Soziales Kompetenztraining für Kinder und Jugendliche mit

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Cholemkery • Freitag
Soziales Kompetenztraining
für Kinder und Jugendliche
mit Autismus-SpektrumStörungen
E-BOOK INSIDE +
ARBEITSMATERIAL
ONLINE-MATERIAL
Cholemkery • Freitag
Soziales Kompetenztraining für Kinder und Jugendliche
mit Autismus-Spektrum-Störungen
Hannah Cholemkery • Christine M. Freitag
Soziales Kompetenztraining
für Kinder und Jugendliche
mit Autismus-Spektrum-Störungen
Mit E-Book inside und Arbeitsmaterial
Anschrift der Autorinnen:
Dr. Hannah Cholemkery, Dipl.-Psych.
Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters
Universität Frankfurt
Deutschordenstr. 50
D-60528 Frankfurt am Main
E-Mail: [email protected]
Prof. Dr. med. Dipl.-Theol. Christine M. Freitag
Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters
Universität Frankfurt
Deutschordenstr. 50
D-60528 Frankfurt am Main
E-Mail: [email protected]
Print ISBN 978-3-621-28148-5
Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich
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1. Auflage 2014
! Beltz Verlag, Weinheim, Basel 2014
Programm PVU Psychologie Verlags Union
http://www.beltz.de
Lektorat: Karin Ohms
Herstellung: Uta Euler
Illustrationen: Kim Schön, Offenbach
Umschlaggestaltung: Federico Luci, Köln
Umschlagbild: William Perugini/Getty Images
Satz: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
E-Book
ISBN 978-3-621-28200-0
Inhaltsübersicht
Vorwort der Autorinnen
11
Geleitwort
15
Teil I Störungsbild
19
1
2
3
4
5
6
7
Geschichte des Autismus
Definitionskriterien und Klassifikation
Komorbidität und Differenzialdiagnose
Epidemiologie und Ätiologie
Diagnostik
Lebensumwelten und Prognose
Interventionen
Teil II Therapie
8
9
10
11
Konzept der Gruppentherapie
Struktur des Trainings
Beschreibung der einzelnen Sitzungen
Elternabende
20
23
46
49
52
71
78
97
98
131
142
194
Literatur
211
Sachwortverzeichnis
221
Inhaltsübersicht
5
Inhalt
Vorwort der Autorinnen
Geleitwort
11
Teil I
19
1
2
Geschichte des Autismus
20
Definitionskriterien und Klassifikation
23
24
2.1
2.1.1
2.1.2
2.1.3
2.1.4
2.2
2.3
2.3.1
2.3.2
2.3.3
2.3.4
2.3.5
2.3.6
2.3.7
2.4
3
4
5
Störungsbild
15
Diagnosekriterien
Tiefgreifende Entwicklungsstörungen in ICD-10 und
DSM-IV-TR
Subtypen
Abgrenzung zu Rett-Syndrom und Desintegrativer Störung
Ausblick zum Begriff des Autismus-Spektrums
Multiaxiale Klassifikation
Assoziierte neurokognitive Aspekte
Motorik
Sensorik
Aufmerksamkeit
Exekutive Funktionen
Zentrale Kohärenz/Lokale Informationsverarbeitung
Soziale Kognition und Empathie
Soziale Motivation und soziales Lernen
Fallvignetten
24
29
32
33
34
35
36
36
38
39
40
41
43
44
Komorbidität und Differenzialdiagnose
46
Epidemiologie und Ätiologie
49
Diagnostik
52
54
54
57
61
63
65
69
5.1
5.1.1
5.1.2
5.2
5.3
5.3.1
5.3.2
Screening- und Diagnoseinstrumente
Screeningverfahren
Diagnoseinstrumente
Anamnese
Testpsychologische Leistungsdiagnostik
Mehrdimensionale Testverfahren
Eindimensionale Testverfahren
Inhalt
7
6
7
Lebensumwelten und Prognose
71
Interventionen
78
80
82
7.1
7.2
7.3
7.4
7.5
7.5.1
7.5.2
7.6
7.6.1
7.6.2
7.6.3
Teil II
8
Therapie
Konzept der Gruppentherapie
8.1
8.2
8.3
8.4
8.5
8.6
8.7
Grundlegende Ziele
Zielgruppe und Empfehlungen für die Gruppenzusammenstellung
Rahmenbedingungen
Therapeutische Methoden und Didaktik
Menschenbild und Therapeutenvariablen
Umgang mit schwierigen Situationen
Fallbeispiel zur Indikation
83
86
87
88
90
91
91
92
96
97
98
98
100
104
109
123
124
129
9
Struktur des Trainings
131
131
137
139
10
Beschreibung der einzelnen Sitzungen
142
9.1
9.2
9.3
10.1
10.2
10.3
8
Frühförderung
Elterntraining
Gruppentherapeutische Interventionen für Kinder und
Jugendliche mit ASS und guten kognitiven Fertigkeiten
Computergestützte Verfahren
Soziales Kompetenztraining
Inhalte und Ziele
Zentrale Inhalte bei Kindern und Jugendlichen mit einer ASS
Entwicklung des SOSTA-FRA-Manuals
KONTAKT
Weiterentwicklung: Was hat sich verändert?
Evaluation der Gruppentherapie anhand der
SOSTA-net-Studie
Inhalt
Grundstruktur des Trainingsablaufs
Themenbausteine
Inhaltlicher Überblick
Sitzung 1
Kennenlernen und Einführung: »Was kommt auf mich zu?«
Sitzung 2
Kommunikation: »Ich sage etwas aus durch …«
Sitzung 3
Gefühle I: »Ich spüre was, das du nicht siehst – Gefühle
erkennen!«
144
148
151
10.4
10.5
10.6
10.7
10.8
10.9
10.10
10.11
10.12
10.13
11
Sitzung 4
Gefühle II: »Meine Gefühle ausdrücken, deine Gefühle
erkennen – so verstehen wir uns besser!«
Sitzung 5
Gefühle III: »Welches Gefühl passt zur Situation?«
Sitzung 6
Impulskontrolle und Selbstregulation: »Ich kann mit meiner
Wut gut umgehen!«
Sitzung 7
Soziale Interaktion und Problemlösen I: »Soziale Regeln –
Wann ist ein Fehler wirklich schlimm?«
Sitzung 8
Soziale Interaktion und Problemlösen II: »So komme ich in
Kontakt!«
Sitzung 9
Soziale Wahrnehmung: »Heute trau ich mich, selbstbewusst zu
sein!«
Sitzung 10
Selbst- und Fremdwahrnehmung I: »Das kann ich gut –
das kannst du gut!«
Sitzung 11
Selbst- und Fremdwahrnehmung II: »Perspektivwechsel –
so komme ich ins Gespräch!«
Sitzung 12
Abschluss und Abschied nehmen: »Das vergesse ich nicht.«
Aktive Nachmittage
Konzept 12 + 6: »Wiederholung, Vertiefung, Transfer!«
Elternabende
11.1
11.2
11.3
Sitzung 1
Sitzung 2
Sitzung 3
Literatur
Sachwortverzeichnis
156
160
164
169
173
176
179
183
188
192
194
198
203
207
211
221
Inhalt
9
Vorwort der Autorinnen
Oftmals begegnen wir in unserer klinischen Praxis Kindern und Jugendlichen mit
Autismus-Spektrum-Störungen, die sich den Kontakt zu Gleichaltrigen wünschen und
gleichzeitig jeden Tag spüren und erleben, dass sie auf Zurückweisungen stoßen, viele
Verhaltensweisen ihrer Klassenkameraden nicht verstehen können und darüber verzweifeln. Gerade Kinder und Jugendliche mit normaler Intelligenz werden sich ihrer
Andersartigkeit im Entwicklungsverlauf immer bewusster. Auch sie haben in den
meisten Fällen das Bedürfnis nach Freundschaft und Beziehungen, wissen aber nicht,
wie sie sich in Gesellschaft verhalten sollen. Die täglich erlebte Frustration führt oft zu
Ängstlichkeit und Unsicherheit in der sozialen Interaktion, Rückzug und depressiven
oder (auto-)aggressiven Kompensationsstrategien.
Autismus-Spektrum-Störungen sind tiefgreifende Entwicklungsstörungen. Das
bedeutet, eine schnelle Heilung kann in der Behandlung nicht das Ziel sein. Anleitungen und Übungen zur Verbesserung sozialer Fertigkeiten können jedoch gerade den
normal begabten Kindern und Jugendlichen helfen, sich in ihrer sozialen Umwelt
besser zu orientieren und mit ihren Schwierigkeiten zurechtzukommen. Die therapeutische Zielsetzung liegt von daher in der Unterstützung zum Aufbau von Umgangsstrategien und einer Verbesserung des psychosozialen Funktionsniveaus. Behandlungskonzepte und Therapieplätze fehlen jedoch. Mit dem vorliegenden Therapiemanual reagieren wir auf eine Lücke im Behandlungssystem. Wir haben uns bemüht, die
Instruktionen und das Therapiematerial möglichst leicht anwendbar zu gestalten in
der Hoffnung, dass es unkompliziert, auch von den niedergelassenen Kolleginnen und
Kollegen, in den therapeutischen Alltag implementiert werden kann. Damit hoffen
wir, die oftmals vorhandene Hemmschwelle zur Behandlung autistischer Kinder und
Jugendlicher verringern zu können.
Das vorliegende therapeutische Konzept SOSTA-FRA wurde als Training sozialer
Fertigkeiten speziell für Kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen
entwickelt. Es ist als 12 + 6-wöchiges Gruppenkonzept konzipiert. Das bedeutet, dass
zwölf einzelne Sitzungen plus Arbeitsmaterialien vorliegen. Zusätzlich kann jede dritte
Stunde zu Wiederholung oder freien Gestaltung gemeinsamer Aktivitäten zur Förderung von Selbstständigkeit und Transfer des Gelernten in Alltagssituationen genutzt
werden. Nicht nur die Kinder, sondern auch ihre Eltern und Familien sind häufig vor
enorme Herausforderungen gestellt und dadurch sehr belastet. Begleitet wird die
Gruppentherapie aufgrund dessen von drei Elternabenden. Die Inhalte der Gruppentherapie sind nicht gänzlich neu. Viele verhaltenstherapeutische Übungen haben sich
in der klinischen Praxis bewährt und wurden aufgrund dessen mit aufgenommen. Die
Anwendung des Therapiemanuals erfordert zunächst ein verhaltenstherapeutisches
Grundwissen, Erfahrung im Umgang mit Kindern und Jugendlichen mit ASS und eine
sorgfältige Einarbeitung in das Therapiekonzept.
Vorwort der Autorinnen
11
Die vorgestellte Gruppentherapie wurde im Rahmen langjähriger Durchführung
konzipiert und weiter entwickelt. In den letzten drei Jahren wurden allein in Frankfurt
14 Gruppen angeboten und über die SOSTA-net-Studie (Social Skills Training for
children and adolescents with high-functioning Autism Spectrum Disorders) evaluiert.
Die SOSTA-net-Studie ist bisher die weltweit größte Studie zu Sozialem Kompetenztraining bei Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störungen. Sie folgte
einem randomisiert-kontrollierten Studiendesign und wurde gemeinsam von sechs
Universitätskliniken in Deutschland durchgeführt.
Für die kreative, konstruktive und engagierte Zusammenarbeit und Mithilfe
möchten wir an dieser Stelle allen Kolleginnen und Kollegen danken, mit denen wir
gemeinsam die Therapie entwickeln und durchführen durften: In Aachen gilt das
insbesondere für Georg Kempe, Dr. Susanne Gilsbach, Dr. Martin Schulte-Rüther und
Prof. Dr. Beate Herpertz-Dahlmann. In Homburg an der Saar unterstützten uns mit
großem Engagement Susann Hänig, Wera Otto und Prof. Dr. Alexander von Gontard.
Auch den Mannheimer Kolleginnen und Kollegen Stefan Heintz, Anne Schröter,
Dr. Tanja Schad-Hansjosten, Idil Sungurtekin, Marita Bock, Christiane Bach und
PD Dr. Luise Poustka gilt unser Dank für großen Einsatz und fachliche Kompetenz.
Ebenso bedanken wir uns bei unseren Kölner Kolleginnen/en Christina Wenzl, Nora
Calaki, Galina Röttges, PD Dr. Judith Sinzig und Prof. Dr. Gerd Lehmkuhl für ihre
engagierte Unterstützung. In Würzburg unterstützten uns ganz besonders Dr. Regina
Taurines, Dr. Julia Geißler, Annette Nowak, Dr. Thomas Jans, Ulrike Zwanzger,
Berthold Martin, Prof. Dr. Andreas Warnke und Prof. Dr. Marcel Romanos.
Wir hoffen, es wird uns verziehen, dass wir an dieser Stelle nicht alle Kolleginnen
und Kollegen der Kliniken in Aachen, Homburg, Frankfurt, Köln, Mannheim und
Würzburg nennen können, die durch ihre wertvolle diagnostische und therapeutische
Arbeit die Umsetzung unserer SOSTA-net-Studie mit getragen haben. Auch ihnen gilt
unser herzlicher Dank in vollstem Maße.
Auch unseren Kolleginnen und Kollegen in Frankfurt danken wir in besonderem
Maße für engagierte und liebevoll-therapeutische und diagnostische Unterstützung:
Dr. Sabine Schlitt, Dr. Eftichia Duketis, Michael Sachse und Eva Westerwald. Unser
ganz besonderer Dank gilt hierbei Leyla Elsuni, die mit ihrem Engagement und ihrem
Einsatz für unsere autistischen Kinder und Jugendlichen jeden Schritt in der Entwicklung des Therapiekonzepts begleitet und durch unzählige kreative und konstruktive
Impulse bereichert hat.
Prof. Dr. Fritz Poustka danken wir ganz herzlich für sein Interesse an der Arbeit mit
autistischen Kindern und Jugendlichen und die freundlichen einleitenden Worte.
Dr. Isabel Dziobek danken wir für ihr hilfsbereites Entgegenkommen bei der Überlassung der MASC-Videos für unsere Gruppentherapie. Für die engagierte Zusammenarbeit danken wir dem Beltz-Verlag und vor allem Frau Karin Ohms für ihre
Unterstützung.
Für die grafische Gestaltung und liebevolle Illustration der Arbeitsblätter danken
wir von Herzen Kim Schön.
12
Vorwort der Autorinnen
Für den Blick von und nach außen und für vieles, vieles mehr danken wir Jim
Cholemkery und Frank Scheele.
Allen voran gilt unser Dank den Kindern und Jugendlichen und ihren Familien, die
wir im Rahmen unserer Arbeit mit all ihren Wünschen und Sorgen, ihren Schwierigkeiten, ihren Besonderheiten und ihren beeindruckenden Persönlichkeiten kennen
lernen durften und von denen wir täglich lernen.
All denjenigen, die an der Umsetzung unserer Gruppentherapie interessiert sind,
wünschen wir viel Freude in der inspirierenden, oftmals Ausdauer benötigenden,
spannenden und bereichernden Arbeit mit autistischen Kindern und Jugendlichen.
Frankfurt, im Frühjahr 2014
Hannah Cholemkery und
Christine M. Freitag
Vorwort der Autorinnen
13
Geleitwort
Autismus ist keine seltene Erkrankung. Mehr als 1 Prozent junger Menschen sind
davon betroffen. Diese jungen Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung
(ASS) können soziale und emotionale Eindrücke kaum kommunizieren, intuitiv nicht
entsprechend reagieren und sich nicht angemessen äußern. Dies betrifft nicht nur das,
was man sagt, sondern wie man sich äußert, nämlich mit welchem begleitenden
Tonfall, welcher Mimik, Gestik und »Haltung«. Dieses Handicap in den sog. sozialen
kognitiven Fähigkeiten macht die Betroffenen mit ASS oft zu extrem isolierten
Außenseitern der Gesellschaft. Häufig fragen Kinder mit ASS und guten sprachlichen
Fähigkeiten, wie sie denn Freunde gewinnen können und wie man dies bewerkstelligt.
Eltern und andere nahe Bezugspersonen leiden oft sehr stark darunter, mit dem
eigenen Kind nicht kommunizieren zu können, da es auf Ansprache oft nicht reagiert,
wenig oder keinen Blickkontakt hält und kaum Anteilnahme zeigt. Von allen psychischen Störungen führt dies zu dem wahrscheinlich heftigsten Leidensdruck von
Angehörigen.
Nach Walter Bandura gehört die Fähigkeit zum Imitationslernen zur wichtigsten
Ausstattung insbesondere junger Menschen. Inwieweit diese Fähigkeit bei Kindern
und Jugendlichen mit ASS vorhanden ist und eingesetzt werden kann, ist prognostisch
bedeutsam.
Daher stellt sich die Frage: Wie kann man diesen Kindern und Jugendlichen am
besten helfen? Wie können Kinder eine angemessene Teilhabe an das tägliche Leben
mit all den herausfordernden, angenehmen und unangenehmen Facetten in Schule,
Ausbildung und Beruf erreichen? Wie kann man ihnen helfen, Freundschaften
anzubahnen, kurz »soziale Fertigkeiten« zu entwickeln, sich in verschiedenen Lebenslagen zu integrieren oder zumindest sich zu adaptieren? Ist es möglich dies zu lernen?
Diese Frage zu beantworten, ist wesentlich, da es in absehbarer Zeit keine andere
Behandlung geben wird. Denn es ist zweifelhaft, dass eine genetische Aufklärung zu
einem Behandlungserfolg führen wird, da die Molekulargenetik davon ausgeht, dass
etwa 1.000 Gene mit meist kleinen Effekten am Zustandekommen der ASS beteiligt
sein können und dass gegen die Kernsymptomatik bis jetzt kein Medikament hilft.
Schon Hans Asperger schrieb in seiner Habilitationsarbeit 1944 sinngemäß, dass
Kinder mit autistischer Psychopathie mehr Zeit, Hilfe und Hinweise benötigen, um
sich über Emotionen wie Peinlichkeiten oder Stolz hinwegsetzen zu können. Ihre
Reaktionen bleiben aber unsicher, unklar und wie »abgelesen«.
Kinder und Jugendliche bewegen sich lange Zeit in Gruppen, wie Kindergarten,
Schule, Berufsschule oder Studium. Genau dort zeigen die von ASS Betroffenen die
meisten Schwierigkeiten. Nichts liegt näher als die Bemühungen, mit Hilfe eines
Gruppentrainings Integration zu lernen und soziale Probleme zu meistern. Hier
kann man Interaktionsspiele einführen und nach individueller Vorbereitung das
Geleitwort
15
Erkennen von Emotionen in Gesichtern ablesen lernen und die dazu passenden
Situationen erkennen. Telefonieren, Small-Talk betreiben und Konfliktentwicklungen
zu übersehen und versuchen zu beeinflussen, sind anstrengende, aber auch unterhaltsame »Spiele«.
Das ist aber nicht der einzige Aspekt: Gerade in einer Gruppe sich lernend wohlzufühlen, zu diskutieren, verschiedene Rollen in der Gruppe anzunehmen und
auszufüllen (bis hin zum Gruppenleiter), bedeutet das Gegenteil von Isolation und
stößt deshalb bei jungen Menschen mit ASS auf große Akzeptanz. Die Erfahrungen, die
wir mit den ersten Gruppen mit Hilfe des Manuals »KONTAKT: Frankfurter Kommunikations- und soziales Interaktions-Gruppentraining für Autismus-SpektrumStörungen« (Herbrecht et al., 2008) gewonnen hatten, waren sehr ermutigend. Die
Teilnehmer dieser ersten Gruppen schwiegen zwar zu nächst sehr lange und es war
deprimierend zuzuschauen, wie scheinbar wenig interessiert sie sich zueinander
verhielten. Dies änderte sich recht schnell im Verlauf der Interaktionsspiele. Am
Ende hatten wir Gruppen gesehen, die beim Abschluss miteinander Gebäck backten
und fröhlich bei der Sache waren. Bis auf wenige Ausnahmen konnten unbefangene
Zuschauer nicht erkennen, welche Probleme die Jugendlichen eigentlich haben sollten.
Und wir gerieten in Schwierigkeiten, die Gruppen zu beenden, da die Teilnehmer sich
sehr dagegen wehrten, aber die Überführung in selbstständige Gruppentreffen ohne
Trainer nicht gelingen wollte.
Was auch nicht gut gelang, war, trotz standardisiertem Lernens in vorgegebenen
Schritten, erlebte Probleme und Auseinandersetzungen eines Gruppenteilnehmers in
seinem Umfeld in die Therapiegruppe einzuführen. Es sollte in der Therapiegruppe
versucht werden, realistische Lösungswege zu finden. Die Verquickung von erlebten
Auseinandersetzungen im Alltag mit Autismus-typischen Reaktionen wurde von fast
allen Teilnehmern erlebt, konnte aber kaum konstruktiv verändert werden. Trotzdem
zeigten die Auswertung der Verhaltensweisen der Teilnehmer außerhalb der Therapiegruppen in Familie und Schule deutliche Verbesserungen (Herbrecht et al., 2009).
Das hier nun vorliegende Manual »Soziales Kompetenztraining für Kinder und
Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen« ist eine Weiterführung des
KONTAKT-Manuals. Was ist neu? Dieses Manual ist deutlicher verhaltenstherapeutisch geprägt, es verwendet das Gesichter-Erkennen mit Hilfe des »FEFA« (Frankfurter
Test und Training des Erkennens von fazialem Affekt, s. Homepage der Frankfurter
Universitäts-Klinik) eher in der Gruppe als im Einzeltraining in Vorbereitung auf die
Gruppe, es vertieft in zwölf Trainingseinheiten Problemlösungsstrategien in Rollenspielen mit erheblichen Bemühungen mittels Feedback. Hinzukommen wesentliche
Begleitmaterialien und Vorgangsweisen wie Arbeitsblätter, Plakate mit Regeln und
genauere Belohnungsstrategien sowie ein Elternbegleitprogramm. SOSTA wird derzeit
schon in einer großen multizentrischen Gruppe mit einer gut dotierten Drittmittelförderung evaluiert.
Man darf zu Recht hoffen, dass diese Therapie eine bedeutsame Verbesserung
bringt. Sie wird dazu beitragen, grundlegende Schwierigkeiten bei ASS zu mindern und
so diese lebenslang bestehende Störung besser zu bewältigen. Zu wünschen ist, dass
16
Geleitwort
dieses Therapieprogramm so weit entwickelt werden kann, dass es auch für jüngere
Kinder und solche mit intellektuellen Defiziten Anwendung finden kann. Dann wären
wir einen großen Schritt weiter, eine Bibliothek mit verschiedenen Therapiemodalitäten besser an die jeweiligen Bedürfnisse anpassen zu können und diese in den
verschiedenen Gruppen zum Einsatz zu bringen.
Frankfurt, im Frühjahr 2014
Fritz Poustka
Geleitwort
17
Teil I
Störungsbild
1
Geschichte des Autismus
Betrachtet man die Eindrücklichkeit der autistischen Symptome, überrascht es, dass
die ersten systematischen klinischen Beschreibungen relativ spät erfolgten. Die Wortbedeutung »Autismus« beruht auf der Zusammensetzung der griechischen Wörter
»autos« (= selbst) und »ismos« (= Zustand) und beschreibt somit eine Orientierung
auf das eigene Selbst. Der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler verwendete 1911 erstmals die Begrifflichkeit Autismus, um das schizophrene Grundsymptom der Zurückgezogenheit (oder der Selbstbezogenheit) in die innere Gedankenwelt zu umschreiben
(Bleuler, 1911). Gleichzeitig beschrieb er die Folgen der schizophrenen Selbstbezogenheit, nämlich dass der Betroffene sein Verhalten nicht mehr an die tatsächliche Umwelt
anpassen kann (Scharfetter, 1999).
Ein Bedeutungswandel des Wortes erfolgte 30 Jahre später mit den beinahe gleichzeitig und dennoch vollkommen unabhängig voneinander publizierten Arbeiten der
österreichischen Pioniere Leo Kanner und Hans Asperger. Während die Thesen des
Kinder- und Jugendpsychiaters Kanner (»Autistic disturbances of affective contact«)
1943 in den USA auf Englisch veröffentlicht wurden und weltweit Aufmerksamkeit
und internationalen Ruhm mit sich brachten, blieben die Beschreibungen des Pädiaters Asperger (»Autistische Psychopathen im Kindesalter«) 1944 zunächst weitgehend
unbeachtet.
Leo Kanner. Kanner hatte zunächst in Deutschland studiert und gearbeitet. Er
emigrierte 1924 in die USA. Zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung arbeitete er
bereits in Baltimore. Kanners Beschreibung des Autismus erfolgte ausdrücklich in
Abgrenzung zur sozialen Entwicklung gesunder Kinder. Anhand von 13 Fallbeispielen
beschrieb er das Fehlen des kindlichen Bedürfnisses nach Interaktion und definierte
die Störung als vorwiegend emotionaler Natur. Symptomatisch beschrieb er eine
eingeschränkte Reaktivität auf Menschen, Veränderungssensitivitäten, Auffälligkeiten
in der Sprache, ein hohes Interesse an unbelebten Objekten sowie das Fehlen des
natürlichen Bedürfnisses nach affektivem Kontakt (Kanner, 1943). Auch besondere
Begabungen, wie spezielle Gedächtnisleistungen, wurden von Kanner beobachtet.
Elterliche Besonderheiten, wie z. B. Distanziertheit, Intelligenz und die Tendenz zu
Wissenschaftlichkeit und Kunst, fanden ebenfalls bei Kanner Erwähnung. Ätiologisch
nahm er ein angeborenes Syndrom, bedingt durch eine Stoffwechselstörung, an.
Hans Asperger. Im gleichen Jahr reichte Asperger als Werk zur Habilitation seine
Fallbeschreibung von vier Jungen an der Universität Wien ein (Asperger, 1944). Da
seine Veröffentlichung 1944 in deutscher Sprache und im durch den 2. Weltkrieg
geprägten Europa erfolgte, blieb sie zunächst wenig beachtet. Wie Kanner ging auch
Asperger von einer angeborenen Symptomatik aus. Er beschrieb den Autismus als
Extremvariante einer normalen (männlichen) Persönlichkeit und kommt damit dem
heutigen Spektrumsbegriff schon recht nahe. Aspergers Fallbeispiele zeichnen sich
20
1 Geschichte des Autismus
durch Auffälligkeiten im Bereich der Kommunikation und des Kontaktverhaltens, der
reduzierten Gestik und Mimik sowie einem monologisierendem Verhalten ohne
interaktive Elemente aus. Zudem beschreibt er Auffälligkeiten in der Motorik und
des Körpergefühls, Fokussierungen auf spezifische Themen und Interessen sowie eine
auffällige Sprechweise, die durch Neologismen, Originalität und eine monotone
Stimmlage geprägt ist. Die ersten Auffälligkeiten beobachtete Asperger ab einem Alter
von drei Jahren.
Nicht nur der verwendete Terminus »Autismus«, auch die beschriebene Symptomatik und die Annahme ursächlicher vererbter, biologischer Faktoren weisen eine
große Schnittmenge zwischen den beiden Autismus-Pionieren auf. Diese Schnittmenge ist umso erstaunlicher, als dass beide Arbeiten in vollkommener Unkenntnis
des jeweils anderen verfasst wurden und sich beide Wissenschaftler nie begegneten
(Bölte, 2009a).
Autismus als kindliche Psychose. In den kommenden Jahrzehnten orientierte sich das
Thema Autismus im Wesentlichen an den Arbeiten Kanners. Im Kontext psychoanalytischer Erklärungsmodelle war in den USA der 1950er und 1960er Jahre zunächst
noch der Schizophreniebegriff dominant. Autismus wurde im DSM-II (APA, 1968)
und in der ICD-9 (WHO, 1978) unter den »Typischen Psychosen im Kindesalter«
klassifiziert. Ätiologisch wurde das Konzept der seelisch kalten Mütter als ursächlich
für autistische Auffälligkeiten eines Kindes angesehen (»Kühlschrankmütter«; Bettelheim, 1967). Einer kontroversen Diskussion folgten zunehmend vielfältige Befunde
über biologische und genetische Grundlagen sowie neuropsychologische Veränderungen als Basis dieses beobachtbaren Verhaltens. In diesen Zusammenhang wurden nun
auch subklinische Verhaltensweisen bei Eltern autistischer Kinder eingeordnet. Einen
Meilenstein bildeten hierbei die Ergebnisse genetischer Zwillingsstudien (Folstein &
Rutter, 1977).
Tiefgreifende Entwicklungsstörung. Gleichzeitig erfolgte die Abgrenzung der autistischen Störungen von der psychotischen Störung bezüglich Beginn, Verlauf und
Symptomatik. Von der Psychose gelangte man zur Begrifflichkeit der »Tiefgreifenden
Entwicklungsstörung« (Rutter, 1978; DSM-III, APA, 1980). In den 1980ern gewann
auch das Asperger-Syndrom, befeuert durch Forschungsarbeiten der englischen
Psychologin Lorna Wing (1981), ein Jahr nach dem Tod Hans Aspergers, international
an Bedeutung. Zehn Jahre später erfolgte die Übersetzung von Aspergers Schriften
durch Uta Frith (1991) in die englische Sprache. Daraufhin schlossen ICD-10 (WHO,
1992) und DSM-IV (APA, 1994) erstmals das Asperger-Syndrom als eigenständige
Diagnose in ihren Klassifikationskatalog ein.
Autismus-Spektum-Störung. In den vergangenen Jahren wird zunehmend diskutiert,
ob die von Kanner und Asperger beschriebenen Störungen qualitativ oder quantitativ
unterschiedlich sind. Zunehmend gewinnt der Gebrauch des Begriffes »AutismusSpektrum-Störung« (ASS) an Bedeutung. Damit einher geht auch die verstärkte
Diagnostik milderer Varianten. Das amerikanische Diagnosesystem DSM-5 (APA,
2013) führt nun erstmals auch offiziell den Terminus der ASS ein. Die Subkategorien
(Asperger-Syndrom, Frühkindlicher Autismus und Atypischer Autismus) werden
1 Geschichte des Autismus
21
immer häufiger unter dem Schirm des Spektrums zusammengefasst. Unterschiede
werden anhand eines Schweregrades (also quantitativ) bestimmt. Darüber hinaus wird
zunehmend über einen breiteren Phänotyp des Autismus im Sinne subklinischer
Ausprägungen geforscht.
Heute gibt es insbesondere starke Bemühungen der genetischen, biologischen und
neuropsychologischen Forschung. Hier wird an die frühesten Beschreibungen Kanners
und Aspergers im Sinne einer genetischen bzw. biologisch begründeten Ätiologie
angeknüpft. Mit dem zunehmenden Wissen der Kliniker, Diagnostiker, Forscher und
auch der Öffentlichkeit wuchsen auch die Bemühungen um eine angemessene Behandlung und Therapie. Mittlerweile dienen sechs wissenschaftliche Zeitschriften vor allem
der Veröffentlichung von Arbeiten rund um das Thema Autismus (führend: Journal of
Autism and Developmental Disorders, seit 1971). Elternverbände und Selbsthilfegruppen sind entstanden, internationale Autismus-Kongresse (z. B. International
Meeting of Autism Research, seit 2001) sowie Stiftungen zur Finanzierung autismusspezifischer Studien (z. B. Autism Speaks, seit 2005) wurden gegründet.
Durch die zunehmende wissenschaftliche Auseinandersetzung ist das Thema
Autismus auch immer mehr in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Eltern, Betroffene
und Experten treten in Fernsehen und Radio auf. Filme um das Thema Autismus (z. B.
»Rain Man«, 1988) werden produziert und Bücher veröffentlicht (z. B. »Supergute
Tage« von Mark Haddon, 2013, oder »Buntschatten und Fledermäuse« von Axel
Brauns, 2002). Während die intensive Forschungsarbeit der vergangenen Jahre das
empirisch basierte Wissen zu Epidemiologie und Risikofaktoren deutlich verbessert
hat, gibt es – trotz zahlreicher Veröffentlichungen und Hypothesen – noch wenige
empirisch gut überprüfte Therapieverfahren (Freitag, 2012; Manning-Courtney et al.,
2013; Weinmann et al., 2009). Versorgungsengpässe in der Behandlung von Kindern,
Jugendlichen und Erwachsenen mit ASS stellen noch immer eine große Schwierigkeit
für die Patienten und ihre Familien dar.
22
1 Geschichte des Autismus
2
Definitionskriterien und Klassifikation
»Jeder Mensch ist ein einmaliges, unwiederholbares, unteilbares Wesen (›In-dividuum‹), darum auch letztlich unvergleichbar mit anderen. In jedem Charakter finden sich
einander scheinbar widersprechende Züge – gerade aus Gegensätzen und Spannungen
lebt ja das Leben … Trotz oder vielleicht gerade wegen dieser Schwierigkeiten ist es das
heiße Bemühen denkender Menschen seit je, die Menschen zu erkennen und auch, sie
einzuordnen, eine Reihe von Bildern menschlicher Charaktere aufzuteilen und gegeneinander abzugrenzen, also zu einer Typologie zu gelangen, welche der Vielfalt des Lebens
gerecht wird.«
(Hans Asperger, 1944, S. 1)
Die Klassifikation einer psychischen Störung nach ihren auf beobachtbaren oder
subjektiv berichteten Symptomen ist ein entscheidender Bestandteil jeder Behandlung
und jeder Forschung. Eine psychische Störung wird dann diagnostiziert, wenn die
Bereiche des Denkens, Fühlens und Handelns quantitativ oder qualitativ von der
(definierten) Norm abweichen. Abweichungen sind jedoch nur als Störung einzuordnen, wenn sie auf Seiten des Betroffenen mit einem Leidensdruck einhergehen und
bedeutsame Beeinträchtigungen im Alltag die Folgen sind (Davison & Neale, 2002).
Neben dem persönlichen Leid und einer Beeinträchtigung in der Lebensführung ist
auch die statistische Seltenheit ein Kriterium. Keiner dieser definitorischen Aspekte
psychischer Störungen kann jedoch allein für sich betrachtet zu einer Klassifikation
führen. Daher spricht man von einer psychischen Störung, wenn mehrere dieser
Merkmale gleichzeitig vorliegen. Psychische und Verhaltensstörungen werden in
Europa seit 1948 anhand der ICD (International Classification of Diseases and Related
Health Problems) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) klassifiziert. Parallel dazu
gilt in den USA seit 1952 das DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental
Disorders) der American Psychiatric Association (APA) als Grundlage jeglicher
Diagnosestellung. Der Begriff »Autismus« wurde erstmals im Jahr 1978 (ICD-9)
aufgeführt. Damals wurde er jedoch noch unter der Kategorie der Psychosen zusammengefasst. 1980 wurde im DSM-III der Terminus der Tiefgreifenden Entwicklungsstörungen aufgenommen. Die Revision (DSM-III-R) beinhaltete das erste Mal die
Symptom-Trias aus Beeinträchtigungen der Kommunikation, der Interaktion und den
damals als dritten Bereich angeführten Aspekt der Imagination.
Was bedeutet für dich Autismus?
»Es ist ein Syndrom, dass es mir erschwert, mit anderen in Kontakt zu treten. Was
mir die größten Schwierigkeiten macht, ist, dass ich nur extrem schwer Gespräche
führen kann, die nicht langweilig werden oder im Streit enden. Besonders gut kann
ich malen und zeichnen.« (Anna, 15 Jahre)
2 Definitionskriterien und Klassifikation
"
23
»Wenig Leute zu haben, die einen wirklich mögen, einen sehr kleinen Freundeskreis
und wenig Kontakt zu anderen zu haben. Neue Freunde zu finden bereitet mir die
meisten Schwierigkeiten. Dafür bin ich humorvoll und habe ein besonders gutes
Gedächtnis.« (Valentin, 15 Jahre)
»Autismus (Asperger) ist für mich keine schwerwiegende Erkrankung oder
Behinderung. Menschen, die mit diesem Syndrom leben, unterscheiden sich in ihrer
Denkweise und in ihrem Handeln von anderen Menschen. Viele Autisten haben
besondere Schwierigkeiten, Bildworte oder Metaphern zu verstehen … Wenn man
mir z. B. sagt ›Mit dir habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen‹, frage ich: ›Gut. Wo
ist das Hühnchen?‹ Auch lasse ich mich ungern auf Dinge ein, die mir Angst oder
Ärger bereiten. Manchmal habe ich große Schwierigkeiten, Kritikäußerungen
anzunehmen. Diese sehe ich dann oft als Angriff auf meine Persönlichkeit …
Besonders gut beherrsche ich das Klavier-/Orgelspiel nach Gehör. Wenn ich z. B. im
Radio einen Song höre, der mir besonders gut gefällt, setze ich mich im nächsten
Moment ans Klavier und spiele das Gehörte so lange nach, bis ich es tadellos kann.
Das dauert nicht weniger als ein paar Minuten. Diese Fähigkeit nennt man ›absolut
hören‹ …
Asperger ist für mich keine Krankheit im üblichen Sinn. Es ist meine Eigenart, die
mir Probleme im sozialen Umgang mit ›normalen‹ Menschen verschafft, die mir
aber auch ganz besondere Stärken für die Welt gibt. Ich möchte es so sagen: Ich kann
es mir eigentlich gar nicht anders vorstellen.« (Simon, 17 Jahre)
2.1 Diagnosekriterien
2.1.1 Tiefgreifende Entwicklungsstörungen in ICD-10 und DSM-IV-TR
Im Klassifikationssystem der ICD-10 werden die Autismus-Spektrum-Störungen
(ASS) Frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom und Atypischer Autismus den
Tiefgreifenden Entwicklungsstörungen zugeordnet. Durch diese Begrifflichkeit wird
betont, dass es sich bei ASS um chronische Störungen des gesamten Entwicklungsprozesses handelt. Auch das Rett-Syndrom, die Überaktive Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien sowie die Sonstige desintegrative Störung des
Kindesalters gehören zu den Tiefgreifenden Entwicklungsstörungen. Alle diese Störungen erfüllen folgende Kriterien: Sie bestehen seit Geburt oder früher Kindheit und
persistieren bis in das Erwachsenenalter.
Da das Rett-Syndrom mittlerweile eine aufgeklärte genetische Grundlage hat und
auch einen anderen klinischen Verlauf als ASS zeigt, wird es im DSM-5 (APA, 2013)
nicht mehr zu den ASS gezählt. Auch die beiden letzteren Erkrankungen (überaktive
Störung und desintegrative Störung) sind vermutlich auf monogene bzw. Stoffwechselerkrankungen zurückzuführen, werden sehr selten diagnostiziert und gehen in der
Regel mit einem sehr niedrigen IQ einher, sodass im Folgenden unter ASS die
24
2 Definitionskriterien und Klassifikation
Diagnosen Frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom und Atypischer Autismus
gefasst werden. Diesen Erkrankungen ist gemein, dass die Betroffenen durch qualitative Beeinträchtigungen der wechselseitigen sozialen Interaktion sowie ihrer Kommunikationsmuster beeinträchtigt sind. Zusätzlich weisen alle in diesem Bereich
zusammengefassten Störungen ein eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes
Repertoire an Interessen und Aktivitäten auf. Diese grundlegenden Funktionsmerkmale variieren in ihrer Art und Ausprägung. ASS sind keine vorübergehenden, kurzzeitigen Erkrankungen, sondern bedeuten eine lebenslange Beeinträchtigung. Die
Entwicklung kann dementsprechend nicht als verzögert, sondern als deviant eingeordnet werden (Poustka et al., 2008). Bei etwa 50 Prozent der Kinder besteht zusätzlich
eine kognitive Beeinträchtigung mit IQ < 70 (Baird et al., 2006). Die intellektuelle
Begabung von Menschen mit ASS ist jedoch sehr unterschiedlich und kann von
geistiger Behinderung bis zur Hochbegabung alle Formen des kognitiven Niveaus
umfassen. Die Wortbedeutung »tiefgreifend« betont die überdauernde, schwere und
vielfältige Bereiche umfassende Symptomatik. Aktuellste Entwicklungen in der Klassifikation summieren das Asperger-Syndrom, den Frühkindlichen und den Atypischen
Autismus unter dem Begriff der »Autismus-Spektrum-Störungen« (DSM-5, APA,
2013).
Tabelle 2.1 Tiefgreifende Entwicklungsstörung in ICD-10, DSM-IV-TR und DSM-5
(zitiert nach Freitag, 2014)
Anzahl und Art der
Diagnosen »Tiefgreifende Entwicklungsstörungen«
(ICD-10/DSM-IV-TR)
bzw. Autismus-Spektrum Störung (DSM-5)
ICD-10
DSM-IV-TR
DSM-5
F84.0 Frühkindlicher
Autismus
F84.1 Atypischer
Autismus
F84.2 Rett-Syndrom
F84.3 Andere desintegrative Störung des
Kindesalters
F84.4 Überaktive
Störung mit Intelligenzminderung und
Bewegungsstereotypien
F84.5 Asperger-Syndrom
F84.8 Sonstige tief
greifende Entwicklungsstörungen
F84.9 Tief greifende
Entwicklungsstörung,
nicht näher bezeichnet
299.00 Autistische
Störung
299.10 Desintegrative
Störung des
Kindesalters
299.80 Rett-Syndrom
299.80 Asperger
Syndrom
299.80 Tief greifende
Entwicklungsstörung,
nicht näher bezeichnet (PDD-nos)
299.00 AutismusSpektrum-Störung
(umfasst 299.00,
299.80 bzw. F84.0,
F84.1, F84.5)
Zusätzlich:
315.39 Soziale
(pragmatische) Kommunikationsstörung
(für 299.90/F84.1
ohne stereotype und
repetitive Verhaltensweisen)
307.3 Stereotype
Bewegungsstörung
(für F84.4)
"
2.1 Diagnosekriterien
25
Tabelle 2.1 (Fortsetzung)
ICD-10
DSM-IV-TR
DSM-5
Kriterien für Frühkindlichen Autismus/Autistische Störung/Autismus-Spektrum-Störung
Anzahl Domänen
3
3
Anzahl Kriterien
12
12
7
Minimale Anzahl
erfüllter Kriterien
5
6
5
Beginn
(Domäne C im
DSM-5)
Vor dem Alter von
3 Jahren
"1/3
2 (A, B)
Vor dem Alter von
3 Jahren
Symptome müssen in
früher Kindheit vorhanden sein, aber
können sich auch erst
dann voll manifestieren, wenn die sozialen
Anforderungen
entsprechend hoch
sind.
Schweregradeinteilung Indirekt über
unterschiedliche
Klassifikation
(F84.1, F84.5, F84.8,
F84.9)
Indirekt über
unterschiedliche
Klassifikation
(299.00, 299.80)
je 3 Schweregrade für
A: Soziale Kommunikation und
Interaktion sowie
B: Restriktive,
repetitive Verhaltensweisen und Interessen
Rett-Syndrom
Eigenständige
psychiatrische
Diagnose
Eigenständige
psychiatrische
Diagnose
Fällt heraus, wird ggf.
als vorhandener genetischer Risikofaktor
kodiert
Zusatzkodierung
DSM-5
Kognitive Fertigkeiten
Fünf Achsen WHO:
Achse 3: Intelligenzniveau
Fünf Achsen
Mit/ohne intellektuDSM-IV:
elle Behinderung
Achse II: Intellektuelle
Behinderung
Zusatzkodierung
DSM-5
Sprache
Fünf Achsen WHO:
Achse 2: Teilleistungsstörung
Fünf Achsen
Mit/ohne SprachDSM-IV:
behinderung
Sprache nicht kodiert
Zusatzkodierung
DSM-5
Fünf Achsen WHO:
Achse 4: Körperliche
Erkrankungen
inklusive genetische
Befunde
Achse 5: psychosoziale Umweltrisikofaktoren
Fünf Achsen
DSM-IV:
Achse III: Allgemeiner
medizinischer
Zustand, akuter
medizinische Zustand, körperliche
Erkrankung
Besonderheiten DSM-5
Medizinischer/Genetischer/Umweltrisikofaktor
26
2 Definitionskriterien und Klassifikation
Assoziiert mit medizinischem/genetischem/Umweltrisikofaktor
Zusätzliche
Kodierung der
medizinischen oder
genetischen Erkrankung
"
Tabelle 2.1 (Fortsetzung)
Zusatzkodierung
DSM-5
Zusätzliche psychiatrische Komorbidität
oder Entwicklungsstörung
Zusatzkodierung
DSM-5
Katatonie
ICD-10
DSM-IV-TR
Keine Kodierung von
nicht-genetischen
biologischen Risikofaktoren
Achse IV: Psychosoziale und Umweltrisikofaktoren
Fünf Achsen WHO:
Achse 1: psychische
Störung
Achse 2: Teilleistungsstörung
Fünf Achsen
DSM-IV:
Achse I: Psychische
Störung
Achse II: Persönlichkeitsstörung und
Intellektuelle
Behinderung
Allerdings: andere
Ausschlusskriterien
als DSM-5
(z. B. ADHS)
Jeweilige Erkrankung
wird mit entsprechender
DSM-5-Nummer
zusätzlich kodiert
Wird nicht kodiert
F293.89
Allerdings: andere
Ausschlusskriterien
als DSM-5 (z. B.
ADHS)
Wird nicht kodiert
DSM-5
In der ICD-10 werden die diagnostischen Kriterien für die Autismus-SpektrumStörungen entsprechend der Symptomtrias definiert. Die Einteilung der Subtypen
entspricht einer unterschiedlichen Symptomkonstellation und Schwere. Alle Kinder
und Jugendlichen mit ASS zeigen jedoch phänotypische Überschneidungen mit der
Kategorie Autismus und können als Varianten bezeichnet werden. Die Grundlage der
Diagnose bildet die folgende Trias:
(1) Qualitative Auffälligkeiten der gegenseitigen Interaktion
Hiermit sind unangemessene Einschätzungen sozialer und emotionaler Signale und das
Fehlen von Verhaltensmodulationen je nach Kontext gemeint. Soziale Signale werden
nicht oder kaum zur Initiierung, Aufrechterhaltung oder Beendigung sozialer Kontakte
verwendet. Darüber hinaus entsteht keine sozio-emotionale Wechselseitigkeit.
(2) Qualitative Auffälligkeiten der Kommunikation
Beeinträchtigungen in der Kommunikation betreffen den sozialen und pragmatischen
Gebrauch der sprachlichen Fertigkeiten, soweit diese vorhanden sind. Fehlen von
Gegenseitigkeit im Gesprächsaustausch sowie eine auffällige Sprachmelodie und
-modulation sind ebenso zu finden wie ein Mangel an begleitender Gestik, welche die
sprachliche Kommunikation unterstreichen kann.
2.1 Diagnosekriterien
27
(3) Begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten
Stereotype Verhaltensmuster zeigen sich darin, dass der Alltag sehr starr und routiniert
ausgeführt werden muss. Es besteht ein großer Widerstand gegenüber Veränderungen
(bspw. neue Haarfarbe der Mutter, andere Uhrzeiten für das Hobby). Besonders in der
frühen Kindheit werden ungewöhnliche Bindungen an Objekte beobachtet oder ein
starkes Interesse an Teilbereichen von Spielmaterialien (z. B. an der Oberflächenstruktur). Häufig bestehen ein besonderes Interesse und eine ausdauernd stereotype
Beschäftigung mit umgrenzten Themenbereichen, wie beispielsweise Fahrtrouten,
Fahrplänen oder Dinosauriern.
Ein Überblick zu den Problembereichen der Trias findet sich in Tabelle 2.2.
Tabelle 2.2 Die den Autismus-Spektrum-Störungen zugrundeliegende Symptomtrias
(adaptiert nach Dilling & Freyberger, 2010)
Soziale Interaktion
"
"
"
"
"
Blickkontakt, Mimik, Gestik und Körperhaltung werden nicht zur
Regulation sozialer Interaktion eingesetzt
Unfähigkeit, Beziehungen mit Gleichaltrigen aufzunehmen
(mit geteilten Interessen, Gefühlen, Aktivitäten)
Mangel an sozial-emotionaler Wechselseitigkeit (keine/unangemessene Annäherungsversuche oder Reaktion auf die Annäherungsversuche anderer; mangelndes Einfühlungsvermögen und
fehlende Einschätzung sozialer Signale)
Verhalten wird nicht dem sozialen Kontext angepasst
Freude, Interessen und Tätigkeiten können nicht spontan mit
anderen geteilt werden
Kommunikation
Verspätung/Störung der Sprachentwicklung; kein Kompensationsversuch durch Gestik oder Mimik
" Unfähigkeit, einen sprachlichen Kontakt zum Kommunikationsaustausch zu beginnen oder aufrecht zu erhalten
" Stereotype oder repetitive Verwendung der Sprache
(z. B. Wortwiederholungen oder Wortneuschöpfungen)
" Mangel an sozialen Imitations- oder »So-tun-als-ob«-Spielen
Repetitive,
stereotype Muster
"
"
umfassende Beschäftigung mit begrenzten Interessen
(z. B. bestimmte Themen wie das Straßenbahnnetz)
" zwanghafte Anhänglichkeit an nicht funktionale Handlungen oder
Rituale
" stereotype und repetitive motorische Manierismen
(z. B. Drehen der Finger, Verbiegen, Schaukeln)
" ungewöhnliches Interesse an nicht funktionalen Teilobjekten
(z. B. Geruch, Geräusche oder Oberflächenbeschaffenheit von
Spielmaterialien)
Keines dieser Verhaltensmerkmale allein reicht für eine hinreichende und sichere
Diagnosestellung aus. Die Diagnose erfolgt basierend auf dem Schweregrad der
Symptomausprägung in mindestens zwei von drei Bereichen, die eine entsprechende
Dauer zeigen müssen und auch in verschiedenen Situationen auftreten sollen. Zu-
28
2 Definitionskriterien und Klassifikation
sätzlich zu den diagnosespezifischen Merkmalen zeigen Kinder und Jugendliche mit
einer ASS sehr häufig weitere, unspezifische Probleme wie Wutausbrüche und
Aggressionen, Ängste, Selbstverletzungen oder Schlaf- und Essstörungen. Hierauf
wird im Kapitel 3 (Komorbidität und Differenzialdiagnose) gesondert eingegangen.
Für die Klassifikation der verschiedenen Subtypen müssen unterschiedliche Schweregrade und Symptomzusammensetzungen sowie bestimmte Entwicklungsaspekte (wie
beispielsweise eine verzögerte Sprachentwicklung) vorliegen. Das bedeutet, dass die
Symptomkonstellation und damit das klinische Erscheinungsbild erstens sehr unterschiedlich sein und sich zweitens im Verlauf deutlich verändern kann. Mit zunehmendem Alter verändert sich ebenfalls die Symptomkonstellation und Gewichtung der
Beeinträchtigungen. In der Adoleszenz leiden die Betroffenen beispielsweise häufig
unter dem zunehmenden Bewusstsein für ihre Andersartigkeit und den häufigen
Zurückweisungen durch Gleichaltrige. Grundlegende Schwierigkeiten im Bereich der
Interaktion, der Kommunikation und der Interessen bleiben jedoch auch im Erwachsenenalter bestehen. Dennoch unterscheidet sich die Phänomenologie im Erwachsenenalter zu derjenigen im Kindes- und Jugendalter, insbesondere durch die Aneignung
von mehr oder weniger funktionalen Umgangsstrategien (Gawronski et al., 2012).
!
Keines der beschriebenen Symptome allein ist hinreichend für die Diagnosestellung. Nur die Kombination der Symptome, ein klinisch relevanter Schwergrad der jeweiligen Ausprägung, ein entsprechender Beginn und die Persistenz der
Symptome erlauben die Diagnosestellung. Es besteht eine große phänotypische und
entwicklungspsychologische Variabilität der Symptomatik. Die Kernsymptome der
ASS persistieren jedoch oft bis ins Erwachsenenalter.
2.1.2 Subtypen
Aufgrund der Vielfältigkeit des autistischen Phänotyps, der Variabilität der Symptome
und der Erscheinungsformen gibt es seit den frühen Arbeiten von Asperger und
Kanner immer wieder Bemühungen, bestimmte Symptomkonstellationen unter verschiedenen Überbegriffen zusammenzufassen. Neben den unten näher beschriebenen
Kategorien des Frühkindlichen Autismus, des Asperger-Syndroms und des Atypischen
Autismus werden Patienten mit ASS zudem auch oft bezüglich ihrer kognitiven
Fertigkeiten zusätzlich kategorisiert. So unterscheidet man zwischen »Low functioning«
(mit Intelligenzminderung) und »High functioning« (ohne Intelligenzminderung).
Diese Bezeichnung impliziert jedoch nur den messbaren Intelligenzquotienten, nicht
jedoch die tatsächliche »Funktionalität« im Alltag des Betroffenen (Bölte, 2009a). Ein
älterer Ansatz (Wing & Gould, 1979) versuchte den unterschiedlichen Varianten
innerhalb des Frühkindlichen Autismus gerecht zu werden und unterschied nach
den eindrücklichsten Verhaltensmerkmalen eines Kindes zwischen zurückgezogenen
Kindern (»aloof«), passiven Kindern und Kindern mit aktivem, aber seltsamen
Verhalten (»active but odd«):
2.1 Diagnosekriterien
29
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