Qualitätsempfehlungen für den professionellen Umgang mit sexuell

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Konzept für ein bundesweites Modellprojekt
Qualitätsempfehlungen für den
professionellen Umgang mit
sexuell grenzverletzenden
Kindern und Jugendlichen
Inhaltsverzeichnis
1
1.1
Einleitung
Hintergrund und Auftrag
2
2.1
2.2
2.3
2.4
2.5
Ausgangsvoraussetzungen
Altersgruppe
Definition „sexuell grenzverletzendes Verhalten“
Fehlende Hilfestruktur
Prävention und Intervention
Kooperation
3
3.1
Statistische Erkenntnisse
Polizeiliche Kriminalstatistik /
Tatverdächtige
Polizeiliche Kriminalstatistik /
Tatverdächtigenbelastungszahlen
Dunkelfeldforschung
3.2
3.3
4
4.1
4.2
4.3
5
5.1
5.1.1
5.1.2
5.1.3
5.1.4
5.2
5.3
5.4
5.4.1
5.5
5.5.1
5.6
5.7
5.7.1
5.8
Die Jugendlichen
Merkmale und Hintergründe sexuell
grenzverletzender Jugendlicher
Sexuell grenzverletzende Jugendliche sind wie
andere Jugendliche
Sexuell grenzverletzende Jugendliche sind anders
als andere Jugendliche
Altersentsprechende Konzepte für Kinder und
Jugendliche
Arbeit mit Kindern bis zum 14.Lebensjahr
Kindergarten- und Grundschulalter
Empfehlungen für die Arbeit mit Kindern im
Kindergarten- und Grundschulalter
Kinder vom 11. – 14. Lebensjahr
Empfehlungen für die Arbeit mit Kindern zwischen
11 und 14 Jahren
Arbeit mit Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr
ohne Strafanzeige
Verlaufsskizze für die Arbeit mit Kindern oder
Jugendlichen bei nicht vorliegender Anzeige
Arbeit mit Jugendlichen mit Strafanzeigen
Empfehlungen für Verfahren, bei denen eine
Strafanzeige vorliegt
Arbeit mit Jugendlichen, bei denen der
Tatverdacht von der StA verneint wird
Empfehlungen für Verfahren, bei denen
Strafanzeigen verneint werden
Verlaufsskizze für die Arbeit mit Jugendlichen, bei
denen Tatverdacht besteht bzw. verneint worden
ist
Arbeit mit verurteilten Jugendlichen
Empfehlungen für die Arbeit mit verurteilten
Jugendlichen
Empfehlungen zur Schaffen von Verbindlichkeit
und Motivation
3 9.2
3 9.3
9.3.1
3
3 9.3.2
3
3 9.4
3
3 10
10.1
4
10.2
4
10.3
4
5 10.4
Qualifikation
Qualifikation der MitarbeiterInnen der
Koordinationsstelle
Qualifizierung der MitarbeiterInnen der
Koordinationsstelle und der Projektleitung
Qualifizierung der MitarbeiterInnen in den
beteiligten Projekten
4Empfehlungen zum Thema Qualifizierung
5 11
11.1
5
Notwendige Rahmenbedingungen
Voraussetzungen für eine Bewerbung zur
Teilnahme an dem Modellprojekt
Umsetzungsschritte
5 12
12.1
Informationsphase
Bewerbungsphase
5 12.2
12.3
Projektphase
12.4
Implementierung in anderen Regionen
6
Wissenschaftliche Begleitung
6 13
6
14
Finanzierung
Empfehlungen zu Finanzfragen
7 14.1
7
15
Mitglieder der Steuerungsgruppe
7
Anhang
Datenschutz
7
Falldarstellung
Schaubild
8
8
Impressum
8
9
9
10
11
11
11
6
6.1
6.2
6.3
Umgang mit Strafanzeigen
Arbeiten mit einer Strafanzeige
Nachteile einer Anzeige
Empfehlung zur Erstattung einer Anzeige
11
11
11
12
7
7.1
12
7.3
Entwicklung von Kooperationsstrukturen
Probleme in der Kooperation zwischen Justiz und
Jugendhilfe
Grundlegende Kooperationsdefizite in der Arbeit
mit sexuell grenzverletzenden Jugendlichen
Empfehlungen zum Thema Kooperation
12
12
8
Datenschutz
13
9
9.1
Zentrale Elemente des Modellprojektes
Regionaler Arbeitskreis / Clearingstelle
13
13
7.2
Koordinationsstelle
Hilfekonferenz
Zusammensetzung der Hilfekonferenz ohne
Staatsanwaltschaft
Zusammensetzung der Hilfekonferenz bei
Beteiligung der Staatsanwaltschaft
Projektstruktur
12
13
13
14
15
16
17
17
17
17
17
17
17
18
18
18
18
18
18
18
18
19
20
20
25
27
28
2.3
1
Einleitung
1.1
Hintergrund und Auftrag
Wenn über das Problem der sexuellen Gewalt an Kindern
berichtet wird, stehen in der Regel die Erwachsenen im Zentrum
der fachlichen, politischen und juristischen Auseinandersetzung.
Zunehmend rücken jetzt aber auch Jugendliche und Kinder in den
Focus, wenn von sexuellen Übergriffen auf Kinder und
Jugendliche berichtet wird, eine Entwicklung, die sich seit einigen
Jahren in den polizeilichen Kriminalstatistiken verfolgen lässt und
auf die Fachleute aus der Jugendhilfe und der Kinder- und
Jugendpsychiatrie verweisen, wenn sie aus ihrer Praxis berichten.
Neue wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen diese
Erfahrungen. Es besteht Übereinstimmung darin, dass
Handlungskonzepte entwickelt werden müssen, die sowohl den
Schutz der von Gewalt betroffenen Kinder und Jugendlichen
gewährleisten als auch die übergriffigen Kinder und Jugendlichen
davon abhalten, sexuelle Gewalt auszuüben.
Wird sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen vermutet oder
festgestellt, sind in der Regel sehr unterschiedliche Professionen
beteiligt. Häufig wird dabei vernachlässigt bzw. übersehen, dass
durch eine enge Kooperation und Vernetzung der Hilfesysteme
eine zielgerichtete Hilfe und ein besserer Schutz für die Kinder und
Jugendlichen realisierbar wäre. Leider wird es in diesen Fragen
immer noch versäumt, die Schnittstellen zwischen Jugendhilfe,
Kinder- und Jugendpsychiatrie, Justiz und Ermittlungsbehörden
konzeptionell zu füllen und institutionsübergreifend zu arbeiten.
Im November 2003 wurde im Auftrag des BMFSFJ eine fach- und
institutionsübergreifende Steuerungsgruppe gebildet, um unter
der Moderation der Kinderschutz-Zentren ein Konzept für ein
Modellprojekt zu erarbeiten. Darin sollen Standards entwickelt
werden, die eine Kooperation der am Prozess beteiligten
Professionen gewährleisten. Diese Standards für die Arbeit mit
sexuell grenzverletzenden Kindern und Jugendlichen sollen in
einer dreijährigen Projektphase in mehreren Modellregionen in
Deutschland erprobt werden.
Im Focus der Diskussion der Steuerungsgruppe stehen die
agierenden Kinder und Jugendlichen. Durch eine frühzeitige
Intervention soll verhindert werden, dass sexuell auffällige Kinder
und Jugendliche in einen Kreislauf geraten, der letztendlich zu
einer Manifestierung des sexuell grenzverletzenden Verhaltens bis
hinein in das Erwachsenenalter führen kann. Es geht darum, für
sexuell deviante Kinder und Jugendliche eine Lebensperspektive zu
entwickeln. Dies bedeutet gleichzeitig, die von möglicher oder
tatsächlicher Gewalt betroffenen Kinder und Jugendlichen zu
schützen.
2
Ausgangsvoraussetzungen
2.1
Altersgruppe
Das Modellprojekt wird sich an Kinder und Jugendliche bis zur
Vollendung des 18. Lebensjahrs richten. Dabei wird ausdrücklich
keine untere Altersgrenze festgelegt.
2.2.
Definition „sexuell grenzverletzendes Verhalten“
Der Begriff sexuell grenzverletzenden Verhaltens wird bewusst
weit gefasst und nicht beschränkt auf die Begehung von
Straftaten im Sinne des 13. Abschnitts des StGB. Unter sexuell
grenzverletzendem Verhalten wird in diesem Bericht auch dann
gesprochen, wenn die Motivationslage nicht primär sexuell
bedingt ist. Sexuell grenzverletzendes Verhalten hat einen
interpersonellen Charakter, liegt auch vor, wenn kein
Körperkontakt
(Exhibitionismus,
Internet,
Zeigen
von
pornographischen Filmen, etc.) besteht. Es ist immer
gekennzeichnet von einem Machtgefälle zwischen „Täter“ und
„Opfer“.
Fehlende Hilfestruktur
Sobald Jugendliche durch sexuelle Übergriffe auffallen, entsteht
bei allen Beteiligten ein großer Handlungsdruck, insbesondere im
Hinblick auf eine möglichst zeitnahe therapeutische Behandlung
des Jugendlichen, unabhängig von möglichen jugendrichterlichen
Verfahren. Dem steht gegenüber, dass diese Jugendlichen in dem
bestehenden Hilfesystem oftmals nicht angemessen versorgt
werden können. Es mangelt häufig an geeigneten stationären
Wohnmöglichkeiten.
Die
regionalen
kinderund
jugendpsychiatrischen Abteilungen nehmen diese Jugendlichen in
der Regel nur für kurze Zeit auf. Ambulante Einrichtungen sowie
niedergelassene Kinder und JugendlichentherapeutInnen haben
meist begrenzte Kapazitäten mit entsprechend langen
Wartezeiten. Die stationären Einrichtungen sind bundesweit an
einer Hand abzuzählen. So entsteht mitunter der Eindruck, als
gäbe es für diese Jugendlichen eigentlich keinen rechten Ort, an
dem sie willkommen sind und ihrer Problematik angemessen
behandelt werden können. Vielfach sind sie stattdessen
gezwungen, sich den »Spielregeln« der jeweiligen Institution
anzupassen, häufig um den Preis einer Abspaltung oder
Verharmlosung der sexuellen Übergriffe. Dies wiederum fördert
die
ohnehin
bestehenden
Verleugnungsund
Bagatellisierungsprozesse bei den Jugendlichen und steht einer
konstruktiven
Auseinandersetzung
mit
dem
sexuell
grenzverletzenden Verhalten entgegen.
2.4
Prävention und Intervention
Hat man es bisher eher mit einem reaktiven Tätigwerden zu tun,
wenn man mit sexuell grenzverletzendem Verhalten konfrontiert
wird, soll der entwickelte Arbeitsansatz dazu beitragen, so früh
wie möglich einen Zugang zu der Zielgruppe zu erreichen. Dazu
tragen auch Facheinrichtungen bei, die aufgrund ihres
niedrigschwelligen Arbeitsansatzes den Kindern und Jugendlichen
bzw. deren Eltern einen direkten eigenverantwortlichen Zugang
zur Hilfe ermöglichen.
Bei der Betrachtung des Sachverhaltes stehen nicht die Fragen
nach Therapie- und Behandlungsmöglichkeiten im Vordergrund.
Wichtig sind präventive Aspekte, die im unmittelbaren
Zusammenhang mit verschiedenen Interventionsstrategien
entwickelt werden müssen. Dabei werden sich die handelnden
Personen im Hilfeprozess je nach Alters- bzw. Problemgruppen für
differenzierte Verfahren entscheiden müssen.
2.5
Kooperation
Wie in allen Fällen, in denen wir es mit Gewalt zu tun haben,
muss man auch in dem Bereich von sexuell grenzverletzendem
Verhalten von einem sozialen Dunkelfeld ausgehen. Wichtig für
dieses Projekt ist es, dieses Dunkelfeld durch die Optimierung der
Wege der professionellen Institutionen zu erreichen.
Dies bedarf jedoch einer engen fachlichen Kooperation, die
gekennzeichnet ist durch eine Transparenz der eigenen Arbeit und
dem gegenseitigen Wissen über die Angebotsstruktur der
beteiligten
Institutionen.
Transparenz,
Kontrolle
und
Verbindlichkeit sind wesentliche Einstiegsbedingungen für eine
erfolgreiche Arbeit mit grenzverletzenden Kindern und
Jugendlichen,
sie
gelten
aber
ebenso
für
den
Kooperationsverbund der Institutionen. Kooperation verlangt
bereits in der Planungsphase die Abklärung der realen Grenzen
und Möglichkeiten sowie der Qualifikationsstandards aller
beteiligten Einrichtungen und Institutionen.
3
3
Statistische Erkenntnisse
3.1
Polizeiliche Kriminalstatistik / Tatverdächtige
In der vom Bundeskriminalamt herausgegebenen Polizeilichen
Kriminalstatistik (PKS) werden alle den Strafverfolgungsbehörden
bekannt gewordenen Straftaten (Fälle) und zudem jene Personen
erfasst, die nach den polizeilichen Ermittlungen der Begehung
einer Straftat verdächtigt werden (Tatverdächtige/TV).
•
Bei sexuellem Kindesmissbrauch weisen Jugendliche mit
einem Wert von 70 die höchste TVBZ auf, wobei die Jüngeren
(14 bis unter 16 Jahre) die Älteren (16 bis unter 18 Jahre) mit
78 zu 61 bei weitem übertreffen. Heranwachsende folgen
erst mit 46, Kinder mit 21, womit Letztere aber immer noch
fast auf einer Linie mit den Erwachsenen liegen, deren TVBZ
sich auf 22 beläuft.
•
Zwar sehen die Daten bei sexuellen Gewaltdelikten im Detail
etwas anders aus. Hier stellen nun die Heranwachsenden mit
einem Wert von 69 die am stärksten belastete Altersgruppe.
Da aber die älteren Jugendlichen mit 67 knapp folgen und es
die jüngeren Jugendlichen auf einen Wert von 49 bringen,
während die TVBZ bei Erwachsenen nur 24 beträgt, ist das
Ergebnis letztlich wieder, dass junge Männer zwischen 14
und unter 21 Jahren die »Hochrisikogruppe« stellen. Für
Kinder beläuft sich die TVBZ lediglich auf 7.
•
Die TVBZ beider Delikte ist zwar in allen Altersgruppen über
die Jahre hinweg gestiegen. Während die Zunahme bei
Erwachsenen jedoch moderat blieb, kam es in den jüngeren
Altersgruppen (sieht man von Kindern ab, denen die
Begehung eines sexuellen Gewaltdeliktes vorgeworfen wird)
in den letzten 25 Jahren zumindest zu Verdoppelungen.
•
Der größte Anstieg zeigt sich bei Jugendlichen, denen
sexueller Kindesmissbrauch vorgeworfen wird: Für diese ist
die TVBZ von 27 auf die o. g. 70 gestiegen.
•
Angesichts dieser Ergebnisse ist aber zu bedenken, dass die
PKS das so genannte Dunkelfeld – also die den
Strafverfolgungsbehörden (meist mangels Anzeige) nicht
bekannten Straftaten – nicht berücksichtigen kann.
Danach
•
machen Sexualdelikte weniger als ein Prozent der registrierten
Gesamtkriminalität aus;
•
soll nur wenig mehr als einer von 100 jungen Menschen,
denen die Begehung einer Straftat vorgeworfen wird, ein
Sexualdelikt begangen haben;
•
stellen bei solchen Handlungen die über 21-Jährigen
(»Erwachsene«) mit 80% einen besonders großen Teil der TV.
Unter diesen quantitativen Aspekten könnte man die Beachtung,
die der Sexualkriminalität und nun speziell derjenigen junger
Menschen entgegengebracht wird, für überzogen halten.
Umgekehrt bedeuten die Daten aber auch:
•
Etwa jeder Fünfte, der im Jahr 2003 der Begehung eines
Sexualdeliktes verdächtigt wurde, war zur Tatzeit unter 21
Jahre alt. In absoluten Zahlen heißt dies, dass etwa 7.300
jungen Menschen die Begehung eines Sexualdeliktes
vorgeworfen wurde, darunter über 1.000 Kindern, die –
obwohl nicht strafmündig – in der Statistik erfasst werden,
weil nicht die Polizei, sondern die Justiz über die Schuldfrage
zu entscheiden hat. Im Vordergrund stehen dabei zwei
Delikte, auf die knapp 5 900 der jungen TV entfallen und bei
denen sie sogar jeden vierten von allen TV stellen.
•
2.874 jungen TV wurde im Jahr 2003 der sexuelle Missbrauch
von Kindern (§§ 176, 176a StGB) vorgeworfen. Von diesen
war die Hälfte jugendlich, bei je einem Viertel handelte es sich
um Kinder bzw. Heranwachsende.
•
Der Begehung sexueller Gewaltdelikte (§§ 177, 178 StGB)
wurden nur wenig mehr, nämlich 2.992 junge Menschen,
verdächtigt. Hier ist der Anteil von Kindern geringer, nicht
einmal jeder zehnte TV war unter 14 Jahre alt, während der
Anteil der Heranwachsenden auf etwa 40 % steigt. Somit
stellen Jugendliche erneut die Hälfte der TV.
Für beide Delikte ändern sich die Verhältnisse zwischen jungen
und erwachsenen TV nicht wesentlich, wenn man ausschließlich
auf schwere Fälle (§§ 176a, 177 Abs. 2, 3 und 4, 178 StGB)
abstellt. Dies dürfte häufig auf eine gemeinsame Tatbegehung
zurückzuführen
sein.
Denn
für
den
Unterfall
der
gemeinschaftlichen Begehung eines sexuellen Gewaltdeliktes (§
177 Abs. 2 Nr. 2 StGB) weist die PKS mit 55% mehr als jeden
zweiten TV als unter 21-jährig aus, davon wiederum sechs von
zehn als jugendlich.
Junge Menschen machen demnach einen nicht zu
vernachlässigenden Teil derjenigen aus, die der Begehung einer
Sexualstraftat verdächtigt werden.
3.2
Polizeiliche Kriminalstatistik /
Tatverdächtigenbelastungszahlen
Allerdings erlauben die Daten – da sie keine demographischen
Aspekte berücksichtigen – keine Aussagen über die tatsächliche
Belastung der jeweiligen Altersgruppe.
Dazu dient die Tatverdächtigenbelastungszahl (TVBZ), die die TV
auf 100.000 der jeweiligen Bevölkerungsgruppe bezieht.
Beschränkt man sich auf die beiden genannten Delikte und zudem
auf männliche TV, da der Anteil von Frauen/Mädchen zumindest
im Hellfeld verschwindend gering ist, führt eine Betrachtung der
Altersgruppen für das Jahr 2003 zu folgenden Ergebnissen:
Dies bedeutet zunächst, dass die hohen TVBZ bei jungen
Menschen noch nicht besagen, dass diese tatsächlich häufiger als
ältere die genannten Sexualdelikte begehen. Um nur einen
verzerrenden Aspekt aufzugreifen: Studien zeigen, dass das
Dunkelfeld im Bereich familiären Missbrauchs besonders groß ist.
Zwar werden solche Taten auch von (jungen) Geschwistern
begangen. Überwiegend handelt es sich aber um (Stief-)Väter
oder Lebensgefährten der Mutter des Opfers, so dass erwachsene
TV schon deswegen in der PKS unterrepräsentiert sind.
Aus dem Anwachsen der TVBZ kann man auch nicht schließen,
dass tatsächlich zunehmend mehr Menschen Sexualdelikte
begehen und dies besonders auf junge zutrifft. Allgemein geht ein
Teil des Anstieges schon darauf zurück, dass die
Aufklärungsquoten erheblich gestiegen sind, also zu angezeigten
Fällen auch TV ermittelt werden.
Angesichts
der
zunehmenden
gesellschaftlichen
und
Auseinandersetzung
mit
den
Themen
SexualJugendkriminalität ist aber vor allem ein Umdenken zu vermuten,
das zum einen dazu geführt hat, dass übergriffiges Verhalten
junger
Menschen
nicht
(mehr)
als
»Doktorspiele«,
»Durchgangsphase« oder Folge einer »überschießenden
hormonellen Ausschüttung« hingenommen oder höchstens
informell aufgegriffen wird. Zum anderen wäre es denkbar, dass
einvernehmliche, aber dennoch strafbare Sexualkontakte etwa
zwischen einer 13-Jährigen und einem 16-Jährigen (wieder)
vermehrt Gegenstand von Strafanzeigen wurden.
Dafür, dass gerade bei jungen TV nicht (nur) reale kontinuierliche
Entwicklungen, sondern (auch) gesellschaftliche »Stimmungen«
mit Auswirkungen auf die Kontroll- und Anzeigebereitschaft von
Bedeutung sind, spricht u. a., dass die TVBZ Erwachsener seit
1987 wesentlich geringeren Schwankungen unterworfen war, als
dies für Jüngere galt.
Anzumerken bleibt, dass sich die hohen TVBZ nicht über die Jahre
und Jahrzehnte hinweg von einer niedrigeren zu einer höheren
Altersgruppe verschieben.
Daraus lässt sich ableiten, dass auch die Begehung von
Sexualdelikten im jungen Alter vielfach episodenhaften Charakter
hat oder zumindest auf einen begrenzten Zeitraum beschränkt ist.
4
Denn würde die Mehrheit derjenigen, die etwa in den Achtziger
Jahren als Jugendliche der Begehung eines solchen Deliktes
verdächtigt wurden, in den Neunzigern weiterhin in dieser Art und
Weise polizeilich in Erscheinung treten, müsste sich die TVBZ dann
in den (Jung-)Erwachsenengruppen auf einem anderen Level
bewegen.
4
Die Jugendlichen
4.1
Merkmale
3.3
Beckett (2002) schlägt eine Differenzierung hinsichtlich des
Tatverhaltens der Jugendlichen vor, nämlich »diejenigen, die
Kinder missbrauchen, diejenigen, die gegen Gleichaltrige oder
Ältere sexuell aggressiv werden und diejenigen, die keinen
direkten physischen Kontakt zum Opfer haben, wie z. B.
Exhibitionisten«.
Dunkelfeldforschung
Da der PKS nur Erkenntnisse zum Hellfeld zu entnehmen sind,
sollte sie nach Möglichkeit durch Ergebnisse aus der
Dunkelfeldforschung ergänzt werden. Diese Studien ermitteln, ob
ausgewählte Befragte (in einem bestimmten Zeitraum) Opfer,
Täter oder Zeuge von – meist auf Listen vorgegebenen –
Straftaten wurden. Zur Sexualdelinquenz und zudem derjenigen
junger Menschen liegen allerdings nur wenige Daten vor. Hier ist
man überwiegend auf Schülerbefragungen angewiesen, die sich
häufig lediglich auf den schulischen Raum und am Rande auf
sexuelle Übergriffe beziehen, weswegen meist nur »sexuelle
Belästigungen« erfragt werden. Auch die folgenden Ergebnisse
können somit nicht »die« Sexualdelinquenz junger Menschen
abbilden:
•
•
•
•
Sexuelle Übergriffe belegen in Studien, in denen verschiedene
(Gewalt-) Ereignisse mittels einer Liste erfragt werden, in der
Regel die »letzten Plätze«. Dies gilt für Angaben zu
beobachteten, erlebten und ausgeübten Vorkommnissen,
wobei zwischen diesen insofern beträchtliche Unterschiede
bestehen, als die Informantenquoten doppelt so hoch wie die
der Opfer und diese dann wie diejenigen der Täter sein
können.
Von Opfererfahrungen berichten häufiger Mädchen, von
Tätererfahrungen Jungen. Allerdings ist die umgekehrte
Konstellation zumindest dann, wenn keine körperliche
Gewalt angewandt wird, nicht zu vernachlässigen. Hinzu
kommt eine nicht unerhebliche Zahl von Fällen, in denen
Täter und Opfer männlich waren.
Wird nach verbaler sexueller Belästigung gefragt, sind die
Quoten auch bei Schülern und Schülerinnen im Kindesalter
hoch und reichen im Hinblick auf beobachtete Fälle bis über
40%.
•
Sexuelle Handlungen mit Nötigungsmitteln durch zumindest
Jugendliche an Kindern (dies v. a. außerhalb von Schulen)
werden in den verschiedenen Studien von weniger als 2% der
männlichen Befragten eingeräumt, wobei es sich dann
vermehrt um Heranwachsende handelt.
•
Etliche Täter belassen es nicht bei einmaligen (inner- wie
außerschulischen) sexuellen Übergriffen, sondern werden
immer wieder in dieser Weise auffällig.
•
Tätlichkeiten werden – im Gegensatz zu verbaler Gewalt – an
Schulen mit niedrigem Bildungsniveau häufiger festgestellt.
Zudem zeigt sich in einigen wenigen Studien bei
MigrantInnen und Aussiedlern eine gegenüber Deutschen
höhere Belastung.
•
Sofern Schulleitungen und Lehrer befragt werden, leugnen
diese das Problem sexueller Belästigung (auch in
Grundschulen) nicht grundsätzlich, scheinen aber eher
unterinformiert zu sein. Auch Eltern sind gerade im Hinblick
auf sexuelle Übergriffe in der Schule ahnungslos, so wie
insgesamt der Kreis der »Eingeweihten« bei Sexualdelikten
klein ist.
Hintergründe
sexuell
Sexuell grenzverletzende Jugendliche stellen eine sehr heterogene
Gruppe dar, entsprechend gibt es auch kein Profil des »typischen
jugendlichen Sexualtäters«.
Einigkeit besteht darüber, dass sexuell deviante Jugendliche in der
Regel erhebliche Auffälligkeiten aufweisen, die über eine sexuelle
Symptomatik hinausgehen. Bei den im Folgenden beschriebenen
Merkmalen und Hintergründen handelt es sich nicht um eine
Etikettierung im Sinne einer generalisierenden, dauerhaften
Zuschreibung, sondern um einen Versuch, sich der inneren und
äußeren Situation dieser Jugendlichen anzunähern.
4.2
Sexuell
grenzverletzende
Jugendliche
sind
wie
andere Jugendliche
Sie befinden sich in der Pubertät oder Adoleszenz, einer
Entwicklungsphase, die für sich genommen schon besondere
Herausforderungen birgt und oftmals als schwierige Zeit erlebt
wird. Nach dem Konzept der Entwicklungsaufgaben (Havighurst
1951, Dreher & Dreher 1985) stellen sich in dieser Zeit vor allem
folgende Aufgaben, von deren Bewältigung das Gelingen des
Übergangs in das Erwachsenenalter in hohem Maße abhängt:
•
Übernahme der männlichen/weiblichen Geschlechtsrolle. Wie
kann ich ein Mann/eine Frau werden?
•
Aufbau neuer und reiferer (intimer) Beziehungen zu
Altersgenossen beiderlei Geschlechts. Wie kann ich mich
einer Partnerin/einem Partner nähern?
•
Erreichen emotionaler Unabhängigkeit von den Eltern und
anderen Erwachsenen. Wie kann ich mich von den Eltern
ablösen?
•
Entwicklung einer stabilen Identität. Wie kann ich Klarheit
darüber gewinnen, wer ich bin und was ich will?
•
Entwicklung einer Zukunftsperspektive. Wie kann ich mein
Leben planen und Ziele ansteuern, von denen ich glaube,
dass ich sie erreichen kann?
Tätliche
sexuelle Belästigungen (meist »Begrapschen«
genannt) werden demgegenüber etwa halb so häufig
wahrgenommen, erlebt, verübt. Auch solche Übergriffe sind
schon in Klassen der unteren Jahrgangsstufen nicht
unbekannt, tendenziell aber eher den ab 14-Jährigen
zuzuordnen; für männliche Jugendliche dürfte die Täterquote
etwa 4 bis 8 Prozent betragen.
und
grenzverletzender Jugendlicher
Nicht selten verlaufen die damit verbundenen Selbstfindungs- und
Ablösungsprozesse mit allen Anzeichen einer Krise, begleitet von
heftigen Konflikten mit den Eltern oder anderen Autoritäten. In
dieser Entwicklungsphase sind Grenzüberschreitungen, ein
Austesten von Grenzen in allen möglichen Lebensbereichen,
üblich und auch notwendig. Ohne sie kann keine Konturierung
stattfinden. Vom Aggressiven zum Destruktiven ist es indessen oft
nur ein kleiner Schritt, der nicht selten auch mit Delinquenz
verbunden ist. Nicht zuletzt führt diese Dynamik dazu, dass
Jugendliche bei den Deliktarten überrepräsentiert sind, die
Impulsivität, Aggressivität und Grenzverletzungen beinhalten
(Schmelzle 2002). In der Regel handelt es sich bei den meisten
Jugendlichen allerdings nur um episodenhafte Vorkommnisse, die
im Zuge des Erwachsenwerdens wieder verschwinden (Ostendorf
2002).
4.3
Sexuell grenzverletzende Jugendliche sind anders als
andere Jugendliche
Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Persönlichkeitsmerkmale,
ihrer sozialen Eigenschaften und ihrer Einstellungen zum
Tatverhalten (Beckett 2002).
5
•
•
•
•
•
•
Auf den ersten Blick wirken sexuell deviante Jugendliche
meist unauffällig, freundlich und angepasst. Die destruktive
Seite wird erst bei näherem Kontakt spürbar und verbirgt sich
oft hinter einer sozial unauffälligen Fassade (Günter 2001).
In der Vorgeschichte der Jugendlichen finden sich zahlreiche
eigene Gewalterfahrungen von Vernachlässigung über
körperliche Misshandlungen bis hin zu sexueller Gewalt. Oft
kommen sie aus einer Multi-Problem-Familie und haben
schon früh in ihrem Leben eine Störung in ihrem
Bindungsverhalten erlebt. Die meisten haben einen Verlust
durch Krankheit, Scheidung oder Tod erfahren. Schwere
Partnerschaftskonflikte der Eltern sind nicht ungewöhnlich
(Beckett 2002). Häufig finden wir eine ambivalente, nicht
aufgelöste Bindung an die als dominant oder
vernachlässigend erlebte Mutter. Der Vater wird oft als
abwesend bzw. die Entwicklung der Kinder nicht fördernd
beschrieben. Aus dem Fehlen eines positiven väterlichen
Vorbilds resultiert daher nicht selten eine mangelnde
Identifikation mit einem guten väterlichen Objekt, das als
stabile innere Repräsentanz hätte verankert werden können
(Günter 2001, Romer & Berner 1998).
Sexuell
grenzverletzende
Jugendliche
haben
selten
zufriedenstellende Sozialkontakte und kaum soziale
Beziehungen oder Bindungen zu Gleichaltrigen. Häufig sind
sie emotional einsam und isoliert. Dies geht oft einher mit
schweren Ablösungskonflikten in der Familie (Bullens & van
Wijk 2002, Beckett 2002).
Im Bereich der psychosexuellen Entwicklung haben sie kaum
sexuelle Erfahrungen mit Gleichaltrigen, verbunden mit einem
vergleichbar geringeren Wissen über Sexualität (Beckett
2002). Ihre eher traditionellen Vorstellungen von Sexualität
und Männlichkeit kollidieren nicht selten mit einer großen
Verunsicherung in ihrer Identität als Mann. Entsprechend
haben sie weniger Selbstbewusstsein und weniger soziale
Fähigkeiten in Verabredungssituationen mit Peers.
Die schulische oder berufliche Situation der Jugendlichen ist
häufig unbefriedigend. Oft bewegen sie sich am unteren
Ende des Leistungsspektrums. In der Klassengemeinschaft
verhalten sie sich weitgehend unauffällig und haben
Schwierigkeiten, einen Platz innerhalb der Gruppe zu finden
und zu behaupten (Bullens & van Wijk 2002).
Die wenigsten sexuell grenzverletzenden Jugendlichen haben
ein gutes Bild von sich selber. Ihr Selbstbild ist geprägt von
einem geringen Selbstvertrauen und einem niedrigen
Selbstwertgefühl (Beckett 2002). Häufig beschreiben sie sich
als eine Art »Monster« und erschrecken vor ihren eigenen
Impulsdurchbrüchen.
Die
damit
einhergehenden
ausgeprägten Schamgefühle erschweren es ihnen erheblich,
über ihre Taten zu sprechen.
Minderwertigkeitsgefühlen
erlebnissen verstehen.
•
sowie
von
Demütigungs-
Ebenso können die Übergriffe als Ausdruck einer über Jahre
aufgestauten Wut begriffen werden, verbunden mit
Rachegefühlen
und
unterdrückten
aggressiven
Größenphantasien (Günter 2001).
Diese Zusammenschau macht deutlich, dass wir es bei sexuell
grenzverletzenden Jugendlichen nicht in erster Linie mit einer
sexuellen Problematik zu tun haben, sondern mit Multi-ProblemKonstellationen, für deren Entstehung es »keine monokausalen
und … für alle Betroffenen gültigen Erklärungen geben kann« (Elz
2003). Auch wenn wir in der Regel von einer komplexen
Entstehungsdynamik
ausgehen
müssen,
ist
allen
Erklärungsmodellen jedoch die Annahme gemeinsam, dass die
Auffälligkeiten der Jugendlichen ihre Ursache zumeist in einer
Reihe von schädigenden Einflüssen über ihre bisherige
Lebensspanne hinweg haben.
5
Altersentsprechende
Kinder und Jugendliche
Konzepte
für
Die Betrachtung von sexuell grenzverletzendem Verhalten von
Kindern und Jugendlichen verlangt eine sehr differenzierte
Betrachtung. Nicht zuletzt die Altersspanne vom Kindergarten und
Grundschulkind bis zum jugendlichen Alter, in dem Fragen der
Pubertät und das Hineinwachsen und Erproben von
Eigenverantwortlichkeit und Selbständigkeit eine bedeutende
Rolle spielen, kennzeichnen den Rahmen, der hier zu
berücksichtigen ist.
Konkret bedeutet dies, dass die Motivationslage eines
Kindergartenkindes eine andere ist als die eines 14-jährigen
Jungen bzw. die eines Jugendlichen im Übergang zum
Heranwachsenden. Dementsprechend unterschiedlich ist die Art
der Übergriffe, und für die Hilfe stellen sich in den einzelnen Fällen
ganz
andere
Herausforderungen
hinsichtlich
der
Interventionsformen und der Hilfeangebote.
Aus fachlichen Gründen empfiehlt sich, dementsprechend mit
unterschiedlichen Konzepten, unterteilt nach Altersgruppen,
vorzugehen.
5.1
Arbeit mit Kindern bis zum 14. Lebensjahr
5.1.1 Kindergarten- und Grundschulalter
Bereits in der Kindertagesstätte (Kita) oder in der Grundschule
können Jungen und Mädchen durch ihr sexualisiertes Verhalten
auffallen. Dies führt nicht selten bei den verantwortlichen
ErzieherInnen und LehrerInnen zu Irritationen. Sie reagieren,
indem sie das Verhalten bagatellisieren oder dramatisieren.
•
Bezogen auf die Übergriffe sind sie in der Regel Einzeltäter.
Sie zeigen häufig ein geringes Einfühlungsvermögen für die
betroffenen Kinder.
•
Wie bei erwachsenen Sexualstraftätern finden wir auch bei
Jugendlichen erhebliche kognitive Verzerrungen im Hinblick
auf die gewalttätigen und schädigenden Aspekte ihres
Handelns (Beckett 2002). Die vorhandenen Schuldgefühle
werden oft verleugnet und durch betont machohaftes
Verhalten abgewehrt (Bullens & van Wijk 2002).
Sexuell auffällige Kinder benötigen eine andere Unterstützung
und Beratung, da sie oft in einer Situation leben, in der sie selbst
Übergriffen ausgesetzt sind.
Oft berichten die Jugendlichen von archaischen Ängsten,
häufig in Form von Angst vor überwältigenden
Ohnmachtsgefühlen. Diese Ängste sind in der Regel massiv
abgespalten. Hinter einer zunächst unauffälligen Erscheinung
finden wir entsprechend häufig abgewehrte depressive
Verstimmungen. Unter psychodynamischen Aspekten lässt
sich das sexuell deviante Verhalten nicht selten als ein
untauglicher Bewältigungsversuch von depressiven oder
paranoiden Ängsten, von chronischen Unterlegenheits- und
Wenn sexuelle Grenzverletzungen durch Kinder dieser
Altersgruppe bekannt werden, soll zunächst keine obligatorische
Meldung an die Koordinationsstelle (vgl. 5.3 und 9.2) erfolgen.
Allerdings muss gewährleistet sein, dass in der Einrichtung ein
fachlich qualifizierter Umgang gewährleistet werden kann. In der
Regel bedeutet dies, dass die Kooperation mit einer regionalen
Fachberatungsstelle gesucht wird, die die pädagogische Kraft bei
dieser Arbeit begleitet und unterstützt.
•
Beide Reaktionsformen werden weder den übergriffigen Kindern
noch den betroffenen Kindern gerecht.
Dabei sind sie viel stärker auf verlässliche Beziehung angewiesen.
Für die Projektarbeit bedeutet dies: je jünger die übergriffigen
Kinder sind, desto stärker muss die Einbindung der Eltern sein.
6
Häufig ist den MitarbeiterInnen in pädagogischen Einrichtungen
nicht bewusst, dass sie aktiv handeln müssen, wenn sie den
Eindruck gewonnen haben, dass die Entwicklung eines Kindes
gestört sein kann, weil es z. B. ein stark sexualisiertes Verhalten
zeigt. Ist dies der Fall, muss die fachliche Leitung (LeiterIn der
Kita/Schulleitung) der Einrichtung über die Eindrücke informiert
werden, die dann weitere Schritte in die Wege leiten kann (z. B.
Kontakt zu einer Fachberatungsstelle aufnehmen).
5.1.2 Empfehlungen für die Arbeit mit Kindern im Kindergartenund Grundschulalter
Für diese Altersgruppe empfiehlt die Steuerungsgruppe, den an
den Projekten beteiligten Kitas/Schulen jeweils regionale
Fachberatungsstellen
zuzuordnen,
um
in
gemeinsamer
Kooperation den Kindern und ihren Eltern Hilfestellungen zu
geben. Im Falle des Scheiterns oder der Ablehnung des
Hilfeangebotes von Seiten der Eltern, erfolgt auch bei dieser
Altersgruppe eine Mitteilung an die Koordinierungsstelle.
aber ein begründeter Verdacht bzw. ein entsprechender Hinweis
zum Beispiel aus der Schule oder aus Einrichtungen der
Jugendhilfe, oder wurde ein Ermittlungsverfahren eingestellt,
stehen zunächst die gleichen Instrumentarien zur Verfügung, wie
sie oben bei den jüngeren Kindern beschrieben worden sind.
Wichtig ist jedoch, dass hier zu keinem Zeitpunkt der
strafrechtliche Aspekt aus den Augen verloren wird.
Dabei gilt der Grundsatz, dass weder Jugendamt noch ein anderes
Amt verpflichtet ist, eine Anzeige zu erstatten. Auch das
Jugendamt hat aber im Rahmen der Datenschutzbestimmungen
eine Güterabwägung dahingehend vorzunehmen, welche
Gefährdung für Rechtsgüter gegeben ist, da das Jugendamt nicht
nur gegenüber dem sexuell devianten Jugendlichen sondern auch
gegenüber den potenziellen Opfern verantwortlich ist.
5.1.3 Kinder vom 11. – 14. Lebensjahr
Im Grundsatz gilt für diese Altersgruppe die oben beschriebene
Herangehensweise.
Allerdings muss hier berücksichtigt werden, dass bei dieser
Altersgruppe häufiger der Polizei der Verdacht eines sexuellen
Missbrauchs durch kindliche Täter gemeldet wird. Diese wiederum
ist entsprechend der PDV 382 (Polizeidienstverordnung) gehalten,
die Information unverzüglich an das Jugendamt weiterzuleiten, da
Maßnahmen der Jugendhilfe erforderlich erscheinen.
Der Vorgang wird, wenn auch ohne weitere Ermittlungen durch
die Polizei, an die StA weitergeleitet, die das Verfahren wegen
Strafunmündigkeit einstellt und die Informationen mit der Bitte
um weitere Veranlassung an das zuständige Jugendamt mitteilt.
In diesen Fällen wird die Hilfekonferenz durch die
Koordinationsstelle einberufen und unter Beteiligung der am
Hilfeprozess beteiligten Einrichtungen und Personen durchgeführt.
Unverzichtbar ist hier die aktive Mitarbeit der Eltern bzw. der
Bezugspersonen des Kindes, so z. B. der ErzieherInnen bei
stationärer Unterbringung des Kindes. Erfolgt diese Mitarbeit
nicht, wird über die Koordinationsstelle das Familiengericht
eingeschaltet, um durch eine Anweisung die Eltern und
Bezugspersonen zur Mitarbeit zu verpflichten.
In einzelnen Fällen ist es auch denkbar, dass der oder die
FamilienrichterIn direkt ein Gespräch mit dem/der Jugendlichen
bzw. dem Kind führt und die Konsequenzen aufzeigt, die
erfolgen, wenn der Anweisung nicht Folge geleistet wird.
5.1.4 Empfehlungen für die Arbeit mit Kindern zwischen 11 und
14 Jahren
Der Ablauf des Verfahrens für beide Altersgruppen sollte wie folgt
aussehen:
•
Rechtzeitige Information des Jugendamtes
•
Einberufung der HK durch das Jugendamt
„Koordinationsstelle“, Vorgehen nach Leitlinie
(Standardisierung der Verfahrensabläufe)
•
Einbeziehung des Familiengerichts
•
Einschaltung von Fachleuten zur Abklärung/Diagnostik
5.2
Arbeit mit Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr ohne
Strafanzeige
Die rechtliche Situation ändert sich bei den Jugendlichen ab dem
14. Lebensjahr. Liegt in diesem Fall keine Strafanzeige vor, besteht
7
5.3
Verlaufsskizze für die Arbeit mit Kindern oder bei
nicht vorliegender Strafanzeige
Aus der Verlaufsgrafik kann entnommen werden, welche
Herangehensweise bei einem Verdacht oder Hinweis auf sexuell
auffälliges bzw. übergriffiges Verhalten gewählt werden soll,
wenn die Kinder noch nicht strafmündig sind bzw. keine
Strafanzeige vorliegt.
5.4
Arbeit mit Jugendlichen mit Strafanzeigen
Liegt gegen einen Jugendlichen eine Strafanzeige vor, führt dies
regelmäßig zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens.
Ist ein Strafverfahren anhängig, ist das Jugendamt in Gestalt der
Jugendgerichtshilfe (JGH) gem. § 38 JGG im gesamten Verfahren
einzubeziehen.
Hier besteht eine Auskunfts- und Informationspflicht des
Jugendamtes gegenüber der StA. Diese Pflicht besteht auch
gegenüber der Polizei. Diese hätte nämlich die Möglichkeit, von
den entsprechenden Informationen Kenntnis zu erlangen, wenn
ihr die Akte zu weiteren Ermittlungen übersandt wird und sich
darin bereits der JGH-Bericht bzw. die Anklage mit dem
wesentlichen Ermittlungsergebnis befindet.
Während dieses Verfahrens kann eine Hilfekonferenz stattfinden.
Sie dient u. a. zur
Information aller Beteiligten über die Tat, den Beschuldigten, das
Opfer und mögliche frühere Sexualdelikte.
Wichtig
ist
an
dieser
Stelle
die
Einbindung
von
Fachberatungsstellen,
die
aus
beraterischer
und/oder
therapeutischer Sicht eine Einschätzung hinsichtlich der
Gefährdungslage geben können. Außerdem kann so vermieden
werden, dass aufgrund von Unkenntnis sexuelle Übergriffe
bagatellisiert werden.
Die Beratung der Hilfekonferenz zu diesem Zeitpunkt verfolgt das
Ziel, ein verbindliches Konzept für den übergriffigen Jugendlichen
zu erarbeiten und Vereinbarungen zu treffen, wie im Falle des
Abbruchs der Maßnahmen durch den Jugendlichen zu handeln ist.
Bestreitet der Jugendliche die Beschuldigungen, muss der weitere
Verlauf des Ermittlungsverfahrens abgewartet werden. Eine
Klärung der Vorwürfe muss in diesen Fällen den
Strafverfolgungsbehörden überlassen bleiben. Maßnahmen der
Jugendhilfe sind jedoch weiterhin möglich.
5.4.1 Empfehlungen für Verfahren, bei denen eine Strafanzeige
vorliegt
•
Einschaltung der Koordinationsstelle des Jugendamtes durch
Polizei oder Staatsanwaltschaft (StA) oder andere
Einrichtungen
•
Beteiligung
von
StA,
Fachberatungsstelle,
Erziehungsberechtigten, Jugendlichem, Jugendgerichtshilfe,
Einrichtung, evtl. Vertrauensperson des Opfers
8
•
Vereinbarung und schriftliche Fixierung von Zielvorgaben –
alternativ
(bei
bestreitenden
Jugendlichen)
Schutzmaßnahmen für potenzielle Opfer, z. B. Haftbefehl;
Unterbringung in Kinder- und Jugendpsychiatrie
•
Weitergabe dieser Informationen durch
Verteidiger, Opfervertretung, Jugendgericht.
die
StA
an
Teilnehmer der HK sind in diesem Fall das Jugendamt und die StA,
die jeweils im Einzelfall beteiligten Institutionen (z. B. Schule,
Heim, Kita, Kinderpsychiatrie) sowie Institutionen, die konkrete
Unterstützungsangebote erbringen sollen (Beratungsstelle),
eventuell Opfer bzw. Opfervertretung.
5.5
Arbeit mit Jugendlichen, bei denen der Tatverdacht
von der StA verneint wird
Verneint die Staatsanwaltschaft den hinreichenden Tatverdacht –
aus welchen Gründen auch immer –, so wird das Verfahren
eingestellt.
5.5.1 Empfehlungen für Verfahren, bei denen Strafanzeigen
verneint werden
In diesen Fällen sollten die Koordinationsstelle und ggf. das
Familiengericht informiert werden. In diesem Fall ist es Aufgabe
der Koordinationsstelle, erneut eine Hilfekonferenz einzuberufen.
Das Verfahren entspricht dann der Herangehensweise wie sie
unter Punkt 6.2 beschrieben wird.
9
5.6
Verlaufsskizze für die Arbeit mit Jugendlichen, bei
denen Tatverdacht besteht bzw. verneint worden ist
10
5.7
Arbeit mit verurteilten Jugendlichen
Liegt ein hinreichender Tatverdacht vor, wird das Strafverfahren in
der
Regel
mit
einer
Anklageerhebung
und
einer
Hauptverhandlung abschließen.
Es geht dabei um die Nachdrücklichkeit, mit dem/der Jugendlichen
im Rahmen einer Gerichtsverhandlung die Schwere der Übergriffe
deutlich gemacht und klare Erwartungen für die Zukunft
festgelegt werden.
In Verfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende, die nach
dem
Jugendstrafrecht
beurteilt
werden,
steht
der
Erziehungsgedanke an erster Stelle.
Es gibt daher die Möglichkeit, im Rahmen von Weisungen und
Auflagen Beratungs-, Therapie- und Trainingsmaßnahmen
anzuordnen (§§ 45,47 JGG oder Urteil).
Je nach Schwere der Übergriffe kommen aber auch Jugendarrest
und schließlich, wenn schädliche Neigungen festgestellt werden,
die Verhängung von Jugendstrafe mit oder ohne Bewährung in
Betracht.
In einigen Fällen kann die Alternative lauten: Teilnahme an einer
Therapie oder Gefängnis.
Auch in diesen Fällen ist eine enge Kooperation zwischen JGH,
Fachberatungsstelle und Gericht notwendig, um die richtige
Weisung/Auflage zu finden.
Die Dauer der Bewährung ist auf die voraussichtliche Dauer der
Therapie abzustimmen. Dazu sollte der oder die TherapeutIn oder
Sachverständige/r zur Hauptverhandlung hinzugezogen werden.
Nach der Verurteilung ist in die Hilfekonferenz die
Bewährungshilfe einzubeziehen, damit die Einhaltung von
Therapieweisungen
gewährleistet
werden
kann.
Die
TherapeutInnen müssen ferner Auszüge aus den Akten erhalten,
insbesondere Ablichtungen der Vernehmungen der Opfer und des
Urteils, da sie andernfalls die Angaben des Verurteilten nicht auf
deren Wahrheitsgehalt überprüfen können.
5.7.1 Empfehlungen für die Arbeit mit verurteilten Jugendlichen
Das Verfahren sieht hier wie folgt aus:
Beschluss/Urteil mit einer (Bewährungs-)Auflage/Weisung liegt vor
Koordinationsstelle,
Fachberatungsstelle
und
ggf.
Bewährungshilfe treffen sich regelmäßig zu Hilfekonferenzen, um
die Einhaltung der Weisung/Auflage zu überprüfen
Es werden Verabredungen getroffen, wie im Falle des Abbruchs
der Maßnahme zu verfahren ist
Unter Umständen erfolgt eine Meldung an die StA (Antrag auf
Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung; Fortgang des
Verfahrens).
Die folgende Grafik zeigt, wie bei vorliegender Strafanzeige
verfahren werden soll.
5.8
Empfehlungen zur Schaffen von Verbindlichkeit und
Motivation
Die Erfahrungen zeigen, dass sexuell grenzverletzende Kinder und
Jugendliche ohne einen verbindlichen Rahmen nur schwer für eine
Behandlung zu gewinnen sind. Es muss jeweils im Einzelfall
geprüft werden, welche Maßnahmen ergriffen werden sollen,
damit sich im Verlauf der Behandlung eine innere Motivation
einstellen kann.
Die Schaffung eines verbindlichen Rahmens ist zunächst Aufgabe
der Eltern bzw. Erziehungsberechtigten. Oftmals reicht das
allerdings nicht aus. Dann ist es Aufgabe der Jugendhilfe und der
Justiz, hierfür zu sorgen.
Bei Jugendlichen unter 14 Jahren fällt dies in die Zuständigkeit des
Familiengerichts, entweder im Rahmen einer richterlichen
Ermahnung oder des (angekündigten) Entzugs der elterlichen
Sorge.
Bei Jugendlichen über 14 Jahren, bei denen eine Strafanzeige
gestellt wurde, kann die Verbindlichkeit durch das Jugendgericht
im Rahmen einer Weisung oder Bewährungsauflage hergestellt
werden.
Eine
der
Aufgaben
der
Koordinationsstelle
(Jugendgerichtshilfe/Jugendbewährungshilfe)
ist
es,
die
Umsetzung der Weisung zu begleiten und zu überprüfen.
6
Umgang mit Strafanzeigen
Ausführlich hat die Steuerungsgruppe das Thema Strafanzeigen
erörtert. Auf Grund der multiprofessionellen Zusammensetzung
der Gruppe wurde diese Fragestellung kontrovers diskutiert. Die
hier aufgeführten Positionen stellen einen Konsens dar und sind
aus Sicht der Mitglieder Rahmenbedingungen für die Arbeit der
künftigen Modellprojekte.
6.1
Arbeiten mit einer Strafanzeige
Jugendhilfeeinrichtungen stellen keine Strafanzeigen, da dies den
Vertrauensschutz der Einrichtung gefährdet. Dennoch gehört es
zu der Aufgabe der Hilfekonferenz, fachlich zu prüfen, ob im
Einzelfall eine Anzeige sinnvoll, notwendig oder gar zwingend ist.
Sollte die Hilfekonferenz eine entsprechende Empfehlung
aussprechen, ist es Aufgabe der Koordinationsstelle, in Absprache
mit dem/der zuständigen und verantwortlichen SachbearbeiterIn
die notwendigen Schritte einzuleiten. Die letzte Entscheidung trifft
allerdings der/die SachbearbeiterIn, so denn nicht von einer
anderen Seite Anzeige erstattet wird.
Ziel einer Anzeige ist es u. a., unmotivierte Jugendliche in ein
therapeutisches System zu integrieren.
Sobald eine Anzeige vorliegt, stehen juristisch fundierte
Reaktionsformen
zur
Verfügung,
die
ohne
Anzeige
ausgeschlossen sind. Zu nennen seien hier Kontrollmöglichkeiten
in
Form
von
Auflagen,
Begutachtungen,
forensische
Unterbringung sowie Haft.
Nicht zu vernachlässigen ist die Aufteilung der Verantwortung für
die Klienten auf mehrere Personen und Institutionen. Zu nennen
sind
hier:
Polizei,
Staatsanwaltschaft,
Gutachter,
Bewährungshelfer, (bewährungsaufsichtsführender) Richter, die
alle an Entscheidungsprozessen beteiligt sind.
6.2
Nachteile einer Anzeige
Allerdings bringen Anzeigen auch erhebliche Nachteile mit sich.
Anzeigen bei innerfamiliärem Missbrauch von Eltern führen fast
immer in einen starken Loyalitätskonflikt zwischen Täter und
Opfer, den diese nicht aushalten können. Außerdem besteht die
Gefahr, dass dieser Konflikt zu einer Blockade der Mitarbeit
insgesamt führen kann. Auf jeden Fall müssen alle Beteiligten über
die Bedeutung und die möglichen Auswirkungen eines
Strafverfahrens informiert werden.
Nachteile können auch dadurch entstehen, dass durch eine
Anzeige die Offenheit des übergriffigen Jugendlichen durch Angst
vor Strafverfolgung beeinträchtigt werden kann.
Allerdings weisen Praxiserfahrungen darauf hin, dass die
Jugendlichen durchaus in der Lage sind, die Vorteile von Offenheit
sowohl gegenüber der Justiz als auch gegenüber Therapeut/Innen
für sich als positiv einzuschätzen. Eine Kontrolle durch
Therapeut/Innen wird dann nicht als einschränkend, sondern als
unterstützend in dem Sinne erlebt, als sie dem Jungen helfen
kann, erneute Übergriffe zu vermeiden.
11
6.3
Empfehlungen zur Erstattung einer Anzeige
Eine Anzeige soll aus Sicht der Steuerungsgruppe bei folgenden
Gefährdungsrisiken erstattet werden:
•
bei hohem Wiederholungsrisiko,
•
bei geringer Kooperationsbereitschaft (mit therapeutischen
oder diagnostischen Systemen),
•
hohe Anzahl und gewalttätiger Charakter der Übergriffe;
•
Länge des Zeitraumes, innerhalb dessen die Übergriffe
ausgeführt wurden;
•
wenn die Übergriffe auf etwas anderes verweisen als auf
Ziele, die im Bereich der Befriedigung sexueller
Bedürfnisbefriedigung liegen (z. B. zugrunde liegende
Störung) oder Hinweise auf z. B. ritualisierte Handlungen;
•
Handlungen, die auf pädosexuelle Fixierungen hinweisen (hier
ist lebenslange Kontrolle und Verzicht durch den Betroffenen
selber oder durch Außeninstanzen notwendig);
•
Handlungen, deren Ablauf Einschränkungen der Steuerungsund Einsichtsfähigkeit erkennen lassen (nur so § 63 möglich).
7
Entwicklung von Kooperationsstrukturen
Ziel des angestrebten Modellprojekts ist die Entwicklung von
neuen und frühzeitigen Interventionsmöglichkeiten unter
Einbeziehung der verschiedenen beteiligten Hilfesysteme
einschließlich der Ermittlungsbehörden und der Justiz.
Immer noch ist die Qualität der institutsübergreifenden
Kooperation in den Bereichen Jugendhilfe, Psychiatrie und Justiz
schwach entwickelt, so sie denn überhaupt besteht. Dies gilt
sowohl für die professionellen MitarbeiterInnen, erst recht auch
für die jeweiligen Institutionen. Zum Teil bestehen immer noch
große Vorbehalte verbunden mit fehlendem Wissen über das
professionelle Angebot der übrigen Institutionen.
Mit der vorliegenden Konzeption soll eine verbindliche
Kooperation zwischen den Beteiligten angestrebt werden.
7.1
und Jugendhilfe, aber auch von der KinderJugendpsychiatrie, kritisiert werden. Dies sind u. a.:
•
Die Dauer der Strafverfahren ist zu lang. Dies gilt
insbesondere bei Einschaltung von Sachverständigen
(Begutachtung zur Frage Reife § 3 JGG, Schuldfähigkeit,
Prognose).
•
Es gibt zu wenig GutachterInnen.
•
Fehlende Kenntnis von ambulanten und stationären
Behandlungsangeboten sowie keine Kenntnis über die
Qualität der Arbeit in den Einrichtungen.
•
Es besteht keine Spezialisierung bei Gerichten,
Jugendgerichten
(Stichwort:
Fortbildung)
und
Jugendgerichtshilfe, im Gegensatz zu Polizei
Staatsanwaltschaft.
7.2
Die möglichen und zurzeit an vielen Orten noch bestehenden
Defizite in der Kooperation sollen an dieser Stelle nicht erörtert,
sondern lediglich benannt werden. Notwendig ist es, in der
Planungsphase von regionalen Projekten gemeinsam zu
versuchen, diese Defizite zu beheben.
Die Kommunikation zwischen Polizei, StA einerseits und
Jugendamt und Jugendhilfeeinrichtung andererseits ist in der
Regel schlecht entwickelt.
•
In allen Bereichen bestehen unzureichende Kenntnisse über
datenschutzrechtliche Bestimmungen.
•
•
Besonders die Ermittlungsbehörden weisen immer wieder aus
ihrer Sicht auf unzureichende Informationen über
vorangegangene
Auffälligkeiten
von
Kindern
und
Jugendlichen von Seiten des Jugendamtes bzw. der
Jugendhilfe hin.
Die Rolle der Gerichte und die mit dem Verfahren im
Zusammenhang stehenden Rahmenbedingungen sind für die
Jugendhilfe selten klar oder nachvollziehbar.
Grundlegende Kooperationsdefizite in der Arbeit mit
Bei genauerer Fallbetrachtung aus der Praxis lassen sich allerdings
einige weitreichendere Kooperationsdefizite feststellen, die über
die Defizite in Punkt 8.1 hinausgehen. In weiten Teil gibt es in der
Bundesrepublik in diesem Arbeitsfeld so gut wie keine
funktionierenden Kooperationsstrukturen.
Betrachtet man verschiedene Fallbeispiele unter diesem
Gesichtspunkt, so muss kritisch festgestellt werden, dass wir
generell eine strukturelle Schwäche im Umgang mit sexuell
grenzverletzenden Jugendlichen vorfinden.
Folgende Defizite lassen sich eindeutig bestimmen:
•
Die eingeleiteten Hilfemaßnahmen werden häufig nicht der
Komplexität der Fälle gerecht.
•
Eine fachliche Kooperation in diesen Fällen entsteht häufig
zufällig und ist nicht strukturell begründet.
•
Wenn Kooperationsmöglichkeiten bestehen werden sie nur
unzureichend genutzt.
•
Fast überall in Deutschland fehlt es an qualifizierten
Wohngruppen
für
Jungen,
die
durch
sexuell
grenzverletzendes Verhalten auffallen.
Die meisten
Wohngruppen lehnen die Aufnahme ab, weil sie auch
Mädchen
mit
sexuellen
Gewalterfahrungen
als
Bewohnerinnen haben.
•
Eine qualifizierte Diagnostik findet in der Regel nicht statt.
•
Die stationären Kinder- und Jugendpsychiatrien können ihrem
Versorgungsauftrag nicht nachkommen.
•
Eine
Kooperation
zwischen
ambulanten
BehandlerInnen/TherapeutInnen und der Kinder- und
Jugendpsychiatrie findet oft nicht statt (Therapieverlauf,
Übergabe etc.).
•
Strafverfolgung und Justiz werden in die Kooperation häufig
nicht miteinbezogen.
In der Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft und Justiz mit
anderen Professionen zeigen sich in folgenden Bereichen Defizite:
•
hier
bei
und
sexuell grenzverletzenden Jugendlichen
Probleme in der Kooperation zwischen Justiz und
Jugendhilfe
und
7.3
Empfehlungen zum Thema Kooperation
•
Fallunabhängige Kooperationsstrukturen müssen entwickelt
werden, die ein zielgerichtetes Handeln im Einzelfall
ermöglichen und auf die sich alle Beteiligten beziehen können
(und sollen.)
•
Es wird eine vertragliche Übereinkunft zur fallbezogenen
Kooperation aller Beteiligten abgeschlossen. Die Fallführung
und das Case-Management liegen bei der Koordinationsstelle
und dem ASD.
Ferner zeigen sich Defizite in der Arbeit von Staatsanwaltschaft
und Justiz mit sexuell devianten Jugendlichen, die von der Kinder12
•
Es muss gewährleistet sein, dass eine frühzeitige Diagnostik
durchgeführt wird und die dafür verantwortliche Einrichtung
in die Hilfeplanung eingebunden wird.
9
Zentrale Elemente des Modellprojektes
9.1
Regionaler Arbeitskreis / Clearingstelle
•
Die Kooperationsabsprachen müssen fließende Übergänge
zwischen ambulanter und stationärer Behandlung absichern.
•
Für sexuell grenzverletzende Jugendliche werden qualifizierte
stationäre Einrichtungen der Jugendhilfe benötigt, deren
fachliche Begleitung durch eine qualifizierte Supervision
erfolgen muss.
In jeder Projektregion wird ein regionaler/kommunaler Arbeitskreis
einberufen, der sich aus VertreterInnen der Facheinrichtungen, des
Jugendamtes und den Ermittlungsbehörden zusammensetzt.
Wünschenswert ist die Beteiligung eines Familienrichters bzw.
einer Familienrichterin.
•
•
8
Die Einrichtungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie müssen
entsprechend
ausgestattet
sein,
damit
sexuell
grenzverletzende
Jugendliche
auch
längerfristig
aufgenommen und behandelt werden können.
Es muss ein ambulantes Netzwerk von Fachleuten aufgebaut
werden, die in Kooperation mit den beteiligten Institutionen
sexuell grenzverletzende Jugendliche beraten und therapieren
können.
Datenschutz
Nicht nur im Bereich sexuell grenzverletzender Minderjähriger,
sondern allgemein im Bereich der sexuellen oder sonstigen
Misshandlung von Kindern und Jugendlichen können bei der
Kooperation der beteiligten Institutionen/Personen Probleme
auftreten. Ursächlich dafür sind u. a. die divergierenden Aufgaben
der Beteiligten (Hilfeleistung und Gefahrenabwehr contra
Strafverfolgung und Gefahrenabwehr), aber auch Unsicherheiten
hinsichtlich der einzuhaltenden Datenschutzregelungen.
Kenntnisse über die Aufgaben und Ziele der anderen
Kooperationspartner sowie über die datenschutzrechtlichen
Befugnisse und Pflichten sind daher wichtige Voraussetzungen für
eine effektive Kooperation.
An der Schnittstelle Jugendamt – Strafverfolgungsbehörden
resultieren die Kooperationsschwierigkeiten insbesondere aus
Unsicherheiten oder Streitigkeiten über die Frage, ob und
inwieweit das Jugendamt bei sexuellen oder sonstigen
Misshandlungen berechtigt oder sogar verpflichtet ist, diese den
Strafverfolgungsbehörden zu melden.
Im Zusammenhang damit stellt sich regelmäßig auch die Frage
nach einer Strafbarkeit von Mitarbeitern des Jugendamtes bei
unterlassener Meldung. Festzuhalten ist diesbezüglich, dass
•
für Mitarbeiter des Jugendamtes grundsätzlich kein Recht und
keine Pflicht zur Anzeigenerstattung besteht, sondern das
Sozialgeheimnis hinsichtlich der anvertrauten Informationen
zu wahren ist.
•
in Fällen einer akuten und erheblichen Gefahr für das
Kindeswohl das Jugendamt aber das Recht hat, statt der oder
neben den im SGB VIII normierten Jugendhilfemaßnahmen
eine Strafanzeige zu erstatten.
•
eine Anzeigepflicht
besteht, wenn
keine andere
Jugendhilfemaßnahme
ebenso
geeignet
ist,
die
Kindeswohlgefährdung abzuwenden wie eine Strafanzeige.
•
bei bestehender Anzeigepflicht eine unterlassene Anzeige
auch strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen kann.
•
Datenschutz den Kindesschutz nicht verhindert.
Eingehend erörtert werden diese Fragestellungen im beigefügten
Gutachten zur datenschutzrechtlichen Problematik (Anhang).
Dieser Arbeitskreis, sollte gemäß § 78 KJHG einberufen werden
(das führt zu einer höheren Verbindlichkeit bei den jeweilig
beteiligten Trägern und Institutionen).
Der Arbeitskreis fungiert zunächst als Beirat für das Projekt. Er
koordiniert die konzeptionelle Entwicklung für die Projektregion;
überprüft die jeweiligen Arbeitsschritte und sorgt für den
fachlichen Austausch mit den übrigen Projektstandorten.
Außerdem fällt ihm die Aufgabe einer regionalen, anonymen
Clearingstelle zu. Der Arbeitskreis als Clearingstelle hat den
Auftrag, eingegangene Hinweise und Verdachtsmomente
multiprofessionell zu beurteilen und das notwendige fachliche
Vorgehen aufeinander abzustimmen. An ihn können sich
Institutionen, Einrichtungen der Jugendhilfe, Schulen und andere
wenden, wenn die Vermutung, ein Jugendlicher/eine Jugendliche
habe sich sexuell übergriffig erhalten, entstanden ist. Dieser Fall
wird in dem Arbeitskreis zunächst anonym erörtert und dann
entschieden, wie und in welcher Form die weiteren Schritte
eingeleitet werden. Der Arbeitskreis leitet diese Entscheidung
dann weiter an die Koordinationsstelle.
Die Leitung dieses Arbeitskreises wird von einem Vertreter der
freigemeinnützigen
Jugendhilfe,
in
der
Regel
einer
Fachberatungsstelle übernommen. Es empfiehlt sich hier die
Trennung
der
Verantwortlichkeit
zwischen
öffentlicher
Jugendhilfe/Koordinationsstelle beim Jugendamt und der
freigemeinnützigen Jugendhilfe, da so die Transparenz für alle
beteiligten Institutionen und Personen in dem Verfahren optimiert
werden kann.
9.2
Koordinationsstelle
Der Koordinationsstelle übernimmt die zentralen Aufgaben für die
Bereiche Organisation und Verwaltung in dem Projekt.
Angebunden an das entsprechende Jugendamt ist sie
verantwortlich für die Einberufung der Hilfekonferenz und für die
Umsetzung der von der Hilfekonferenz bzw. von den
Fallverantwortlichen vorgeschlagenen Maßnahmen.
Ferner umfasst ihr Aufgabengebiet alle Fragen, die in einem
Zusammenhang mit den sexuellen Übergriffen durch Kinder und
Jugendliche stehen. Ihre Zuständigkeit umfasst alle Altersgruppen.
Die Koordinationsstelle übernimmt bei Jugendlichen, die sich
wegen des entsprechenden Delikts in U-Haft befinden, auch die
Aufgaben der Jugendgerichtshilfe und der Jugendhilfe.
Nicht zuständig ist die Koordinationsstelle für die individuelle
Fallarbeit. Allerdings koordiniert und berät sie den/die
fallverantwortlichen MitarbeiterIn, bei dem/der jedoch die
Fallzuständigkeit/Fallentscheidungsbefugnis verbleibt und der/die
letztlich auch die Entscheidung zu treffen hat, ob die Empfehlung
der Hilfekonferenz für eine Anzeige umgesetzt wird (s.u.).
9.3
Hilfekonferenz
Die
Hilfekonferenz
setzt
sich
zusammen
aus
allen
Facheinrichtungen, Institutionen und Personen, die in den Fall
eingebunden sind. Dabei hängt die Zusammensetzung dieser
Konferenz von dem jeweiligen Fall und von dem Alter des oder
der Jugendlichen ab. Es wird jeweils festgelegt, welche Personen
bzw. Institutionen geborene Mitglieder sind und welche
Mitglieder hinzukommen.
Die Hilfekonferenz berät über alle möglichen fachlichen Schritte
und gibt Empfehlungen auch hinsichtlich der Erörterung der
13
Kriterien für eine mögliche Strafanzeige. Sie überprüft den Verlauf
der empfohlenen Maßnahmen und kontrolliert die Umsetzung
aller angeordneten Schritte.
9.3.1 Zusammensetzung der Hilfekonferenz ohne
Staatsanwaltschaft
14
9.3.2 Zusammensetzung der Hilfekonferenz bei Beteiligung der
Staatsanwaltschaft
Die Arbeit der Hilfekonferenz stellt für den/die jeweiligen
Mitarbeiter/in eine Entlastung dar. Diesem oder dieser obliegen
zwar die Entscheidungen, die er oder sie auch strafrechtlich zu
verantworten hat (Garantenstellung), aber die Beratung im
Expertengremium gewährt auch einen Schutz vor strafrechtlichen
Ahndungen des/der einzelnen Mitarbeiter/in, da die persönliche
Entscheidung auf der Basis eines breiten fachlichen Diskurses
getroffen wurde.
15
9.4
Projektstruktur
Die Struktur des Modellprojekts lässt sich wie folgt grafisch
darstellen.
16
10
Qualifikation
Die Komplexität des Arbeitsfeldes verlangt von den
MitarbeiterInnen der beteiligten Institutionen und Träger
entsprechende Qualifikationen. Diese beziehen sich nicht nur auf
die individuellen Kenntnisse sondern auch auf das zu aktivierende
Hilfe- und Helfernetzwerk. Alle MitarbeiterInnen müssen über
Erfahrungen und Kenntnisse in der Arbeit mit sexuell
grenzverletzenden Kindern und Jugendlichen verfügen. Dies heißt
auch, die Dynamiken von Missbrauchsgeschehen verstehen und
eigene professionelle Grenzen und Zuständigkeiten erkennen zu
können.
10.1
Qualifikation der MitarbeiterInnen der
•
(z. B. Sprachkompetenz in der Hilfeplanung)
•
Stärkung der Handlungssicherheit.
10.3
beteiligten Projekten
Die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Professionen erfordert
fachliche Standards, die von allen als verbindlich anerkannt
werden.
Ziele der Weiterbildung für diesen MitarbeiterInnenbereich sind u.
a.:
•
Die Situation von Kindern und Jugendlichen, die sexuelle
Grenzverletzungen vorgenommen haben, verstehen und
einschätzen zu können,
•
die spezifische Behandlung bzw. Begleitung für betroffene
Kinder und Jugendliche zu verbessern,
•
die pädagogische und psychotherapeutische Arbeit mit diesen
Kindern und Jugendlichen planen und umsetzen zu können,
•
das konkrete berufliche Handeln und die eigene Haltung
kritisch zu reflektieren.
Koordinationsstelle
Die Qualifikationsanforderungen orientieren
komplexen Tätigkeitsbereich. Er umfasst
Arbeitsbereiche:
sich an dem
die folgenden
•
die Koordinierung der Maßnahmen der beteiligten Stellen in
Verdachts- und nachgewiesenen Fällen
•
die Unterstützung der fallverantwortlichen MitarbeiterInnen
•
die Koordination/Organisation der weiteren Hilfen
•
die Steuerung/Moderation und Evaluation der vereinbarten
Hilfsmaßnahmen.
Zur Umsetzung dieser Aufgaben sind umfangreiche Kenntnisse
und Qualifikationen erforderlich, die die aufgeführten Bereiche
umfassen müssen:
•
Moderationserfahrung
•
Kenntnis/Erfahrung
instrumenten
•
Leitungserfahrung
•
Kommunikative Kompetenz
•
Kenntnisse der gesetzlichen Grundlagen (KJHG; StGB;
Jugendgerichtsgesetz, Strafprozessordnung)
•
Kenntnisse im Bereich der Kindeswohlgefährdung
•
Kenntnisse und Erfahrungen in der beratenden und/oder
therapeutischen Arbeit mit Familien, in denen sexuelle
Übergriffe stattgefunden haben
•
Kenntnisse von und Kontakte zu regionalen Hilfeangeboten,
Behörden und Ämtern.
10.2
von
Evaluationsprozessen
und
10.4
Qualifizierung der MitarbeiterInnen der
Aufgabe dieses Personenkreises ist es, den gesamten Prozess
kompetent begleiten und verantworten zu können. Aus diesem
Grund ist eine Weiterbildung notwendig, die die Kooperation im
psychosozialen Verbund und den angrenzenden Handlungsfeldern
Justiz, Vollzugsorgane und Psychiatrie in den Mittelpunkt stellt.
Schwerpunkte in dieser Weiterbildung können u. a. folgende
Themen sein:
•
Entwicklung von Handlungs- und Netzwerkkompetenz
•
Erweiterung von Gestaltungsspielräumen im interdisziplinären
Feld
•
Erweiterung des Rechtsanwendungswissens
•
Verständnis von rechtssystematischen Zusammenhängen und
Leitlinien
•
Vermittlungskompetenz im HelferInnen/KlientInnensystem
Empfehlungen zum Thema Qualifizierung
•
MitarbeiterInnen, deren Institutionen und Einrichtungen an
der Durchführung des Projekts beteiligt sind, werden im
Vorfeld in regionalen Fachtagungen für diesen Arbeitsbereich
gezielt weitergebildet. Diese Weiterbildungsangebote sind
verbindlich und didaktisch so aufgebaut, dass sie sich an die
Hilfeeinrichtungen, die Polizei und die Justiz wenden. Sie
dienen
zur
Vermittlung
von
Grundlagenwissen
(themenspezifisch, auch juristischer Natur) und zur
Informationsvermittlung über Auftrag und rechtliche
Rahmenbedingungen der einzelnen Institutionen.
•
Eine berufliche Weiterbildung im Sinne der Aussagen in Punkt
10.2 und 10.3 ist wünschenswert. Sie sollte zeitnah mit
Beginn der Projektphase beginnen.
•
Eine fachliche Supervision ist für alle therapeutischen bzw.
beraterischen
MitarbeiterInnen
in
diesem
Projekt
obligatorisch.
-
Koordinationsstelle und der Projektleitung
Qualifizierung der MitarbeiterInnen in den
11
Notwendige Rahmenbedingungen
Dieses Konzept beschreibt Rahmenbedingungen, die für das
Projekt allgemeine Gültigkeit besitzen, die jedoch abhängig von
den
jeweiligen
Projektstandorten
fortgeschrieben
und
weiterentwickelt werden müssen.
Regionen bzw. Projekte, die sich als Standort für die Modellphase
bewerben wollen, müssen sich an den Rahmenbedingungen
orientieren und darüber hinaus folgende Grundvoraussetzungen
erfüllen.
Ein Modell für die vernetzte Arbeit mit sexuell grenzverletzenden
Kindern und Jugendlichen lässt sich nur in einer Region oder Stadt
entwickeln und umsetzen, die über ein entsprechendes lokales
Hilfenetzwerk verfügt.
11.1
Voraussetzungen für eine Bewerbung zur Teilnahme
an dem Modellprojekt
Eine Kommune, Jugendhilfeträger oder Verbände und
Institutionen sollten sich nur dann für eine Bewerbung
entscheiden,
wenn
in
ihrer
Region
folgende
Mindestvoraussetzungen gelten:
17
•
Beratungsstelle für sexuell übergriffige Jugendliche/Kinder
und deren Eltern.
•
Vorhandensein einer Beratungsstelle für Opfer sexueller
Übergriffe.
•
Bereitschaft des Jugendamtes, eine Koordinationsstelle
personell, strukturell und finanziell zu gewährleisten.
•
Kooperationsbereitschaft
und
Erfahrung
in
der
Zusammenarbeit mit der Justiz, sowohl von Seiten der
Strafjustiz als auch der Familiengerichte und der Polizei.
12.3
Projektphase
Die Projektphase beginnt im Anschluss an die Bewerbungsphase
mit der Erstellung eines regionalen Arbeitskonzeptes, das sich an
den Grundaussagen dieses Papiers orientiert. Das regionale
Kooperationsnetzwerk muss vor Beginn der Projektphase die
Kompetenzen sowie die rechtlichen Grenzen und Pflichten der
Kooperationspartner klären. Erst wenn ein Konsens gefunden
werden konnte, ist eine gemeinsame gleichberechtigte Arbeit
möglich.
Folgende Schritte sind dann im Anschluss erforderlich:
•
Kooperationsbereitschaft des Jugendamtes mit den
Beratungsstellen und der Beratungsstellen untereinander.
•
Eine Projektleitung muss gefunden bzw. benannt werden. Sie
soll durch einen freien Träger ausgeführt werden
•
Bereitschaft einer regionalen stationären Einrichtung zur
Kooperation (Kinder- und Jugendpsychiatrie oder eine
sonstige
Einrichtung,
die
zur
Aufnahme
der
Kinder/Jugendlichen bereit wäre).
•
der Arbeitskreis Clearingstelle muss gegründet werden
•
die Einrichtung der Koordinationsstelle durch das Jugendamt
muss erfolgen
•
Qualifizierungsmaßnahmen müssen durchgeführt werden
•
Das Projekt muss kommuniziert werden.
•
Wenn noch nicht vorhanden, muss ein Arbeitskreis zum
Thema sexuelle übergriffige Kinder/Jugendliche eingerichtet
werden. Er sollte gemäß § 78 KJHG einberufen werden, da so
eine höhere Verbindlichkeit für die jeweiligen Träger erreicht
werden kann.
•
Die Arbeit des regionalen Arbeitskreises/Clearingstelle muss
finanziell gewährleistet sein.
•
Bereitschaft zur Evaluation.
12
Umsetzungsschritte
Das Modellprojekt soll an verschiedenen Standorten in
Deutschland erprobt werden. Regionale Projekte werden fachlich
und organisatorisch über eine bundesweite Koordinierungsstelle
unterstützt. Diese ist auch verantwortlich für die Entwicklung
eines Fort- und Weiterbildungsprogramms in den Modellregionen
entsprechend
den
oben
aufgeführten
Qualifizierungsanforderungen.
Der zeitliche und organisatorische Ablauf ist aufgegliedert in vier
Phasen. Für das Modellprojekt ist ein Zeitraum von drei Jahren
angedacht.
12.1
12.4
13
Wissenschaftliche Begleitung
Aufgrund des neuen Arbeitsansatzes, besonders hinsichtlich der
zu entwickelnden Kooperationsstrukturen empfiehlt die
Steuerungsgruppe eine wissenschaftliche Begleitung des
Projektes.
Dabei kommen zwei Forschungsaufträge in Betracht:
•
Die
Betrachtung
der
individuellen
Hilfeverläufe.
Leitfragen: Gibt es eine Verbesserung der Hilfemaßnahmen?
Gibt es eine geringere Rückfälligkeit?
•
Qualitätsstandards im Umgang mit sexuell grenzverletzenden
Kindern
und
Jugendlichen.
Leitfrage: Entsteht durch die Verbesserung der Kooperation
eine größere Sicherheit der beteiligten Institutionen im
Umgang mit sexuell grenzverletzenden Minderjährigen?
Informationsphase
Das Projekt startet mit einer bundesweiten Ausschreibung. Im
Rahmen dieser Informationsphase werden Städte und Gemeinden
sowie interessierte freie Träger der Jugendhilfe über das Projekt
ausführlich
informiert.
Gleichzeitig
werden
dezentrale
Fachveranstaltungen (z. B. für JugendamtsleiterInnen, Vertreter
der Justiz und Träger der frei gemeinnützigen Jugendhilfe sowie
der Kinder- und Jugendpsychiatrie) angeboten, die als Fort- und
Weiterbildungsveranstaltungen konzipiert sind.
Implementierung in anderen Regionen
Nach Abschluss der Projektphase erfolgt eine Auswertungsphase,
in der die Ergebnisse evaluiert und als Grundlage für eine
Fortschreibung des Arbeitsansatzes genutzt werden.
14
Finanzierung
In dieser Phase werden auch zentrale Informations- und
Werbematerialien erstellt.
Für die Entwicklung eines neuen Hilfeansatzes müssen in der
Projektphase Fördergelder zur Verfügung gestellt werden. Wie die
Finanzierungsmodalitäten aussehen können, ist nicht Aufgabe
dieses Berichtes. Allerdings soll an dieser Stelle noch einmal eine
Empfehlung für die zu finanzierenden Teilbereiche des Projekts
aufgeführt werden.
12.2
14.1
Bewerbungsphase
Nach dieser ausführlichen Informationsphase können sich
Institutionen, freie Träger, Hilfeverbunde, Städte und Regionen
zentral bewerben. Dies kann zunächst formlos geschehen. Aus der
Bewerbung muss hervorgehen, dass die in diesem Bericht
vorgegebenen Rahmenbedingungen erfüllt werden können.
Eine Entscheidung, welche Projekte für das bundesweite Modell
aufgenommen werden und über die Anzahl der Projekte, muss
zur gegebenen Zeit getroffen werden. Wünschenswert ist es,
sowohl Bewerber aus den Großstadtbereichen als auch aus
ländlichen Bereichen zu finden.
Empfehlungen zu Finanzfragen
Folgende Bereiche benötigen eine sichere Finanzierungsgrundlage:
•
Das regionale Netzwerk, bestehend aus der regionalen
Projektleitung, der Koordinationsstelle und der Arbeit der
Hilfeeinrichtungen
•
die Kosten für die Fort- und Weiterbildung
•
die Kosten für Informations- und Weiterbildungsmaterialien
•
die Supervisionskosten
•
die bundesweite Projektbegleitung und Koordination
18
•
Aufklärungs- und Informationsmaterialien
•
die wissenschaftliche Begleitung.
15
Mitglieder der Steuerungsgruppe
Die Auswahl der Mitglieder für die Steuerungsgruppe orientierte
sich an dem Gender-Prinzip und an dem Arbeitsauftrag, ein
Kooperationsmodell unter Einbeziehung der verschiedenen
Institutionen zu entwickeln.
Folgende
Kolleginnen
und
Steuerungsgruppe mitgearbeitet:
Kollegen
haben
in
der
•
Dirk Bange; Behörde für Soziales und Familie, Hamburg
•
Hans-Alfred Blumenstein; DggKV, Vors. Richter am OLG a.
D.Klaus-Peter David; Im Packhaus, Kiel
•
Kirstin Dawin; Kinderschutz-Zentrum, München
•
Jutta Elz; Kriminologische Zentralstelle e.V., Wiesbaden
•
Ursula Enders; Zartbitter, Köln
•
Thomas Gruber; Rheinische Landesklinik, Viersen
•
Arthur Kröhnert; Die Kinderschutz-Zentren, Köln
•
Klaus Machlitt; Kinderschutz-Zentrum, Hamburg
•
Sigrid Richter-Unger; Kind im Zentrum, Berlin
•
Ulrike
Stahlmann-Liebelt;
Oberstaatsanwältin,
Behördenleiterin der Staatsanwaltschaft, Flensburg
•
Natalie Weiss; Die Kinderschutz-Zentren, Rechtsreferendarin
am Landgericht Lübeck
promoviert zurzeit im Strafrecht an der Philipps-Universität
Marburg
stv.
19
Anhang 1
Datenschutz
a.
Einige grundsätzliche Fragestellungen
Datenschutz ist ein zentrales Thema in der Arbeit mit sexuell
devianten Kindern und Jugendlichen. Grundsätzlich besteht
eine große Unsicherheit in allen Feldern, wenn es um Fragen
der Schweigepflicht, der Weitergabe von persönlichen Daten
und
anvertrautem
Wissen
im
beraterischen
und
therapeutischen Prozess geht.
Die Steuerungsgruppe hat sich ausführlich mit diesem Thema
beschäftigt
und
ein
eigenes
Datenschutzpapier
zusammengestellt.
Vorab aber einige Fragestellungen, die die Schwierigkeiten in
der Kooperation zwischen den verschiedenen Institutionen
hinsichtlich des Datenschutzes noch einmal verdeutlichen und
die Essentiales, die die Diskussion in der Steuerungsgruppe
ergeben haben.
Generell wird das Problem gesehen, dass es durch die
unterschiedliche Sichtweise in Datenschutzfragen es oft an
einer ausreichenden Information aller Beteiligten mangelt. Z.
B. erfolgt, nachdem die StA/Polizei die Akten an das JA
gesandt hat, wegen des Datenschutzes keine Rückmeldung
des JA an die StA/Polizei über ergriffene Maßnahmen bzw.
das weitere Vorgehen des JA.
Ein weiteres Problem stellt sich seitens der Kinder- und
Jugendpsychiatrie. Hier erfolgt oftmals keine Herausgabe von
Informationen an andere Institutionen, obwohl z. B. die StA
Information über vorherige Aufenthalte/Behandlungen in der
Kinder- und Jugendpsychiatrie benötigt. Derzeit sind solche
Informationen aber teilweise nicht in den Akten der JGH
enthalten.
Wünschenswert wäre es, dass der Richter über die schriftliche
Vereinbarung, die mit dem/der Jugendlichen in der
Hilfekonferenz getroffen wurde, informiert wird. Dann kann
er entscheiden, ob und wann er ggf. bei der Hilfekonferenz
anwesend sein möchte. Auch die StA sollte die schriftliche
Vereinbarung erhalten, damit diese an die Polizei und die
Nebenklagevertretung weitergeleitet werden kann.
Auch die Fachberatungsstellen sollten alle notwendigen
Information über/durch das Urteil erhalten, damit ihnen das
tatsächliche Tatgeschehen bekannt ist (erforderlich, weil z. T.
nicht alles durch den Täter/die Täterin selbst berichtet wird).
b.
regelmäßig auch die Frage nach einer Strafbarkeit von
Mitarbeitern des Jugendamtes bei unterlassener Meldung.
Entscheidend für die Beantwortung dieser Fragen ist zunächst
die Feststellung, dass kommunale Jugendhilfe ein
Verwaltungshandeln darstellt.1 Dies bedeutet, dass die
jugendamtliche Tätigkeit – ebenso wie jedes andere
Verwaltungshandeln – dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit
der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) genügen muss.2 Die
Weitergabe von Informationen durch das Jugendamt an die
Strafverfolgungsbehörden beinhaltet einen Eingriff in das
Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Betroffenen
aus Art. 2 Abs. 1 GG und ggf. auch in das Elternrecht aus
Art. 6 Abs. 2 Satz 3 GG. Es handelt sich bei einer derartigen
Meldung also um Eingriffsverwaltung. Dem Grundsatz der
Gesetzmäßigkeit ist in den Fällen der Eingriffsverwaltung
jedoch nur genüge getan, wenn das Verwaltungshandeln –
also die Meldung – sowohl mit höherrangigem Recht
vereinbar ist (Vorrang des Gesetzes), als auch eine
diesbezügliche Ermächtigungsgrundlage besteht (Vorbehalt
des Gesetzes).3 Entscheidend ist daher, ob das Jugendamt
gesetzlich
ermächtigt
ist,
sexuelle
oder
sonstige
Misshandlungen an die Strafverfolgungsbehörden zu melden.
Erst wenn feststeht, dass das Jugendamt überhaupt gesetzlich
ermächtigt
ist,
Misshandlungen
an
die
Strafverfolgungsbehörden zu melden und dass die
tatbestandlichen
Voraussetzungen
dieser
Ermächtigungsgrundlage in concreto erfüllt sind, kann sich
die Frage stellen, ob eine Meldung im Ermessen des
Jugendamtes liegt oder es dazu sogar verpflichtet ist.4
Gerade in Bezug auf Sozialdaten – und um solche handelt es
sich bei den Informationen über sexuelle oder sonstige
Misshandlungen von Kindern und Jugendlichen – ist in § 35
SGB I ausdrücklich normiert, dass es – aufgrund des
verfassungsrechtlich
gewährleisteten
informationellen
Selbstbestimmungsrechtes – für ihre Offenbarung und damit
auch für ihre Übermittlung einer speziellen (gesetzlichen)
Ermächtigungsgrundlage bedarf.5 Fehlt es an einer
Ermächtigungsgrundlage für eine Übermittlung, so besteht
gemäß § 35 SGB I eine Geheimhaltungspflicht, die auch die
Auskunftspflicht
gegenüber
der
Staatsanwaltschaft
(§ 161 StPO) begrenzt.6
Vorweg ist zunächst einmal klarzustellen, dass Mitarbeitern
und Mitarbeiterinnen des öffentlichen Dienstes regelmäßig
keine allgemeine Pflicht zur Anzeige der ihnen bekannt
gewordenen Straftaten obliegt.7 Eine Meldebefugnis oder pflicht muss vielmehr gesetzlich geregelt sein.
Grundsätzlich gilt, dass sich alle Fachberatungsstellen vorab
von
den
Eltern
bzw.
den
Jugendlichen
eine
Schweigerechtsentbindung unterzeichnen lassen.
1) Ermächtigungsgrundlagen für eine Meldung der
Misshandlungen an die Strafverfolgungsbehörden
Die Rechte und Pflichten zur Kooperation an der Schnittstelle
Jugendamt/Strafverfolgungsbehörden
Da es an einer ausdrücklichen gesetzlichen Ermächtigung für
die
Meldung
von
Misshandlungen
an
die
Strafverfolgungsbehörden fehlt, kann sich die Befugnis zur
Meldung nur aus den Vorschriften des SGB VIII, X und I
ergeben.
Nicht nur im Bereich sexuell devianter Minderjähriger sondern
allgemein im Bereich der sexuellen oder sonstigen
Misshandlung von Kindern und Jugendlichen ist die
Kooperation an der Schnittstelle Jugendamt/Strafjustiz bzw.
Strafverfolgungsbehörden problematisch. Ursächlich dafür
sind u. a. die divergierenden Aufgaben dieser Behörden:
Während bei der öffentlichen Jugendhilfe die Hilfeleistung im
Vordergrund steht und ggf. auch Maßnahmen der
Gefahrenabwehr ergriffen werden, stehen für Polizei und
Staatsanwaltschaft
die
Strafverfolgung
und
die
Gefahrenabwehr im Vordergrund. Im Wesentlichen geht es
bei der Kooperationsproblematik um die Frage, ob und
inwieweit das Jugendamt bei der Erlangung von
Erkenntnissen über sexuelle oder sonstige Misshandlungen
berechtigt oder sogar verpflichtet ist, dies den
Strafverfolgungsbehörden zu melden. Im Zusammenhang mit
den Meldepflichten und -rechten des Jugendamtes stellt sich
a) § 1 Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. Abs. 1 SGB VIII
1 Meysen, in: ZfJ 2001, S. 408 (409).
2 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. (2002), § 6 Rn. 1.
3 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. (2002), § 6 Rn. 1-3, 12.
4 Dass verkennt Ollmann, in: ZfJ 199, S.195, der ohne zu prüfen, ob
überhaupt eine spezielle Ermächtigungsgrundlage für Meldungen des
Jugendamtes an die Strafverfolgungsbehörden vorliegt, direkt auf die Frage
des Ermessens eingeht. Bevor auf der Rechtsfolgenseite ein etwaiges
Entschließungs- oder Auswahlermessen geprüft werden kann, müssen
jedoch das Vorliegen einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage und die
Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen geprüft werden.
5 Kunkel, in: StV 2000, S. 531.
6 Kunkel, in: StV 2000, S. 531 (533).
7 Ollmann, in: ZfJ 1999, S. 195 unter Verweis auf Stree, in:
Schönke/Schröder, StGB, 26. Aufl. (2001), § 258 Rn. 19.
20
Gemäß § 1 Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. Abs. 1 SGB VIII soll
die
Jugendhilfe Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr
Wohl schützen, um zur Verwirklichung ihrer Rechte auf
Förderung der Entwicklung und auf Erziehung zu einer
eigenverantwortlichen
und
gemeinschaftsfähigen
Persönlichkeit beizutragen. § 1 SGB VIII enthält lediglich eine
programmatische Aussage über die Ziele und Aufgaben der
Jugendhilfe, die in den nachfolgenden Vorschriften des
SGB VIII näher konkretisiert werden.8 Im Bereich des Kinderund
Jugendhilferechtes
ist
–
ebenso
wie
im
Gefahrenabwehrrecht – rechtlich die Aufgabenzuweisung
von der Ermächtigungsgrundlage, also der Befugnis,
bestimmte
Handlungen
vorzunehmen,
streng
zu
unterscheiden.
Von
einer
programmatischen
Aufgabenzuschreibung an die Jugendhilfe, darf daher nicht
auf eine allgemeine Eingriffsbefugnis geschlossen werden.9
Eine Ermächtigungsgrundlage für Eingriffe stellt eine Norm
nur dar, wenn sie nach Inhalt, Gegenstand, Zweck und
Ausmaß dergestalt bestimmt und begrenzt ist, dass die
Beschränkungen voraussehbar und berechenbar sind.10 Da
die Regelung des § 1 Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. Abs. 1 SGB VIII für
sich genommen inhaltlich weder bestimmt noch begrenzt,
welche Maßnahmen zulässig sind, kann sie jedoch mangels
Voraussehbarkeit
und
Berechenbarkeit
der
verwaltungsrechtlichen
Maßnahmen
keine
Ermächtigungsgrundlage
für
die
Meldung
von
Misshandlungen darstellen.
b) Datenschutzrechtliche Bestimmungen des SGB VIII
Da die Meldung von sexuellen oder sonstigen drohenden
oder bereits geschehenen Misshandlungen eine Weitergabe
von Sozialdaten im Sinne der §§ 64, 65 SGB VIII darstellt, ist
sie unter deren Voraussetzungen zulässig. Für die Frage nach
einer Befugnis zur Weitergabe der Sozialdaten ist von
entscheidender Bedeutung, ob es sich um anvertraute oder
nicht anvertraute Daten handelt. Daten sind im Sinne des
§ 65 Abs. 1 SGB VIII anvertraut, wenn sie dem Mitarbeiter des
Jugendamtes
im
Vertrauen
auf
dessen
Verschwiegenheitspflicht und in der Erwartung, dass die
Informationen Dritten nicht zugänglich sind, mitgeteilt
werden.11
aa) Die Weitergabe anvertrauter Daten gemäß § 65 SGB VIII
Vielfach wird es sich bei den Informationen über drohende
oder geschehene sexuelle oder sonstige Misshandlungen von
Kindern und Jugendlichen um anvertraute Daten handeln. Die
Befugnis zu ihrer Weitergabe richtet sich demzufolge nach
§ 65 Abs. 1 SGB VIII. Eine Meldung der sexuellen oder
sonstigen Misshandlung ist zulässig, sofern eine Einwilligung
des
Anvertrauenden
im
Sinne
des
§ 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII vorliegt. Maßgeblich ist also
nicht das Einverständnis der betroffenen Person sondern der
Person, die die Informationen dem Jugendamt anvertraut.12
D. h. meldet bspw. ein Nachbar dem Jugendamt die
Misshandlung von Kindern, dann kommt es auf sein
Einverständnis und nicht auf jenes der misshandelten Kinder
an.
Fehlt es an einer solchen Einwilligung, dann ist eine Meldung
an
die
Strafverfolgungsbehörden
nur
unter
den
Voraussetzungen
des
§ 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII
zulässig. Nach dieser Vorschrift ist das Jugendamt zur
8 Mainberger, in: Hauck, SGB VIII, 29. Lieferung (Stand August 2003), § 1
Rn. 29; Schellhorn, in : Schellhorn, SGB VIII, 2. Aufl. (2000), § 1 Rn. 1;
Wiesner, in: Wiesner/Mörsberger/Oberloskamp/Struck, SGB VIII, 2. Aufl.
(2000), § 1 Rn. 1.
9 Meysen, in: ZfJ 2001, S. 408 (411).
10 Zur notwendigen Bestimmtheit einer Ermächtigungsgrundlage vgl.
Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. (2002), § 6 Rn. 12.
11 Kunkel, in: StV 2000, 531 (535); Mörsberger, in:
Wiesner/Mörsberger/Oberloskamp/Struck, SGB VIII, 2. Aufl. (2000), § 65
Rn. 12.
12 Mörsberger, in: Wiesner/Mörsberger/Oberloskamp/Struck, SGB VIII, 2.
Aufl. (2000), § 65 Rn. 15.
Weitergabe der Informationen nur ermächtigt, wenn die
Voraussetzungen vorliegen, unter denen eine der in § 203
Abs. 1 oder 3 StGB genannten Personen zur Weitergabe
befugt wäre. Dass das Verwaltungsrecht zur Begründung von
Befugnissen der Verwaltung auf das Strafrecht verweist, ist
untypisch und mit Blick auf den Grundsatz vom
Gesetzesvorbehalt auch rechtlich nicht unbedenklich:
Strafvorschriften
legen
nur
die
strafrechtliche
Verantwortlichkeit im Verhältnis Staat – Bürger fest und sind
damit schon grundsätzlich nicht geeignet, die Verwaltung zu
einem Handeln zu ermächtigen.13 Durch einen Rückgriff auf
das Strafrecht wird außerdem ein Generalvorbehalt für die
Verwaltung geschaffen und damit gerade die Bindung und
Begrenzung der Verwaltung an und durch das Gesetz
unterlaufen, die der (verfassungsrechtliche) Grundsatz des
Gesetzesvorbehaltes
fordert.14
Da
§ 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII gleichwohl (noch) geltendes
Recht
ist,
kann
diese
Vorschrift
jedoch
eine
Ermächtigungsgrundlage
für
die
Meldung
von
Misshandlungen darstellen.
Eine
Weitergabe
von
Sozialdaten
ist
gemäß
§ 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII zulässig, sofern eine der in §
203 Abs. 1 und 3 StGB genannten Personen zur Weitergabe
befugt wäre. Dies ist der Fall, wenn entweder eine
Anzeigepflicht nach § 138 StGB besteht, oder die Weitergabe
im Rahmen des § 203 StGB durch § 34 StGB gerechtfertigt
wäre.15 Da weder der sexuelle Missbrauch noch die sonstige
Misshandlung von Kindern und Jugendlichen zu den
Katalogtaten des § 138 StGB gehört, besteht diesbezüglich
keine strafbewehrte Anzeigepflicht. In Betracht kommt also
lediglich die Rechtfertigung der Weitergabe gemäß
§ 34 StGB.
Gemäß § 34 StGB ist eine Weitergabe von anvertrauten
Sozialdaten gerechtfertigt, wenn eine gegenwärtige, nicht
anders abwendbare Gefahr für ein Rechtsgut (hier: sexuelle
Selbstbestimmung, körperliche Integrität) besteht und die
Weitergabe der Sozialdaten zur Gefahrabwendung
erforderlich ist. Zudem setzt § 34 StGB voraus, dass das durch
die Gefahrabwendung geschützte Interesse (hier: sexuelle
Selbstbestimmung, körperliche Integrität) das durch die
Gefahrabwendung beeinträchtigte (hier: Schutz anvertrauter
Geheimnisse)
wesentlich
überwiegt.
Liegen
diese
Voraussetzungen vor, dann besteht der besondere
Vertrauensschutz im Sinne des § 65 SGB VIII nicht mehr und
dürfen die Sozialdaten bei zusätzlicher Erfüllung der
allgemeinen Voraussetzungen16 (bspw. § 64 SGB VIII)
weitergegeben werden. Allerdings muss im Rahmen des
§ 34 StGB genau geprüft werden, ob erstens eine
gegenwärtige Gefahr tatsächlich besteht und zweitens ob die
ergriffene Maßnahme erforderlich zur Gefahrabwendung ist.
Gerade
in
den
hier
interessierenden
Sachverhaltskonstellationen sind diese Voraussetzungen aber
zweifelhaft.
(1) Eine gegenwärtige Gefahr liegt vor, wenn alsbald oder in
allernächster Zeit der Eintritt oder die Intensivierung eines
Schadens mit einiger Wahrscheinlichkeit droht.17 Eine solche
Gefahr besteht auch bei der sogenannten Dauergefahr, d. h.
wenn über einen längeren Zeitraum hinweg beständig der
Eintritt oder die Intensivierung eines Schadens droht und
13 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. (2002), § 6 Rn. 12
m.w.N.
14 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. (2002), § 6 Rn. 12
m.w.N.
15 Mörsberger, in: Wiesner/Mörsberger/Oberloskamp/Struck, SGB VIII, 2.
Aufl. (2000), § 65 Rn. 19.
16 Rauscher, in: ZfJ 1996, 414 (416);
Wiesner/Mörsberger/Oberloskamp/Struck, SGB VIII, 2. Aufl. 2000,
§ 65 Rn. 20.
17 Lenckner/Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, 26. Aufl. (2001), § 34 Rn.
12, 17.
21
dieser Schaden jederzeit – also auch alsbald – eintreten
kann.18 Die Möglichkeit weiterer sexueller oder sonstiger
Misshandlungen kann grundsätzlich eine Gefahr im Sinne des
§ 34 StGB darstellen, jedoch muss sie dafür hinreichend
wahrscheinlich sein. Welcher Wahrscheinlichkeitsgrad im
Rahmen des § 34 StGB erforderlich ist, ist in der
Strafrechtswissenschaft jedoch nicht abschließend geklärt.
Einigkeit herrscht aber dahingehend, dass jedenfalls die nur
entfernte oder rein gedankliche Möglichkeit eines
Schadenseintritts nicht ausreicht.19 Als wahrscheinlich wird
der Schadenseintritt aber bspw. angesehen, wenn diese
Möglichkeit nahe liegt oder diesbezüglich eine begründete
Besorgnis besteht, bzw. wenn innerhalb vernünftiger
Lebenserfahrung mit dem Schadenseintritt gerechnet werden
muss.20 Ob eine hinreichend wahrscheinliche Gefahr
weiterer Misshandlungen besteht, muss daher im Einzelfall
eingehend geprüft werden.21 Keinesfalls kann und darf ohne
weiteres von vergangenen Misshandlungen auf eine
fortbestehende Misshandlungsgefahr geschlossen werden.
Aus dieser Definition der Gefahr im Sinne des § 34 StGB
ergibt sich außerdem, dass eine Meldung, die allein
repressiven Zwecken dient, nicht gemäß § 34 StGB
gerechtfertigt ist. Soll eine Meldung von Misshandlungen
allein die Strafverfolgung bezwecken und bestehen keine
weiteren Misshandlungsgefahren, dann fehlt es an einem
drohenden Schaden. Eine Meldung zu rein repressiven
(Strafverfolgungs-)Zwecken kann demzufolge sogar mangels
Rechtfertigung gemäß § 203 StGB strafbar sein.22 Allein
sofern die umfassende Würdigung der Sachlage ergibt, dass
weitere Misshandlungen gegenwärtig drohen, wofür
vergangene Misshandlungen ggf. ein Indiz unter mehreren
sein können, kann die Anzeige berechtigt sein. Besteht
lediglich ein Gefahrenverdacht, so dürfen nur weitere
Gefahrerforschungsmaßnahmen vorgenommen werden.23
(2) Auch die Erforderlichkeit der Meldung von Misshandlung
ist problematisch. Eine Maßnahme ist nur dann im Sinne des
§ 34 StGB zur Gefahrabwendung erforderlich, wenn sie dazu
geeignet und zugleich auch das relativ mildeste Mittel ist.24
Im Rahmen der Frage, ob es kein milderes, ebenso geeignetes
Mittel zur Abwendung der Gefahren für das Kindeswohl gibt,
muss zunächst thematisiert werden, ob eine Meldung
überhaupt
ein
geeignetes
Gefahrabwendungsmittel
darstellt.25 Da die Meldung von sexuellen oder sonstigen
Misshandlungen an die Strafverfolgungsbehörden nicht
zwangsläufig zur Folge hat, dass das Kind – bspw. durch eine
räumliche Trennung vom Täter – vor weiteren
Misshandlungen geschützt ist, kann durchaus zweifelhaft
sein, ob die Meldung geeignet ist, die Gefahr(en) für das
Kindeswohl abzuwehren
Selbst wenn die Meldung in concreto ein geeignetes Mittel
zur Abwendung der genannten Gefahren darstellt, muss sie
zudem noch das mildeste Mittel sein. Im Einzelfall muss der
Jugendamtsmitarbeiter daher die Auswirkungen der
verschiedenen geeigneten Hilfemaßnahmen miteinander
vergleichen und unter ihnen die mildeste auswählen.
Diesbezüglich ist u. a. auch zu berücksichtigen, welche
Auswirkungen eine Anzeige und die dadurch ausgelöste
18 Lenckner/Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, 26. Aufl. (2001), § 34 Rn.
17.
19 Lenckner/Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, 26. Aufl. (2001), § 34 Rn.
15.
20 Tröndle/Fischer, StGB, 51. Aufl. (2003), § 34 Rn. 3a.
21 Zur Notwendigkeit einer hinreichend wahrscheinlichen Gefahr für das
Kindeswohl vgl. auch OLG Düsseldorf, in: NStZ-RR 2001, S. 199 (200)
m.w.N.
22 Rauscher, in: ZfJ 1996, 414 (415).
23 Meysen, in: ZfJ 2001, S. 408 (413).
24 Lenckner/Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, 26. Aufl. (2001), § 34 Rn.
18 ff.
25 Vgl. Mörsberger, in: FPR 1998, S. 285 (286). Bay ObLG, in: NJW 1995, S.
1623 f.
Strafverfolgungstätigkeit auf den Hilfeprozess haben
können.26
Nur
wenn
die
Meldung
an
die
Strafverfolgungsbehörden im konkreten Einzelfall das
mildeste Mittel darstellt, kann der Jugendamtsmitarbeiter
gemäß § 34 StGB hinsichtlich der Übermittlung der
Sozialdaten gerechtfertigt sein, sofern auch die sonstigen
Voraussetzungen von § 34 StGB erfüllt sind. Liegen alle
Voraussetzungen des § 34 StGB vor, dann besteht eine
Befugnis zur Weitergabe der Informationen an die
Strafverfolgungsbehörden
gemäß
§ 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VI.
bb) Die Weitergabe nicht anvertrauter Daten gemäß
§ 64 SGB VIII
Sind die Informationen über die Misshandlung keine
anvertrauten Sozialdaten im Sinne des § 65 SGB VIII, dann
richtet sie die Befugnis zu ihrer Weitergabe nach
§ 64 SGB VIII.
(1) Eine Weitergabe nicht anvertrauter Daten ist jedenfalls
dann zulässig, wenn eine Zustimmung des Betroffenen
vorliegt.
Dies
ergibt
sich
unmittelbar
aus
§ 67b Abs. 1 SGB X i.V.m. § 61 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII.27
Kann die Zustimmung eingeholt werden, darf die
Misshandlung also den Strafverfolgungsbehörden gemeldet
werden.
(2) Zur Weitergabe nicht anvertrauter Daten ist das
Jugendamt gemäß § 64 Abs. 1 SGB VIII aber auch ermächtigt,
sofern die Daten zu dem Zweck übermittelt oder genutzt
werden, zu dem sie erhoben wurden. Da gemäß
§ 62 SGB VIII Sozialdaten von der Jugendhilfe nur erhoben
werden dürfen, sofern ihre Kenntnis zur Erfüllung der
Aufgaben erforderlich ist, dürfen sie auch nur zu diesem
Zweck übermittelt werden.
Die Aufgaben des Jugendamtes sind in §§ 1, 2 SGB VIII
normiert. Da die Strafverfolgung an sich keine Aufgabe der
Jugendhilfe
ist,
ist
eine
Meldung
an
die
Strafverfolgungsbehörden, die allein Strafverfolgungszwecken
dient, nicht zulässig.28 Anderes gilt hingegen für eine
Weitergabe von Informationen über Misshandlungen zum
Zwecke der präventiven Gefahrenabwehr, denn die Abwehr
von drohenden Gefahren für das Wohl des Kindes oder des
Jugendlichen ist gemäß § 1 Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. Abs. 1 SGB VIII
eine Aufgabe der Jugendhilfe.29 Erhält das Jugendamt
Informationen darüber, dass eine Gefährdung des
Kindeswohles durch weitere Misshandlungen droht, dann
darf es ergo gemäß § 64 Abs. 1 SGB VIII diese Informationen
an die Strafverfolgungsbehörden weiterleiten.
(3) Eine Weitergabe von Sozialdaten ist gemäß
§ 64 Abs. 2 SGB VIII zur Erfüllung der Aufgaben aus
§ 69 SGB X zulässig, soweit dadurch der Erfolg einer zu
gewährenden Maßnahme nicht in Frage gestellt wird. Eine
Befugnis zur Weitergabe von Sozialdaten normiert § 69 SGB
X für verschiedene Fallkonstellationen:
(a) Gemäß § 69 Abs. 1 Nr. 1, 1. Var. SGB X ist eine
Übermittlung der Daten zulässig, soweit dies für die Erfüllung
der Zwecke erforderlich ist, zu denen sie erhoben wurden. Im
Rahmen des § 69 Abs. 1 Nr. 1, 1. Var. SGB X gilt also gleiches
wie im Rahmen des § 64 Abs. 1 SGB VIII.30
26 Vgl. Mörsberger, in: FPR 1998, S. 285 (286f.).
27 Maas, in: Jans/Hoppe/Saurbier, SGB VIII, Stand Oktober 1995, § 64 Rn.
15; Fischer, in: Schellhorn, 2. Aufl. (2000), SGB VIII, §§ 61-68 Rn. 66.
28 Kaufmann, in: ZfJ 1990, S. 1 (5), der allerdings noch zur Rechtslage nach
dem JWG Stellung nimmt.
29 Kaufmann, in: ZfJ 1990, S. 1 (5 f.)
30 Entsprechend wird die Vorschrift des § 64 Abs. 1 SGB VIII auch als
überflüssig angesehen, vgl. Kunkel, in: LPK-SGB VIII, 1. Aufl. (1998), § 64
Rn. 1; Mörsberger, in: Wiesner/Mörsberger/Oberloskamp/Struck, SGB VIII,
2. Aufl. (2000), § 64 Rn. 1; Fischer, in: Schellhorn, 2. Aufl. (2000), SGB
VIII, §§ 61-68 Rn. 66.
22
(b) Da Strafverfolgungsbehörden keine „andere Stelle bei
Sozialleistungsträgern“
im
Sinne
des
§ 69 Abs. 1 Nr. 1, 3. Var. SGB X sind, ist das Jugendamt
jedenfalls
nicht
nach
§ 64 Abs. 2 SGB VIII i.V.m. § 69 Abs. 1 Nr. 1, 3. Var. SGB X
zur Weitergabe von Sozialdaten ermächtigt. Jedoch kann die
Übermittlung für die „Erfüllung einer gesetzlichen Aufgabe
der übermittelnden Stelle“ – also des Jugendamtes – gemäß
§ 69 Abs. 1 Nr. 1, 2. Var. SGB X
zulässig
sein.
Anknüpfungspunkt ist also nicht wie bei Nr. 1 der
Erhebungszweck sondern die gesetzliche Aufgabe; der
ursprüngliche Erhebungszweck und die zu erfüllende
Aufgabe müssen also nicht identisch sein.31 Daten, die für
einen bestimmten jugendhilferechtlichen Zweck erhoben
wurden, dürfen also für einen anderen jugendhilferechtlichen
Zweck genutzt bzw. übermittelt werden.32 Auch bezüglich
§ 69 Abs. 1 Nr. 1, 2. Var. SGB X gilt, dass eine Übermittlung
nur zur Abwehr von Gefahren für das Kindeswohl nicht aber
für repressive Zwecke zulässig ist.
(c) Aus § 64 Abs. 2 SGB VIII i.V.m. § 69 Abs. 1 Nr. 2 SGB X
ergibt sich hingegen keine Befugnis zur Meldung der
Misshandlungen an die Strafverfolgungsbehörden. Diese
Vorschriften ermächtigen allein zu einer Datenoffenbarung
soweit diese im Zusammenhang mit der Durchführung eines
gerichtlichen Verfahrens einschließlich eines Strafverfahrens
erforderlich ist. Umstritten ist, ob diese Vorschrift festlegt,
dass eine Weitergabe von Informationen nur im
Zusammenhang mit einem gerichtlichen Strafverfahren
zulässig ist, oder ob sie auch zur Meldung an die
Strafverfolgungsbehörden und damit zu einer Einleitung des
(nicht gerichtlichen) Ermittlungsverfahren ermächtigt. Die
Tatsache, dass § 69 Abs. 1 Nr. 2 SGB X eine Ausnahme vom
Grundsatz
des
Sozialgeheimnisses
gemäß
§ 35 Abs. 1 Satz 1 SGB I normiert, spricht für eine restriktive
Interpretation der Vorschrift. Dies gilt insbesondere mit Blick
auf den verfassungsrechtlichen Bezug des Sozialgeheimnisses
(Recht
auf
informationelle
Selbstbestimmung,
Art. 2 Abs. 1 GG). Überdies zeigt auch der Wortlaut des
§ 69 Abs. 1 Nr. 2 SGB X (Durchführung eines gerichtlichen
Verfahrens einschließlich eines Strafverfahrens), dass die
Übermittlung von Informationen an die Polizei oder die
Staatsanwaltschaft nicht erfasst ist.33
Zur Meldung von nicht anvertrauten Informationen über
sexuelle oder sonstige Misshandlungen von Kindern und
Jugendlichen an die Strafverfolgungsbehörden kann das
Jugendamt
also
gemäß
§ 64 Abs. 2 SGB VIII i.V.m. § 69 Abs. 1 Nr. 1 SGB X
oder
§ 64 Abs. 1 SGB VIII ermächtigt sein. Eine Befugnis zur
Meldung
der
Misshandlung
gemäß
§ 64 Abs. 2 i.V.m. § 69 Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII besteht jedoch
immer nur, sofern dadurch der Erfolg einer zu gewährenden
Hilfemaßnahme nicht in Frage gestellt wird. Andernfalls ist
die öffentliche Jugendhilfe nicht zur Meldung befugt.
Bezüglich dieser Voraussetzung hat das Jugendamt eine
Einschätzungsprärogative.34
Im Einzelfall kann also die öffentliche Jugendhilfe zur
Meldung von sexuellen oder sonstigen Misshandlungen von
Kindern oder Jugendlichen auch ohne Zustimmung des/der
Betroffenen durchaus gemäß § 65 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII oder
31 Rombach, in: Hauck, SGB VIII, 29. Lieferung (Stand August 2003), § 64
Rn. 5.
32 Rombach, in: Hauck/Haines, SGB X Bd. 1 & 2 (Stand August 2003),§ 69
Rn. 22, 32 subsumiert ausdrücklich die Meldung von Misshandlungen an
die Strafverfolgungsbehörden unter § 69 Abs. 1 Nr. 1, 2. Var. SGB X.
33 Kröger, in: ZfJ1993, S. 21 (23 f.); Riekenbrauk, StV 1992, S. 37 (39);
Rombach, in: Hauck/Haines, SGB X Bd. 1 & 2 (Stand August 2003), § 69
Rn. 33. A.A. Kunkel, in: StV 2000, S. 531 (534); Hardtung, in: NJW 1992,
S. 211 (212); Dreher/Tröndle, StGB, 47. Aufl. (1995) § 203 Rn. 32a;
Mrozynski, SGB VIII, 3. Aufl. (1998), § 64 Rn. 6.
34 Kunkel, in: StV 2000, S. 531 (535); Rombach, in: in: Hauck, SGB VIII, 29.
Lieferung (Stand August 2003), § 64 Rn. 6.
§ 64 Abs. 1 SGB VIII
bzw.
§ 64 Abs. 2 i.V.m. § 69 Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII ermächtigt sein.
c) Ermächtigungsgrundlage aus dem Strafrecht?
Wie schon ausgeführt, ist bereits die Verweisung auf das
Strafrecht in § 65 SGB VIII rechtlich problematisch, da sie eine
Ermächtigung der Verwaltung aus dem Strafrecht begründet.
Keinesfalls aber kann unmittelbar, ohne eine solche
verwaltungsrechtliche Verweisung, auf das Strafrecht zur
Schaffung
von
Ermächtigungsgrundlagen
für
die
Eingriffsverwaltung
zurückgegriffen
werden.
Dies
widerspricht dem öffentlich-rechtlichen Grundsatz vom
Vorbehalt des Gesetzes.35
Festzuhalten bleibt damit, dass die öffentliche Jugendhilfe zur
Meldung von Misshandlungen ermächtigt sein kann. Ob sie in
diesen Fällen auch verpflichtet ist, eine Meldung zu machen,
ist indessen eine andere Frage und wird nachfolgend
untersucht.
2.) Öffentlich-rechtliche oder strafrechtliche Pflicht zur
Meldung
der
Misshandlungen
an
die
Strafverfolgungsbehörden?
In den Fällen, in denen die Jugendhilfe nicht einmal
ermächtigt
ist,
die
Misshandlungen
an
die
Strafverfolgungsbehörden zu melden, kann sie erst recht
nicht verpflichtet sein, eine derartige Meldung zu machen.
Dies gilt sowohl unter öffentlich-rechtlichen wie auch unter
strafrechtlichen Aspekten, denn das Strafrecht kann von
Amtsträgern nicht die Vornahme eines rechtswidrigen
Verwaltungshandelns verlangen.36 Eine Maßnahme der
Eingriffsverwaltung, der es an einer Ermächtigungsgrundlage
fehlt, ist aber rechtswidrig.
In einigen Fällen hat die Jugendhilfe jedoch – wie dargelegt –
eine Befugnis zur Meldung der Misshandlungen an die
Strafverfolgungsbehörden. Daraus darf indessen nicht
geschlossen werden, dass die Jugendhilfe grundsätzlich auch
zur Weiterleitung der Informationen verpflichtet ist.37
Insbesondere lässt sich eine Meldepflicht nicht aus dem
Strafrecht ableiten: Lassen sich aus strafrechtlichen
Vorschriften bereits keine Befugnisse – also Handlungsrechte
– für die Eingriffsverwaltung ableiten, so können diese
argumentum
a
maiore
ad
minus
auch
keine
Handlungspflichten für die Verwaltung statuieren, die über
die öffentlich-rechtlich normierten Pflichten hinausgehen.
Eine Verpflichtung zur Vornahme einer bestimmten
Verwaltungshandlung besteht im öffentlichen Recht nur
dann, wenn der Verwaltung diesbezüglich entweder kein
Ermessen eingeräumt wurde oder sich im konkreten Einzelfall
das Entschließungs-38 und/oder das Auswahlermessen39 auf
Null reduziert haben.
Entscheidend ist also, ob der öffentlichen Jugendhilfe ein
Ermessen eingeräumt wurde und sich dieses gegebenenfalls
auf Null reduziert hat. Für die Erfüllung ihrer Aufgaben stehen
der Jugendhilfe verschiedene „Instrumentarien“ zur
Verfügung. Ihre Handlungsmöglichkeiten reichen von der
einfachen Beratung (§ 28 SGB VIII), über die
sozialpädagogische Familienhilfe (§ 31 SGB VIII) bis hin zur
Einleitung eines Gerichtsverfahrens zum partiellen oder
35 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. (2002), § 6 Rn. 12
verweist diesbezüglich auf die Diskussion um den finalen Rettungsschuss.
Eine Ermächtigung für den finalen Rettungsschuss kann nach der absolut
vorherrschenden Rechtsauffassung auch nicht im Wege einer
Güterabwägung aus § 34 StGB hergeleitet werden.
36 Zum Verhältnis des Verwaltungs- und Strafrecht Meysen, in: ZfJ 2001, S.
408 (409).
37 Vgl. Ollmann, in: ZfJ 1999, 195.
38 Ein Entschließungsermessen liegt vor, wenn die Verwaltung entscheiden
kann, ob sie überhaupt tätig werden möchte.
39 Das Auswahlermessen beinhaltet, dass die Verwaltung entscheiden kann,
welche der zulässigen Maßnahmen sie ergreifen möchte.
23
vollständigen Sorgerechtsentzug (§ 50 Abs. 3 SGB VIII) und
zur Inobhutnahme des Kindes (§§ 42 ff. SGB VIII).40
Innerhalb dieses abgestuften Handlungsrepertoires wurde der
öffentlichen Jugendhilfe ein Auswahlermessen bezüglich der
zu
ergreifenden
Maßnahmen
eingeräumt.41
Ein
Entschließungsermessen besteht hingegen regelmäßig –
insbesondere in den Fällen der Misshandlung – nicht. Ist nach
den einschlägigen Vorschriften42 die öffentliche Jugendhilfe
zur Meldung der Misshandlungen befugt, dann ist die
Meldung
eine
von
mehreren
zulässigen
Handlungsmöglichkeiten der öffentlichen Jugendhilfe.
Beurteilung der unterlassenen Meldung von Misshandlungen
bedeutet dies folgendes:
Dieses vom Gesetzgeber eingeräumte Ermessen muss seitens
der öffentlichen Jugendhilfe entsprechend dem Zweck der
Ermächtigung und innerhalb der gesetzlichen Grenzen
ausgeübt werden.43 Sowohl hinsichtlich der Gewährung von
Hilfeleistungen als auch bezüglich der Ergreifung von
Schutzmaßnahmen legt das SGB VIII fest, dass sich die
öffentliche Jugendhilfe zum einen am Wohl und an den
Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen und zum anderen
an dem gegebenenfalls konkurrierenden Elternrecht gemäß
Art. 6 Abs. 2 Satz 3 GG zu orientieren hat.44 An ebendiesen
Interessen bzw. Rechten muss sich auch im Falle von
Misshandlungen die Auswahl der jugendhilferechtlichen
Maßnahmen orientieren, andernfalls ist die Maßnahme
ermessensfehlerhaft.
Die
staatlichen
Strafverfolgungsinteressen sind für die Auswahl hingegen
nicht bedeutsam.
Selbst wenn der Jugendamtsmitarbeiter unter öffentlichrechtlichen Gesichtspunkten zur Meldung der Misshandlung
an die Strafverfolgungsbehörden verpflichtet ist, bedeutet
dies indessen nicht, dass eine unterlassene Meldung immer
auch einen Straftatbestand erfüllt. Vielmehr müssen für eine
strafrechtliche Sanktionierung dieser Unterlassung auch alle
sonstigen Strafbarkeitsvoraussetzungen sein.49 Für die in
Frage kommenden Vorsatzdelikte wie Verletzung der
Fürsorgepflicht (§§ 171, 13 StGB), Körperverletzungsdelikte
(§§ 223, 13 StGB) oder Sexualstraftaten (§§ 174 ff., 13 StGB)
wird es oftmals am Vorsatznachweis fehlen.50 Regelmäßig
verbleibt daher nur eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit (fahrlässige
Körperverletzung gemäß §§ 229, 13 StGB). Zudem kann auch
der Nachweis der Kausalität bzw. der objektiven Zurechnung
des Erfolges zwischen unterlassener Meldung und erneuter
Misshandlung kann problematisch sein.51 Vielfach wird es
also entweder an den Strafbarkeitsvoraussetzungen fehlen
oder deren Nachweis schwierig sein.
Eine Pflicht zur Meldung von Misshandlungen kann sich also
nur ergeben, wenn sich im Einzelfall das Ermessen auf Null
reduziert hat.45 Eine solche Ermessensreduzierung auf Null
besteht,
wenn
alle
anderen
Entscheidungen
ermessensfehlerhaft wären.46 Dies kann bspw. der Fall sein,
wenn
allein
durch
eine
Meldung
an
die
Strafverfolgungsbehörden eine akute und erhebliche Gefahr
für das Kindeswohl abgewendet werden kann.
3.) Strafbarkeit von Jugendamtsmitarbeitern
Zwar können sich unmittelbar aus dem Strafrecht weder
Eingriffsbefugnisse noch Eingriffspflichten für die Mitarbeiter
des Jugendamtes ergeben. Dies bedeutet indessen nicht, dass
sie sich durch eine unterlassene Meldung von
Misshandlungen nicht strafbar machen können. Die
Feststellung, dass die öffentliche Jugendhilfe ein
Verwaltungshandeln darstellt, ist auch entscheidend für die
Frage der Strafbarkeit:
Maßgeblich für Handlungsrechte und -pflichten der
öffentlichen Jugendhilfe ist – wie dargelegt – das
Verwaltungsrecht. An diesem Maßstab muss sich auch das
Strafrecht
hinsichtlich
der
Strafbarkeit
von
Verwaltungshandeln orientieren: Weder kann ein unter
öffentlich-rechtlichen
Aspekten
rechtmäßiges
Verwaltungshandeln strafbar sein, noch kann das Strafrecht
über
das
Verwaltungsrecht
hinausgehende
Handlungspflichten begründen. Das Strafrecht ist insoweit
akzessorisch zum Verwaltungsrecht.47 Für die strafrechtliche
40 Meysen, in: ZfJ 2001, S. 408 (411).
41 Meysen, in: ZfJ 2001, S. 408 (412). Vgl. OLG Düsseldorf, in: NStZ-RR
2001, S. 199 (200), das nicht die Meldung des (eventuellen) sexuellen
Missbrauchs und der eventuell fortbestehenden Missbrauchsgefahr
fordert sondern feststellt, dass „die Angeklagte ...gehalten war,
Maßnahmen aus dem jugendhilferechtlichen Aufgabenspektrum zu
ergreifen und hierbei eine der in §§ 27-35 SGB VIII vorgesehenen Hilfen
zur Erziehung zu gewähren.“
42 S.o. unter 1.)
43 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. (2002), § 7 Rn. 17.
44 Meysen, in: ZfJ 2001, S. 408 (415).
45 Vgl. Ollmann, in: ZfJ 1999, 195 (196).
46 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. (2002), § 7 Rn. 24 f.
47 Meysen, in: ZfJ 2001, S. 408 (409). Diese Akzessorietät des Strafrechts ist
im Bereich des Umweltstrafrechts seit langem anerkannt vgl. dazu OLG
Frankfurt, in: NStZ-RR 1996, S. 103 (104); Rudophi, in: NStZ 1984, 193
Besteht nach öffentlichem Recht ein Auswahlermessen, d. h.
kann der Jugendamtsmitarbeiter zwischen verschiedenen
Maßnahmen, u. a. auch der Meldung an die
Strafverfolgungsbehörden, auswählen und entscheidet er sich
gegen eine Meldung bei den Strafverfolgungsbehörden,
nimmt aber eine andere zulässige Jugendhilfemaßnahme vor,
dann kann dieses rechtmäßige Verwaltungshandeln nicht
strafrechtlich geahndet werden.48
Fazit:
Die Jugendhilfe hat grundsätzlich weder die Pflicht noch das Recht
sexuelle oder sonstige Misshandlungen von Kindern und
Jugendlichen den Strafverfolgungsbehörden zu melden. Eine
Befugnis zur Weitergabe der Informationen besteht nur, sofern
durch die Meldung an die Strafverfolgungsbehörden konkrete
Gefahren für das Kindeswohl abgewandt werden können. Zu
einer Meldepflicht „verdichtet“ sich dieses Melderecht, sofern sich
sowohl das Entschließungs- als auch das Auswahlermessen der
Jugendhilfe auf Null reduziert haben. Auch aus dem Strafrecht
lassen sich keine weitergehenden Meldepflichten ableiten, da für
das (Verwaltungs-) Handeln der öffentlichen Jugendhilfe insoweit
allein das öffentliche Recht maßgeblich ist. Eine strafbare
Unterlassung liegt nur vor, wenn die Meldung unter öffentlichrechtlichen Gesichtspunkten rechtswidrig unterlassen wurde und
zudem alle sonstigen Strafbarkeitsvoraussetzungen erfüllt sind.
(198 f.); Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 18 Rn. 82, 3. Aufl. 2000;
Horn, in: Systematischer Kommentar, StGB, Besonderer Teil 2/3, 58.
Lieferung (Stand September 2003), Vor § 324 Rn. 24. Diese Abhängigkeit
des Strafrechts von den verwaltungsrechtlichen (Vor-) Wertungen
übersieht hingegen Bringewat, in: ZfJ 2000, S. 401 (405 ff.), der im
Rahmen der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit lediglich auf die sogenannte
„standadisierten Sonderfähigkeiten“ von Jugendamtsmitarbeitern
eingeht.
48 Meysen, in: ZfJ 2001, S. 408 (409, 413 m.w.N.).
49 Meysen, in: ZfJ 2001, S. 408 (409, 413). Bringewat, in: NJW 1998, S. 944
(947).
50 Meysen, in: ZfJ 2001, S. 408 (414). Vgl. auch das Urteil des OLG
Düsseldorf, in: NStZ-RR 2001, S. 199 (201). § 138 StGB kommt wie
bereits unter XX dargelegt nicht in Betracht. Für eine Strafvereitelung
gemäß §§ 258, 13 StGB fehlt es an der erforderlichen Garantenstellung,
denn die Mitarbeiter des Jugendamtes haben keine Garantenstellung
hinsichtlich der staatlichen Strafrechtspflege inne, vgl. dazu Ollmann, ZfJ
1999, 195 (197).
51 Vgl. dazu auch das Urteil vom OLG Düsseldorf, in: NStZ-RR 2001, S. 199
(200 f.); Meysen, in: ZfJ 2001, S. 408 (414).
24
Bis zu diesem Zeitpunkt war von sexuellen Übergriffen durch P.
nicht die Rede.
Anhang 2
02/03
Falldarstellung
Im Folgenden wird der Verlauf der Hilfemaßnahmen für einen
Jugendlichen beschrieben, der durch mehrfache sexuelle
Übergriffe aufgefallen ist.
07/03
Zur Vorgeschichte
Es handelt sich um eine Familie mit vier Kindern. Der dargestellte
Jugendliche Pascal∗ ist das drittälteste Geschwisterkind und 08/03
einziger Junge in der Familie.
1999
Die älteste Tochter (damals 16 J.) berichtet der
Klassenlehrerin von schweren sexuellen Übergriffen
durch den Vater. Die Lehrerin gibt die Informationen an
den Allgemeinen Sozialen Dienst des Jugendamtes (ASD)
weiter. Nach einer Inobhutnahme erfolgt eine Anzeige 09/03
durch die Tochter.
Die Familie erhält verschiedene begleitende Hilfen im
Rahmen ambulanter Hilfen zur Erziehung. Die
FamilienhelferInnen sehen sich häufig mit der Situation in
der Familie überfordert.
P’s Lehrer berichtet im Rahmen einer Fachberatung im
örtlichen
Kinderschutz-Zentrum
von
mehreren
Übergriffen durch P. an Mädchen in der Schule.
Beginn einer ambulanten Psychotherapie bei einem
Kollegen der Sexualberatungsstelle des örtlichen
Universitätskrankenhauses.
P. begeht verstärkt sexuelle Übergriffe. Es liegen
mittlerweile drei Anzeigen vor. Die Wohngruppe sieht
sich zunehmend überfordert. Eine ausreichende Kontrolle
sei nicht sichergestellt. In der WG wiederholt aggressive
Durchbrüche und Gewaltandrohungen gegenüber
MitarbeiterInnen.
Einweisung in die KJP wg. Suizidalität. Nach drei Tagen
Entlassung.
Begründung:
o
P. sei nicht mehr suizidal
o
die fachliche Kapazitäten
ausreichend vorhanden
seien
nicht
Im weiteren Verlauf erfolgt sukzessive die Herausnahme
o P. sei auf der Station nicht tragbar.
und Fremdunterbringung aller Kinder in verschiedenen
Insgesamt sei die Klinik nicht in der Lage, diesen Jugendlichen zu
Wohngruppen. Erwiesenermaßen hat der Vater sexuelle
behandeln.
Übergriffe an der ältesten Tochter sowie an der
zweitältesten Tochter vorgenommen. Weiterhin besteht
Danach vorübergehend ambulante Einzelbetreuung rund um die
der Verdacht auf sexuelle Übergriffe an der jüngsten
Uhr durch Sozialpädagogen. Dadurch ist kurzfristig ein weiterer
Tochter. Bekannt ist mittlerweile auch, dass P. massive
Verbleib in der Wohngruppe möglich.
körperliche Gewalt durch den Vater erlebt hat. Unklar
ist, ob und in welchem Umfang P. selber von sexuellen 11/03
Vorstellung in der KJP Viersen. Dort ist zum jetzigen
Übergriffen betroffen war oder Zeuge von sexuellen
Zeitpunkt eine Aufnahme nicht möglich (s. Bericht T.
Übergriffen wurde. Gesprächsangebote durch die
Gruber).
Familienhelferin wurden von P. zu dem Zeitpunkt
11/03
Die Vormünderin veranlasst einen Beschluss für eine
abgelehnt.
geschlossene
psychiatrische
Unterbringung.
2001
Verurteilung des Vaters mit anschließender Inhaftierung.
Die regional zuständige KJP lehnt eine Aufnahme
aufgrund der Besonderheit des Falles ab und weigert sich,
Hilfeverlauf
P. aufzunehmen, solange er nicht suizidal sei. Bei wieder
auftretender Suizidalität wird eine erneute Aufnahme in
06/02
Der 14-jährige Pascal wird in einer Wohngruppe
Aussicht
gestellt.
aufgenommen, nachdem sich die Mutter mit der
P. wird auf einer Station der Erwachsenen-Psychiatrie
Erziehung überfordert sieht. Grundlage ist ein Antrag der
eines weiteren Krankenhauses aufgenommen. Die
Mutter auf Hilfen zur Erziehung.
Erwachsenen-Psychiatrie will veranlassen, die KJP auf
Anlass der Unterbringung:
ihren Versorgungsauftrag hinzuweisen und diesen
o Über längere Zeit hat es heftige Konflikte
notfalls mit juristischen Mitteln durchzusetzen.
zwischen Mutter und Sohn gegeben. Die
Mutter
beschreibt
Impulsdurchbrüche bei P.
10/02
aggressive 12/03
o
P. verhält sich sexuell auffällig gegenüber
seiner Mutter, er bedrängt und belästigt sie.
o
P. leugnet und bagatellisiert die Übergriffe
durch den Vater und macht die Geschwister
für die Inhaftierung verantwortlich. Heftige
verbale und körperliche Attacken gegen die
Geschwister.
Vorstellung
von
P.
im
JugendpsychologischPsychiatrischen Dienst (JPPD), im Anschluss daran kurze
Aufnahme in der regional zuständigen Kinder- und
Jugendpsychiatrie (KJP).
Anlass:
o
Äußerung von Suizidgedanken
o
Schulschwänzen, um die Mutter zu besuchen
o
heftige Konflikte mit der Mutter
o
Leistungsabfall in der Schule.
P. wird in einer Jugendwohngruppe in einem anderen Ort
aufgenommen. Die ambulante Therapie in der
Sexualberatungsstelle wird fortgesetzt.
Bis zu diesem Zeitpunkt dauerte der Hilfeprozess für P. 1,5 Jahre.
Fazit
Der Hilfeprozess verlief unter mehreren Aspekten nicht optimal:
Hilfeplanung
Die Falldarstellung zeigt, dass die sexuellen Übergriffe lediglich
einen Aspekt einer insgesamt problematischen Lebenssituation
des Jugendlichen darstellen. Die Komplexität des Falles macht
entsprechende komplexe Hilfemaßnahmen erforderlich. Dies ist
nur in Maßen gelungen.
Kooperation beteiligter Institutionen
Die Kooperation zwischen beteiligten
Hilfesystemen/Institutionen verlief nicht optimal:
Die Kooperation in diesem Fall hat sich zufällig und nicht
strukturell begründet ergeben.
Die bestehenden Kooperationsmöglichkeiten sind nicht
ausreichend genutzt worden.
Spezifische Qualifikationen
Es fehlte an geeigneten Wohngruppen für Jugendliche, die
durch sexuell grenzverletzendes Verhalten auffallen.
Eine qualifizierte Diagnostik fand nicht statt.
-
∗ Name geändert
25
-
Die stationäre KJP konnte ihrem Versorgungsauftrag nicht
nachkommen.
Konsequenzen: Was wäre hilfreich gewesen?
Fallunabhängige Kooperationsstrukturen, die ein zielgerichtetes
Handeln im Einzelfall ermöglichen.
Fallbezogene Kooperation aller Beteiligten.
Hilfeplanung unter Beteiligung aller involvierten Institutionen.
Frühzeitige Diagnostik, eingebunden in die Hilfeplanung.
Fließende Übergänge zwischen ambulanter und stationärer
Behandlung.
Qualifizierung von Wohngruppen, fachliche Begleitung der
Wohngruppen durch Supervision.
Qualifizierung der KJP, um sexuell grenzverletzende Jugendliche
auch längerfristig aufnehmen und behandeln zu können.
Aufbau eines Netzwerkes von KollegInnen, die sexuell
aggressive Jugendliche ambulant behandeln können.
•
Es findet eine ambulante Begleitung der WG statt, die diese
als gut gemeint aber wenig konkret unterstützend erlebt.
•
Der Junge wird dem kinder- und jugendpsychiatrischen Dienst
der Großstadt vorgestellt, der keine Anregungen geben kann.
In Viersen (600 km entfernt) findet ein Vorstellungsgespräch statt.
Der Junge ist kaum kooperativ, schnell aggressiv gespannt,
versucht seine Übergriffe zu bagatellisieren und zu verleugnen. Er
droht mit Suizidszenarien bei zu starken Anforderungen, deutet
an, den offenen Rahmen nicht einhalten zu wollen etc.
Selbstkontrollmöglichkeiten lehnt er ab(z. B. Haus nicht mehr
verlassen). Er zeigt keinerlei Bereitschaft, den Ablauf der
Übergriffe zu reflektieren, räumt ein, ohne Vorsicht (Risiko des
Aufdeckens) die Übergriffe auszuführen.
Wir schätzen den Jungen so ein, dass er für Therapie im offenen
Rahmen nicht geeignet ist, befürworten eine strafrechtliche
Begutachtung, schätzen das Risiko weiterer Übergriffe als hoch
ein und betonen, dass diese an Aggressivität zunehmen werden.
Wir halten den Verbleib in der WG für unverantwortlich.
Dies faxen wir an:
Anlage: Bericht Thomas Gruber, Klinik Viersen
Anhand eines Falles aus einer norddeutschen Großstadt, der mir
letzte Woche vorgestellt wurde, können nicht vorhandene
Kooperationsstrukturen deutlich gemacht werden.
Der Junge, um den es geht, lebt seit 1,5 Jahren in einer
sozialpädagogisch betreuten Wohngemeinschaft. Er wurde dort
aufgenommen, nachdem der Vater die jüngere Schwester
vergewaltigt hat und deshalb in Haft kam. Da das Jugendamt
seiner Mutter die Versorgung der insgesamt 4 Kinder nicht
zutraute, wurden Vormünder bestellt und die Kinder in
Jugendhilfeeinrichtungen verteilt.
•
den zuständigen ASD
•
die zuständige Jugendgerichtshilfe
•
die Staatsanwaltschaft
•
die Vormünderin
•
das Amtsgericht
mit der Bitte um weitere Veranlassung und zur Kenntnisnahme.
Der Junge leugnet und bagatellisiert den Haftgrund seines Vaters.
Vormund ist eine Rechtsanwältin,
Pflichtverteidigung übernimmt.
die
jetzt
auch
die
Seit einem Jahr begeht der Junge wöchentlich ca. einen sexuellen
Übergriff zum Nachteil von 9 – 13-jährigen Mädchen, die er auf
Spielplätzen anfällt, auf und unter der Kleidung berührt (Brust und
Schambereich), es werden ihm auch versuchte Vergewaltigungen
vorgeworfen.
•
Die Jugendhilfeeinrichtung ermuntert die Opfer zur Anzeige
(3x geschehen) und versucht, ihn in ortsansässigen Kjps
unterzubringen. Diese lehnen ab, fühlen sich nicht
kompetent.
•
Die Heimaufsicht weist die Einrichtung darauf hin, die Kinder
in der Gruppe und im Umfeld zu schützen.
•
Die Staatsanwaltschaft ist über den Verlauf nicht informiert
oder reagiert nicht.
•
Das zuständige Amtsgericht (Anklage ist in 3 Fällen
zugelassen) ist nicht informiert oder reagiert nicht.
•
Die Vormünderin verweigert bisher eine geschlossene
Unterbringung oder auch nur eine Inobhutnahme des Jungen
außerhalb der Einrichtung.
•
Die Einrichtung ist mit der Kontrolle des Jungen überfordert.
Er fährt in den Herbstferien in eine Ferienfreizeit und wird
dort so häufig übergriffig, dass er vorzeitig abreisen muss. Es
gehen keine Infos an die Staatsanwaltschaft. Auf die Idee, die
Vielzahl der Übergriffe anzuzeigen, ist man auch nicht
gekommen.
•
Die zuständigen Kjps verweigern eine konkrete und
wenigstens beratende oder diagnostische Unterstützung
ebenso wie eine stationäre Aufnahme (Ausnahme: 3 Tage
wegen Suizidalität), stattdessen wird an uns verwiesen.
26
27
Impressum
Verantwortlich:
Steuerungsgruppe "Modellprojekt Sexuell deviante Jugendliche", Februar 2005
Koordinationsbüro:
Arthur Kröhnert
Bundesgeschäftführer
Die Kinderschutz-Zentren
Bonner Str. 147
50968 Köln
Deutschland
Telefon: (0221) 56 97 53
Telefax: (0221) 56 97 55-0
E-Mail: [email protected]
Internet: www.kinderschutz-zentren.org
28
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