Seminar: Klinische Psychologie Referentin: Aliya Sulaman WS 03/04 Autismus Der Begriff Autismus wurde von dem Schweizer Psychiater Eugen Bleuler (1911) eingeführt, der mit diesem ein Grundsymptom der Schizophrenie beschrieb. Bleuler charakterisierte mit diesem Begriff das Verhalten schizophrenen Erkrankter, sich in eine gedankliche Binnenwelt zurückzuziehen, zunehmend weniger Kontakt zu ihren Mitmenschen aufrechtzuerhalten und sich traumhaftphantastischen Gedanken in sich gekehrt und umweltabgewandt hinzugeben. Diesen Begriff aufnehmend, beschrieben fast gleichzeitig der austro-amerikanische Kinderpsychiater Leo Kanner (1943) und der österreichische Pädiater Hans Asperger (1944) autistische Störungsbilder bei Kindern. Da autistische Kinder sich aber nicht aktiv in eine Phantasiewelt zurückziehen, sondern primär (von Geburt an) unfähig bzw. nur eingeschränkt fähig sind, soziale Kontakte zu entwickeln, trifft die Bezeichnung in der ursprünglich von Bleuler definierten Form nicht auf sie zu. Verschiedene Autoren haben sich aber für die Beibehaltung des Begriffs ausgesprochen, weil er inzwischen weltweit gebräuchlich ist. Im Laufe der Zeit wurden noch andere Formen des Autismus beschrieben, jedoch befasse ich mich hier mit dem frühkindlichen Autismus. Nach neuesten Untersuchungen sind von 10 000 Kindern und Jugendlichen im Alter von vier bis 15 Jahren etwa vier bis fünf autistisch. Das Verhältnis von Jungen zu Mädchen beträgt 3:1. Danach kann man davon ausgehen, dass in BRD von rund 80 Millionen Einwohnern etwa 40 000 mit Autismus betroffen sind. Davon etwa 5000 bis 6000 in der Altersgruppe von vier bis 15 Jahren, etwa 3000 bis 4000 zwischen 14 und 21 Jahren und etwa 30 000 bis 35 000 über 21 Jahre. Leo Kanner beschrieb unter dem Titel „Autistische Störungen des affektiven Kontakts „1943 elf Fälle, deren Gemeinsamkeiten er wie folgt zusammenfasst: „Die herausragende fundamentale pathognomische Störung ist die von Geburt an bestehende Unfähigkeit, sich in normaler Weise mit Personen oder Situationen in Beziehung zu setzen. Die Eltern stellten diese Kinder vor und beschrieben sie als „selbstgenügsam“, „wie in einer Schale lebend“, „am glücklichsten, wenn sie allein gelassen wurden“, „handelnd, als ob niemand anwesend sei“, „nicht Notiz nehmend von ihrer Umgebung“, „den Eindruck stiller Weisheit vermittelnd“, „unfähig, das normale Maß an sozialem Gespür aufzubringen“, „handelnd, als ob sie hypnotisiert wären“. Es handelt sich dabei nicht wie bei schizophrenen Kindern oder Erwachsenen um einen Rückzug von zunächst vorhandenen Beziehungen oder der Teilnahme an zuvor vorhandener Kommunikation. Vielmehr handelt es sich vom Anbeginn an um ein autistisches Alleinsein, welches alles, was von außen auf das Kind einwirkt, nicht beachtet, ignoriert und ausschließt. Weiter heißt es, „ wir müssen also annehmen, dass diese Kinder zur Welt gekommen sind mit einer angeborenen Unfähigkeit, normale und biologisch vorgesehene affektive Kontakte mit anderen Menschen herzustellen. Sie haben also diesbezüglich Defizite wie andere Kinder, die mit angeborenen körperlichen oder intellektuellen Behinderungen geboren werden…“ Charakteristische Merkmale (Symptomatik): Die beiden international gebräuchlichen Klassifikationssysteme (ICD- 10 und DSM-IV) beschrieben die Kriterien, die einer Diagnose der Störung zugrunde gelegt werden. Beide Klassifikationssysteme stellen vier Kernmerkmale heraus; - qualitative Beeinträchtigungen wechselseitiger sozialer Aktionen, (z. B. unangemessenen Einschätzung sozialer und emotionaler Signale; geringer Gebrauch sozialer Signale) - qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation (z. B. Fehlen eines sozialen Gebrauchs sprachlicher Fertigkeiten; Mangel an emotionaler Resonanz auf verbale und nonverbale Annährungen durch andere Menschen; Veränderungen der Sprachmelodie; Echolalie (repetitiver Gebrauch der Sprache, Fehlen von Entwicklungsgemäßen Rollen- und Imitationsspielen) - eingeschränkte Interessen und stereotype Verhaltensmuster (z. B. starre und Routine hinsichtlich alltäglicher Beschäftigungen; Widerstand gegen Veränderungen) - Beginn vor dem dritten Lebensjahr. In der ICD-10 noch einige unspezifische Probleme angeführt wie Befürchtungen, Phobien, Schlaf- und Essstörungen, Wutausbrüche, Aggressionen, Selbstverletzungen. 3 auffällige Verhaltensweisen (Symptome): Extremes Abgekapseltsein gegenüber der Umwelt: In der Abkapselung zeigt sich eine extreme Kontaktstörung. Die Beziehungsaufnahme zu Personen, Ereignissen und Dingen ist abnorm. Es fehlen nahezu alle Zeichen der normalen kindlichen Kontaktaufnahme zu den Eltern, insbesondere zur Mutter (z. B. Antwortlächeln) Wenn sie älter werden, wird ein Fehlen des kooperativen Spielens deutlichen und die Unfähigkeit, freundschaftliche Bindungen mit anderen einzugehen, sowie das nicht vorhandene Einfühlungsvermögen in die Gefühle anderer Menschen. Ängstliches Festhalten am Gewohnten (Veränderungsangst): Das ängstliche Festhalten am Gewohnten zeigt sich darin, dass die Kinder in Angst- und Panikzustände geraten, wenn man in ihrer unmittelbaren Umgebung etwas ändert. Besondere Sprachauffälligkeiten: sind z. B. die verzögerte Sprachentwicklung, die etwa bei der Hälfte der Kinder zu finden ist, sowie eine Neigung zu Wortneubildungen und zu Echolalien (Echoartiges Nachsprechen von Worten oder Lauten). Die Kinder sprechen von sich in der dritten Person und lernen erst sehr spät, die eigene Person mit „ich“ zu bezeichnen. Fast alle Kinder zeigen Stereotypien im sprachlichen und motorischen Bereich und eine Reihe von Wiederholungsphänomenen. Sie kommen nicht oder sehr verspätet ins Fragealter und stellen dann stereotyp die gleichen Fragen, deren Antworten sie bereits kennen. Viele autistische Kinder, die die Sprache erlernen, können sie nicht kommunikativ nutzten, sondern verwenden sie in mechanischer Weise. Die Sprache ist stets durch grammatikalische Fehler gekennzeichnet, einige Kinder erfinden neue Wörter (Neologismen), die für sie eine spezielle Bedeutung haben können. Bei vielen Kindern ist die Stimme auch auffällig. Sie ist wenig melodisch, die Betonung von Worten oder Satzteilen ist oft inadäquat, die Stimmstärke gleich bleibend, und der Sprachrhythmus erscheint oft abgehackt. Manche Kinder zeigen zwanghafte Phänomene und eine Reihe weiterer Symptome wie Aggressivität und Autoaggressivität und fehlende Angst vor realen Gefahren. Im Laufe der Entwicklung kommt es bei vielen Kindern mit frühkindlichem Autismus zu einer Symptomverlagerung: Geräuscheempfindlichkeit, Angstanfälle, psychomotorische Unruhe, Schlafstörungen und die Tendenz, Gegenstände oder Personen zu berühren, nehmen ab. Diagnostik und Ursachen: Die Diagnose des frühkindlichen Autismus wird gestellt aufgrund der Vorgeschichte und der Beobachtung des Kindes in verschiedenen Situationen. Dabei werden derzeit die diagnostischen Kriterien der beiden international gebräuchlichen Klassifikationssysteme psychischer Störungen und Erkrankungen ICD-10 (WHO 1992) und DSM-IV zugrunde gelegt. Auch gibt es eine Reihe von Interviews und Beobachtungsinstrumenten zur Überprüfung wie das Autism Diagnostic Interview, der Autism Diagnostic Observation Schedule- Generic, die Childhood Autism Rating Scale. Zu den Ursachen gehören: Erbeinflüsse und genetische Faktoren (z. B. die Geschwister tragen ein erhöhtes Risiko, fragile X-syndrom (Chromosomendefekt bei 5 % der Autisten), Hirnschädigungen und Hirnfunktionsstörungen (z. B. die Unterentwicklung des Kleinhirnswurms mit kognitiven und motorischen Funktionsstörungen, pränatale oder perinatale Komplikationen wie durch Röteln bei den Mütter oder Kontakt der Mütter mit toxischen Substanzen), biochemische Besonderheiten (z. B. Abweichungen im Adrenalin- und Noradrenalinspiegel sowie Dopaminspielgel oder auch die Erhöhung bestimmter Endorphine (Stoffe, die in der Hirnanhangsdrüse produziert werden) in Verbindung mit einer verminderten Schmerzempfindlichkeit, Störungen der affektiven Entwicklung (z. B. Einschränkung der Fähigkeit, den körperlichen Ausdruck unterschiedlicher Befindlichkeitszustände bei anderen Menschen wahrzunehmen, also die Ausdruckformen wie Ärger, Glück usw. mit Mimik, Gestik und Laute zu verknüpfen), Störungen der kognitiven Prozesse (also Vorstellungseinschränkungen wie andere Menschen sind und unterschiedliche seelische Befindlichkeiten wie Vermutungen, Überzeugungen, Gedanken und Wünsche als soziale Wahrnehmung) und der Sprachentwicklung . Auch spielen die Wechselwirkungen eine große Rolle, so z. B. ein Kind kann wegen den Erbeinflüssen verletzbar sein als anderen. Therapie und Rehabilitation: Untersuchungen zur Therapie und Rehabilitation frühkindlich autistischer Kinder und Jugendlicher haben ergeben, dass die stärker verhaltensorientierten, direkten und strukturierten Behandlungsmethoden größere Erfolge aufweisen als jene, welche die Patienten zu sehr ihrem eigenen Entwicklungsgang überlassen. Die autistische Kinder und Jugendliche müssen konsequent an bestimmten Aufgaben herangeführt werden, ansonsten sind die ganz ihren stereotypen Gewohnheiten überlassen und wenig aktivierbar. Jede Behandlung muss vom individuellen Entwicklungsprofil ausgehen und gezielt, von Patient zu Patient jeweils verschieden, einzelne Bereiche in die Behandlung einbeziehen: z. B. die Sprachanbahnung, das Essverhalten, die Verminderung selbstverletzender Aktivitäten, das Sozialverhalten, die Förderung lebenspraktischer Fertigkeiten, die Förderung des Durchhaltevermögens. Also ein Gesamtkonzept anstatt einseitige Therapie in Teilbereichen muss entwickelt werden, wo die mehrdimensionalen Ansätze (psychologisch, pädagogisch, sozial, medizinisch usw.) berücksichtigt werden. Insbesondere ist die Einbeziehung der Eltern im Kindesalter wichtig, damit z. B. auch zu Hause wichtige Behandlungsschritte fortgesetzt werden können. In der Adoleszenz trifft ist es auch wichtig. Als Therapieziele werden bei ihnen der Abbau stereotyper Verhaltensweisen und der Aufbau einer konsequenten Arbeitshaltung vorgesehen, damit eine spätere Integration in der Gesellschaft und die Selbständigkeit gefördert werden. Daneben hilft bei manchen Patienten eine medikamentöse Behandlung (Lithium Medikation) zusätzlich z. B. bei ausgeprägten hyperkinetischen (übermäßige Bewegungsaktivität) Verhaltensweisen, bei Neigung zur aggressiven Verhaltensweisen und Impulsdurchbrüchen (Neuroleptika) und bei ausgeprägtem selbstverletzendem Verhalten, das durch andere Maßnahmen nicht zu beseitigen ist. Weitere Therapien sind z. B. „Therapie des erzwungenen Festhaltens“ von den amerikanischen Kinderpsychiatern Welch und „gestützte Kommunikation“. Bei der Festhaltetherapie wird durch das Festhalten des Kindes eine Kontaktaufnahme erzwungen, wobei durch tröstendes Verhalten zugleich die Angst des Kindes abgebaut wird. Das Kind wird solange festgehalten, bis es seinen Widerstand aufgibt und sich entspannt. Bei der „gestützten Kommunikation“ werden die autistische Kinder oder Jugendliche mit Hilfe einer Stütze der Schreibhand zur schriftlichen Kommunikation mittels einer Buchstabentafel oder mit Hilfe eines Computers angeregt. Das Schulunterricht und Beschäftigungs- bzw. Arbeitstherapie sind noch andere Möglichkeiten. Bei der Beschulung wird angeboten z. B. Unterricht in kleinen Gruppen, Spezialklassen und Sonderschulen, oder auch Integration in Kindergärten und Schulen, die gleichzeitig von gesunden Kindern besucht wird. Autistische Jugendliche mit höchstem Entwicklungsniveau („Highfunctioning“-Autismus) können in manchen Fällen in verständnisvolle Betriebe vermittelt werden. Sie bedürfen aber stets einer besonderen Betreuung, denn sie haben fast immer Schwierigkeiten in der sozialen Anpassung oder bei der Bewältigung neuer und unvorhergesehener Ereignisse. Autistische Jugendliche mit mittlerem oder niedrigem Funktionsniveau können nur in einer geschützten Umgebung beruflich gefördert werden, z. B. in einer Werkstatt für Behinderte. Auch gibt es viele andere Angebote wie Musik, Malen, Gestaltung und Kennen lernen von verschiedenen Stoffen für eine Beschäftigungstherapie, sowie verschiedene psychoanalytische bzw. tiefenpsychologische kindbezogene Verfahren. Dabei werden die Aggressionen und Ängste verarbeitet und durchlebt. Jedoch können autistische Muster nicht vollständig verändert werden. Bei der Therapie wird versucht, eine Milderung der autistischen Symptome, Verbesserung der kommunikativen und sozialen Fertigkeiten, Schulung des adaptiven Verhaltens usw. zu erreichen. Literatur: Remschmidt, Helmut: Autismus Internet: www.autismus.de