsarbeit bei schulischer Vorbeugungsarbeit
- Weiterbildung und thematische Vorbereitung von Lehrkörper, Eltern,
Schulleitung, SchulsozialarbeiterIn
- Mitarbeit in konkreten Projekten mit Schülerschaft, Elternarbeit
- Verdachtsabklärungen
Eltern:
- aktiver Einbezug der Eltern durch die Schule (z.B. Elternabende): Informationen zu Hintergrundwissen, Anlaufsstellen, schulischem Vorhaben,…
- Elternprojektgruppe: Input in Schulteam
- Besuch schulexterner Erwachsenenbildungs- und Erziehungskurse
- Hilfestellung und Beobachtung bei Missbrauchsverdacht beim eigenen Kind
Abbildung 9: Kooperationskonzept langfristig angelegter schulischer Missbrauchsvorbeugung:
Vorbereitung und Beiträge ausgewählter KooperationspartnerInnen im Überblick
129
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
Durch den Einbezug der Eltern wird versucht, das primärpräventive Gedankengut auch im
Familienalltag zu verankern und die schulische Arbeit abzusichern. Die Zuhilfenahme von
SpezialistInnen aus der Primärprävention bedeutet eine enorme Bereicherung der Schule mit
missbrauchs- und vorbeugungsspezifischem Wissen.
Die Lehrerschaft alleine wäre überfordert mit der eigenständigen Umsetzung einer nachhaltigen Vorbeugungsarbeit, da sie den Bildungsauftrag nicht vernachlässigen sollte und zahlreiche andere Erwartungen an sie gerichtet werden. Dennoch ist sie durch ihr häufiges
Zusammensein mit der Schülerschaft nicht aus der Vorbeugungsarbeit wegzudenken. Das
Konzept sieht vor, durch eine Verankerung auf institutioneller Ebene die Bemühungen der
LehrerInnen zu unterstützen (oder auch anzukurbeln) und die vorbeugende Wirkung schulischer Aktionen zu erhöhen. Die seit einigen Jahren verstärkt in die Schulhäuser hereingeholten SchulsozialarbeiterInnen bringen sozialarbeiterisches und -pädagogisches Wissen mit,
kennen sich vielfach mit schwierigen Situationen von Kindern und Jugendlichen aus und
verfügen über Kenntnisse in verwandten Gebieten wie Gewalt- oder Suchtprävention, in
welchen gewisse Strategien und Inhalte emanzipatorischen Arbeitens ebenfalls Anwendung
finden; dadurch sind Synergieeffekte zu erwarten.
Der Einsatz einer Projektgruppe hilft, drohenden Verständigungsproblemen, Kompetenzstreitigkeiten und Doppelspurigkeiten zu begegnen. Sie skizziert in einem Konzept die
schulische Primärpräventionsarbeit entlang wesentlicher Strukturen und Inhalte. Diese
koordinierende, strategisch arbeitende Gruppe ist multidisziplinär und aus verschiedenen
Instanzen zusammengesetzt, was den Einbezug vielfältiger Interessen und Aspekte
gewährleistet.
Die durch Kooperation potentiell entstehenden Möglichkeiten können sich sehen lassen, doch
muss man sich bewusst sein, dass sich einer solchen nachhaltigen Primärprävention neben
Ressourcen- auch Willensmängel in den Weg stellen können. Deshalb stehen ideelle
Bemühungen und Überzeugungsarbeit durch einzelne Engagierte und durch die Projektgruppe
am Anfang eines solchen gewagten Vorhabens.
7.4. Feministisch abgestützte Primärpräventionsarbeit mit SchülerInnen aus
Sicht des Lehrkörpers
Da ich aufgrund der Auseinandersetzung mit der Fachliteratur zum Schluss komme, dass sich
die Lehrerschaft möglichst aktiv an der missbrauchsvorbeugenden Arbeit mit Kindern und
Jugendlichen beteiligen sollte, formuliere ich dieses Kapitel aus LehrerInnensicht.
130
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
Hier soll ein grosses Spektrum inhaltlicher und methodischer Arbeit mit SchülerInnen
dargelegt werden, doch natürlich kann nie alles eingelöst werden; es ist viel mehr als Angebotspalette zu sehen, aus dem je nach Präferenzen, Absprachen, Prioritätensetzungen und
Fähigkeiten der Lehrperson auszuwählen ist. Gestützt auf das schulische Konzept respektive
auf kooperative Absprachen mit SchulsozialarbeiterInnen oder mit externen, auf Primärprävention spezialisierten Fachleuten, können Teile daraus auch an jene KooperationspartnerInnen abfallen oder gemeinsam vermittelt werden. Wie fast überall, so definieren auch
hier neben dem persönlichen Engagement und dem institutionellen Interesse die zeitlichen,
personellen, finanziellen und politischen Möglichkeiten einer Schule und der beteiligten
AkteurInnen massgeblich den Rahmen mit, innerhalb dessen primärpräventive Arbeit
verwirklicht werden kann.
Althof (1998, 23) verweist im Zusammenhang mit Schulentwicklungsprojekten darauf, dass
für das Eintreffen des erhofften Erfolgs eines Schulprojekts am Anfang immer viel Arbeit
investiert werden müsse. Lehrkräfte müssten sich über Ziele und Vorgehen einig sein, die
Aktivitäten müssten erfahrungsnah sein und reflektiert werden und die Kinder sollten ihre
Mitwirkung als relevant erleben.
7.4.1. Inhalte der (feministisch orientierten) vorbeugenden Arbeit mit Kindern
und Jugendlichen am Ort Schule
In diesem Kapitel soll noch einmal auf die dritte Hauptforschungsfrage Bezug genommen
werden, die sich neben den (bereits behandelten) Kriterien der Primärpräventionsarbeit mit
Kindern auch den Inhalten derselben widmet. – Es ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich,
separat für die einzelnen (Vor-) Schulstufen mögliche Inhalte, Formen und Wege aufzuzeigen. Je nach Altersstufe sind untenstehende Inhalte auf direktere oder mittelbarere Art, auf
konkretere oder abstraktere Weise in die Arbeit einzubetten. Einige mögen auch erst ab Mitte
der Grundschule zum Thema werden, da sie für jüngere Kinder noch zu schwierig zu erfassen
sind.
Die Ziele einer feministisch orientierten Primärprävention mit Kindern wurden an früherer
Stelle bereits formuliert50: autoritätskritische, aufgeklärte, selbständige, selbstbewusste und
starke Kinder, die befähigt sind, ihre Rechte auf körperliche, seelische und sexuelle Integrität
zu verteidigen. Die schulische Arbeit spricht Kinder und Jugendliche als mögliche Opfer und
TäterInnen an, wobei sich diesbezüglich eine phasenweise geschlechterspezifische Arbeit
50
siehe Kapitel 5.2.
131
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
aufdrängt, da Jungen und Mädchen teils in verschiedenen Kompetenzen gefördert werden
müssen und sich mit je eigenen, rollenspezifischen Problemen konfrontiert sehen.
Es gibt unzählige Situationen, in denen Grenzen zwischen SchülerInnen verletzt werden, die
Interaktion zwischen den Kindern und zwischen Lehrperson und Schülerschaft klassisch
männliche/weibliche respektive hierarchische Züge annimmt, welche die Lehrperson als
Thema aufgreifen könnte. Obwohl Fächer wie Biologie, Lebenskunde, Mensch und Umwelt
oder Religion geeigneter erscheinen mögen, sexualpädagogische Primärpräventionsbemühungen anzustreben, so lässt sich doch vieles implizit in andere Fächer oder ins ungezwungene Zusammensein in Pausen, Klassenlagern, Projektwochen oder Schulreisen einbetten, als
alltägliche Erziehungshaltung, als Selbstverständnis im Zusammenleben.
Im Schulalltag sollte von den LehrerInnen also eine Haltung gelebt und vermittelt werden, die
die klassischen Geschlechtsrollen modifiziert, jene gesellschaftlichen Ohnmacht- und Machtstrukturen hinterfragt, welche sexuelle Gewalt begünstigen, sowie Sexualitätskonzepte
fördert, welche von Selbstbestimmung, Verantwortung und Lust aller Beteiligten gekennzeichnet sind (May, 1997, 48).
May (ebd., 45) schlägt sechs Bausteine vor, welche in die schulische Primärpräventionsarbeit
eingeflochten werden können. Die Elemente sollten verknüpft, parallel und altersangemessen
in verschiedenen Schulkontexten eingesetzt und vor allem im Schulalltag (vor-)gelebt
werden. Ich versuche Mays blossen „Titeln“ der Bausteine im Folgenden auch Inhalte, zu
fördernde Kompetenzen und Themen zuzuordnen, damit man sich ein besseres Bild machen
kann:
-
Ich-Identität: Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl, Selbständigkeit, Erwachsenwerden, Verantwortungsübernahme, Ehrlichkeit sich selbst gegenüber, Stärken und
Fähigkeiten, Vertrauen in sich selbst, Unabhängigkeit, Beweglichkeit und Freiheit
sollen thematisiert und gefördert werden.
-
Mein Körper: die Anatomie soll konkret benannt, ihre Funktionen erklärt und die
Körperwahrnehmung gestärkt werden. Die Suchtthematik mag im Zusammenhang mit
Gesundheit und Krankheit auch behandelt werden.
-
Gefühle: Kinder sollen lernen, ihre und fremde Gefühle zu spüren, auszudrücken, zu
verstehen beziehungsweise zu respektieren und ernst zu nehmen. Sie sollen sich
abgrenzen lernen, auch von Gruppendynamiken, die ihnen selbst zuwider laufen. – In
diesem Zusammenhang sollen sie Werte entwickeln, Fairness, Empathie, soziales
Handeln und den Gemeinsinn stärken, konstruktiven Frustrationsabbau und Konflikt132
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
bewältigung erlernen. Dies ist auch wichtig, damit Kinder (später) nicht selber zu
Tätern werden, also insbesondere für Jungen.
-
Informationen über sexuellen Missbrauch: den Kindern soll vermittelt werden, welche
Formen möglich sind, wer die TäterInnen sind, wie ihre Strategien aussehen und
warum sie es tun. Gleichzeitig sollen die SchülerInnen informiert werden, dass sie mit
allfälligen Missbrauchserfahrungen nicht alleine dastehen, dass sie darüber reden
sollen und dürfen, und wo sie Hilfe finden können.
-
Sexualität und Bedürfnisse: hierher gehören Themen wie Liebe, Zärtlichkeit, Selbstbefriedigung, Geschlechtsverkehr, Pubertät, Verhütung, Schutz vor Krankheiten (zum
Beispiel AIDS), Homosexualität, Prostitution und Exhibitionismus. Aber auch
Bereiche wie Gleichberechtigung im Geschlechterverhältnis, Umgang mit Grenzen
sowie Beziehungsarbeit und Vertrauen sollen angesprochen und explizit auch die
schönen, Freude und Lust bereitenden Seiten von Sexualität und Liebe betont werden.
-
Meine Rechte, Kinderschutz, Menschenrechte: Recht auf Selbstbestimmung, freie
Meinungsäusserung, Schutz und ganzheitliche Unversehrtheit, etc. sollen den Kindern
keine leeren Begriffe bleiben. Kinder- und Frauenrechte sollen als Menschenrechte
hervorgehoben und gelebt werden.
Laut May (ebd.) sind alle Bausteine in unterschiedlichsten Kontexten einsetzbar, was eine
grosse Variabilität und Wiederholungsmöglichkeit durch den Bezug zu verschiedenen
Themen ermögliche. So seien also nicht isolierte Trainings- und Informationsprogramme das
Ziel, sondern eine Art Spiralcurriculum.
Es darf nicht vergessen werden, auch Gewalt, Autorität und Machtverhältnisse als Bausteine
zu sehen, da sexueller Missbrauch als eine Form der Gewalt beziehungsweise des Machtmissbrauchs gesehen werden kann, nicht als eine Form der Sexualität. Eine ausschliessliche
Anbindung des Missbrauchsthemas an die Sexualerziehung könnte diese Tatsache verzerren.
Deshalb könnte die Missbrauchsvorbeugung zudem in den Kontext einer allgemeinen
Gewalt(primär)prävention an der Schule gestellt werden, bei der es zum Beispiel um
handgreifliche Vorfälle unter den SchülerInnen, zwischen LehrerInnen und SchülerInnenn
oder in Jugendgruppierungen geht.
Die Vorbeugung von sexuellem Missbrauch kann laut Deegener (1998, 184, 201) auch in die
Kontexte von Erziehungsproblemen, -haltungen, Geschlechterrollen oder kindlichen Entwick-
133
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
lungsaspekten eingebettet werden, da sich die Arbeit zum Schutz vor sexueller Ausbeutung
stark mit einer allgemeinen emanzipatorischen Erziehung überlappe.
Primärpräventionsprogramme:
Zusätzlich zu dieser kontinuierlichen Erziehungshaltung bietet sich auch eine programmartige
Vorbeugungsarbeit an, die für sich allein genommen keine befriedigende Wirkung zu erzielen
vermag. Einerseits bieten kurzfristig angelegte Programme die Möglichkeit, kompakte,
themenspezifische Informationsblöcke an Kinder und Jugendliche zu vermitteln und gewisse
Konzepte beziehungsweise Verhaltensweisen einzuüben und zu vertiefen, andererseits kann
die Schule dabei individuell auf ihre finanziellen, zeitlichen und personellen Möglichkeiten
eingehen. 51
Kurzfristige Primärpräventionsprogramme werden in den USA recht unkritisch an fast jeder
Grundschule durchgeführt, und im deutschen Sprachraum wurde Ende 80er Jahre langsam
darin nachgezogen, solche Projekte anzubieten. Das berühmteste Empowerment-Projekt
namens „child assault prevention program“ (CAPP), welches gemeindeorientiert und
feministisch ist, entstand nach 1978 in Columbus (Ohio) von Mitarbeiterinnen des Notrufs für
vergewaltigte Frauen (Märki-Lüthy & Schwegler-Donat, 1993, 78) und diente als Basis für
deutschsprachige Projekte. In Deutschland wurde das Programm unter dem Namen
„RotCAPPchen“ bekannt, die schweizerische Adaption nennt sich „7-Punkte-Programm“
(siehe auch Limita, 2004).
CAPP diente als Vorlage für zahlreiche verhaltenstherapeutische Programme, die in der
Länge, den Termini für die verwendeten Konzepte, dem Ort der Durchführung, dem verwendeten Material, dem Ausmass des aktiven Einbezugs der Kinder und den durchführenden
Personen (schulextern/schulintern, Fachleute/freiwillige TrainerInnen) und damit auch in
ihrer Qualität recht variieren. Die Programmdauer kann einzelne Viertelstunden an wenigen
Tagen (für Vorschulkinder gedacht) ausmachen, aber auch in einen ausführlichen Kurs im
Rahmen zahlreicher, regelmässiger Sitzungen münden. Die Programme sprechen selten direkt
und offen das Thema Sexualität an, sexuelle Handlungen werden oft nur angedeutet. Die
Inhalte werden in Form von opferorientierten Workshops und Informationsveranstaltungen
mit Eltern, LehrerInnen und SchülerInnen je separat durchgeführt, in denen nebst dem Referat
51
Zum Nutzen solcher Programme und zu wichtigen Kriterien für erfolgreiche Primärprävention mit Kindern
siehe Kapitel 7.2.2. und 7.2.3. An vorliegender Stelle sollen nur noch Aufbau und Inhalt der bereits viel zitierten
Empowerment-Programme umrissen werden, da sie trotz ihrer festgehaltenden Schwächen als Basis respektive
Baustein für die weiterführende, fundierte Präventionsarbeit dienen können.
134
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
auch Materialien (zum Beispiel Bücher) eingesetzt werden. (Amann & Wipplinger, 1998b,
662f)
Die Kernelemente des CAPP, die im deutschsprachigen Raum heutzutage scheinbar bezüglich der Form ihrer Umsetzung teils nuanciert werden, überschneiden sich mit den Bausteinen
von May (1997, 45). AutorInnen wie Besten (1995, 112-121) stellen sie vor:
-
Dein Körper gehört dir: Die Kinder sollen sich bewusst werden, dass sie mit ihren
Schwächen und Stärken einzigartig sind, und dass ihr Körper wichtiger Bestandteil
ihrer Person ist. Ihnen soll auch erklärt werden, dass sie ein Recht auf
Selbstbestimmung haben und auf eine eigene Meinung. Sie sollen lernen, selbst zu
entscheiden, was ihnen zum Beispiel an Berührungen gefällt, und dies auch
kundzutun.
-
Guten und schlechten Gefühle vertrauen: Gefühle sind etwas Wichtiges und Kinder
sollen sie wahrnehmen, formulieren und respektieren lernen. Man muss sich für sie
nicht schämen. Es gibt vereinfacht gesagt gute, schlechte und komische Gefühle.
Schlechte fühlen sich unangenehm an; man ahnt aber oft, wo sie herkommen.
Komische wirken beunruhigend und man weiss vielleicht nicht, woher sie kommen;
etwas stimmt einfach nicht. Die schlechten und komischen soll man einer Vertrauensperson erzählen.
-
Angenehme und unangenehme Berührungen: Körperkontakte und Zärtlichkeiten sind
sehr wichtig für Kinder, und sie sind sehr schön, wenn sie von Menschen kommen,
von denen es die Kinder auch wünschen, und in Situationen, wo es für sie stimmt.
Solange eine Berührung Geborgenheit und Wohlgefühl vermittelt, ist sie schön und
angenehm; wenn sie zu intensiv, vom Gefühl her komisch, merkwürdig, zudringlicher,
ungewohnter wird, darf das Kind sie energisch abwehren, auch wenn darauf das
Gegenüber beleidigt, böse oder traurig reagiert.
-
„Nein“ sagen: Kinder sind daran gewöhnt, Erwachsenen zu gehorchen und sie trauen
ihnen nahe stehenden Personen keine Bosheit zu. Sie sollen ermuntert werden,
selbstbewusst und deutlich „nein“ zu sagen, wenn sie etwas nicht möchten. Man muss
den Kindern aber auch erklären, warum gewisse unangenehme Dinge einfach
notwendig sind (zum Beispiel Zahnarztbesuch) und dass auch andere ihre Grenzen
und Rechte haben.
-
Gute und schlechte Geheimnisse: Gute Geheimnisse sind schön, spannend und machen Freude und werden irgendwann gelüftet. Schlechte hingegen erzeugen Bauch135
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
weh und ein schlechtes Gewissen; es heisst, es dürfe niemals jemand davon erfahren.
Ein Kind wird – unter Umständen unter Androhung von negativen Konsequenzen –
zum Schweigen verpflichtet. Von diesen komischen Geheimnissen soll das Kind einer
vertrauten Person berichten. Dem Kind muss der Unterschied zwischen unloyalem
Petzen und nötigem Anvertrauen erklärt werden.
-
Hilfe holen: Kinder sind stärker als sie selbst oft glauben, aber sie sollen sich auch
nicht überschätzen. Wenn sie nicht mehr weiter wissen, ein Problem, Angst oder
Schmerzen haben, sollen sie eine Vertrauensperson einweihen. Auch wenn diese
Person ihnen das Berichtete vielleicht nicht glaubt, sollen sie weiter nach Personen
suchen, bis sie jemanden finden, der ihnen das Vorgefallene glaubt. Man kann
gemeinsam mit den Kindern überlegen, wen sie im als Ansprechperson in Anspruch
nehmen könnten, falls sie mal in eine solche Lage kämen.
-
Du bist nicht schuld: Dem Kind soll vermittelt werden, dass – was immer auch
geschah, ob es sich gewehrt hat oder ob es ihm nicht gelang, den Missbrauch zu
verhindern oder zu beenden – es niemals die Verantwortung oder die Schuld für das
Vorgefallene trägt.
Es sei an dieser Stelle noch einmal betont, dass – teils im Gegensatz zur bisherigen Praxis –
diese Konzepte altersgerecht vermittelt, repetitiv aufgegriffen und eintrainiert werden sollen
mittels aktiver, spielerischer Übungen, Materialien und Alltagssituationen. Kleine Kinder
bekunden offensichtlich mehr Mühe als ältere, diese vielschichtigen Konzepte zu begreifen.
Ebenfalls zu beachten sind geschlechtsspezifische Unterschiede. Viele AutorInnen (zum
Beispiel Besten, 1995, 122; Huser-Studer & Leuzinger, 1992, 35) machen darauf
aufmerksam, dass viele Primärpräventionsmaterialien an der Sozialisation von Mädchen
orientiert seien oder aber gar keine Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen machen
würden. – Weil bisher die Jungen eher zu kurz kamen, soll ihnen nun ein eigener Abschnitt
gewidmet werden.
Geschlechtsspezifische Arbeit mit Jungen:
Bei Jungen sollen vor allem die Vorstellungen über Männlichkeit, Sexualität, Aggressivität
und Grenzüberschreitungen thematisiert werden. Knaben sollen mit ihren Gefühlen, Ängsten
und eigenen Verletzungen in Kontakt gebracht werden. Es kann nicht darum gehen, Jungen
auf die potentielle Täterschaft zu reduzieren, doch muss das immer auch im Auge behalten
136
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
werden. Sehr wichtig sind für die Jungen positive, reflektierte Leitbilder für ein alternatives
Männerbild. Insofern ist besonders an männliche (nicht-missbrauchende) Pädagogen der
Appell gerichtet, vermehrt den Mut und das Engagement zu besitzen, ihre eigene Rolle
kritisch zu betrachten und primärpräventiv mit Kindern zu arbeiten. (Bange, 1995a, 293f)
Kruse (1997, 188) merkt an, dass es zwar Aufgabe der Primärprävention sei, den Täter- und
Opferstatus von Jungen gleichzeitig zu sehen, dass aber konzeptionell in der Reflexion eine
klare Trennung geboten sei. In einer längerfristig angelegten Arbeit solle man sich deshalb
zuerst dem Opferstatus der Jungen zuwenden, ihre Schmerzen zulassen, ihnen Empathie
entgegenbringen, um sich anschliessend ihrem (potentiellen) Tätersein zu widmen. Obwohl
das eine mit dem andern zu tun haben könne, sollten die Knaben nicht den Eindruck erhalten,
man kümmere sich nur um ihr Opfersein, damit sie nicht später zu Tätern würden.
Die Arbeit mit Jungen als potentiellen Tätern bedeutet Arbeit an ihrer Selbstwahrnehmung
und ihrem Selbstwertgefühl, damit sie nicht aufgrund typischer männlicher Rollenbilder das
Gefühl haben, sie müssten sich, ihre Stärke, ihre Überlegenheit und ihre Männlichkeit
beweisen. Nicht wenige kompensieren nämlich ihre Überforderungsgefühle und Unsicherheiten oder auch eigene Gewalterfahrungen mit Gewalttätigkeiten oder mit Homophobie (übertriebene Ablehnung gegenüber Männern, wenn es zum Beispiel um emotionale oder
körperliche Nähe geht), was in Jungencliquen noch angekurbelt wird, weil dort Konkurrenz
herrscht und oft hierarchische Strukturen vorhanden sind. Dort finden sie eine rituelle, aber
keine emotionale Sicherheit, und keiner will sich Blösse geben. (ebd., 195f)
Ziel der primärpräventiven Arbeit mit Jungen ist es nicht, so genannte „Softies“ zu
produzieren, sondern ihnen ein Bild von einem Mannsein anzubieten, das Stärke, Weichheit,
Kraft und Empathiefähigkeit beinhaltet und gewalttätiges Handeln gegen das andere
Geschlecht klar ächtet (ebd.).
Popp (2000, 144f) schlägt vor, Jungen über ihren Drang nach körperlicher Betätigung,
Aktivitäten und Risikoerfahrungen in die Primärpräventionsarbeit einzubinden, und dann im
Prozess des Erlebens Reflexionen anzustossen und Aggressionen zu kultivieren. Ergänzend
solle Sensibilisierungstraining mit Aktivitäten wie Joga, Saunabesuch oder Massagekurs
angeboten werden. Mit diesem Sport-Ansatz erreiche man gerade jene Jungen besser, die
kognitiv oder sprachlich schlechter empfänglich seien.
Damit zielt die Arbeit mit Jungen (natürlich sind sie auch für Mädchen einzusetzen) auf die
Integration von Elementen aus der so genannten Erlebnispädagogik ab, die die Kinder in ihrer
Lebenswelt, in ihrer Realität mit ihren Interessen, Anliegen und Sorgen abholt (Lebenswelt137
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
orientierung). Die Methoden der Arbeit mit Kindern am Ort Schule, sowohl innerhalb als
auch ausserhalb des Unterrichts, werden im folgenden Unterkapitel thematisiert.
Zum Abschluss dieses Unterkapitels gibt folgende bildliche Darstellung (Abbildung 10) einen
Überblick über die beschriebenen feministisch ausgerichteten Inhalte und Themen
(Angebotspalette) der Primärpräventionsarbeit mit SchülerInnen (aus der Sicht des Lehrkörpers) und deren Zusammenspiel. Mitberücksichtigt werden Ziele der Vorbeugungsarbeit
mit Heranwachsenden, die Einbettung der Inhalte in verwandte Kontexte, mit denen sich auch
Überschneidungen ergeben, und die Ausrichtung an früher diskutierten inhaltlichen und
formalen Kriterien.
Kontextuelle Einbettung (respektive Überschneidung) in:
- Gesundheits-, AIDS-. Sucht-, Gewaltprävention
- allgemeine emanzipatorische Erziehung: Themen wie
Erziehungsprobleme, Geschlechterrollen, kindliche Entwicklung
- verschiedene Unterrichtsfächer, ausserunterrichtliche Schulaktivitäten
Kontinuierliche,
bewusste Erziehungshaltung im Schulalltag
(vor)leben –
Spiralcurriculum mit
Themen wie:
- Ich-Identität
- Körper
- Gefühle
- Information über
sexuellen Missbrauch
- Sexualität und
Bedürfnisse
- Rechte und
Kinderschutz
- Gewalt, Autoritätsund Machtverhältnisse
OBERZIEL:
SCHUTZ VOR
SEXUELLEM
MISSBRAUCH
Primärpräventionsziele für Mädchen und Jungen:
- aufgeklärt
- selbständig
- selbstbewusst
- autoritätskritisch
- in Verteidigung
ihrer Integrität gestärkt
- konfliktfähig
- empathisch
Programmartige Projektarbeit mit CAPP-Inputs:
- Dein Körper gehört dir!
- Gute und schlechte Gefühle
- (un)angenehme Berührungen
- „Nein“ sagen
- gute und schlechte Geheimnisse
- Hilfe holen
- Du bist nicht schuld!
als Raster:
Ausrichtung der Bausteine an inhaltlichen und formalen
Kriterien der Primärpräventionsarbeit
Abbildung 10: Zusammenspiel und Einbettung feministisch geprägter Bausteine im Hinblick auf Ziele
der primärpräventiven Arbeit mit SchülerInnen (aus Sicht des Lehrkörpers)
138
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
7.4.2. Einblick in Methoden und Materialien der Arbeit mit Kindern und
Jugendlichen
Wie schon erwähnt, gibt es eine breite, vielseitige und qualitativ sehr unterschiedliche Palette
von Primärpräventionsmaterialien52 und -methoden, die teils Vorschulkinder und/oder
SchülerInnen, teils in Form indirekter Opferhilfe Eltern und andere ErzieherInnen zur
Zielgruppe haben. Ich formuliere hier Methoden für innerhalb und ausserhalb des Unterrichts
aus Sicht einer aktiv an der Primärprävention beteiligten Lehrerschaft, wobei sie natürlich
auch durch die Schulsozialarbeit und die einbezogenen Primärpräventionsfachstellen, je nach
Grad ihrer Einbettung in die Schule und vereinbartem Auftrag, angewendet werden können.
In seinem Handbuch für Lehrerinnen und Lehrer beschreibt das Landesinstitut SchleswigHolstein für Praxis und Theorie der Schule (1994, 40-60) Methoden des Lebendigen Lernens,
die nicht nur, aber auch für die Sexualpädagogik im Unterricht verwendet werden können.
Gestützt auf diese Quelle sollen sie hier beschrieben werden. Es handelt sich dabei um prozessorientiertes und selbsterfahrungsbezogenes Arbeiten auf partnerschaftlicher Ebene, bei
dem es um interaktionelles Lernen geht. Die Lehrperson, die sich aufgrund ihrer Vertrauensbeziehung zur Klasse und ihrer Reflexionstiefe und Unterrichtserfahrung die missbrauchsvorbeugende Arbeit zutraut, vereinbart mit der Klasse, gewisse Inhalte in verschiedenen
Übungen zu behandeln („Vertrag“) und versichert sich hierfür des Kooperationswillens der
Schülerschaft. Sie behält dabei den Inhalt, den Gruppenprozess und das Verhalten einzelner
SchülerInnen gleichermassen im Auge. Dazu gehören das Beobachten des Arbeitsstils, der
Interaktion in der Gesamtgruppe, des Verhältnisses zwischen Mädchen und Jungen, der
Stellung einzelner Gruppenmitglieder als auch das Beachten von (heimlichen) Gruppennormen und aktuellen Spannungen, zum Beispiel von jenen in der Gruppe oder zwischen
SchülerInnen und der Lehrperson. Für diese Art des Arbeitens ist eine gute Vorbereitung der
Lehrperson erforderlich. Während der Durchführung sollte sie auf einen klaren Leitungsstil
achten, auf Widerstand in der Klasse eingehen und anschliessend an eine Übung dieselbe
auch auswerten (zum Beispiel mittels Feedbacks). – Verschiedene Methoden des Lebendigen
Lernens sind (ebd.):
-
Gestaltung: es bietet sich an zu malen, modellieren oder basteln, um abstrakten
Begriffen eine Gestalt zu geben und sie damit besser kommunizierbar zu machen.
Dies ist vor allem auch für kleinere Kinder eine gute Art, ihre sprachliche
Eingeschränktheit zu kompensieren.
52
Zur Evaluation beziehungsweise Qualität von Materialien siehe Kapitel 7.2.
139
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
-
Phantasiereisen und Entspannung: die Arbeit mit inneren Bildern ist schwierig, aber
auch besonders ergiebig, weil sie uns mit tiefer liegenden Gedanken und Wünschen in
Kontakt bringt. Bei Menschen mit grossem Kontrollbedürfnis, starker rebellischer
Bereitschaft oder Ängsten sind oft Schwierigkeiten zu beobachten, sich auf diese
positiven, von vielen Sinneseindrücken geleiteten Phantasien einzulassen. Phantasieexperimente sollten mit Entspannungsübungen eingeleitet werden, was einerseits die
Beruhigung sinnlicher Eindrücke beinhaltet, aber auch die Körperentspannung.
-
Körperwahrnehmung und szenisches Spiel: Kinder haben in der Regel ein Defizit im
Spüren ihres eigenen Körpers, haben Mühe, ihn spielerisch wahrzunehmen und
einzubringen. Mittels Bewegungs-, Berührungs- und Körperwahrnehmungsübungen
sowie unterschiedlicher Methoden der szenischen Arbeit können die Bewegungsfähigkeit und deren Differenziertheit erhöht werden. Konkret kann dabei getanzt,
geklatscht, gelaufen, berührt, einzelne Körperteile bewegt, etc. werden. – Ferner kann
man auch Rollenspiele oder Standbilder (zum Beispiel figuriert ein Kind als Bildhauer
und stellt aus KameradInnen eine statische Familie zusammen) machen, um Gefühle,
Situationen, Absichten, Berufe, Sportarten, usw. darzustellen. „So zu tun als ob“
eignet sich schon für Kinder ab drei Jahren, allerdings sind sie erst ab circa sieben
Jahren zu einer reflektierten Rollenübernahme imstande, mittels derer sie auch
zunehmend interpretieren lernen. Das Rollenspiel dient in hohem Masse dem Erwerb
sozialer Kompetenzen wie zum Beispiel Empathie, Selbsterkenntnis, Kommunikation,
Rollendistanz, Kreativität oder Entscheidungsfähigkeit. Es ist auch eine intensivere
theaterpädagogische Arbeit denkbar, was allerdings mit intensiver Vorarbeit
verbunden ist.
Eine weitere methodische Auswahl vom Landesinstitut (ebd.) für die Bearbeitung diverser
Themen beinhaltet Dialoge, Plenumsgespräche, Podiumsdiskussionen (mittels Rollenzuweisungen eine Debatte zu einem bestimmten Thema anzetteln), diverse (Gesellschafts-)
Spiele, innerer Monolog (Gedankenfluss aufschreiben) oder die Clusterbildung (Assoziationen sammeln zu einem übergeordneten Begriff).
Dieser Methodenliste möchte ich weitere für die Primärpräventionsarbeit besonders relevante
Möglichkeiten hinzufügen: das Integrieren von kindgerechten Kinder-, Bilder- und SachBüchern oder Malheften, das Geschichten Erzählen und Vertiefen, das Behandeln von
140
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
Filmen, das Referat, das Selbststudium und das Besuchen allenfalls vorhandener
themenbezogener Theatervorführungen und psychosozialer Einrichtungen (zum Beispiel
Opferhilfeberatungsstellen). Unabdingbar sind das Einüben von Verhaltensweisen, der aktive
Einbezug der Kinder und der Austausch im Plenum über die verwendeten Methoden und
Materialien, die Erfahrungen damit und die dabei erlebten Gefühle.
Es führt zu weit, hier einzelne Bücher und Spiele konkret vorzustellen, die missbrauchsvorbeugende Konzepte vermitteln sowie die Information und die Kompetenzen der Kinder
verbessern sollen53. Hilfreiche (jedoch grösstenteils unevaluierte) Vorschläge und Materialsammlungen für die Arbeit der LehrerInnen oder auch der Eltern finden sich zum Beispiel in
Bange und Enders (1995), Braun (1992), Huser-Studer und Leuzinger (1992) sowie im oben
genannten Handbuch des Landesinstituts (1994). Besonders sei auf Bange, Simone und
Enders (1993) hingewiesen, die eine Bücherkiste für Kinder und Jugendliche zusammen
gestellt haben, wobei sie jeweils eine kurze Inhaltsbeschreibung abgeben sowie aufgrund ihrer
eigenen Berufserfahrungen und ihres Hintergrundwissens die Tauglichkeit für die Arbeit mit
Kindern bewerten.
Besonders ausserhalb des Unterrichts bietet sich die Erlebnispädagogik an, um sich auf
spielerische und unverkrampfte Art dem Thema anzunähern. Es ist ernorm wichtig, an
Erfahrungen, Bedürfnissen und Interessen der Heranwachsenden anzusetzen, damit sie aktiv
teilnehmen und sich einbringen, das Gefühl von demokratischer Mitgestaltung erleben
können. Erfahrungen und Abenteuer in der Natur draussen, im Sport und im Spiel, in
gemeinsamen Projektwochen, Schullagern und dergleichen können dazu dienen, unter Kindern das soziale Miteinander, das Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken, ihnen Werte wie
Selbstvertrauen, Empathie oder Verantwortung auf eine praktische Art näher zu bringen.
Solche Erfahrungen können anschliessend reflektiert und besprochen werden, die Lehrperson
kann dabei Inputs zur Thematik des sexuellen Missbrauchs, zum Umgang mit Gewalt
allgemein, etc. einflechten. Hier sieht man, dass sich wesentliche Inhalte der missbrauchsvorbeugenden Arbeit mit einer allgemeinen Förderung von Sozial- und Selbstkompetenz
überlappen, wie sie auch in der allgemeinen Gewaltprävention, in der Gesundheitserziehung
oder im schulischen Erziehungsauftrag an sich angestrebt wird respektive werden sollte.
53
Im Anhang soll eine Auswahl an Titeln aufgeführt werden, gestützt auf die Empfehlung von Bange, Simone
und Enders (1993) und von Frei (1993).
141
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
7.5. Mögliches kooperatives Vorgehen (Intervention) bei Indizien und
Verdachtsfällen aus Sicht der Lehrperson
Im Verlauf der primärpräventiven Arbeit kann es vorkommen, dass von einem Kind der
Lehrperson gegenüber ein Missbrauchsgeschehen offen gelegt wird, das früher stattfand oder
auch aktuell andauert. Oder es könnte sein, dass sich ein/e SchülerIn an die Vertrauenslehrkraft wendet, da er/sie sich um KollegInnen Sorgen macht. Schliesslich ist es auch
möglich, dass LehrerInnen ungewöhnliche Verhaltensweisen oder veränderte Gewohnheiten
an einer/einem SchülerIn auffallen, die als Symptome von sexuellen Übergriffen zu verstehen
sein könnten. Deshalb soll hier das Vorgehen bei Verdachtsfällen oder sich aufdeckenden
Fällen aus Sicht der Lehrerschaft geschildert werden und auf kooperative Möglichkeiten
verwiesen werden.
7.5.1. Vorgehen bei Verdacht oder Aufdeckung
Vermutung der Lehrperson:
Falls eine Lehrperson bei einem Kind einen Missbrauch vermutet, das Kind von sich aus aber
nichts sagt, soll sie sich schriftliche Notizen mit Datum von ihren Beobachtungen machen,
das Kind und sein Umfeld im Auge behalten. Gleichzeitig dazu sind Fachleute hinzuzuziehen.
Keinesfalls darf eine Lehrkraft im Alleingang direkt das Kind mit Fragen bedrängen oder gar
die vermutete Täterschaft auf ihr Tun ansprechen. Es empfiehlt sich, von einer Beratungsstelle Ratschläge zu holen, wie man selber ruhig und wohlüberlegt weiter vorgehen und mit
seinen eigenen Unsicherheiten und Ängsten umgehen kann. Denn vielleicht traut eine
Lehrperson ihrer Wahrnehmung nicht oder hat Angst vor der Rache der Täterschaft, vor
einem Skandal oder fühlt sich einfach mit der Situation überfordert, würde dem Kind aber
gern helfen. Beratungsstellen unterliegen der Schweigepflicht, werden also nur aktiv, wenn
die Hilfe suchende Person das wünscht. Wendet sie sich hingegen an Behörden oder Ämter,
müssen diese von Amtes wegen eine Untersuchung in die Wege leiten. (Frei, 1993, 118-125)
Offenbarung des Kindes:
Wenn ein Kind hingegen von sich aus einen erlebten Missbrauch andeutet, stellt sich für die
Lehrkraft die Frage, ob sie dem Kind glauben kann, zumal wenn scheinbar eine bekannte und
geschätzte Person (zum Beispiel eine andere Lehrperson, ein/e TrainerIn, ein/e PolitikerIn
oder ein Vater) den Missbrauch verübt hat. In der Literatur finden sich konträre Meinungen
zur Glaubwürdigkeit von kindlichen Aussagen, doch sind sich viele darin einig, dass ein Kind
142
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
einen Missbrauch nicht erfindet, zumal ihm in seinem Alter – wenn es keinen Übergriff erlebt
hätte – vielfach schlicht der Wortschatz für oder die Kenntnis um eine sexuelle Handlung
fehlen würden.
Frei (ebd., 18) macht aber auf die Möglichkeit aufmerksam, dass Kinder womöglich zuerst
aus Angst von einem/einer „FreundIn“ berichten, der/die missbraucht wurde, oder eine
falsche Täterschaft benennen, da sie aus einem Loyalitätskonflikt oder aus Angst heraus die
wahren Identitäten schützen wollen. Ferner könne es auch sein, dass ein Kind aus einem
pornographischen oder erotischen Film gewisse Phantasien übernommen habe, wobei dabei
zu
beachten
sei,
dass
auch
das
Zeigen
solchen
Materials
vor
Kindern
als
Missbrauchshandlung zu bewerten sei. Die Erfahrung würde aber viel mehr zeigen, dass ein
Kind sich nur zögerlich jemandem anvertraue und erst nur die „harmlosen“ Übergriffshandlungen beschreibe. Massivere und perversere Praktiken verschweige es oft sehr lang aus
Scham, Ekel und Angst vor Zurückweisung und Unglauben. – Eine Lehrperson muss also
eine kindliche Aussage jedenfalls ernst nehmen und die nötigen Schritte in die Wege leiten.
Wie könnte das aussehen?
Verhalten der Lehrperson:
Es empfiehlt sich im Umgang mit dem Kind, sich Zeit für es zu nehmen, für es da zu sein,
ihm die Gesprächsmöglichkeit anzubieten, aber sich nicht aufzudrängen und nichts zu
überstürzen. Ruhe zu bewahren ist zentral und nicht das Gefühl zu haben, man müsse sofort
handeln. Dem Kind darf nichts versprochen werden, das nicht gehalten werden kann, und
doch soll man ihm sagen, dass man sich um Hilfe bemühen wird. Das Kind muss in seinen
Gefühlen ernst genommen werden, die Lehrperson soll seine Erlebnisse und Gefühle nicht
schönreden oder verharmlosen. Es ist wichtig, dem Kind für seinen Mut und seine Stärke zu
danken, dass es sich offenbart hat, und ihm zu versichern, dass es keine Verantwortung fürs
Geschehen trifft. Wenn das Kind den/die TäterIn noch mag, da es ihm/ihr nahe steht, soll man
ihn/sie nicht schlecht machen, sondern lediglich das übergriffige Verhalten als falsch und
unzulässig bezeichnen. Schwierig ist die Frage der körperlichen Nähe des/der Erziehenden
zum Kind; jedenfalls ist vorsichtig damit umzugehen und darauf zu achten, ob das Kind zeigt,
dass es umarmt und dadurch getröstet werden will. (ebd., 126-129)
Das weitere Vorgehen soll nicht über den Kopf des Kindes hinweg erfolgen. Es soll wissen,
warum man fachliche Hilfe hinzuzieht. Man kann mit den Fachleuten und dem (etwas älteren)
Kind gemeinsam gezielte Handlungsschritte überlegen, wie es vor weiterem Missbrauch
143
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
geschützt werden könnte, mit wem es reden könnte. Damit kann das Risiko einer sekundären
Schädigung des Kindes durch die helfenden Instanzen reduziert werden. Angst, Ohnmacht,
erneute Gewalterfahrungen sowie ungläubige, aggressive Befragung und (unterschwellige)
Schuldzuweisung sind zu vermeiden. Wenn die Täterschaft nicht in der Familie ist, sollten
sehr bald auch die Eltern ins weitere Vorgehen miteinbezogen werden. (Besten, 1995, 83-85;
Frei, 1993, 130-132)
In diesem Punkt sind sich die Fachleute allerdings uneinig, ob eine Lehrperson zuerst bei
Fachstellen Hilfe suchen soll oder zuerst die Eltern hinzuziehen soll, wenn es sich nicht um
einen inzestuösen Missbrauch handelt. Ferner sollte dem Kind – und nötigenfalls auch andern
Familienmitgliedern – falls erwünscht möglichst bald beraterische oder therapeutische Hilfe
zuteil werden, wobei für weibliche Opfer Fachfrauen vorzuziehen sind.
Gut überlegt sein will, ob die Eltern oder die Beratungsstelle (mit dem elterlichen
Einverständnis) eine Strafanzeige erstatten. Denn damit ist ein komplizierter Apparat verbunden; ein Kind muss sich Befragungen, (ärztlichen) Untersuchungen, Glaubwürdigkeitsgutachten, Tatortsbesichtigungen, etc. unterziehen, was die Traumatisierung verstärken kann.
Erfolgen die Ermittlungen erst mitten im therapeutischen Prozess – also zeitlich verzögert –
ist auch das Risiko vorhanden, dass die Aufarbeitung der Ereignisse gestört wird. Es muss
abgewogen werden, wie gross die Chance auf eine Verurteilung ist, mit der das Kind eine
gewisse Genugtuung und vorläufigen Schutz vor erneutem Missbrauch durch dieselbe
Täterschaft erfahren würde. (Frei, 1993, 132f)
Wie bei der Primärprävention ist bei der Intervention laut Maag (1994, 160f)
mitzuberücksichtigen, dass Jungen und Mädchen unterschiedlich sozialisiert sind, und
deshalb auf Knaben anders als auf Mädchen eingegangen werden muss. Um einen Knaben
ermuntern zu können, sich zu öffnen, muss der Lehrperson erstmal die eigene
geschlechtsspezifische Sozialisation, Geschlechtsrolle und Verhaltensweise bewusst werden.
Knaben müssen insbesondere spüren, dass sie über ihre Gefühle, Verletzungen, Schwächen
sprechen dürfen, Hilfe holen und Opfer sein dürfen, nicht alles unter Kontrolle haben und
rational bewältigen können müssen.
Insofern die LehrerInnen oft grosse Klassen unterrichten und verschiedene Problemkinder
haben können, ist es für sie schwer, zu einzelnen Kindern Vertrauensbezüge aufzubauen und
zu erreichen, dass sich ein Kind ihnen anvertraut (ebd., 174f). Das ist ein Grund mehr, bei
einem Verdacht auf Fachkräfte und Vertrauensleute des Kindes zurückzugreifen und die Rolle
der Lehrperson eher in der Vorbeugung denn in der Intervention zu sehen.
144
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
7.5.2. Einbindung in weitere Hilfssysteme der Jugendhilfe: das Vorgehen am
Beispiel des Kindesschutzes in Basel
Um zu illustrieren, wie bezüglich Interventionen konkrete schulische Kooperationsmodelle
aussehen können, in der die Funktion der einzelnen AkteurInnen festgelegt werden, soll als
Abschluss das in Basel im Januar 2001 gestartete Projekt Kindesschutz vorgestellt werden.
Keller und Arnold (2001)54 beschreiben in einem Artikel exemplarisch, wie die Lehrpersonen
ihre Verantwortung in Gefährdungssituationen wahrnehmen können, und wie dabei ihre
notwendige Kooperation mit im Projekt involvierten Fachstellen und Behörden aussieht:
Wenn eine Klassenlehrperson Auffälligkeiten eines Schülers bemerkt, nimmt sie das
Gespräch mit den Eltern auf, wobei sie – falls vorhanden – frühzeitig das entlastende
Beratungs- und Triage-Angebot der Schulsozialarbeit nutzen kann. Sie kann sich ferner vor
oder/und nach dem Elternkontakt durch die schulischen Dienste beraten lassen. Dies sind
namentlich der Schulpsychologische Dienst (SPD), der Heilpädagogische Dienst (HPD) und
der Schulärztliche Dienst (SÄD). In (Verdachts-)Fällen sexueller Ausbeutung kann sich die
Lehrperson fallanonym von den im Projekt Kindesschutz zusammengefassten Anlaufstellen
beraten lassen, so zum Beispiel von der Opferhilfestelle Triangel, der Familienberatungsstelle
(FABE) oder dem Universitäts-Kinderspital Basel (UKBB). Falls ein Elternteil als TäterIn
verdächtigt wird, sollte die Lehrperson vor der Kontaktierung der Eltern diese Stellen
aufsuchen. Nach der dortigen Beratung sind je nach Ergebnis die Schulleitung oder die Eltern
zu informieren.
Im Falle der konstruktiven Mitarbeit der Eltern kann die Lehrperson ihnen ebenfalls die
Fachstellen anraten und mit ihrer Zustimmung das Kind bei den schulischen Diensten zur
Abklärung anmelden. Ab diesem Moment geht die Verantwortung für die Problemklärung an
den entsprechenden Dienst.
Sollten die Eltern nicht gewillt oder fähig sein, die Problematik des Kindes selbst oder mit der
empfohlenen Hilfe anzugehen, oder gefährden sie sogar selbst das Kind, ist über die
Schulhausleitung (falls vorhanden) und die Schulleitung eine Gefährdungsmeldung ans Intake
der Abteilung Kindes- und Jugendschutz (AKJS) der Vormundschaftsbehörde zu richten, welche geeignete Massnahmen, notfalls auf zivilrechtlicher Basis, einleiten kann. Durch diesen
Akt geht die Verantwortung von der Lehrperson auf ihre Vorgesetzten über. Falls an einer
54
Im Jahr 2001 war Keller im Stab „Schulen“ vertreten und Arnold war Vorsteherin der Vormundschaftsbehörde
sowie Mitglied der Leitung des Projekts Kindesschutz.
145
7. Inhaltliche und formale Aspekte der Arbeit mit SchülerInnen sowie Kooperation von Sozialer Arbeit und
Schule in der Primärprävention am Ort Schule
Schule Schulsozialarbeit vorhanden ist, wird die Zuhilfenahme ihrer Beratung vor der
Weiterleitung der Gefährdungsmeldung empfohlen.
Für den Fall akuter Gefährdungssituationen, die der sofortigen Abklärung, Dokumentation
oder Schutzmassnahmen bedürfen, können der SÄD oder das Intake der AKJS auch ohne
elterliche Zustimmung kontaktiert werden. Dabei ist aber der schulische Vorgesetzte zu
informieren.
Claussen und Blülle (2001)55 hielten das Vorgehen der AKJS im Zusammenhang mit der
Schule fest: die AKJS wird dem Rektorat und der Lehrperson innerhalb von zehn Tagen die
Gefährdungsmeldung bestätigen, und sie über die fallführende Fachperson informieren. Nach
der Bedarfsklärung und ebenso nach einer allfälligen vormundschaftlichen Abklärung wird
die Lehrperson jeweils informiert, welche Massnahmen (nicht) ergriffen wurden (zum
Beispiel Kindesschutzmassnahmen wie die Beistandschaft oder die Aufhebung der elterlichen
Obhut), insofern sie für ihren pädagogischen Auftrag Relevanz haben. Die Lehrperson
ihrerseits hat die AKJS auf Wendungen im Schulalltag des Kindes hinzuweisen, als
zusätzliche Informationsquelle zur Familie.
Dieses Kooperationsschema kann nicht an allen Schulen eins zu eins angewendet werden, da
örtliche Bedingungen und vorhandene KooperationspartnerInnen variieren können. Andere
Schulen oder Kantone könnten sich aber an dieses Modell anlehnen und es ihren
Möglichkeiten und Bedürfnissen entsprechend umformulieren.
55
Im Jahr 2001 war Claussen Leiterin des Intake der AKJS und Blülle fungierte als Leiter der Beratungsgruppen
der AKJS.
146
SCHLUSSTEIL
A MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN DER PRIMÄRPRÄVENTIONSARBEIT
MIT KINDERN UND JUGENDLICHEN
Der Aufbau dieser Lizentiatsarbeit zielte besonders auf die missbrauchsvorbeugende Arbeit
mit schulpflichtigen SchülerInnen, welche auch Gegenstand der letzten der drei Haupt-Forschungsfragen ist. Um die Arbeit mit dieser Zielgruppe zu verankern und deren Nutzen zu
optimieren, wurden ferner Rahmenbedingungen wie die institutionelle und thematische
Vorbereitung oder die kooperative Ausgestaltung erarbeitet. Hier sollen nun Potentiale und
Grenzen der Primärprävention mit Heranwachsenden diskutiert werden; darin verwoben
resümiere ich die Ergebnisse zur dritten Forschungsfrage.
Ein Nachweis der Effektivität von Vorbeugungsarbeit gestaltet sich schwer und ist zudem ein
vernachlässigter Forschungsgegenstand, weshalb noch nicht eindeutig erwiesen ist, ob sich
Kinder dank dem Erkenntniszuwachs aus bisher praktizierten, kurzzeitigen Primärpräventionsprogrammen in einer konkreten Missbrauchssituation tatsächlich besser wehren könnten.
Man muss realistisch sehen, dass ein Kind umso chancenloser ist, je jünger es ist, je grösser
das Vertrauens- und Abhängigkeitsverhältnis zur Täterschaft und je filigraner die Täterstrategie ist oder aber je mehr körperliche Gewalt angewendet wird. Die Verantwortung für den
Schutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung kommt den Erwachsenen zu; die vorbeugende
Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sollte als Ergänzung verstanden werden und
Erwachsene mit einbeziehen.
Die Chancen eines sorgfältig geplanten, primärpräventiv ausgerichteten Schulalltags, der in
der Institution Schule auch strukturell verankert ist, erscheinen viel versprechend, auch wenn
Resultate nicht von heute auf morgen zu erwarten sind. Gelingt es den Lehrpersonen, in ihrem
tagtäglichen Fachunterricht Primärpräventionsinhalte aktiv zu leben, indem ein demokratisches, gleichberechtigtes Schulklima angestrebt wird, in welchem die Gefühle und Grenzen
der Kinder respektiert und sexistische Elemente vermieden werden sowie die Persönlichkeit
der Kinder gestärkt wird, so leisten sie bereits einen wichtigen Beitrag. Das offene, transparente und rücksichtsvolle Einbringen des Themas der sexuellen Gewalt und anderer damit
zusammenhängenden Themen in den Schulalltag unter Mithilfe von Schulsozialdienst und
Fachleuten aus der Primärprävention könnte helfen, den Missbrauch stärker zu enttabuisieren
und den Missbrauchten eine Sprache zu verleihen. Dies könnte in Form einer kontinuierlichen
147
Erziehungshaltung einerseits, in expliziten projektartigen Vertiefungskursen andererseits
geschehen.
Kinder könnten in Abhängigkeit von ihrem sozialen und kognitiven Entwicklungsstand ihr
Wissen, ihr Selbstbewusstsein und ihre Selbstbestimmung vergrössern und befähigt werden,
potentielle Gefahrensituationen eher zu erkennen und stereotype respektive irrtümliche
Vorstellungen von zum Beispiel Täterschaft, Täterstrategien, Männlichkeit oder Weiblichkeit
und dementsprechende Verhaltensweisen abzulegen. Ferner können Heranwachsende auch
konstruktive Interaktionsformen einüben und den Umgang mit sich selbst, mit Gefühlen, mit
eigenen Gewaltanteilen erlernen, damit sie weniger zu den TäterInnen von morgen werden
oder allfällige bereits vorgekommene sexuelle Gewalttätigkeiten nicht noch intensivieren. Für
jugendliche SexualtäterInnen wäre allerdings auch eine tätertherapeutische Begleitung im
ausserschulischen Rahmen nötig.
Mit alters- und entwicklungsgemässen, geschlechts- und kultursensiblen Inhalten und
Methoden, mit praktischen Übungen sowie gelebten Vorbildern würde ein wichtiger Baustein
für den vorbeugenden Schutz der Kinder gelegt. In der Arbeit mit der Schülerschaft muss der
Repetition, Verankerung, Verinnerlichung, Veranschaulichung und dem Elterneinbezug mehr
Wert beigemessen werden. Den Kindern soll keine Angst gemacht werden, sondern sie sollen
durch eine konkrete Sprache und Wissensvermittlung zu Kompetenzen und Fertigkeiten
gelangen.
Als Inhalte bieten sich Bausteine an, die aus dem feministischen und/oder einem allgemein
emanzipatorischen Gedankengut stammen. Es kann – insbesondere in der projektartigen
Arbeit – mit verschiedenen Materialien und Methoden, beispielsweise aus dem Lebendigen
Lernen und der Erlebnispädagogik, implizit oder explizit zu folgenden Themenbereichen
gearbeitet werden: Ich-Identität, die Anatomie und ihre Funktionen, Gefühle und Werte,
Informationen über sexuellen Missbrauch, Sexualaufklärung, Bedürfnisse, Liebesbeziehungen
und Abgrenzung, Kinder- und Menschenrechte, Autoritäts- und Machtverhältnisse,
Geschlechterrollen und Sozialisation.
Die Anforderungen an die mit Kindern arbeitenden Lehrpersonen oder/und SchulsozialarbeiterInnen sind sehr hoch, weshalb sie auf KooperationspartnerInnen (wie zum Beispiel
Primärpräventionsfachleute oder die Schulleitung), schulische Richtlinien und Synergieeffekte zurückgreifen können sollten. Ausserdem sollten ihre Aus- und Weiterbildungen das
Thema vermehrt aufgreifen.
148
In der Realität mangelt es hierzulande zurzeit weitgehend an der spezifischen LehrerInnenbildung, an Interesse, Ressourcen und Kompetenzen des Lehrkörpers, der (nur spärlich vorhandenen) SchulsozialarbeiterInnen oder der Schule als Ganzes. Ferner verlaufen einzelne
Projekte meist örtlich und zeitlich isoliert; es bleibt weitgehend der einzelnen Schule oder
sogar der einzelnen Lehrkraft überlassen, ob sie sich dieses Themas annehmen will.
Institutionelle Bemühungen der Schule, emanzipatorische Primärprävention nachhaltig in der
schulischen Struktur zu verankern und in Kooperation zu planen, sind noch selten. Im
deutschen Sprachraum sucht sich die primärpräventive Arbeit erst mühsam ihren eigenen, von
amerikanischen Empowerment-Programmen emanzipierten Weg und bezieht die Kritik an
bisherigen, amerikanisch ausgerichteten Projekten scheinbar nur allmählich mit ein.
Die Komplexität des Themas, die Einbettung in gesellschaftliche Strukturen sowie politische
und soziale Machtverhältnisse lassen erahnen, dass der schulischen Primärpräventionsarbeit
diesbezügliche Hindernisse in den Weg stehen könnten. Wenn eine Schule einzeln für sich
Projekte durchführt, kann die Wirkung immer nur sehr beschränkt sein. Grösserer Nutzen
wäre von flächendeckenden, kooperativen und interdisziplinären Bemühungen zu erwarten,
da damit eine Basis für ein kollektives Umdenken gelegt werden könnte, welches bei
Erziehung und Bildung ansetzt. In einem Land wie der Schweiz, wo das Schulwesen
weitgehend kantonal geregelt ist und viele Kantone die Tendenz haben, in Schulprojekten
oder -reformen erstens zu sparen und zweitens das Rad neu erfinden zu wollen, ist die Missbrauchsvorbeugung aber noch weit von der Realisierung dieser Utopie entfernt. Auch Widerstände im schulischen Umfeld und die Vielzahl der an die Schule gerichteten Bedürfnisse
erschweren die Sache.
Sollen Sexualkunde, emanzipatorischer Unterricht und Primärpräventionsinhalte in der obligatorischen Schulzeit verankert werden, braucht es dazu unter anderem die politische
Bereitschaft, diesem Aspekt erzieherischen Handelns mehr Gewicht zu verleihen, und die
Schulen mit den nötigen Ressourcen und Kompetenzen auszustatten. – Die Menschen können
sich vielleicht darauf einigen, dass Kindern keine sexuelle Gewalt angetan werden darf, doch
besteht ein grosser Spielraum darin, was als Gewalt definieren wird und wie man dagegen
vorgehen soll. Das feministische Gedankengut, wie es wesentlichen Teilen dieser Arbeit
zugrunde liegt, gibt nur eine mögliche Antwort auf diese brennende Frage. Um Kinder vor
schädlichen sexuellen Übergriffen zu schützen, müssen demnach auf allen Ebenen relevante
Mechanismen entlarvt, Verantwortlichkeiten benannt und notwendige Massnahmen ergriffen
werden, nicht nur mit der Zielgruppe der Kinder. (Primär-)Präventionsarbeit zum sexuellen
149
Missbrauch ist letztlich immer eine Gratwanderung zwischen der Selbstbestimmung der
Familie oder derjenigen des Individuums und der Fremdsteuerung durch öffentliche Massnahmen, die das (schwache) Individuum schützen und stärken sollen.
B RÜCKBLICK AUF DIE FORSCHUNGSFRAGEN UND WEITERER
FORSCHUNGSBEDARF
Es führt zu weit, hier eine Replik zu allen in der Einleitung formulierten ForschungsUnterfragen zu machen, da sich letztlich deren Beantwortung von Kapitel zu Kapitel der
Lizentiatsarbeit weiterentwickelt. Deshalb möchte ich mich auf ein kurzes Resümee zu den
drei Hauptfragen beschränken, wovon die letzte soeben rekapituliert wurde.
Diese Arbeit verwendet die Begriffe sexuelle Gewalt, sexueller Missbrauch und sexuelle
Ausbeutung synonym. Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche kann auf strukturellindirekter wie auf personal-direkter Ebene stattfinden und geht oft mit körperlicher und
psychischer Gewalt einher. Meine Arbeitsdefinition vereint Elemente von gesellschaftlichen,
feministischen und entwicklungspsychologischen Definitionen. Für die Primärprävention
finde ich wichtig, dass eine Definition ein möglichst breites Spektrum von Missbrauchshandlungen umfasst. Sexueller Kindesmissbrauch wird als emotionales, geistiges, soziales
oder körperliches Machtgefälle oder Abhängigkeitsverhältnis gesehen, innerhalb dessen eine
(vorwiegend erwachsene) weibliche oder männliche, fremde oder bekannte Täterschaft das
kindliche oder jugendliche Opfer zu ihrer vielseitigen Bedürfnisbefriedigung benutzt und das
Opfer keine willentliche Zustimmung gibt oder geben kann. Bei fast Gleichaltrigen wird der
Anwendung von Zwang oder/und körperlicher Gewalt, der subjektiven Empfindung, dem
Nicht-Verstehen der Handlung oder/und der Willensmissachtung besonderes Gewicht
zugemessen. Darstellungen von Ursachenmodellen, Täterstrategien und schulischer Primärprävention haben meistens erwachsene, männliche Täter im Visier.
Sexueller Missbrauch kann Kinder aller Schichten treffen. Dysfunktionale Familiensysteme
erhöhen das Risiko und isolierte, rigide erzogene und extrem angepasste Kinder und
insbesondere Mädchen scheinen gefährdeter. Täter(innen) scheinen oft sozial unauffällig und
integriert zu leben, sind vielfach von patriarchalen Vorstellungen geprägt, sind zu etwa 90
Prozent männlich und stammen vorwiegend aus dem engen oder weiteren sozialen Umfeld
des Opfers (etwa 50 Prozent). Auf Familie/Verwandtschaft und fremde Täterschaft fallen
150
etwa je hälftig die andern 50 Prozent, wobei bei Mädchen die Verwandten, bei Jungen Fremde leicht überwiegen.
Traditionelle Erklärungsansätze gehen von provozierenden Mädchen und sexuell deprivierten
Männern aus, die biologisch bedingt triebhafter und aggressiver seien in ihrer Sexualität;
sexuelle Handlungen seien meistens von beiden gewollt, beide hätten etwas davon. Fälle von
echter sexueller Gewalt seien selten, die Gewalttäter krankhaft, psychisch oder/und sozial
gestört. Solche Ansätze verharmlosen Missbrauch, weisen Kindern und sich sexuell
verweigernden Partnerinnen die Verantwortung für das Geschehen zu und konnten nicht
wissenschaftlich untermauert werden.
Als Alternative bieten sich feministische Ursachenmodelle an, die besonders die Umstände
berücksichtigen, dass zumeist Männer die Taten begehen und mehr Mädchen Opfer werden.
Ihre These der Bedingtheit und Aufrechterhaltung der sexuellen Gewalt durch eine
patriarchale Kultur und Struktur, die sich durch ungleiche Machtverhältnisse, Verdinglichung
der Sexualität, traditionelle Rollenbilder, ungleiche Ressourcenverteilung zwischen den Geschlechtern, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und Erziehung auszeichnen, gilt als belegt.
Diese patriarchalen Bedingungen stehen im Hintergrund und beeinflussen Handlungsmotivation, fördernde oder hemmende Faktoren, Handlungsmöglichkeiten und KostenNutzenrechnungen auf TäterInnen-, Opfer- wie ZeugInnenseite, die ihrerseits interdependent
sind. – Als erweitertes und ganzheitliches Zusammenhangsmodell bietet sich Bestens (1995)
Dreifaktorenmodell an, das begünstigende, sich gegenseitig negativ verstärkende Faktoren
nicht nur auf dieser gesamtgesellschaftlichen, sondern auch auf biographischer und familiärer
Ebene ausmacht. Für ein Kind werden dabei dysfunktionale, sozial isolierte Familiensysteme
mit rigidem oder konfusem Erziehungsverhalten, grosser innerer Abhängigkeit, Autoritätsgläubigkeit oder extrem konservativen Wertesystemen von Bedeutung; für die (potentielle)
Täterschaft sind Faktoren wie die eigene Opfererfahrung, mangelnde soziale Fähigkeiten und
Selbstkompetenz oder geringer Selbstwert ausschlaggebend.
Als Folgen werden kurz- bis langfristige Reaktionen beschrieben, die sich in körperlichen
Indikatoren, psychosomatischen Störungen, psychischen und sozialen Folgen zeitigen
können. Missbrauchsspezifische Symptome zu eruieren ist bisher nicht gelungen; klinische
Missbrauchsfälle scheinen nur die Posttraumatischen Belastungsstörung und unangemessenes Sexualverhalten stärker zu zeigen als andere klinische Samples; hingegen weisen
klinische Missbrauchsopfer gegenüber nicht-missbrauchten, nicht-klinischen Stichproben
neben den zwei genannten Symptomen auch mehr Furcht, Alpträume, neurotische Störungen,
151
Rückzugsverhalten, Weglaufen, sexualisiertes oder selbstverletzendes Verhalten, allgemeine
Verhaltensprobleme, Internalisierung und Externalisierung auf. Je nach Altersklasse dominieren andere Störungen und offenbar gibt es nicht wenige symptomlose Opfer.
Traumatisierungsfaktoren, die besonders starke Auswirkungen erwarten lassen, können primärer und sekundärer Art sein. Als Primärfaktoren werden eine vertraute Täter-OpferBeziehung, Anwendung von Gewalt oder Zwang, massive Übergriffe wie orale, anale und
vaginale Vergewaltigung oder Genitalmanipulation sowie häufige und lang andauernde Handlungen beschrieben. Der Bedeutung des Alters zum Missbrauchszeitpunkt scheint keine
besondere Rolle zuzukommen. Als traumatisierende Sekundärfaktoren gelten ablehnende,
ungläubige Elternreaktionen, mangelnde mütterliche Unterstützung, eine ungeeignete Intervention oder Therapie sowie eine institutionelle Reviktimisierung (zum Beispiel in einem
nicht kindgerecht geführten Strafverfahren).
In der zweiten Haupt-Forschungsfrage ging es um die primärpräventiven Möglichkeiten, die
in der Kooperation von Schule und Sozialer Arbeit verborgen liegen. Zuerst ein kurzer Blick
auf die verfolgte Primärprävention:
Primärprävention kann als Ursachenbekämpfung und Vorbeugung gesehen werden, damit
eine konkrete Person gar nicht erst zum Opfer oder zum Täter/zur Täterin wird (Inzidenzratensenkung). Da eine Aufdeckung von Missbrauchsfällen daraus resultieren kann, müssen
auch Interventionsstrategien vorbereitet sein und beraterische und therapeutische Hilfsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Die vorbeugende Arbeit kann auf gesellschaftlich-struktureller, institutioneller oder personaler Wirkebene stattfinden, wobei die letzte am besten
ausgearbeitet ist, zumal mit der Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen, der sich diese
insbesondere Lizentiatsarbeit widmet. – Da sich eine traditionelle Abschreckungsprävention
mit ihrer unadäquaten Vermittlung von Fakten und Mythen zum sexuellen Missbrauch als
wenig hilfreich und angemessen erwiesen hat, hat sich in der Literatur eine feministisch
orientierte Vorbeugung durchgesetzt. Deren Ziele sind autoritätskritische, selbständige,
selbstbewusste, aufgeklärte, und starke Kinder, die befähigt sind, ihre Rechte auf körperliche,
seelische und sexuelle Integrität zu verteidigen.
Die primärpräventive Arbeit mit Kindern und Jugendlichen am Ort Schule soll gut vorbereitet, ausgestaltet und in einen institutionellen Kontext eingebettet werden, um möglichst
effektiv zu wirken. Dazu habe ich ein kooperatives Konzept entwickelt, das den Aktionsradius und die nötige Weiterentwicklung der Organisation Schule, des Lehrkörpers, der
152
Schulsozialarbeit und der Fachleute aus der Primärprävention sowie den aktiven Einbezug der
Eltern darlegt. Die Schulleitung kann via Projektteam auf strategischer, personeller wie organisatorischer Ebene Vorbereitungen zur Verankerung und Realisierung der (Primär)Prävention treffen. Primärpräventionsfachleute bringen missbrauchs- und vorbeugungsspezifisches
Wissen ein, bieten Weiterbildung an, helfen bei der konzeptionellen Entwicklung und der
Umsetzung. Schulsozialarbeit kann sich als Ort der Vernetzung und Koordination, aber bei
entsprechender (Weiter-)Qualifizierung auch als Akteurin mit der Schülerschaft sehen. Die
Lehrpersonen (respektive Klassenlehrkräfte) sind am intensivsten mit der Schülerschaft
zusammen und könnten nach entsprechender Weiterbildung in projektartigem Arbeiten eine
wesentliche Rolle innehaben, aber auch ihre Erziehungshaltung an primär-präventiven
Grundeinstellungen orientieren. Eltern sollen als aktive, unterstützende PartnerInnen
gewonnen werden; Elterngespräche, Elternabende und eine Projektgruppe aus Vätern und
Müttern könnten primärpräventives, projektbezogenes Arbeiten vorbereiten helfen und gezielt
begleiten.
Im Verlauf der Arbeit wurde auf mehrere Forschungslücken verwiesen, die hier nochmals
rekapituliert werden sollen. Grosser Forschungsbedarf besteht bezüglich jugendlicher und
weiblicher Täterschaft und männlichen Opfern. Ursachenmodelle und Beschreibungen von
Täterstrategien, aber auch vorbeugende Konzepte richten sich bisher eher an männlichen,
erwachsenen Tätern aus. Möglicherweise würden durch solche Forschungsbemühungen die
Zahlenverhältnisse zwischen männlicher und weiblicher Täterschaft sowie zwischen männlichen und weiblichen Opfer gewisse Nuancierungen erfahren und primärpräventive Strategien könnten noch modifiziert werden.
Praxisleitende Forschung muss intensiviert werden, um auf wissenschaftlicher Basis für die
Arbeit mit spezifischen Personengruppen (wie zum Beispiel mit verschiedenartig Behinderten
oder Kindern aus andern Kulturen) angepasste Materialien und Methoden zu entwickeln. Bei
primärpräventiven Materialien und Projekten fehlen bisher mehrheitlich wissenschaftliche
Evaluationen beziehungsweise Begleitung. In der Schweiz wäre eine flächendeckende, evaluatorische Studie zur aktuellen (Primär-)Präventionspraxis an Schulen wünschenswert.
Heutzutage wird vermehrt über Qualitätssicherung an Schulen diskutiert; es wäre denkbar,
Kinderschutz vor Gewalt künftig als ein Qualitätsfaktor mit zu berücksichtigen, um Schulen
zu diesbezüglichem Engagement zu ermuntern, da (sexuelle) Gewalt vor Schulen nicht Halt
153
macht. Für die Gewaltprävention mit der Zielgruppe der psychosozialen und pädagogischen
Institutionen sollten mehr wissenschaftliche Grundlagen erarbeitet werden.
Forschung zur Kooperation von Schule und Sozialer Arbeit ist in der Schweiz noch relativ
jung. Im Zusammenhang mit Primärprävention sollten Modelle der interdisziplinären Zusammenarbeit, wie ich in dieser Lizentiatsarbeit eines für den Ort Schule skizziert habe,
entwickelt werden. Vielleicht könnten Kinder durch diese vielseitige Kooperation und die
institutionelle Verankerung besser gegen sexuellen Missbrauch gestärkt und davor geschützt
werden als dies bisherige isolierte, kurzzeitige, puzzleartige Vorbeugungsprogramme mit
Kindern konnten.
154
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Männlichkeit. Reinbek: Rowohlt Verlag. (Reihe: MANN)
Stanzel, G. (1991). Mädchen und Jungen – Verändertes Rollenverhalten als
gesellschaftspolitisches Lernziel in der Grundschule. Eine praktische Anleitung zur
Durchführung eines rollenkritischen Unterrichts als präventive Massnahme gegen Gewalt im
Schulalltag. Wiesbaden: Wildwasser e.V.
Stalmann, F. (1992). Die Schule macht die Mädchen dumm. München: Piper Verlag.
BILDERBÜCHER
Tidholm, A-C. (1993). Klopf an! München: Hanser Verlag. (ab 2 Jahren)
Waddel, M. & Firth, B. (1989). Kannst du nicht einschlafen, kleiner Bär? Wien: Annette
Beltz Verlag. (3-10 Jahre)
Erlbruch, W. (1992). Das Bärenwunderland. Wuppertal: Peter Hammer Verlag. (ab 3 Jahren)
KINDERBÜCHER
Boie, K. (o.A.). Mittwochs darf ich spielen. Hamburg: Oetinger Verlag. (7-10 Jahre)
Fuchs, U. (1992). Steine hüpfen übers Wasser. Kevelaer: Anrich Verlag. (8-12 Jahre)
De Jong, T. (1993). Lola, der Bär. München: Carl Hanser Verlag. (ab 5 Jahren)
JUGENDBÜCHER (ab 12 Jahren)
Steenfatt, M. (1986). Nele – Ein Mädchen ist nicht zu gebrauchen. Reinbek: Rowohlt Verlag.
Allfrey, K. (1992). Taube unter Falken. Würzburg: Arena Verlag.
Pohl, P. (1990). Jan, mein Freund. Ravensburg: Otto Maier Verlag.
A
EHRENWÖRTLICHE ERKLÄRUNG
„Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich meine Lizentiatsarbeit selbständig und ohne unerlaubte
fremde Hilfe verfasst habe.“
Juli 2005, Fribourg
Patricia Flammer
B
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