Vom Autismus zu ASS: Wandel der Konzepte Wandel der Praxis Kantonales Autismuszentrum CHUV, Lausanne Nadia.chabane @chuv.ch Autismus, eine syndromische Triade soziale Interaktion Kommunikation vor 36 Monaten eingeschränkte Interessen und stereotype Verhaltensmuster erweitertes Spektrum: Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) soziale Interaktion tiefer IQ nonverbal hoher IQ verbal Nature, nov. 2011 1943 Wandel eines phänomenologischen Ansatzes Wovon sprechen wir? 2015 Was wissen wir? Was tun wir? Autismus-Spektrum sozial Verhalten selbstbezogen aggressiv, destruktiv, impulsiv zeitlich versetzt seltsam nonverbal hochgradig verbal retardiert agil Kommunikation Motorik hyposensitiv hypersensitiv Sensitivität IQ grosses intellektuelles Defizit erhöhter IQ Created by Dr. Tina Dyches 6 «Während der Schizophrene versucht, sein Problem zu lösen, indem er die Welt verlässt, zu der er gehört und zu der er im Kontakt stand, so gelangen unsere Kinder allmählich zu einem Kompromiss, indem sie zaghaft versuchen, sich einer Welt anzunähern, der sie sich von Beginn weg fremd gefühlt haben.» (Kanner, 1943) Leo KANNER, 1943 Autistische Störungen des affektiven Kontakts HANS ASPERGER, 1944 Die autistischen Psychopathen im Kindesalter 11 Kinder, intelligent, extreme Isolierung, Wunsch nach Unveränderlichkeit Vier kleine, spezielle Jungen «mit mangelnder Empathie, kaum fähig, sich Freunde zu verschaffen, mit einseitigem Gesprächsverhalten, intensiver Beschäftigung mit einem bestimmten Thema und mit linkischen Bewegungen.» Kanner, die Eltern, die Genetik? • wirklich warmherzige Väter und Mütter sind selten • Eltern, Grosseltern und Angehörige sind stark mit abstrakten Dingen beschäftigt (wissenschaftlich, literarisch oder künstlerisch) und haben nur ein sehr beschränktes echtes Interesse an Menschen • Der Vater von Herbert, Psychiater mit überragender Intelligenz, sensibel, interessiert sich nicht für Menschen, lebt introvertiert • Der Vater von Virginia, Psychiater: «Ich habe Kinder nie gemocht, vermutlich eine Reaktion wegen meiner Bewegungseinschränkung (Reisen) und wegen der kleinen Unterbrechungen und Störungen.» • Jurist, arbeitsam und genau, zwei Überlastungsdepressionen. Beim Gehen auf der Strasse ist er in Gedanken versunken, sieht niemanden und erinnert sich hinterher an keine Details des Spaziergangs. Umfangreiche Notizen deuten auf eine Detailversessenheit hin. die seelisch kalte Mutter «Diese Kinder sind mit der angeborenen Unfähigkeit zur Welt gekommen, biologisch einen Gefühlskontakt mit anderen Menschen herzustellen.» Kanner, 1943 Bruno Bettelheim 1967 1943 1962 1970 2015 Schizophrenie beim Kind Lorna Wing, National Autistic Society vom Syndrom zum Spektrum ? Klinik Forschung DSM-IV frühkindliche, kindliche und jugendliche Störungen DSM-V • Störungen des Nervensystems Autismus-Spektrum-Störungen tiefgreifende Entwicklungsstörungen: autistische Störung - Asperger-Syndrom - unspezifische tiefgreifende Entwicklungsstörung - Rett-Syndrom desintegrative Störung im Kindesalter DSM-IV frühkindliche, kindliche und jugendliche Störungen tiefgreifende Entwicklungsstörungen 1 – soziale Kommunikation 2 – soziale Interaktion 3 – stereotype Verhaltensweisen und eingeschränkte Interessen DSM-V • Störungen des Nervensystems Autismus-Spektrum-Störungen 1- Kommunikation und soziale Interaktion 2- stereotype Verhaltensweisen und eingeschränkte Interessen Was wissen wir? interaktives System: eine Modellbildung in Entwicklung (seit 1980) die kognitivistische Strömung: Uta Frith Autismus = organische Dysfunktion Theorie der schwachen zentralen Kohärenz gute Erfassung von Details / Schwierigkeit, das Erfasste in einen übergeordneten Zusammenhang einzuordnen mangelnde oder falsche Wahrnehmung der Umgebung Kommunikationsprobleme fehlender Zugang zu impliziter Bedeutung und symbolhafter Sprache pragmatische Schwierigkeiten Problem mit geteilter Aufmerksamkeit («joint attention») Theory of Mind (Arbeiten gemeinsam mit AM Leslie und S. Baron-Cohen) Störungen des Selbst- und Fremdbewusstseins Folge: fehlende Empathie Störungen der exekutiven Funktionen: Strategien, Planung, Aufmerksamkeit, Flexibilität, Impulskontrolle Prävalenz: 1/100 Risiko Geschwister: 18 à 20% Genetik, der Anfang…. additiver genetischer Einfluss (Heritabilität) : Etudes de jumeaux 90 % Monozygoten: 90% Dizygoten: 0 à 6% 1990er-Jahre: systematisches Screening des Genoms Umgebungseinfluss: Studie PARIS 10 % IMGSAC Stanford CLSA Duke University polygenetisches Modell: 30 bis 100 Gene Gene der Synapse Mutationen Autismus und Asperger Mutation Deletion Duplikation Nature Genetics, 2007 Neurobildgebung und Autismus 3) DTI 2) anatomische MRI 4) fMRI 5) ASL - CBF 1) klinische MRI Hirngrösse, zerebelläre Hypoplasie, Hippocampus, ventrikuläre Dilatation aMRI PET Zilbovicius et al, 2000Meresse et al, 2005 Duschenay et al, 2011 Boddaert et al, 2004 frontal visuell limbisch Courchesne et al, 2007 Autismus und Asperger Anomalie der Zellmigration: Veränderung der Strukturen der Minicolumns Pasko Rakic 6 Wochen Zellmigration zwischen12 und 24 Wochen 9 Wochen 2010-2015 Suche nach einem Biomarker zur Früherkennung • Studie bei Kleinkindern mit Warnzeichen • Studie bei Personen mit hohem Risiko: Geschwister Umweltfaktoren erwiesen: – viral: Röteln, Cytomegalovirus… – toxisch: Thalidomid, Valproinsäure… – perinatal: Frühgeburt, schwere Geburt möglich: – pränatale Behandlung mit Antidepressiva (SSRI) – Organophosphate (Pestizide); Interaktion GxE nicht erwiesen oder verworfen: – Quecksilber, Thimerosal (MMR-Impfung) – Einstellung der Eltern – Depression der Mutter Modellbildung : 35 Jahre Forschung….. Was tun wir? Die zwei Ziele heute: - früher diagnostizieren - Behandlungszugang verbessern • Störungen des Nervensystems mit genetischer Vulnerabilität (30 bis 100 Gene), Geschwisterrisiko 20%, Prävalenz:1/100 • Verbesserungen möglich auf Ebene des Verhaltens, der Anpassung und der Kognition • Wichtigkeit der Früherkennung und -behandlung • • • • JEDOCH Screening: 8% der Grundversorger Durchschnittsalter bei Diagnose USA: 4,6 bis 5,7 Jahre kein Modell für Behandlungs- und Begleitungssystem kein Rückerstattungssystem für Leistungen umgesetzt Neuroplastizität – kritische Phase Zeitfenster = funktionelles Lernen = strukturelle Organisation genetische Fragilität Umgebung Auftretensmuster der Symptome Début précoce et régression…. früher Beginn: Warnzeichen • • • • • Orientierung am Namen Blickkontakt mit Bezugsperson geteilte Aufmerksamkeit («joint attention») emotionaler Austausch Imitation • zwischen 12 und 24 Monaten: solidestes Muster «early onset» Palomo et al, 2006, Wetherby et al, 2004, Werner et al, 2000, Baranek et al, 1999 Abklärung mit 18 Monaten: Etats Unis (Johnson et al. 2007) France : Recommandations HAS, 2012 GB : Rapport NICE, 2013 Belgique: Rapport KCE, Nov 2014 Schlüsseletappen bei Verdacht auf eine ASS 16 Monate: nonverbal 24 Monate: keine spontanen Wort-Sätze 12 Monate 9 Monate 6 Monate keine typischen Gesten (Coucou), zeigt auf nichts hin und zeigt nichts her, dreht sich nicht beim Ruf seines Namens, kein Brabbeln wenig Interesse an der Umgebung dreht sich nicht bei vertrauten Geräuschen, reagiert nicht auf seinen Vornamen kein visueller Kontakt +++ Fehlen von Lächeln, emotionalen Gesten, spielerischem und freudigem Ausdruck Regeln für die Erkennung • 1. Sorgen der Eltern ernst nehmen • • 2. Eltern fragen, ob sie sich Sorgen um ihr Kind machen 3. überprüfen, ob eines der folgenden Warnzeichen vorliegt: 12 Monate kein Brabbeln, keine Zeigegesten, keine kommunikativen Gesten, keine Reaktion auf den Vornamen 16 Monate keine Einzelwörter 24 Monate keine 2-Wörter-Sätze Modified Checklist for Autism in Toddlers M-CHAT Robins et al, 2001 Frühdiagnostik • pluridisziplinäres Team - KinderpsychiaterInnen, NeuropsychiaterInnen, KinderärztInnen,, PsychologInnen, LogopädInnen, PsychomotorikerInnen, KleinkindererzieherInnen • Vorgehen bei Kleinkindern Gespräche, Beobachtung, Abklärungsmassnahmen, Zusatzabklärungen HAS, 2012; NICE, 2013; KCE, 2014 Praxis den neusten Erkenntnissen anpassen KONSENSFINDUNG FÜR FORTSCHRITTE BEI DER GESAMTBEGLEITUNG Haute Autorité de Santé (HAS), France, 2012 National Institute for Health and Care Excellence (NICE), Royaume-Uni, 2013 Centre Fédéral d’Expertise des Soins de Santé (KCE), Belgique, 2014 evidenzbasierte Praxis (EBP) • Die EBP betont die Ursachenvielfalt und die Notwendigkeit einer individuellen Anpassungé EMPFEHLUNGEN DER HAS 2012 individualisiertes, übergreifendes und koordiniertes Vorgehen PRÄAMBEL GRAD A wissenschaftlich erwiesen beruht auf sehr beweiskräftigen Studien GRAD B wissenschaftliche Annahme beruht auf einer wissenschaftlichen Annahme aufgrund von Studien mit mittlerer Beweiskraft (statistische Schwäche: kleine Kohorte, Kontrollgruppen mit methodologischer und/oder statistischer Verzerrung) GRAD C schwache Beweiskraft beruht auf Studien mit Fallanalysen oder auf methodologischen und statistischen Verzerrungen solchen mit gewichtigen KONSENS DER FACHPERSONEN bei fehlenden Studien: Konsens der Expertinnen und Experten aus der Arbeitsgruppe nach Konsultation eines Lesezirkels EMPFEHLUNGEN DER HAS 2012 empfohlene Ansätze: Verhalten/Entwicklung A.B.A E.S.D.M T.E.A.C.C.H . Prises en ratives de type: Thér Interventionen Early Start Denver Model auf Basis einer angewandten Verhaltens- Denver Entwicklungsprogramm Behandlung und pädagogische Förderung autistischer und in ähnlicher Weise kommunikationsbehinderter Kinder analyse e d’Echange et de Développement : jugés appropriées (consensus formalisé = Accord d’experts) ABA und ESDM = Grad B, TEACCH = Grad C zwingend: der Person mit einer ASS ein Kommunikationsmittel zur Hand geben PECS: Picture Exchange Communication System (Bondy and Frost, 1985) wirkt auf zwei defizitäre Achsen von Menschen mit einer ASS: Kommunikation soziale Beziehung intensive Frühintervention • • • • • • Ausbildung der Fachpersonen strukturierte und homogene Verfahren dem Kind angepasstes, individuelles Programm intensiv Arbeit mit den Eltern, Wissenstransfer Evaluation der Praxis und Supervision HAS, 2012; NICE, 2013; KCE, Nov. 2014 • Verhaltenstechniken im natürlichen Umfeld (Motivation, Imitation…) • erprobte Modelle (Denver-Modell, Schlüsselverhalten) Smith et al, 2000; Warren, 2011; Makrygiani, 2010; Vismara et al, 2008; Dawson et al, 2010; Koegel et al, 2010; Landa et al, 2011 Early Start Denver Model (ESDM) • • • • • Kombination von Verhaltenstherapie und Entwicklungsmodell: Motivation und Imitation Förderung der vorhandenen Fähigkeiten intensiver Einbezug der Eltern 20 bis 25 Std./Woche mit Kind und Eltern zu Hause Evaluation über zwei Jahre hinweg • • • • Verbesserung auf der Verhaltensebene Verbesserung kognitiv und kommunikativ Verbesserung des Sozialverhaltens und der interaktiven Fähigkeiten grössere Selbständigkeit Vismara et al, 2008; Dawson et al, 2010-11 Synergiemodell Begleitung der unterstützenden Angehörigen Diagnostik und individuelle Frühintervention Krippe Schule Familie Entwicklungsstörungen spezialisierte Diagnostikzentren Heilpädagogik Netzwerk-Teams Unterstützung und Ausbau der Forschung Wissensvermittlung und Weiterbildung