Falsch vernetzt

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Thema: Neurologie, Neurochirurgie & Psychiatrie
03.12.2016 | Berliner Zeitung
Medienquelle: Print
Seitenstart: AM05
Auflage: 106.792
Anzahl der Zeichen: 11414
Autor: NICOLA MENKE
Falsch vernetzt
Die Gehirne von Autisten funktionieren anders, einzelne Areale können nicht richtig zusammenarbeiten oder sind
verkehrt verknüpft. Entscheidender Auslöser der psychischen Störung sind offenbar defekte Gene. Mediziner
testen nun die Behandlung mit Hormonen
VON NICOLA MENKE
Stephen Wiltshire hat ein unglaubliches visuelles Gedächtnis. Er kann Panoramazeichnungen von Städten anfertigen, auf denen
kein Detail fehlt. Dazu reicht ihm vorab ein
kurzer Rundflug mit dem Hubschrauber.
Seine Fähigkeit macht ihn zu einem Genie.
Allerdings ist Wiltshire ein Genie, das sein
Leben nicht alleine meistern kann. Der 42jährige Londoner braucht die Hilfe seiner
Familie, um den Alltag zu bewältigen. Es
fällt ihm schwer, Beziehungen zu anderen
Menschen aufzubauen und mit ihnen zu interagieren. Grund dafür ist eine Entwicklungsstörung: Wiltshire ist Autist.
"Wenn jemand so außergewöhnliche Fähigkeiten in einem einzelnen Bereich hat wie
Stephen Wiltshire, spricht man vom SavantSyndrom, eine Form der Inselbegabung", erklärt Inge Kamp-Becker. Sie ist die Leiterin der Autismus-Spezialambulanz des Uniklinikums Marburg und Mitglied des ASDNetzes, einem Autismus-Forschungsverbund. "Anders, als viele glauben, findet
sich diese Art der Begabung nur bei sehr
wenigen Menschen mit Autismus." Ebenso
falsch sind andere gängige Klischees. So ist
nicht jeder, der eine autistische Störung
hat, geistig behindert. Und es trifft auch
nicht zu, dass alle Betroffenen in ihrer eigenen Welt leben und nicht zu Emotionen fähig sind.
"Autismus ist eine psychische Störung mit
einer äußerst komplexen Symptomatik, die
sehr unterschiedlich ausgeprägt sein kann",
sagt Kamp-Becker. Deshalb werden in der
Fachliteratur verschiedene Autismusformen
benannt. Die wichtigsten sind der frühkindliche Autismus, auch Kanner-Syndrom
genannt, der atypische Autismus und das
Asperger-Syndrom. Früher betrachtete man
diese Störungsbilder als klar getrennt. Aber
es hat sich gezeigt, dass man sie nicht eindeutig unterscheiden kann. Deshalb gehen
Experten heute zunehmend davon aus, dass
nur der Schweregrad der Störung - und damit das Ausmaß der Beeinträchtigung - variiert.
Insgesamt hat etwa ein Prozent der Bevölkerung eine autistische Störung. Der Oberbegriff für die unterschiedlichen Ausprägungen lautet Autismus-Spektrum-Störung
(ASS). Die Kriterien zur Diagnose sind genau definiert. Ein wichtiges Symptom ist die
Beeinträchtigung der sozialen Interaktionsfähigkeit. "Sie besteht zum Beispiel darin,
dass die Betroffenen Schwierigkeiten haben, die Gefühlslage ihrer Mitmenschen zu
erkennen und sich in sie hineinzuversetzen", sagt die Autismusexpertin Isabel Dziobek vom Institut für Psychologie der Humboldt-Universität Berlin. Auch gelinge es ihnen oft nur bedingt, eigene Emotionen zu
erfassen und angemessen auszudrücken, weshalb sie teils emotionslos wirken. Zudem
haben Betroffene eine gestörte Sprachentwicklung. Diese zieht Kommunikationsprobleme nach sich, die von Kleinigkeiten wie
dem Nichterkennen von Ironie bis zur kompletten Sprachhemmung reichen. Ein weiteres Kriterium für ASS ist der Hang zu
sich wiederholendem Verhalten. Das kann
sich zum Beispiel in immer gleichen Alltagsabläufen und Spezialinteressen äußern.
Zu den Hauptsymptomen einer ASS können weitere Auffälligkeiten wie Angst und
Aggression hinzukommen. Sie ist aber unabhängig von der Intelligenz. Etwa 70 Prozent der Betroffenen haben jedoch eine
geistige Behinderung, die unterschiedlich
schwer sein kann. Von den anderen 30 Prozent hat der Großteil einen IQ im normalen
oder überdurchschnittlichen Bereich. Inselbegabungen wie die von Wiltshire sind aber
die Ausnahme. Die Zahl der sogenannten
Savants liegt Hochrechnungen zufolge weltweit nur bei hundert.
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Autisten entwickeln die beschriebenen Auffälligkeiten, weil ihr Gehirn anders arbeitet. Das zeigt sich zum Beispiel an ihrer Sinneswahrnehmung, die sehr sensibel und detailgenau ist. Ihr Gehirn bewertet jedoch
alle Reize als gleichbedeutend. Die Folge
kann Reizüberflutung sein, die unter anderem zu Abschottungsverhalten führt. Darüber hinaus sind einige der Betroffenen überoder unterempfindlich für Umweltreize wie
Geräusche.
Bei Autismus gibt es ebenfalls neurokognitive Besonderheiten bei der Verarbeitung
von Informationen und emotionalen Reizen. Dafür verantwortlich sind Anomalien
in der Anatomie und der Funktion des Gehirns. Noch ist nicht abschließend geklärt,
welche Befunde relevant sind. "Was sich bereits sagen lässt, ist, dass möglicherweise
auch veränderte hirnanatomische Größenverhältnisse eine Rolle spielen könnten",
sagt Tobias Bäckers, Direktor des Instituts
für Anatomie und Zellbiologie der Universität Ulm. Dokumentiert wurde das unter anderem in einer US-Studie von 2009. Die Autoren stellten bei autistischen Kindern eine
Vergrößerung der Mandelkerne im Gehirn
fest. Sie sind wichtig für die emotionale Bewertung von Situationen. Gleichzeitig wurden bei den Heranwachsenden Störungen
im Sozialverhalten beobachtet.
Als besonders bedeutsam für die Entstehung von Autismus wird jedoch eine abnorme Vernetzung der Nervenzellen in und
zwischen Teilen des Gehirns betrachtet.
Beispielsweise Hirnareale, die wichtig für
die Sprachkompetenz sind, sowie das limbische System, das Emotionen verarbeitet.
"Das Gehirn hat etwa 200 Billionen Nervenzellen. Damit Handlungen und Gefühle möglich werden und korrekt ablaufen, müssen
sie sich auf genau festgelegte Weise verknüpfen und neuronale Netzwerke bilden",
sagt Christian Rosenmund vom Exzellenzcluster Neurocure der Charité Berlin.
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