POLITISCHER BERICHT AUS BRÜSSEL Christian Forstner Leiter der Verbindungsstelle Brüssel Nr. 12 /2014 – 26. Mai 2014 IMPRESSUM Herausgeber Copyright 2014, Hanns-Seidel-Stiftung e.V., München Lazarettstraße 33, 80636 München, Tel.: +49 (0)89 1258-0, E-Mail: [email protected], Online: www.hss.de Vorsitzende Prof. Ursula Männle Staatsministerin a.D. Hauptgeschäftsführer Dr. Peter Witterauf Verantwortlich Ludwig Mailinger Leiter des Büros für Verbindungsstellen Washington, Brüssel, Moskau, Athen / Internationale Konferenzen Hanns-Seidel-Stiftung e.V. Tel.: +49 (0)89 1258-202 oder -204 Fax: +49 (0)89 1258-368 E-Mail: [email protected] Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung, Verbreitung sowie Übersetzung, vorbehalten. 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Mit dieser stetigen Aufwertung kontrastiert jedoch das weit verbreitete öffentliche Desinteresse an der Europapolitik, dessen augenscheinlichstes Merkmal die relativ niedrige Wahlbeteiligung bei den Europawahlen ist. Europas Parteien setzten diesem Trend die Nominierung von Spitzenkandidaten entgegen, um den Wahlkampf zu personalisieren und um politische Positionen über bekannte Gesichter vermitteln zu können. Die Vorsitzenden der konservativen, sozialistischen und liberalen europäischen Parteienverbände erklärten ihre jeweiligen Spitzenkandidaten zu Anwärtern auf das mächtige Amt des Kommissionspräsidenten und kamen überein, keinen anderen als den „siegreichen“ Spitzenkandidaten zu wählen. Die Europawahlen 2014 fanden vor dem Hintergrund eines personalisierten Wahlkampfes, einer gestiegenen Bedeutung des Europäischen Parlaments und einer offensichtlichen Europaskepsis statt. Europäische Volkspartei als Wahlsieger Aus den Wahlen ging die Europäische Volkspartei, der Parteienverbund der christlich-demokratischen und konservativen Parteien Europas, als Wahlsieger hervor. Erfolge verzeichnete die EVP in einigen mittelosteuropäischen Ländern wie Bulgarien, Einbußen erlitt sie in erwartetem Umfang in Italien oder Griechenland. Europaweit erzielte sie knapp 30% und kommt im neuen Parlament vermutlich auf 214 Mandate, was zwar einem Minus entspricht, aber immer noch deutlich über den 24,6% liegt, mit denen die europäischen Sozialisten 189 Sitze erringen konnten. Auch mit der liberalen und der grünen Fraktion reicht es für die Sozialisten nicht zu einer Mehrheit im Parlament und die offene Kooperation mit Kommunisten, den britischen Tories oder anti-europäischen Parteien aus Tschechien kommt aus politischen Gründen nicht in Frage. Es ist davon auszugehen, dass es gegen die EVP keine Mehrheit im Parlament geben wird. Die fraktionslosen und unabhängigen Abgeordneten fallen zahlenmäßig mit gut 104 Personen ins Gewicht, sie sind aber unsichere Kantonisten und sehr heterogen in ihren Zielen, so dass mit ihnen keine verlässlichen Absprachen zu treffen sind. Faktisch läuft alles auf eine informelle Große Koalition zwischen Konservativen und Sozialisten hinaus. Damit ist zwangsläufig die Bildung eines proeuropäischen Lagers in der Mitte verbunden, das von extremen Kräften von links und rechts unter Beschuss genommen werden dürfte. Die Einteilung der Brüsseler Politik dürfte also künftig nicht nach einem links/rechts-Schema vorgenommen werden, sondern entlang der Achse ProEuropäer / Anti-Europäer. Mit dieser Struktur mag man die nächsten 5 Jahre begrenzt handlungsfähig bleiben, das böse Erwachen ist aber nur aufgeschoben, nicht aufgehoben. 1 Keine flächendeckende Erfolge der Anti-Europäer Insgesamt lässt das Wahlergebnis Spielraum für ambivalente Interpretationen. Der befürchtete Frontalangriff der anti-europäischen Kräfte brachte den extremen Gruppen kaum parlamentarische Einflussmöglichkeiten, zumal es zwischen ihnen erhebliche politische Differenzen in wichtigen Sachfragen gibt. Die deutsche AfD redet außenpolitisch einer deutschen Schaukelpolitik zwischen Ost und West das Wort, was bei den polnischen Europakritikern den Rapallo-Komplex aufleben lässt. Die separatistische flämische N-VA ist proeuropäisch und grenzt sich vom ausländerfeindlichen französischen Front National ab. Der Islam-Kritiker Geert Wilders erhielt einen deutlichen Dämpfer, da er die zwar europakritische, aber nicht xenophobe liberale niederländische Gesellschaft mit scharfen Attacken gegen marokkanische Einwanderer vor den Kopf stieß. Auch wenn der ganz große Durchbruch radikaler Parteien ausblieb, zeugen die Wahlergebnisse in Frankreich mit dem Sieg des Front National, in Großbritannien mit den Stimmenzuwächsen für die United Kingdom Independence Party (UKIP) und in Italien mit der anhaltenden Popularität der provokativen Bewegung 5 Sterne von Beppe Grillo von bedenklichen Tendenzen in der Politikszene. Die Identitätsängste in der Bevölkerung wachsen, Millionen Arbeitslose, darunter zahlreiche Jugendliche, fühlen sich als Integrationsverlierer, der Verdruss über die angeblich eigennützige politische Elite nimmt zu. Neue, teils sehr kurzfristig entstandene politische Formationen profitieren von der europakritischen Stimmung und bleiben eine große Herausforderung für die etablierten Parteien. Stoppen des Abwärtstrends bei der Wahlbeteiligung Mit europaweiten 43,1 % Wahlbeteiligung entsprach dieser Wert ziemlich exakt dem Resultat von 2009. Der Abwärtstrend der vorausgegangenen Wahlen konnte also gestoppt werden, in einigen Ländern wie Deutschland stieg sie sogar signifikant an, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass mit Martin Schulz und Ska Keller auch zwei Spitzenkandidaten aus Deutschland kamen. Sorgen bereiten jedoch einige mittelosteuropäische Länder mit sehr geringer Mobilisierung der Wähler, in der Slowakei machten gerade einmal 13% von ihrem Wahlrecht Gebrauch. In den Augen vieler Wähler ist das Europäische Parlament keine wichtige Institution, und für die großen Fragen der europäischen Politik wie Frieden und Sicherheit ist nicht die EU entscheidend, sondern die NATO. Zudem ist die Parteienlandschaft in vielen Ländern zerklüftet und insofern ungeordnet, als es auf europäischer Ebene keinen Zwang zur Regierungsbildung gibt. Europäische Politik erscheint im Unterschied zu nationalen Entscheidungsprozessen als weniger nachvollziehbar. Dieses Manko wurde durch den stetigen Bedeutungszuwachs des Europäischen Parlaments noch nicht kompensiert. Die mangelnde Mobilisierung insbesondere der Stammwähler traf u.a. auch die CSU hart und macht die Aufgabe zukünftig nicht leichter, die eurokritischen Stimmen in konstruktive Bahnen zu lenken. Die Wahlbeteiligung bringt dem Europäischen Parlament keinen zusätzlichen Legitimationsschub, sie unterminiert aber auch nicht weiter dessen Stellung im Brüsseler Institutionengefüge. Am Befund, dass das Europäische Parlament in den 2 Augen der Öffentlichkeit nicht immer als Hort der europäischen Demokratie und Effizienz empfunden wird, ändert sich nichts. Der Rekrutierungsprozess, der zur Aufstellung der Kandidaten in den nationalen Wählerlisten führt, entzieht sich bisweilen der europäischen Öffentlichkeit, so dass die Vorbehalte gegen den institutionellen Machtanspruch des Parlaments wie gegen die Kür des Kommissionspräsidenten durchaus nachvollziehbar erscheinen. Erfolgreiche Konstruktion mit Spitzenkandidaten Die Konstruktion mit europäischen Spitzenkandidaten aus den jeweiligen Parteienfamilien, aus deren Kreis der Kommissionspräsident bestimmt wird, stieß auf Vorbehalte in vielen Hauptstädten, die sich das Heft des Handels nicht aus der Hand nehmen lassen wollten. Mit Jean-Claude Juncker gibt es jetzt einen siegreichen Spitzenpolitiker, der als eindeutiger Favorit auf den Chefsessel im Berlaymont gilt. Gegen ihn kann man keine überzeugenden Argumente ins Feld führen, was schon im Vorfeld der parteiinternen Kandidatennominierung sorgfältig abgeklärt wurde. Die Hinweise des konkurrierenden Kandidaten Martin Schulz, dass sich Juncker angesichts der EVP-Verluste von 60 Sitzen nicht zum Sieger erklären könne, wirken wie der verzweifelte Versuch, den Preis für ein Akzeptieren der Niederlage hochzutreiben, um für sich noch einen einflussreichen Posten als deutscher Kommissar für Wirtschaft und Währung oder für Außenbeziehungen herausschlagen zu können. Ein ähnliches Kalkül dürfte auch der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban verfolgen mit seiner Aussage, den gemeinsamen EVP-Kandidaten Juncker nicht zu unterstützen. Orban dürfte es eher darum gehen, einem neuen ungarischen, von FIDESZ nominierten Kommissar ein einflussreiches Dossier zu sichern und nicht Jean-Claude Juncker zu Fall zu bringen. Juncker weiß, dass im Rat an ihm so schnell kein Weg vorbei führt, er ist zugleich aber ein erfahrener Politprofi, der die Spielregeln und komplexen Mechanismen der Entscheidungsfindung in Brüssel kennt. Die Europäischen Verträge lassen bei der Bestimmung des Kommissionspräsidenten einigen Spielraum und legen einzig fest, dass der Rat mit qualifizierter Mehrheit unter Berücksichtigung des Wahlergebnisses dem Parlament einen Kandidaten vorschlägt. Auf der Wahlparty der EVP ließ Jean-Claude Juncker auch keine allzu große Euphorie über seinen Wahlsieg aufkommen und leitete aus einem Erfolg nicht einen rigorosen Automatismus auf die Kommissionspräsidentschaft ab. Vielmehr erinnerte er an die Toten im Jüdischen Museum in Brüssel, blickte auf die Präsidentschaftswahlen in der Ukraine und stellte die Europawahlen in den Kontext der europäischen Aussöhnung und des gemeinsamen Kampfes gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Anhaltendes Unverständnis über Wegfall der Sperrklausel in Deutschland Zur Brüsseler Debatte über das Wahlergebnis gehört auch das anhaltende Unverständnis über die letztlich knappe Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die 3%-Sperrklausel aufzuheben. Die auf die Splitterparteien wie die Piraten, die Tierschützer, die Familienpartei oder die satirische Partei entfallenden Mandate gehen auf Kosten der etablierten Parteien, die ihrer Legislativarbeit innerhalb handlungsfähiger Fraktionen nachgehen. Als Einzel3 kämpfer ohne logistische Anbindung kann man zwar im Brüsseler Parlamentsbetrieb den einen oder anderen verbalen Akzent setzen. Effiziente und ergebnisorientierte Ausschussarbeit ist jedoch nicht möglich. Diese Erfahrung mussten die britischen Konservativen nach ihrem Auszug aus der gemeinsamen EVP-Fraktion vor 5 Jahren machen, der Einfluss der Tories ist seitdem erheblich gesunken. Es bleibt abzuwarten, welchen Fraktionen sich die neuen deutschen Vertreter anschließen werden. Durch die Aufsplitterung der Abgeordneten, die aus insgesamt 14 politischen Parteien kommen, ist jedoch eine Verminderung des deutschen Einflusses zu erwarten. In Brüsseler Lesart hat das Bundesverfassungsgericht durch seinen Spruch zur Sperrklausel der europäischen Demokratie einen Bärendienst erwiesen. Europa ist mehr als Umverteilung Resümierend ist festzuhalten, dass die Europawahlen mit Jean-Claude Juncker einen klaren Wahlsieger hervorbrachten, auch wenn die EVP Stimmeneinbußen hinnehmen musste. Trotz eines Anwachsens europakritischer Kräfte wird die EVP maßgebliche politische Kraft im neuen Parlament bleiben. Auftrieb gibt das Beispiel Zypern, wo die konservative Regierungspartei trotz Reformprogramms und Schuldenschnitts auf proeuropäischer Linie blieb und einen Wahlerfolg einfuhr. Die etablierten Parteien dürfen jedoch die Warnsignale nicht übersehen. Die Polarisierung zwischen Pro-Europäern und Anti-Europäern überlagert die politische Einteilung in links und rechts. Fehlt die politische Verantwortlichkeit in den Institutionen und verstecken sich die Entscheidungsträger hinter großen Koalitionen der Mitte, erstarken die Ränder, und es droht in 5 Jahren ein böses Erwachen. Europa kommt um institutionelle Reformen nicht herum und muss sich in den nächsten Jahren auf konkrete Prioritäten beschränken. Wenn es nicht gelingt, sich über alle institutionelle Konkurrenz hinweg auf ein überzeugendes europäisches Aktionsprogramm zu einigen, wird der Zuspruch zur europäischen Integration weiter sinken. Die EU kann sich Redundanz und Ineffizienz nicht länger erlauben. Es sind jetzt aber auch die Mitgliedstaaten gefordert, an den Mehrwert Europas zu glauben und die EU nicht nur als bürokratische Umverteilungsmaschine zu begreifen. *** 4