Sehr geehrte Damen und Herren, al-Salamu aleikum. Frieden sei mit Ihnen. Zunächst bedanke ich mich bei Frau Schmidt und bei Herrn Waszynski für ihre Bemühungen und bei Herrn Nashaat für die Übernahme der Dolmetschertätigkeit. Ich freue mich sehr, mit Ihnen heute zu sein und erlauben Sie mir, in Arabisch zu sprechen. Die Tatsache, dass in Deutschland über vier Millionen Muslime leben, lässt uns nach den Mitteln deren Integration in der deutschen Gesellschaft fragen. Für die Integration von Menschen muslimischen Glaubens in Deutschland ist es wichtig, dass sie glauben, dass Achtung der Grundwerte der deutschen Rechtsordnung und der Menschenrechte mit ihren religiösen Überzeugungen vereinbar ist. Das Thema der Integration ist politisch wichtig, weil es darum geht, in welcher Weise sich Muslime mit dem Staat identifizieren können. Angesichts der Rolle des Islams im geistigen und alltäglichen Leben islamischer, namentlich arabischer Staaten mag die Betonung der gemeinsamen Prinzipien und Werte, die der Islam mit anderen Kulturen und Religionen teilt, einerseits zur Erleichterung des 1 Integrationsprozesses der Muslime in westlichen Gesellschaften, andererseits zur Beheimatung der Menschenrechte in muslimischen Gesellschaften beitragen. Eins dieser gemeinsamen Werte ist das Prinzip der Menschenwürde. Die Menschenwürde ist der oberste Wert der deutschen Rechtsordnung. Sie kann aber auch als Vehikel für eine menschenrechtsfreundliche Interpretation der islamischen Lehren dienen. Der Glaube an die Menschenwürde kann nicht nur als Schlüsselbegriff für Achtung der Menschenrechte, sondern auch als Katalysator für gesellschaftliche Integration dienen. Der Glaube an die Menschenwürde führt unbedingt zur Respektierung der menschlichen Personalität und zur Achtung der Grundrechte, die als spezifische Ausprägungen dieser Würde gelten. Vor diesem Hintergrund möchte ich über das Prinzip der Menschenwürde im Islam sprechen, bevor ich auf dieses Prinzip im deutschen Grundgesetz eingehe. 1. Menschenwürde im Islam Die Idee der Menschenrechte und der sie fundierende Glauben an die Menschenwürde ist das Resultat eines „Sakralisierungsprozess“, in 2 dem der Mensch als „heilig“, d. h. mit einer besonderen Würde ausgestattet ist angesehen wurde. Die Sakralisierung des Menschen findet sich nicht nur im antiken Athen, in der Bibel, oder in der Philosophie der Aufklärung, auf die sich die westliche Kultur beruft, sondern auch in anderen nichtwestlichen Kulturen und im Islam. In engem Zusammenhang mit der Idee der Menschenwürde steht das Prinzip der Individualität. Dieser Grundsatz ist eine Voraussetzung, um Menschenrechte zugunsten des Individuums zu gewährleisten und in Form von grundrechtlichen Schutzbereichen zu konkretisieren. Das Konzept des Individuums beinhaltet die Vorstellung von einer autonomen Person als Teil der Gesellschaft, die dem Staat gegenübertritt. Es gilt als eine Schöpfung des europäischen Denkens in der Epoche der Aufklärung und ist der klassischen islamischen Kultur fremd. Denn die traditionelle islamische Staatslehre erkennt die Existenz autonomer menschlicher Institutionen im Inneren der muslimischen Gemeinde nicht an. Mit Blick auf das Verhältnis des Individuums zum Herrscher (Staat) ist dem Menschen infolge dieser Vorstellung Freiheit nur im Sinne einer Wahlfreiheit innerhalb der Grenzen der Scharia verliehen. Diese hergebrachten Beschränkungen der Meinungs- und Gewissensfreiheit kann nicht als taugliche Basis für einen Diskurs über die Menschenrechte in ihrem universellen Verständnis dienen. Doch enthält der Koran auch Verse, die als religiöse Basis für das Konzept des Individuums in seinem herangezogen werden können. modernen Verständnis Nach dem Koran kommt dem 3 Menschen kraft seines Menschseins eine besondere Würde zu, die ihn über alle anderen Schöpfungen Gottes erhebt. Gott sagt im Koran: „Und Wir haben den Kindern Adams Ehre erwiesen; Wir haben sie auf dem Festland und auf dem Meer getragen und ihnen (einiges) von den köstlichen Dingen beschert, und Wir haben sie vor vielen von denen, die wir erschaffen haben, eindeutig bevorzugt.“ (Sure 17, al-Isrāʾ, 70) Mehrere Koranversen sowie auch Aussagen (Hadith) des Propheten Muhammad bestätigen diese Sonderstellung und erwähnen, dass Gott den Menschen vor allen Schöpfungen Gottes einschließlich der Engel bevorzugt hat. Gott hat den Menschen, wie der Koran verkündet, als seinen Stellvertreter (khalifa) auf Erden eingesetzt, damit er sie bebaut und auf ihr die Zivilisation erschafft. Die Berufung des Menschen, Stellvertreter Gottes auf Erden zu sein, bedeutet implizit die Freiheit des Menschen, da Gott frei ist. Er kann daher seinen Weg ohne äußeren Zwang wählen. Diese „ehrwürdige Natur“ ist absolut und steht jedem Menschen ohne Unterschied aufgrund der Religion, der Herkunft oder des Geschlechts zu. Der Mensch hat somit eine Würde, die nicht aus seinem Verhalten oder seinem Glauben an eine bestimmte Religion oder Konfession, sondern allein aus seinem Menschsein folgt. Diese Stellvertretung bildet die Basis des Verhältnisses nicht nur zwischen Gott und Menschen, sondern auch zwischen Islam und Menschen sowie zwischen Menschen und Herrscher (Staat). 4 Ähnlich wie im Judentum und im Christentum ist davon auszugehen, dass auch im Islam Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat („Ebenbildlichkeit“). Diese Sicht des Menschen im Islam weist auf eine große Affinität mit der christlichen Anthropologie hin und zwar in einer Frage, die für die Begründung der Menschenrechte in diesem außerrechtlichen Konzept grundlegend ist. Jeder Mensch ist danach mit Würde ausgestattet und darf deshalb nicht zu einem Objekt religiöser Autorität oder staatlichen Handelns sein. Koranversen sind so auszulegen, dass jeder Mensch als „Zweck an sich selbst“ angesehen wird, wie es Kant formuliert hat. Im Einklang mit dieser Sicht des Menschen im Islam verfügt der Einzelne über das Recht, sein Leben eigenverantwortlich zu gestalten, und über die Kompetenz zu demokratischer Mitbestimmung. Diese Sicht ist grundlegend für die Vermittlung sowie die „Beheimatung“ der Menschenrechte im islamischen Denken und gewinnt noch durch die Tatsache an Bedeutung, dass der Begriff der Menschenwürde das Konstitutionsprinzip in mehreren Menschenrechtserklärungen bildet, vor allem auch Eingang in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 gefunden hat. Auch die Präambel der UN-Charta spricht vom „Glauben“ an die Würde des Menschen. Ich glaube, einige von Ihnen würden fragen, wenn die Menschenwürde im Islam diesen hohen Rang hat, dann warum sind 5 Menschenrechtsverletzungen in der arabisch-islamischen Welt weit verbreitet? Und warum hören wir von Praktiken wie Unterdrückung der Frauen oder der Nichtmuslime in arabisch-islamischen Staaten? Neben der Existenz der diktatorischen Regime, die Menschenrechte verletzen, gibt es auch Sachen in der islamischen Jurisprudenz (Fiqh), die dem modernen Verständnis der Menschenrechte widersprechen. Meines Erachtens gibt es deswegen einen Bedarf an Erneuerung des islamischen Denkens, um die Bedürfnisse des modernen Lebens wie Achtung der Menschenrechte zu erfüllen. Die Religion wurde für den Menschen gemacht und nicht umgekehrt. Der Koran sagt: „Gott will für euch Erleichterung. Er will für euch nicht Erschwernis.“ (Sure 2, al-Baqara, 185) Reform des islamischen Denkens erfordert die Entwicklung der islamischen Jurisprudenz (Fiqh). Das Verhältnis des Islams zu den Menschenrechten muss im Lichte der Stellung des Menschen als Nachfolger (khalifa) auf der Erde und im Lichte der hohen Intentionen der Scharia verstanden werden. Die muslimischen Rechtsgelehrten im Mittelalter nannten fünf Zwecke als hauptsächliche Intentionen der Scharia. Diese sind die Erhaltung der Religion (al-Din), des Lebens (al-Nafs), des Verstandes (al-Aql), des Nachwuchs (al-Nasl) und des Vermögens (al-Mal). Zu 6 den hohen Intentionen der Scharia gilt jedoch auch das Allgemeinwohl des Menschen. Muslimische Rechtgelehrte entwickelten diese Intentionen nicht nur aufgrund der göttlichen Ge- und Verbote, sondern auch im Lichte der Traditionen und der Bedürfnisse der Menschen in jener Zeit. Jedoch haben sich die Lebensbedürfnisse in unserer Zeit offensichtlich von jenen, die vor Jahrhunderten herrschten, unterschieden. Vor diesem Hintergrund forderten muslimische Rechtsgelehrten zur Erweiterung und Ergänzung der Intentionen der Scharia, damit sie auch Prinzipien der Freiheit, der Gleichheit und der Gerechtigkeit zu erfassen. Einige von Ihnen würden eventuell dagegen einwenden und sagen, dass ein solches Eintauchen in den religiös-ethischen Diskurs über den Topos der Menschenwürde nicht ausreicht, um die Universalität der Menschenrechte rechtsnormativ zu begründen. Eine unmittelbare und ausschließliche Ableitung der Menschenrechte aus dem Koran könnte problematisch sein, weil unter dieser Prämisse eine interkulturelle Verständigung über Menschenrechte schwierig, wenn nicht gar unmöglich wäre. Aus der islamischen Vorstellung der Menschenwürde ergeben sich weder zwingend noch „automatisch“ Konsequenzen für eine in islamischen Gesellschaften zu verwirklichende gleiche Würde aller Menschen. Ähnlich wie im Christentum und anderen religiösen oder philosophischen Traditionen findet sich auch im Islam ein Potential 7 für die Sakralisierung des Menschen. Jedoch blieb dieses Potential bis zum zwanzigsten Jahrhundert, in dem Menschenrechte in internationalen Erklärungen und Konventionen kodifiziert worden sind, unwirksam. Für diese Behauptung spricht die Existenz anderer Interpretationen der Menschenwürde im Islam, die von Unterschieden zwischen Muslimen und Nichtmuslimen bei der Frage der menschenrechtlichen Legitimation ausgehen. Zudem war in einigen islamischen Staaten bis zum Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts die Sklaverei erlaubt und der Scharia wurden bestimmte Körperstrafen entnommen, die Idee der Menschenwürde im modernen Verständnis widerspricht. Ähnlich wie Christen in ihren Glaubenszeugnissen können auch Muslime –meines Erachtens - die Wurzeln der Menschenwürdegarantie im Islam suchen. Das hilft zur Beheimatung der Menschenrechte im islamischen Denken. Dieser Ansatz vermag indes eine naturrechtliche oder vernunftgeleitete Begründung der Menschenrechte nicht zu ersetzen, die Allgemeingültigkeit beanspruchen kann. Denn im Unterschied zu den säkularen vernünftigen Gründen sind religiöse Argumente allen Menschen in der Regel nicht zugänglich und nicht zustimmungsfähig. Außerdem sind nur mit Allgemeingültigkeit und Universalität ausgestattet entziehen sich Menschenrechte dem Zugriff der Staatsmacht in letzter Instanz vor allem dann, wenn willkürliche oder 8 auch menschenrechtswidrige religiöse Interpretationen dem Individuum seine natürlichen Rechte abzusprechen versuchen. Ähnlich wie in der deutschen Gesellschaft, auch muslimische Gesellschaften sind aufgefordert, ein praktikables Wertesystem der Grundrechte, das sich zugleich als ein rationales Anspruchssystem erweist, zu entwerfen. Dieses rationale Wertesystem muss sich auf die Idee der Menschenwürde und der Gerechtigkeit stützen und als Basis für die Grundrechte dienen, die jedem Menschen zustehen müssen. Vor diesem Hintergrund hilft das Verständnis der Menschenwürde im Islam nur, soweit es zur Fundierung des Konzepts des Individuums als freies Wesen beitragen kann. Und jetzt erlauben Sie mir auf das Prinzip der Menschenwürde im Grundgesetze einzugehen. 2. Menschenwürde im Grundgesetz Ausgehend von der Überzeugung, dass der Staat um des Menschen willen da ist, nicht der Mensch um des Staates willen, wurde die Menschenwürdegarantie an der Spitze des Grundgesetzes platziert. Artikel 1 Absatz 1 sieht vor, dass die Menschenwürde unantastbar ist. Die Platzierung des Menschenwürdesatzes an der Spitze des Grundgesetzes bedeutet die Absage aller Formen der Entwürdigung 9 des Menschen durch die totalitären Regime. Die Menschenwürdegarantie ist der oberste Wert des Grundgesetzes und genießt eine prominente Stellung in der deutschen Rechtsordnung. Als Konstitutionsprinzip stellt sie den höchsten Maßstab für die Ausübung der staatlichen Gewalt. Dieser hohe Rang der Menschenwürde hat erhebliche Konsequenzen. Sie bildet die Basis für das Verhältnis des Staates zum Menschen. Gesetze oder Maßnahmen, die als menschenwürdewidrig zu klassifizieren sind, dürfen nicht erlassen werden. Jedoch bereitet die Definition der Menschenwürde als juristischer Begriff erhebliche Schwierigkeiten, da Artikel 1 Grundgesetz eine Bestimmung von umfassender Allgemeinheit darstellt und sich nicht auf ein besonderes Verhalten bezieht. In Anlehnung an Kants Instrumentalisierungsverbot bedient sich das deutsche Bundesverfassungsgericht der sogenannten Objektformel. Danach widerspricht es der Menschenwürde, den Menschen zum bloßen Objekt des staatlichen Handelns zu machen oder seine Subjekqualität oder Achtungsanspruch als Person in Frage zu stellen. Nach der Philosophie Immanuel Kants darf der Mensch niemals bloß als Mittel behandelt, sondern muss als Zweck an sich selbst wahrgenommen werden. 10 In personeller Hinsicht sind alle natürlichen Personen Grundrechtsträger der Menschenwürde. Also, sie gilt nicht nur für Deutschen, sondern für jeden Menschen, der in Deutschland lebt und unabhängig von der Legalität seines Aufenthalts. Gebunden ist die deutsche öffentliche Gewalt an Artikel 1 Grundgesetz auch insofern, als Wirkungen ihrer Betätigungen im Ausland eintreten. Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz schützt jedoch nicht nur das geborene Leben, sondern auch das ungeborene Leben und wirkt über das Ende des Lebens hinaus. Der Nasciturus ist Grundrechtsträger. Auch dem Verstorbenen kommt ein Würdeschutz zu. Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz gewährt dem Einzelnen Schutz vor Angriffe auf seine Würde nach dem Tod. Der Leichnam darf nicht einfach wie tote Materie behandelt oder als beliebig verfügbare Organresource genutzt werden. Ohne vorherige Einwilligung der betroffenen Person oder die Zustimmung seiner Verwandten darf niemand zum Objekt medizinischer Experimente oder zur Quelle von Organspenden gemacht werden. Geschützt ist auch das Andenken des Verstorbenen. Anders als andere Grundrechte sind Eingriffe in die Menschenwürde unzulässig. Das bedeutet, dass sie absolut gilt und nicht relativierbar ist. 11 Selbst der Schutz des Lebensrechts einer Geisel rechtfertigt nicht den Einsatz der Folter durch die Polizei gegen den vermeintlichen Täter, um ihn zu zwingen, den Aufenthaltsort des Opfers preiszugeben. Da Grundrechte in ihrem Kern Ausprägungen der Menschenwürde sind, dürfen Menschenrechte, wie das Recht auf Leben oder Religionsfreiheit oder Meinungsäußerungsfreiheit nur menschenwürdig angetastet werden. Beispiele für Verletzungen der Menschenwürde: Sklaverei, Folter, medizinische Experimente, Gehirnwäsche, Todesstrafe, Lebenslange Freiheitsstrafe ohne Möglichkeit der Resozialisierung. Die Menschenwürde hat nicht nur einen Abwehrrechtscharakter sondern aus ihr ergeben sich auch Leistungs- und Schutzansprüche. Die Grundlage für die Sicherung des Existenzminimums ergibt sich aus Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip. Da die Menschenwürde unantastbar ist, so ist jede Verhaltensweise, auch von Privatpersonen, die gegen Artikel 1 Grundgesetz verstößt, auch unmittelbar ein Verstoß gegen diese Verfassungsnorm. Am Ende möchte ich mit diesen Worten abschließen: 12 Die Menschenwürde ist die Wurzel der Menschenrechte. Wer an die Menschenwürde glaubt, glaubt auch an das Recht der Mitmenschen auf Leben, Religionsfreiheit und Meinungsäußerungsfreiheit. Wer an die Menschenwürde glaubt, wird nicht eine bestimmte Gruppe, wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion, oder zu einer bestimmten Nationalität oder zu einer bestimmten Rasse beschimpft. Der Glaube an die Menschenwürde gilt als „Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Wa al-salamu aleikum. Frieden sei mit Ihnen. 13