politischer bericht aus brüssel - Hanns-Seidel

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POLITISCHER BERICHT AUS BRÜSSEL
Christian Forstner
Leiter der Verbindungsstelle Brüssel
Nr. 12 /2014 – 26. Mai 2014
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Die Europawahlen 2014: Kontinuität oder Zäsur?
Das Novum: Spitzenkandidaten als Instrument gegen Desinteresse
Seit der ersten Direktwahl des Europäischen Parlamentes 1979 gewinnt dieses
kontinuierlich an Bedeutung und politischem Gewicht. Heute passiert in Brüssel fast
nichts mehr gegen den Willen der Parlamentsmehrheit. Auch ohne Gesetzesinitiativrecht ist das EP gleichberechtigtes Mitentscheidungsorgan im europäischen
Legislativprozess. Mit dieser stetigen Aufwertung kontrastiert jedoch das weit
verbreitete öffentliche Desinteresse an der Europapolitik, dessen augenscheinlichstes Merkmal die relativ niedrige Wahlbeteiligung bei den Europawahlen ist.
Europas Parteien setzten diesem Trend die Nominierung von Spitzenkandidaten
entgegen, um den Wahlkampf zu personalisieren und um politische Positionen über
bekannte Gesichter vermitteln zu können. Die Vorsitzenden der konservativen,
sozialistischen und liberalen europäischen Parteienverbände erklärten ihre
jeweiligen Spitzenkandidaten zu Anwärtern auf das mächtige Amt des Kommissionspräsidenten und kamen überein, keinen anderen als den „siegreichen“
Spitzenkandidaten zu wählen. Die Europawahlen 2014 fanden vor dem Hintergrund
eines personalisierten Wahlkampfes, einer gestiegenen Bedeutung des Europäischen Parlaments und einer offensichtlichen Europaskepsis statt.
Europäische Volkspartei als Wahlsieger
Aus den Wahlen ging die Europäische Volkspartei, der Parteienverbund der
christlich-demokratischen und konservativen Parteien Europas, als Wahlsieger
hervor. Erfolge verzeichnete die EVP in einigen mittelosteuropäischen Ländern wie
Bulgarien, Einbußen erlitt sie in erwartetem Umfang in Italien oder Griechenland.
Europaweit erzielte sie knapp 30% und kommt im neuen Parlament vermutlich auf
214 Mandate, was zwar einem Minus entspricht, aber immer noch deutlich über den
24,6% liegt, mit denen die europäischen Sozialisten 189 Sitze erringen konnten.
Auch mit der liberalen und der grünen Fraktion reicht es für die Sozialisten nicht zu
einer Mehrheit im Parlament und die offene Kooperation mit Kommunisten, den
britischen Tories oder anti-europäischen Parteien aus Tschechien kommt aus
politischen Gründen nicht in Frage. Es ist davon auszugehen, dass es gegen die EVP
keine Mehrheit im Parlament geben wird. Die fraktionslosen und unabhängigen
Abgeordneten fallen zahlenmäßig mit gut 104 Personen ins Gewicht, sie sind aber
unsichere Kantonisten und sehr heterogen in ihren Zielen, so dass mit ihnen keine
verlässlichen Absprachen zu treffen sind. Faktisch läuft alles auf eine informelle
Große Koalition zwischen Konservativen und Sozialisten hinaus. Damit ist
zwangsläufig die Bildung eines proeuropäischen Lagers in der Mitte verbunden, das
von extremen Kräften von links und rechts unter Beschuss genommen werden
dürfte. Die Einteilung der Brüsseler Politik dürfte also künftig nicht nach einem
links/rechts-Schema vorgenommen werden, sondern entlang der Achse ProEuropäer / Anti-Europäer. Mit dieser Struktur mag man die nächsten 5 Jahre
begrenzt handlungsfähig bleiben, das böse Erwachen ist aber nur aufgeschoben,
nicht aufgehoben.
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Keine flächendeckende Erfolge der Anti-Europäer
Insgesamt lässt das Wahlergebnis Spielraum für ambivalente Interpretationen. Der
befürchtete Frontalangriff der anti-europäischen Kräfte brachte den extremen
Gruppen kaum parlamentarische Einflussmöglichkeiten, zumal es zwischen ihnen
erhebliche politische Differenzen in wichtigen Sachfragen gibt. Die deutsche AfD
redet außenpolitisch einer deutschen Schaukelpolitik zwischen Ost und West das
Wort, was bei den polnischen Europakritikern den Rapallo-Komplex aufleben lässt.
Die separatistische flämische N-VA ist proeuropäisch und grenzt sich vom
ausländerfeindlichen französischen Front National ab. Der Islam-Kritiker Geert
Wilders erhielt einen deutlichen Dämpfer, da er die zwar europakritische, aber nicht
xenophobe liberale niederländische Gesellschaft mit scharfen Attacken gegen
marokkanische Einwanderer vor den Kopf stieß. Auch wenn der ganz große
Durchbruch radikaler Parteien ausblieb, zeugen die Wahlergebnisse in Frankreich
mit dem Sieg des Front National, in Großbritannien mit den Stimmenzuwächsen für
die United Kingdom Independence Party (UKIP) und in Italien mit der anhaltenden
Popularität der provokativen Bewegung 5 Sterne von Beppe Grillo von bedenklichen
Tendenzen in der Politikszene. Die Identitätsängste in der Bevölkerung wachsen,
Millionen Arbeitslose, darunter zahlreiche Jugendliche, fühlen sich als Integrationsverlierer, der Verdruss über die angeblich eigennützige politische Elite nimmt
zu. Neue, teils sehr kurzfristig entstandene politische Formationen profitieren von
der europakritischen Stimmung und bleiben eine große Herausforderung für die
etablierten Parteien.
Stoppen des Abwärtstrends bei der Wahlbeteiligung
Mit europaweiten 43,1 % Wahlbeteiligung entsprach dieser Wert ziemlich exakt
dem Resultat von 2009. Der Abwärtstrend der vorausgegangenen Wahlen konnte
also gestoppt werden, in einigen Ländern wie Deutschland stieg sie sogar
signifikant an, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass mit Martin Schulz
und Ska Keller auch zwei Spitzenkandidaten aus Deutschland kamen. Sorgen
bereiten jedoch einige mittelosteuropäische Länder mit sehr geringer Mobilisierung
der Wähler, in der Slowakei machten gerade einmal 13% von ihrem Wahlrecht
Gebrauch. In den Augen vieler Wähler ist das Europäische Parlament keine wichtige
Institution, und für die großen Fragen der europäischen Politik wie Frieden und
Sicherheit ist nicht die EU entscheidend, sondern die NATO. Zudem ist die
Parteienlandschaft in vielen Ländern zerklüftet und insofern ungeordnet, als es auf
europäischer Ebene keinen Zwang zur Regierungsbildung gibt. Europäische Politik
erscheint im Unterschied zu nationalen Entscheidungsprozessen als weniger
nachvollziehbar. Dieses Manko wurde durch den stetigen Bedeutungszuwachs des
Europäischen Parlaments noch nicht kompensiert. Die mangelnde Mobilisierung
insbesondere der Stammwähler traf u.a. auch die CSU hart und macht die Aufgabe
zukünftig nicht leichter, die eurokritischen Stimmen in konstruktive Bahnen zu
lenken.
Die Wahlbeteiligung bringt dem Europäischen Parlament keinen zusätzlichen
Legitimationsschub, sie unterminiert aber auch nicht weiter dessen Stellung im
Brüsseler Institutionengefüge. Am Befund, dass das Europäische Parlament in den
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Augen der Öffentlichkeit nicht immer als Hort der europäischen Demokratie und
Effizienz empfunden wird, ändert sich nichts. Der Rekrutierungsprozess, der zur
Aufstellung der Kandidaten in den nationalen Wählerlisten führt, entzieht sich
bisweilen der europäischen Öffentlichkeit, so dass die Vorbehalte gegen den
institutionellen Machtanspruch des Parlaments wie gegen die Kür des
Kommissionspräsidenten durchaus nachvollziehbar erscheinen.
Erfolgreiche Konstruktion mit Spitzenkandidaten
Die Konstruktion mit europäischen Spitzenkandidaten aus den jeweiligen
Parteienfamilien, aus deren Kreis der Kommissionspräsident bestimmt wird, stieß
auf Vorbehalte in vielen Hauptstädten, die sich das Heft des Handels nicht aus der
Hand nehmen lassen wollten. Mit Jean-Claude Juncker gibt es jetzt einen siegreichen
Spitzenpolitiker, der als eindeutiger Favorit auf den Chefsessel im Berlaymont gilt.
Gegen ihn kann man keine überzeugenden Argumente ins Feld führen, was schon im
Vorfeld der parteiinternen Kandidatennominierung sorgfältig abgeklärt wurde. Die
Hinweise des konkurrierenden Kandidaten Martin Schulz, dass sich Juncker
angesichts der EVP-Verluste von 60 Sitzen nicht zum Sieger erklären könne, wirken
wie der verzweifelte Versuch, den Preis für ein Akzeptieren der Niederlage
hochzutreiben, um für sich noch einen einflussreichen Posten als deutscher
Kommissar für Wirtschaft und Währung oder für Außenbeziehungen herausschlagen
zu können. Ein ähnliches Kalkül dürfte auch der ungarische Ministerpräsident Viktor
Orban verfolgen mit seiner Aussage, den gemeinsamen EVP-Kandidaten Juncker
nicht zu unterstützen. Orban dürfte es eher darum gehen, einem neuen ungarischen,
von FIDESZ nominierten Kommissar ein einflussreiches Dossier zu sichern und nicht
Jean-Claude Juncker zu Fall zu bringen. Juncker weiß, dass im Rat an ihm so schnell
kein Weg vorbei führt, er ist zugleich aber ein erfahrener Politprofi, der die
Spielregeln und komplexen Mechanismen der Entscheidungsfindung in Brüssel
kennt. Die Europäischen Verträge lassen bei der Bestimmung des Kommissionspräsidenten einigen Spielraum und legen einzig fest, dass der Rat mit
qualifizierter Mehrheit unter Berücksichtigung des Wahlergebnisses dem Parlament
einen Kandidaten vorschlägt. Auf der Wahlparty der EVP ließ Jean-Claude Juncker
auch keine allzu große Euphorie über seinen Wahlsieg aufkommen und leitete aus
einem Erfolg nicht einen rigorosen Automatismus auf die Kommissionspräsidentschaft ab. Vielmehr erinnerte er an die Toten im Jüdischen Museum in
Brüssel, blickte auf die Präsidentschaftswahlen in der Ukraine und stellte die
Europawahlen in den Kontext der europäischen Aussöhnung und des gemeinsamen
Kampfes gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.
Anhaltendes Unverständnis über Wegfall der Sperrklausel in Deutschland
Zur Brüsseler Debatte über das Wahlergebnis gehört auch das anhaltende
Unverständnis über die letztlich knappe Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die 3%-Sperrklausel aufzuheben. Die auf die Splitterparteien wie
die Piraten, die Tierschützer, die Familienpartei oder die satirische Partei
entfallenden Mandate gehen auf Kosten der etablierten Parteien, die ihrer
Legislativarbeit innerhalb handlungsfähiger Fraktionen nachgehen. Als Einzel3
kämpfer ohne logistische Anbindung kann man zwar im Brüsseler Parlamentsbetrieb
den einen oder anderen verbalen Akzent setzen. Effiziente und ergebnisorientierte
Ausschussarbeit ist jedoch nicht möglich. Diese Erfahrung mussten die britischen
Konservativen nach ihrem Auszug aus der gemeinsamen EVP-Fraktion vor 5 Jahren
machen, der Einfluss der Tories ist seitdem erheblich gesunken. Es bleibt
abzuwarten, welchen Fraktionen sich die neuen deutschen Vertreter anschließen
werden. Durch die Aufsplitterung der Abgeordneten, die aus insgesamt 14
politischen Parteien kommen, ist jedoch eine Verminderung des deutschen
Einflusses zu erwarten. In Brüsseler Lesart hat das Bundesverfassungsgericht durch
seinen Spruch zur Sperrklausel der europäischen Demokratie einen Bärendienst
erwiesen.
Europa ist mehr als Umverteilung
Resümierend ist festzuhalten, dass die Europawahlen mit Jean-Claude Juncker einen
klaren Wahlsieger hervorbrachten, auch wenn die EVP Stimmeneinbußen
hinnehmen musste. Trotz eines Anwachsens europakritischer Kräfte wird die EVP
maßgebliche politische Kraft im neuen Parlament bleiben. Auftrieb gibt das Beispiel
Zypern, wo die konservative Regierungspartei trotz Reformprogramms und
Schuldenschnitts auf proeuropäischer Linie blieb und einen Wahlerfolg einfuhr. Die
etablierten Parteien dürfen jedoch die Warnsignale nicht übersehen. Die
Polarisierung zwischen Pro-Europäern und Anti-Europäern überlagert die politische
Einteilung in links und rechts. Fehlt die politische Verantwortlichkeit in den
Institutionen und verstecken sich die Entscheidungsträger hinter großen
Koalitionen der Mitte, erstarken die Ränder, und es droht in 5 Jahren ein böses
Erwachen. Europa kommt um institutionelle Reformen nicht herum und muss sich in
den nächsten Jahren auf konkrete Prioritäten beschränken. Wenn es nicht gelingt,
sich über alle institutionelle Konkurrenz hinweg auf ein überzeugendes
europäisches Aktionsprogramm zu einigen, wird der Zuspruch zur europäischen
Integration weiter sinken. Die EU kann sich Redundanz und Ineffizienz nicht länger
erlauben. Es sind jetzt aber auch die Mitgliedstaaten gefordert, an den Mehrwert
Europas zu glauben und die EU nicht nur als bürokratische Umverteilungsmaschine
zu begreifen.
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