«Viele fühlen sich ausgegrenzt» ISLAM Yusuf Sabadia warnt davor, die Muslime immer mehr auszugrenzen. Der Präsident der Islamischen Gemeinde Luzern* sagt aber auch, was an Anpassung nötig ist. Was heisst das nun konkret für die in der Schweiz geltenden Gesetze? Sabadia: Wir haben in der Schweiz ein säkulares demokratisches System. Es ist entscheidend, dass alle Muslime in der Schweiz dies akzeptieren und innerhalb der hier geltenden Gesetze leben. Deswegen haben wir, die IGL, Prinzipien errichtet, die die Beziehung definieren, nach welcher alle Mitglieder der Gemeinschaft leben sollen. INTERVIEW BENNO BÜHLMANN [email protected] Haben Sie den Eindruck, dass die Religionsfreiheit, wie sie in der Schweizer Verfassung definiert wird, gefährdet ist? Sabadia: Eine Minderheit von extremen Gruppen ist nicht bereit, den Muslimen und ihren religiösen Werten ihren gesellschaftlichen Platz zu geben. Dies führt zu grossen Frustrationen innerhalb einer wachsenden Gruppe unserer Gemeinschaft, insbesondere bei der zweiten und dritten Generation der muslimischen Jugend. Diese bekommt das Gefühl, dass sie in ihrem eigenen Land nicht akzeptiert werde. Yusuf Sabadia, das Verhältnis der muslimischen Minderheit zur übrigen Bevölkerung ist belastet. Kürzlich kam es in Luzern zu Protesten, weil die Vereinigung Islamische Jugend Schweiz (VIJS) für eine Tagung keine Räumlichkeiten erhielt. Yusuf Sabadia: Wir stellen fest, dass sich die Situation unserer kleinen Minderheitsgemeinschaft und ihre Beziehung zur breiten Schweizer Gesellschaft in den letzten Jahren deutlich verschlechtert hat. Es ist schade, dass es so weit gekommen ist, denn die Mehrheit der muslimischen Bevölkerung ist in der Schweiz gut integriert. Wo sehen Sie die Ursachen dafür? Sabadia: Leider wird die Debatte über die Zukunft der muslimischen Gemeinschaft zunehmend von extremen Gruppen und Politfraktionen monopolisiert. Auch auf muslimischer Seite scheinen extreme Gruppierungen in jüngster Zeit eher Zulauf bekommen zu haben. Sabadia: Es gibt extremistische Individuen, obwohl ich mir nicht sicher bin, wie sie organisiert sind. Ich denke, es ist wichtig, dass die muslimische Gemeinschaft sicherstellt, dass solche Individuen unser friedliches Zusammenleben in der Schweiz nicht gefährden. Aber ich denke auch, dass wir mit unseren Definitionen, was Extremisten und was legitime konservative Gruppierungen sind, vorsichtig sein müssen. Die VIJS würde ich nicht als radikale oder extreme Gruppe betrachten. Sie sagen, dass die Mehrheit der Muslime hier gut integriert sei. Inwiefern? Sabadia: Die Mehrheit der muslimischen Gläubigen in der Schweiz fällt nicht auf, wird nicht primär als Angehörige des Islam wahrgenommen. Umgekehrt sind sich die aus den Balkanländern stammenden Muslime bereits von ihrer Heimat her eine Vielfalt verschiedener Religionen gewohnt. Das bedeutet aber auch, dass Muslime im Sinne der Religionsfreiheit ihren Glauben ungehindert praktizieren dürfen. Was ist Ihnen dabei wichtig? Yusuf Sabadia sagt, dass auch die Muslime die hiesigen Gesetze akzeptieren müssen. Bild Corinne Glanzmann Sabadia: Dass wir uns bei der Ausübung unseres Glaubens und unseren religiösen Pflichten an die fünf Säulen halten können: das Gebet, das Fasten im Ramadan, die Entrichtung der Armensteuer und die Pilgerfahrt. Ausserdem ist es uns wichtig, alltägliche Lebenssituationen wie Geburt, Heirat, Tod usw. nach unseren religiösen Riten durchzuführen sowie unser Leben nach eigener Moral und ethischen Werten führen können. Dass bei der konkreten Umsetzung auch Kompromisse notwendig sind, ist für mich klar. Was sagen Sie dann zum Spannungsfeld zwischen Scharia und den Prinzipien eines demokratisch verfassten Staates, wo «religiöse Neutralität» und die Trennung von Religion und Staat wichtig sind? Sabadia: «Scharia» ist eine Sammlung von Prinzipien, Definitionen, Ratschlä- gen und Gesetzen, die islamischen Glauben, religiöse Praktiken, Werte und etwas Rechtsprechung definiert. Es gibt säkulare Muslime, für welche die Scharia keine grosse Bedeutung hat. Die «Die meisten Muslime sind an einer Parallelgesellschaft gar nicht interessiert.» Teile der Bevölkerung befürchten, dass eine muslimische Parallelgesellschaft entstehen könnte, wie sie offenbar von Nicolas Blancho, dem Präsidenten des Islamischen Zentralrates, propagiert wird. Sabadia: Es wäre verfehlt, die Positionen des Islamischen Zentralrates mit der generellen Meinung der Muslime in der Schweiz gleichzusetzen. Es gibt innerhalb unserer Gemeinschaft nach wie vor eine grosse Pluralität. Die überwiegende Mehrheit der Muslime in der Schweiz ist an einer Parallelgesellschaft überhaupt nicht interessiert. Wie kann einer «Ghettoisierung» entgegengewirkt werden? Sabadia: Wir von der Islamischen Gemeinde engagieren uns seit vielen Jahren für den Dialog und den Austausch zwischen Muslimen und der Schweizer Bevölkerung. Nur auf politischer Ebene ist wenig Interesse vorhanden, mit uns ins Gespräch zu kommen. Ein positives Beispiel sind die muslimischen Grabfelder im Luzerner Friedental, die 2008 unter Berücksichtigung der muslimischen Bestattungsrituale geschaffen wurden. Die Muslime sind auch bereit, Kompromisse einzugehen. Denn der Islam ist grundsätzlich eine sehr pragmatische Religion. YUSUF SABADIA meisten Muslime wollen eine Scharia, die für unsere sich schnell wandelnde, moderne Zeit und sozialen Umstände relevant ist. Aber es gibt eine Minderheit, die eine engere Interpretation der Scharia den anderen aufzwingen will. HINWEIS * Die Islamische Gemeinde Luzern (IGL) ist ein demokratischer Verein, der die Interessen der rund 14 000 Muslime im Kanton Luzern vertritt. Er setzt sich laut Statuten für Integration der Muslime in die Schweizer Gesellschaft ein, will Missverständnisse und soziale Spannungen abbauen. Dazu gehöre auch, sich für das Gemeinwohl der Schweiz einzusetzen. Infos: www.ig-luzern.ch Mit Gott reden W ir Menschen sind auf das Sprechen, auf den Austausch angelegt. Früh lernen Kinder das Reden durch Nachahmung. Selbst Stumme können sprechen: mit den Augen, dem Kopf, den Händen, ja mit dem ganzen Körper. Eisiger Wind weht, wo Austausch verwei- Anita Wagner Weibel über das Beten gert wird. Kälte herrscht, wo Worte zu Waffen werden. Gähnende Langeweile kommt auf, wo Worte und Sätze zu nichtssagenden Floskeln verkommen. MEIN THEMA Genau so ist es mit dem Beten. Es ist nur natürlich, wenn das Geschöpf Verbindung mit dem Schöpfer sucht. Rund um die Erde, in allen Religionen der Welt, beten Millionen von Menschen. Schnell kommt der Vorwurf, Beten sei nur Selbstgespräch. Sicher, dazu kann es werden. Ebenso schnell kommt der Vorwurf, Beten sei nur Selbsttäuschung. Gewiss, dazu kann es werden. Deswegen ist das Beten auch der empfindliche, intime, verwundbare und überaus sensible Bereich des glaubenden Menschen. Jesus selbst warnt eindrücklich vor dem falschen Beten, vor dem Plappern, vor der Routine und vor religiöser Arroganz. Beten ist die Muttersprache des Glaubens. Gott braucht unser Beten gewiss nicht, um Gott zu sein. Aber wir Menschen brauchen das Beten, um Mensch zu sein. So ist das Gebet: schweigen, horchen, staunen, verinnerlichen, wahrnehmen, danken, vernehmen, aufnehmen, verarbeiten, besinnen, bedenken, fühlen, testen, spüren, suchen, sehnen, vertiefen, meditieren, ausloten und vieles mehr, aber alles in Richtung auf Gott. Anita Wagner Weibel ist Gemeindeleiterin der Pfarrei Neuheim, Zug. Kampf gegen Hasspredigten im Schweizer Internet Seit dem 1. Juli durchforsten Schweizer Spezialisten das Web nach Dschihadisten. Eine schwierige Suche, wie die Experten erklären. Furcht einflössende Sätze spricht eine männliche Stimme. Martialisch sind die Bilder, die über den Bildschirm flimmern. Videoaufnahmen einer Szene in Bagdad. Vier Schwerbewaffnete exekutieren auf offener Strasse einen Mann in einem Kleintransporter. Es folgen Aufnahmen von den Anschlägen auf das World Trade Center, immer wieder eingespielt orthodoxe Juden beim Gebet. Bilder der El-Aksa-Moschee in Jerusalem, danach Gotteskrieger, bereit zum Märtyrertod. Abermals Filmaufnahmen von Exekutionen. In rascher Abfolge, untermalt durch Aufrufe zum Heiligen Krieg. Dieser mehrminütige Film läuft über den Computerbildschirm des obersten OnlineDschihadisten-Jägers der Schweiz. Der genaue Standort seines Büros ist geheim, ebenso der Name des 37-jährigen Islamwissenschaftlers und Kommissars. Internet statt Moschee Er leitet die neu geschaffene, der Bundeskriminalpolizei angeschlossene Stelle zur Verfolgung des Online-Dschihadismus in der Schweiz. Insgesamt sechs Spezialisten sollen verhindern, dass islamistische Hass- und Gewaltpropaganda von der Schweiz aus via Internet verbreitet werden kann. Fakt ist: Junge Muslime und Nichtmuslime, die zum Islam konvertieren, lassen sich heute immer häufiger nicht mehr in Moscheen, sondern via Internet für den Dschihad, den aus ihrer Sicht Heiligen Krieg gegen den Westen, gewinnen. «Die Radikalisierung beginnt oft sehr individuell in den eigenen vier Wänden. Vielleicht fühlt sich jemand als Muslim ungerecht behandelt. Im Internet findet er Seiten, die zum Kampf für Gerechtigkeit gegenüber den Muslimen aufrufen», sagt der Kommissariatsleiter. Simple Botschaften der Islamisten Die Internet-Filme transportieren simple Botschaften: Ein Held ist, wer für die Gerechtigkeit der Muslime weltweit und gegen die Unterdrückung durch den Westen und die Juden kämpft. Gezeigt werden Kampfszenen, Aufnahmen von Anschlägen und Exekutionen. «Viele der Internetkonsumenten sind fasziniert von solchen Bildern und von der Vorstellung, einen Märtyrertod zu sterben. Sie lassen sich von der Dynamik anstecken, die politische Motivation spielt dabei keine grosse Rolle.» Kommt es doch zu physischen Treffen, dann finden diese in privaten Wohnungen, Kellerabteilen oder in Vereinslokalen statt. «Es ist davon auszugehen, dass Dschihadisten die Schweiz als Rückzugsraum und zur Vorbereitung von Anschlägen benützen», erklärt der es nur Mutmassungen. Jean-Luc Vez, Direktor beim Bundesamt für Polizei (Fedpol), schätzte vor einem Jahr die Zahl jener in der Schweiz, die an einer radikal-islamistischen Gesinnung interessiert sein könnten, auf rund 3000 Personen. «Das sind jedoch nicht alles Extremisten, die bereit wären, zur Gewalt zu greifen. Unserer Schätzung nach gibt es ein paar Dutzend Personen, die wirklich eng beobachtet werden müssen», so Vez. Weltweit 5000 Websites «Es ist davon auszugehen, dass Dschihadisten die Schweiz als Rückzugsraum benutzen.» PETER REGLI ehemalige Schweizer Geheimdienstchef Peter Regli. Von der Schweiz aus leisten sie den «Kämpfern» in Pakistan, im Jemen oder in Malaysia Unterstützung durch Propaganda oder Geld. Wie hoch die Zahl jener ist, die in der Schweiz radikal-islamische Botschaften über das Netz verbreiten, darüber gibt Der Terrorexperte Rohan Gunaratna, ein gebürtiger Sri Lanker und Leiter eines Instituts zur Erforschung des Terrorismus in Singapur, bezifferte die Anzahl Websites, die über Schweizer Provider zum Heiligen Krieg aufrufen, auf weltweit rund 5000, die meisten in Europa und Nordamerika, einige in der Schweiz. Der Westen sei zu liberal im Umgang mit extremistischen Gruppen, kritisiert er gegenüber dem «Tages-Anzeiger». «Der Hass wird in Europa gepredigt, und die Terroristen werden in Asien, im Mittleren Osten und in Afrika ausgebildet.» Gesetze hinken hinterher Jacques Repond, Leiter der Abteilung Ermittlungen Terrorismus beim Fedpol, teilt diese Einschätzung nicht – auch wenn er einräumt: «Die Schweizer Rechtsprechung ist im europäischen Vergleich eher milde.» Repond spricht den Fall der Witwe eines El-Kaida-Mitglieds im freiburgischen Düdingen an, die jahrelang für Dschihad-Gruppen auf ihrer Website Hasspropaganda erstellte und verbreitete. 2007 wurde sie vom Bundesstrafgericht zu einer bedingten Strafe von sechs Monaten verurteilt. Nachdem sie sich nach Belgien abgesetzt hatte, wurde sie dort für ähnliche Vergehen für acht Jahre hinter Schloss und Riegel gesetzt. Das Internet stellt für die Schweizer Strafverfolgung zahlreiche neue Herausforderungen, die Gesetze hinken der technischen Entwicklung meist hinterher. Den Spezialisten bei der Bundeskriminalpolizei ist es auch nicht erlaubt, unter einem Pseudonym in einschlägigen Islamisten-Foren mit einer verdächtigen Person Kontakt zu knüpfen. Ob und wann die gesetzlichen Grundlagen geschaffen werden, ist offen. Der ehemalige Geheimdienstchef Peter Regli vermutet gar, dass wegen der laschen Gesetze ausländische Spione hierzulande aktiv seien. Das Forschen nach einem SchweizBezug auf Websites ist anspruchsvoll. Komplex ist es, herauszufinden, wer sich hinter einem Pseudonym verbirgt. Nicht selten läuft eine Website über einen ausländischen Provider. «Wir suchen nach Nadeln in Heuhaufen», sagt der Kommissariatsleiter. CHRISTOPH REICHMUTH