‚Warum gerade wir !?‘ Lebensverhältnisse von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung verstehen, um sie besser vor sexuellem Missbrauch zu schützen. Ralf Specht Institut für Sexualpädagogik (isp) Fachtag Petze Institut für Gewaltprävention Leben mit Behinderung Hamburg 08.02.2017 Aufbau (Sexualisierte) Gewalt im (Er-) Leben von Jungen und Mädchen mit Behinderung Risikofaktoren von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung Folgerungen für Prävention und Intervention Begriffsbestimmungen: Kindeswohlgefährdung „ …eine gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr, dass sich bei einer weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussagen lässt.“ (BGH) Erscheinungsformen Körperliche und seelische Vernachlässigung Seelische und körperliche Misshandlung Sexuelle Gewalt 1. Sexualisierte Gewalt/ sexueller Missbrauch „ Als sexuelle bzw. sexualisierte Gewalt bezeichnen wir all jene Situationen, in denen Sexualität als Mittel eingesetzt wird, um die eigene Dominanz herzustellen und/oder andere zu demütigen, herabzusetzen oder zu verletzen. Dazu gehört jedes Verhalten, das in die sexuelle Selbstbestimmung eines anderen Menschen eingreift und sich über sie hinwegsetzt.“ Lebenshilfe SH, Notruf Kiel, PETZE, mixed pickles 2006 1. Sexualisierte Gewalt/ sexueller Missbrauch Begriffliche und inhaltliche Differenzierungen Sexuelle Grenzverletzung Sexueller Übergriff Sexueller Missbrauch Quelle: (Enders,U., 2010) 1. Sexualisierte Gewalt/ sexueller Missbrauch Sexuelle Grenzverletzungen Sind unabsichtliche oder einmalig unangemessene Verhaltensweisen → sofern sie keinen Straftatbestand darstellen Sind korrigierbar und veränderbar durch eigene Wahrnehmung/Hinweise von Außen Reflexion – Verantwortungsübernahme - zukünftige Unterlassung ) 1. Sexualisierte Gewalt/ sexueller Missbrauch Sexuelle Übergriffe Ausdruck eines unzureichenden Respekts gegenüber Mädchen und Jungen, grundlegender fachlicher Mängel und/oder einer gezielten Desensibilisierung im Rahmen der Vorbereitung eines sexuellen Missbrauchs/eines Machtmissbrauchs Nicht grundsätzlich im Detail geplant, aber beabsichtigt. die übergriffige Person setzt sich über gesellschaftliche Normen, institutionelle Regelungen, den Widerstand der Betroffenen und/oder fachliche Standards hinweg. 1. Sexualisierte Gewalt/ sexueller Missbrauch Sexueller Missbrauch Strafrechtlich relevante sexuelle Übergriffe (wie zum Beispiel körperliche Gewalt, sexueller Missbrauch, Erpressung/(sexuelle) Nötigung Aus strafrechtlicher Sicht ist bei Mädchen und Jungen unter 14 Jahren jede sexuelle Handlung, die eine ältere Person an oder vor diesem vornimmt oder an sich vornehmen lässt, relevant. Sexueller Missbrauch an Jugendlichen ab 14 Jahren liegt aus strafrechtlicher Sicht z.B. dann vor, wenn die missbrauchende Person für ihre Tat die Abhängigkeit der/des Jugendlichen ausnutzt. Unabhängig vom Alter der betroffenen Person ist es strafbar, wenn deren Widerstandsunfähigkeit (z.B. aufgrund einer Krankheit, einer Behinderung oder einer körperlichen Einschränkung) für sexuelle Handlungen ausgenutzt wird (§179 StGB). 1. Sexualisierte Gewalt/ sexueller Missbrauch Zahlen, Daten, Fakten Je nachdem, welche Definitionen zugrunde gelegt wurden, schwanken die Zahlen zum Ausmaß sexualisierter Gewalt bei internationalen Studien zwischen 7% und 36% bei betroffenen Frauen und zwischen 3% und 29% bei betroffenen Männern. Etwa zwei Drittel der Opfer sind weiblich, etwa ein Drittel männlich. 80- 90 Prozent der Täter sind männlich. Frauen sind für etwa 20 % der Fälle sex. Missbrauchs an Jungen und für 5- 10 % an Mädchen verantwortlich. Wer sind die Täter_Innen? Die Täter(innen) kommen zumeist aus dem engen Umfeld Fremde 20% Soziales Umfeld 50% Verwandte 30% 1. Sexualisierte Gewalt/ sexueller Missbrauch 1. Sexualisierte Gewalt/ sexueller Missbrauch Gewalterleben in Kindheit und Jugend sexualisierte Gewalt • 20-34% der befragten Frauen wurden als Kind oder Jugendliche durch Erwachsene sexuell missbraucht. Insgesamt erfährt jede zweite bis vierte Heranwachsende sexuellen Missbrauch durch Kinder, Jugendliche oder Erwachsene. ( z.B. 52% der gehörlosen Frauen, 40% der blinden Frauen, 36% der psychisch beeinträchtigten Frauen) körperliche Gewalt 74-90% der Frauen haben körperliche Gewalt in Kindheit und Jugend erlebt. psychische Gewalt Mehr als jede Zweite war von psychischer Gewalt durch Eltern betroffen (50-60%). 1. Sexualisierte Gewalt/ sexueller Missbrauch Gewalterleben im Lebenslauf Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen erleben alle Formen von Gewalt viel häufiger als nichtbehinderte Frauen. Sie berichten zwei- bis dreimal häufiger von sexueller Gewalt in Kindheit oder Jugend sowie im Erwachsenenalter als nichtbehinderte Frauen. Sie erfahren fast doppelt so oft mindestens eine Situation körperlicher Gewalt als Erwachsene. Sie sind deutlich häufiger psychischen Übergriffen ausgesetzt, sowohl durch Eltern als auch im Erwachsenenleben. Es besteht nicht selten ein Zusammenhang zwischen einer Behinderung und Gewalterfahrungen. … und warum tragen Menschen mit Behinderung ein 2-3 fach erhöhtes Risiko, Gewalt und Übergriffe zu erfahren? Risikofaktor 1 Mehr Abhängigkeit und Fremdbestimmung erlernte Hilf – und Bedürfnislosigkeit (über-)angepasstes Verhalten Fremdbestimmung ist „normal“, wird internalisiert und nicht (mehr) in Frage gestellt sich wehren birgt Risiko des Entzugs notwendiger Unterstützung Übergriffe werden als ‚normal‘ erlebt Risikofaktor 2 Wenig positive Körpererfahrungen Körper wird als defizitär bewertet Sinnes – und Körperwahrnehmung wird selten gefördert Berührungen und Manipulation durch andere ist Alltag (Nein sagen wirkungslos) negatives Körperbild Menschen mit Behinderungen können sich schlechter wehren Risikofaktor 3 Gesellschaftliche Abwertung Ausgrenzung „Du bist eine Belastung für andere“ „Du bist nicht o.k. wie du bist!“ „Bei dir habe ich Berührungsängste.“ negatives Selbstbild, wenig Selbstvertrauen Risikofaktor 4 Wenig Erfahrungen zur Selbstwirksamkeit Fehlende Peer Group Erfahrungen Immer unter Beobachtung Wenig Beteiligung an (Lebens-)Entscheidungen Leichte Manipulierbarkeit Risikofaktor 5 Besonderheiten der Kommunikation und Interaktion durch intellektuelle oder körperliche Einschränkungen Nichtsprachliche Personen sind darauf angewiesen, dass ihre nonverbalen Signale richtig verstanden werden Menschen im Autismusspektrum verwenden oft eigene Wörter Gewalterfahrungen können nur schwer mitgeteilt oder erfragt werden Risikofaktor 6 Sexualität / Liebe immer noch keine selbstverständlichen Themen Vielerorts immer noch tabuisiert Mythen herrschen vor wenig Information über (positive) Sexualität und sexualisierte Gewalt, fehlende Aufklärung wenig Privat- und Intimsphäre übergriffige Verhütungsmaßnahmen unausgelebte Bedürftigkeit, Unwissenheit Risikofaktor 7 Leben in Institutionen Auswirkungen auf Bindungsentwicklung erhöhte Bedürftigkeit nach Zuwendung soziale Isolation erschwert, sich Hilfe von außen zu holen Geschlossene Systeme– unzureichende Kontrolle von Außen Wenig Intims- und Privatssphäre, ‚öffentliche‘ Person Risikofaktor 8 Dilemma der ‚helfenden‘ Institutionen Sexueller Missbrauch/ Gewalt steht dem Anspruch der Institutionen entgegen, zu helfen und zu schützen. offener Umgang mit Übergriffen ist schwierig Präventions- und Interventionsstandards wirken wie (Mit-) Schuldeingeständnis ‚Die haben‘s nötig!‘ Täter bleiben nicht selten lange unentdeckt Risikofaktor 9 Fehlende Unterstützungsangebote Kaum Informationsmaterial vorhanden Wenig Kooperation zwischen Hilfesystem und Behindertenhilfe Kaum Beratungs- und Therapieangebote für Kinder – und Jugendliche mit Behinderung wenig Möglichkeiten zur Prävention und Intervention Resümee All dies macht Menschen mit Behinderungen zu „perfekten Opfern“ sie erleichtern den TäterInnen den Zugriff sie erschweren es Betroffenen - sich zu wehren - Hilfe zu suchen sie erschweren es Menschen im Umfeld, Gewalthandlungen zu erkennen Mögliche Signale • Stark sexualisierte Sprache/Verhalten • Unangemessene Heimlichkeiten oder teure Geschenke, • • • • • deren Herkunft unklar ist Sozialer Rückzug Plötzliche Widerstände gegen einzelne Personen Einstellungsänderung gegen Zärtlichkeit, Körperlichkeit, Sexualität Verweigerung von Hygienemaßnahmen Verstärktes Schamgefühl ABER: es gibt keine eindeutigen Signale! Individuelles Erleben und Verarbeitung von sexueller Gewalt Sexueller Missbrauch „ist keine Diagnose“! Betroffene können sexuelle Grenzüberschreitungen unterschiedlich erleben. Sexueller Kindesmissbrauch wirkt nicht automatisch traumatisierend. Vor allem spielen die Begleitumstände und die Bewertung des/der Ereignisse eine Rolle. Sexuelle Gewalt - Faktoren für mögliche Auswirkungen 1. Aspekte der eigentlichen Missbrauchssituation - Form (z.B. mit Gewaltanwendung) - Häufigkeit - Nähe der missbrauchenden Person 2. Aspekte in Zusammenhang mit dem Aufdeckungsgeschehen - Reaktionen der Bezugspersonen - ggf. öffentliche Reaktion 3. Individuelle Aspekte - Persönlichkeitsvariablen / Resilienzfaktoren - Alter beim ersten Übergriff - Lebensumstände, familiäres Klima Ansatzpunkte/Ebenen präventiver Konzepte Ansätze, die sich an Mädchen und Jungen als potenzielle oder tatsächliche Opfer wenden (z. B. Unterrichtseinheiten zum Thema „sexueller Missbrauch“), Ansätze, die sich an potenzielle Täter wenden, Ansätze, die sich an erwachsene nichtmissbrauchende Bezugspersonen von Kindern wenden (z. B. Fortbildungen für Eltern oder Fachkräfte, Medienkampagnen), Ansätze, die Gelegenheitsstrukturen so verändern wollen, dass sexuelle Gewalt gegen Mädchen bzw. Jungen weniger wahrscheinlich wird (z. B. den Zugang von Tätern zu Kindern einschränken) Präventive Bausteine 1 institutionell- strukturelle Ebene Erarbeitung einer Risikoanalyse (Machtstrukturen, potenzielle Grenzüberschreitungen Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten sind für Mitarbeitende, Eltern und Kinder transparent Erstellung eines Präventionskonzeptes für die pädagogische Arbeit Klare Positionierung gegenüber Machtmissbrauch, sexuellen Grenzüberschreitungen und Gewalt im Leitbild Festlegung ethischer Standards für das Arbeiten mit Menschen und das berufliche Handeln (z.B. Selbstverpflichtungserklärung, Umgang mit Nähe und Distanz) Präventive Bausteine 2 institutionell- strukturelle Ebene Entwicklung und Bekanntmachung von Handlungsplänen zum Umgang mit Verdachtsmomenten Etablierung und Bekanntmachung eines transparenten Beschwerdemanagement Kooperationen mit internen und externen Fachkräften Schaffung angemessener Rahmenbedingungen (räumliche Gestaltung, Medienzugang) Entwicklung und Umsetzung von Partizipationselementen Entwicklung und Umsetzung eines sexualpädagogisches Konzept Präventive Bausteine 3 individuell - dialogische Ebene Personalakquise Bewerbungsgespräche, in denen auch die Problematik Nähe-Distanz und sexualisierte Gewalt thematisiert werden Ggf. ein erweitertes Führungszeugnis, Selbstverpflichtungs-erklärung, Dienstvereinbarung Personalführung Regelmäßige Feedback-Gespräche und Teamsitzungen Kollegiale Beratung und/oder Supervision Fehlerfreundlichkeit Eigene (professionelle) Haltung Glaubwürdiges und respektvolles Gegenüber im Denken und Handeln Selbstreflektion Präventive Bausteine 4 individuell dialogische Ebene (Weiter)qualifizierung der Mitarbeitenden Fort- und Weiterbildungen, Schulungen, Präventionsfachkraft Information für und Einbeziehung von Eltern Geschlechterreflektierte Pädagogik, Sexualpädagogik, Prävention im Sinne einer umfassenden Stärkung und Begleitung von Mädchen und Jungen Präventionsthemen und sexualpädagogische Projekte Rechte und Regeln Partizipation und Empowerment Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!