Altonaer Kinderkrankenhaus Intersubjektivität im Fokus - entwicklungspsychologische Perspektiven in der Psychotherapie Erwachsener reduzierte Version – © Dr. Carola Bindt Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie, und Psychosomatik 4. Niedersächsischer Psychotherapeutentag · 14.09.2013 Modelle psychischer Störungen und therapeutische Grundposition de-konstruktiv, re-konstruktiv oder co-konstruktiv? Abgewehrte Aggression? Dysfunktionale Kognition? Traumatogene Dissoziation? …? Hallo! Übersicht Im Wandel: Behandlungsziele, therapeutische Technik, entwicklungspsychologische Grundannahmen Affektregulation, geteilte Aufmerksamkeit & Mentalisierung: Bedeutung früher Eltern-Kind-Interaktionen für die Entwicklung Interaktionsvarianten, "Schemata des Gemeinsamkeitserlebens" & ein Fazit für die psychotherapeutische Praxis Modelle psychischer Störungen und therapeutische Grundposition De-Konstruktion von Abwehr / Widerstand Konfliktmodell Defizitmodell (intrapsychische Unvereinbarkeiten) (Entbehrung, Fehlentwicklung) einsichtsorientiert supportiv Lernmodell Traumamodell (Gewohnheiten, dysfunkt. Kognitionen) (traumatisches Ereignis, neuro-bio. Vulnerabilität) Konstruktion von Bedeutung / Narration (nach Loch 1993, Hoffmann & Hochapfel 2009, Hohage 2011) Psychoanalyse und Zeitgeist Veränderung von Grundannahmen und Zielen Die klassische psychoanalytische Betonung des therapeutischen Werts von Einsicht, Bewusstheit und Selbsterkenntnis spiegelt den Einfluss des Zeitalters der Aufklärung. Heute herrscht Skepsis bezüglich der Annahme, dass Einsicht und Selbsterkenntnis per se heilsam sind und zudem Zweifel daran, ob eine Rekonstruktion der historischen Wahrheit überhaupt möglich ist. (nach M. N. Eagle, From Classical to Contemporary Psychoanalysis, 2011) Behandlungsziele tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie Unbewusstes bewusst machen (Freud 1923) Verbesserung der Liebes- und Arbeitsfähigkeit (Freud 1930) Verbesserung der Affektregulation (Kohut 1984) Strukturelle Veränderung (Wallerstein 1988) Förderung der Kohärenz von Narrativen (Schafer 1992) Sinnstiftung und Reorganisation von Erfahrung (Mitchell 1998) Veränderung maladaptiver Bindungsmuster (Levy 2006) Verbesserung der reflexiven Funktionen (Fonagy 2006) … (nach M. N. Eagle, From Classical to Contemporary Psychoanalysis, 2011) Wandel von Behandlungszielen (1) Affektanalyse und Stärkung von Ich-Funktionen "Helping the patient understand how his mind works" * im Fokus Affekte, die mit unterdrückten Impulsen assoziiert sind charakteristische Manöver, die bei Angst, Scham, Schuld… eingesetzt werden (Denkhemmung, Spaltung, Projektion, Dissoziation…) Anregung von Neugier und Motivation zur Selbstexploration (therapeutische Ich-Spaltung) (nach J. Clarkin et al. 2001*, O. Kernberg et al. 2008, M.N. Eagle 2011) Wandel von Behandlungszielen (2) Förderung von reflexiver Kapazität und Mentalisierung "Helping the patient reflect on one´s own and others` mental states" * im Fokus Entschlüsseln von psychischen Prozessen Anregung zum Mentalisieren durch ausführliche Exploration des Erlebens Erarbeitung von alternativen Perspektiven der Wahrnehmung und Bewertung Weg ist wichtiger als das Ziel! (*A. Bateman & P. Fonagy 2006) Schulenübergreifende Konvergenz: Therapeutische Beziehung schafft Veränderung Enactment von Beziehungsmustern und -erwartungen in der therapeutischen Situation Interaktionen zwischen Patient und Therapeut sollen untersucht werden Implizites soll explizit gemacht werden Erfahrungen des Patienten sollen erweitert, Affektregulation und Selbstkohärenz verbessert werden (nach M. N. Eagle, From Classical to Contemporary Psychoanalysis, 2011) Im Wandel: Annahmen über den Säugling S. Freud - Es-gesteuert, Triebbefriedigung prägt Objektbesetzung und Struktur M. Mahler - symbiotisch, Separation-Individuation prägt Ich-Organisation M. Klein - dämonisch, Zivilisation durch ProjektionIntrojektion J. Bowlby - bindungssuchend, Bindungserfahrung organisiert Struktur D. Stern - co-konstruktiv, frühe Erfahrungen in der Interaktion mit der Umwelt organisieren Struktur Bedingungen intersubjektiver Entwicklung "Right from birth, humans develop in a soup of other people´s feelings and desires.“ Daniel Stern, 2002 Early childhood through the lifespan "Implizites Beziehungswissen" in der präverbalen Zeit erworbene Grundannahmen …was von anderen Menschen zu erwarten ist …wie man sich darauf einstellen kann …welche Gefühle angemessen sind …wie sich das Zusammensein gestalten lässt primär unbewusst, aktivierbar in Millisekunden (D. Stern 2004; 2010) Übersicht Im Wandel: Behandlungsziele, therapeutische Technik, entwicklungspsychologische Grundannahmen Affektregulation, geteilte Aufmerksamkeit & Mentalisierung: Bedeutung früher Eltern-Kind-Interaktionen für die Entwicklung Interaktionsvarianten, "Schemata des Gemeinsamkeitserlebens" & ein Fazit für die psychotherapeutische Praxis Eltern-Kind-Interaktion & Intuitive Kompetenzen Eltern optimaler Abstand Grußreaktion akzentuierte Mimik Ammensprache Säugling Präferenz für soziale Reize Greif-, Saug- & Suchreflexe Affektsignale Imitation von Gesten biologisch determiniertes Verhalten unabhängig von Alter, Geschlecht & Kultur (* H.Papousek & M. Papousek (1982, 1987)) Eltern-Kind-Interaktion & Intuitive Kompetenzen Grußreaktion Himba: "eyebrow-flash"; gefilmt von I. Eibl-Eibesfeldt, 1990 Imitation von Mimik ab 42 Minuten postpartum * "Through imitating the acts of others, we come to know their souls." ** * Metzloff & Moore 1977, Science, Imitation of facial and manual gestures by human neonates **Metzloff 2002, Imitation as a mechanism of social cognition, Handbook of Child Cognitive Development Stand der empirischen Säuglingsforschung - 1 Angeboren sind… Sensitivität für kausale Kontingenzen in der Umwelt ("inherent contingency-detection module") Präferenz für kontingente Kontrolle über Umweltereignisse G. Gergely in "Developmental Science and Psychoanalysis" Mayes, Fonagy & Target (Hrsg.), 2007 Stand der empirischen Säuglingsforschung - 2 Keine Evidenz für angeborene Fähigkeit … innere emotionale Zustände zu teilen (Intersubjektivität) emotionale Zustände bei sich und bei anderen zu differenzieren und Verhaltensmotive abzuleiten (Mentalisierung) G. Gergely in "Developmental Science and Psychoanalysis" Mayes, Fonagy & Target (Hrsg.), 2007 Interaktionen sind das Produkt von simultan ablaufenden selbst-regulatorischen und fremd-regulatorischen Prozessen Stimmung, Temperament, Gesundheitszustand… Interaktionsstörungen entstehen im Miteinander, nie einseitig! Einflussfaktoren in der Mutter-Kind-Interaktion Sozialer Kontext sozio-ökonomische Situation Paarbeziehung soziale Unterstützung Charakteristika des Kindes Geschlecht Temperament Gesundheit Emotionale Ressourcen der Mutter Interaktion mütterliche Einstellung Persönlichkeitsstruktur seelische Verfassung Wie harmonisch ist eine gelungene Interaktion? 1. Modell Zeigt ein hohes Maß an affektiver Synchronität zwischen den Partnern, meist positive Emotionen und wenig Anstrengung und Ärger bei der Mutter. 2. Modell Zeitlich überwiegen kleine Missverständnisse und Verzögerungen im Miteinander, die in gut abgestimmten Dyaden beidseitige Anstrengungen zur Reparation zur Folge haben. ("matched emotions" < 30 %) Mutter-Kind-Interaktion: Disruption & Repair Sozialer Kontext Charakteristika des Kindes Emotionale Ressourcen der Mutter Interaktion Desorganisation Kompensation Adaptation Dekompensation Maladaptation VIDEO Dimensionen der Interaktionsqualität - 1 Signale - Verhalten Stimmung & Affektausdruck Mimik & Blickverhalten Vokalisationen & Sprache Wahl der Aktivität Positionierung & Körperkontakt Dimensionen der Interaktionsqualität - 2 Affektabstimmung - Vitalitätskontur Erregungsniveau Steuerung der Aufmerksamkeit Tempo Koordination vokaler Rhythmen Koordination der Positionierung im Raum Abstimmung der Aktivität "Vocal rhythm coordination" Beatrice Beebe et al., 2000 Messung: Interaktive Koordination von Vokalisationen und Sprechpausen niedrig mittel "low tracker" vermeidende Bindung hoch "high tracker" sichere Bindung unsicher-ambivalente & desorganisierte Bindung unbezogen wechselnd bezogen und unbezogen hochgradig bezogen inhibiert flexibel rigide Selbstregulation dominant Co- und Selbst -regulation möglich Selbstwahrnehmung erschwert Regulation von Affekt & Erregung (Gergely & Watson 1996, Gergely 2007) Soziale Biofeedback-Theorie des Affekt-Spiegelns Die Mutter "versteht" und "spiegelt" den Gefühlszustand des Kindes. "markierter Affekt" Abbildung des Gefühlszustandes des Kindes Mutter zeigt Affekt* Kind "Gefühl von und Bewusstsein für eigene affektive Verfassung" nicht-bewusste Reaktion gibt kindbezogenes, kontingentes Feedback differenziert und verinnerlicht Bedeutung des Gefühls Soziale Biofeedback-Theorie des Affekt-Spiegelns Die Mutter "versteht“ und "spiegelt" den Gefühlszustand des Kindes. "markierter Affekt" Abbildung des Gefühlszustandes des Kindes Mutter zeigt Affekt* Kind "Gefühl von und Bewusstsein für eigene affektive Verfassung" ist aufmerksam und aufnahmebereit für Zustand des Kindes diagnostiziert dessen Verfassung richtig auf der Basis eigener implizitprozeduraler Erfahrung stellt eigene Befindlichkeit zurück Und was ist mit den Vätern ? VIDEO Effekte gelingender Interaktionen (1) Teilen emotionaler Zustände (Intersubjektivität) & Affektregulation Einübung kommunikativer Signale Affektdifferenzierung Erkennen von Mustern durch Wiederholungen: implizites Beziehungswissen Einübung „disruption & repair“ Erleben von Selbstwirksamkeit, Kohärenz, Kontinuität Ausbildung von Selbstberuhigungsstrategien: Stimmungsstabilität flexible Balance zwischen Bindungs- und Explorationsverhalten Geteilte Aufmerksamkeit & Mentalisierung "Geteilte Aufmerksamkeit" >8M 9 – 11 M sucht die emotionale Antwort anderer auf Objekte oder Situationen – "social referencing" schaut in Augen, nicht auf Hand des Gegenübers beim Austausch von Gegenständen – "nine-months social-cognitive revolution" * 10 – 14 M sucht nach Aufmerksamkeit anderer für entfernte Objekte – "pointing“ 14 – 18 M stellt vor dem Zeigen sicher, dass andere aufmerksam sind – "seed of mentalisation" ** (*Tomasello 1999, ** Franco 2005) VIDEO Andere verstehen: Begriffsklärung Reifung: körperlich emotional kognitiv "Theory "TheoryofofMind“ Mind“ (ToM) (ToM) Empathie Empathie Mentalisierung Mentalisierung "Mind-Reading" "Mind-Reading" PerspektivenPerspektivenübernahme übernahme Beziehungsentwicklung: emotional kognitiv Andere verstehen: Mentalisierung In frühen Interaktionen entwickelte Fähigkeit, wahrzunehmen und darüber nachzudenken, dass fremdes und eigenes Verhalten von mentalen Zuständen (Bedürfnissen, Wünschen, Überzeugungen, Zielen) geleitet wird. (* Fonagy, Gergely, Jurist & Target 2002) Effekte gelingender Interaktionen (2) Teilen von Aufmerksamkeit & Mentalisierung Kommunikation über Drittes Einfühlung in / Verständnis für andere Selbstreflexion Symbolisierung Übersicht Im Wandel: Behandlungsziele, therapeutische Technik, entwicklungspsychologische Grundannahmen Affektregulation, geteilte Aufmerksamkeit & Mentalisierung: Bedeutung früher Eltern-Kind-Interaktionen für die Entwicklung Interaktionsvarianten, "Schemata des Gemeinsamkeitserlebens" & ein Fazit für die psychotherapeutische Praxis " Die Spiegelfunktion der Mutter" Donald Winnicott (1971) "Was erblickt das Kind, das der Mutter ins Gesicht schaut? Die Mutter schaut das Kind an, und wie sie schaut, hängt davon ab, was sie sieht." "Bleibt das Antlitz der Mutter ohne Antwort, so wird das Kind zwar lernen, dass man Spiegel anschauen kann, es wird aber nicht begreifen, dass man in Spiegel hineinschauen kann." Mütterliche Depression: Interaktionsmuster zurückgezogene Mutter – passives Kind intrusive Mutter – vermeidendes Kind (Weinberg & Tronick 1996, Murray 1997, 2011) Mütterliche affektive Gestimmtheit in der Interaktion wird vermittelt über… Körperhaltung und –dynamik Mimik und Blickkontakt Rhythmus und Melodie der Stimme Grad der Abstimmung mit den kindlichen Signalen "Schemata des Gemeinsamkeitserlebens" – 1 Daniel Stern (1995) Das Kind erlebt wiederholte Mikrodepressionen emotionale Nähe gleichbedeutend mit depressivem Affekt "Nähe induziert Stimmungsabfall" autonome Regulation von Affekten, soziale Inhibition "Schemata des Gemeinsamkeitserlebens" – 2 Daniel Stern (1995) Das Kind erlebt sich als Reanimateur der Mutter kindliche Aktivität erweckt Mutter (immer wieder) zum Leben intermittierende Verstärkung fördert Verhalten "Nähe durch Charme und Animation" "Schemata des Gemeinsamkeitserlebens" – 3 Daniel Stern (1995) Das Kind erlebt Intrusionen und senso-motorische Überstimulation Mutter agiert mit ängstlichem oder gereiztem Affekt Kind vermeidet Kontakt, unterdrückt Ärger und Protest "Nähe induziert defensive Abwehr" VIDEO "Schemata des Gemeinsamkeitserlebens" – 4 Daniel Stern (1995) Das Kind erlebt eine nicht-kontingente Affektspiegelung Beziehungsangebot nicht-mentalisierend Kind kann Affekt nicht differenzieren und folglich nicht regulieren; gesteigerte Erregbarkeit "Nähe induziert impulsive Abwehr" "Implizites Beziehungswissen" findet Eingang in die therapeutische Situation verbaler Austausch Wortgebrauch Denkstil Gestik Mimik sensorische Erfahrung Prosodie der Stimme Position im Raum Erwartungen Psychomotorik Motivation Vitalität co-regulatorisches Gedächtnis Arousal primär unbewusst, aktivierbar in Millisekunden, veränderbar! (D. Stern & Boston Change Study Group, 1998-2011) Der Prozess der therapeutischen Veränderung Interaktive Dialoge und das “Something more than interpretation…" Zustand 2 des impliziten Beziehungswissens „offener Raum“ Affektregulation, Reflexion, Neubewertung des Erlebens Now-Moment Übergang Zustand 1 des impliziten Beziehungswissens „moving along“ „moving along“ Moment der affektiven Begegnung Therapeut: „Hallo!“ = non- / verbaler therapeutischer Dialog (D. Stern & Boston Change Study Group, 1998-2011) Vielen Dank für´s Zuhören ! (R. Magritte, The Invention of Life)