Β. THEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN I. Der Hof als

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Β. THEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN
I. Der Hof als soziales System - Versuch einer Modellbildung
Der »Hof [ist] vom ausgehenden Mittelalter bis in die Anfänge des 19. Jahrhunderts hinein der soziologisch identifizierbare Ort, an dem der psychosoziale Wandel: der Aufbau neuer Habitusformen und Verhaltensdispositionen, seinen prägnantesten Ausdruck gefunden hat«1, schreibt Helmuth
Berking unter Bezug auf Norbert Elias' »Prozeß der Zivilisation«2. Doch was
ist »Hof« in einem dann selbstverständlich umfassenderen Verständnis3 als in
der oben notierten Formel nach Berking, wenngleich der höfische Geschenkverkehr selbst, als kommunikatives Geschehen begriffen, einem solcherart
umschriebenen Hofbegriff bruchlos zuzuordnen ist?4
Basierend auf der Feststellung, daß kein allgemeingültiges Modell des
Phänomens »Hof« vorliegt5, das erlaubt hätte, all seine historisch feststellbaren Erscheinungsformen nach einem einheitlichen Schema zu behandeln und
damit auch in makroskopischer und epochenübergreifender Hinsicht dem Vergleich zu öffnen 6 , ist vor einigen Jahren versucht worden, ein Instrument zu
1
BERKING 1996, S. 185 (kursive Schreibweise im Original).
In der vorliegenden Arbeit benutzt in der 14. Aufl.: ELLAS, Prozeß der Zivilisation,
2 Bde., 1989, vgl. Kiss 1991 und die Beiträge in: Der unendliche Prozeß der Zivilisation, hg.
2
v o n KUZMICS, MÖRTH, 1991. Eine aktuelle Auseinandersetzung mit ELIAS bei SCHWERHOFF
1999.
Vgl. Ordnungsformen des Hofes, hg. von EWERT, SELZER, 1997, hier v.a. die Einleitung der Hg. S. 7-18. Siehe künftig die Beiträge der Tagung »Höfe und Theorien« (Dresden, November 2001), hg. von Reinhardt BUTZ, Jan HLRSCHBIEGEL und Dietmar WLLLOWEIT, die in der Reihe »Norm und Struktur« erscheinen werden.
4
Habitus seien hier nach BOURDIEU 1987, S. 98f. definiert als »Systeme dauerhafter und
übertragbarer Dispositionen, als strukturierte Strukturen, die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren, d.h. als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlagen fur
Praktiken und Vorstellungen, die objektiv an ihr Ziel angepaßt sein können, ohne jedoch bewußtes Anstreben von Zwecken und ausdrückliche Beherrschung der zu deren Erreichung
erforderlichen Operationen vorauszusetzen, die objektiv >geregelt< und >regelmäßig< sind,
ohne irgendwie das Ergebnis der Einhaltung von Regeln zu sein, und genau deswegen kollektiv aufeinander abgestimmt sind, ohne aus dem ordnenden Handeln eines Dirigenten
hervorgegangen zu sein.«
3
5
Zur Forschungsgeschichte die Überblicke bei WINTERLING 1986, S. 3 - 3 2 , BAUER 1993
(hierzu die Bespr. WINTERLING 1996), S. 9 - 3 2 , PARAVICINI 1994, S. 5 7 - 7 1 , MÜLLER 1995,
S. 8 8 - 1 0 0 sowie WINTERLING 1999.
6
Zu der erkenntnistheoretischen und methodischen Problematik des Vergleichs grundlegend BLOCH 1963, ebenso grundlegend mit dem Versuch einer Typologie des Vergleichs
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112
Β. Theoretische Überlegungen
erarbeiten7, das mit Hilfe der von dem Soziologen Niklas Luhmann entwickelten funktional-strukturellen Theorie sozialer Systeme8 diesem Mangel
abhelfen sollte9.
Freilich handelt es sich bei der Systemtheorie um keine soziologische
Handlungstheorie, sondern um eine diesen Horizont überschreitende Kommunikationstheorie; Höfe ließen sich folgerichtig in aller Verkürzung als Kommunikationsknotenpunkte kennzeichnen. Die Umsetzung des Unternehmens
erfolgte gleichwohl auf der Basis handlungstheoretischer Grundorientierungen
in Form der Herrschaftssoziologie nach Max Weber10 in Verbindung mit dem
als Methode S C H I E D E R 1965, siehe auch mit zahlreichen bibl. Nachweisen: Historischer Vergleich, hg. von HAUPT, K O C K A , 1996, schließlich DAUM, R L E D E R E R , S E G G E R N 1998.
7
Siehe HLRSCHBIEGEL 1992 und HLRSCHBIEGEL 1993 (für die damalige Gesprächs- und
Diskussionsbereitschaft sei auch von dieser Stelle aus dem Soziologen Martin Rost, Langwedel, gedankt). Kritische Äußerungen dazu erschienen unter dem Titel »Die Diskussion ist
eröffnet. Antworten und Kommentare zu Jan Hirschbiegel: Der Hof als soziales System
(MRK Nr. 1, Jg. 3, 1993, 11-25)«, in: MRK 3,2 (1993) S. 15-19, siehe auch die Bemerkung
bei MÜLLER 1995, S. 98f., schließlich WINTERLING, Aloys: >Hof<. Versuch einer idealtypischen Bestimmung anhand der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte, in:
WINTERLING 1997, S. 11-25 (die erweiterte Fassung von WINTERLING 1995, ursprgl. als
Vortrag gehalten auf dem Leipziger Historikertag 1994; vgl. dazu EWERT, HLLSENITZ 1995,
hier v.a. S. 11, Anm. 1. WRNTERLING moniert im übrigen gerade das als fehlend, was das
freilich nur im Hintergrund sichtbare Kernstück der Ausführungen war, nämlich die Nutzbarmachung des systemtheoretischen Angebots, die historischen Entwicklungsstufen von
Gesellschaften in segmentäre, stratifizierte oder funktional-differenzierte einzuteilen, als
deren damit korrespondierendes Pendant die jeweilige Ausgestaltung von »Hof« verstanden
wurde).
8
Mit dem Band »Soziale Systeme« lag 1991 für die in der vorangehenden Anm. genannten Arbeiten HlRSCHBIEGEL 1992 und HlRSCHBIEGEL 1993 der Grundriß der Theorie
LUHMANNs in der 4. Aufl. vor: LUHMANN 1991 - Rez. u.a. SCHMID, Michael, in: KZfSS 37
(1984) 778-780. Inzwischen ist mit LUHMANN, Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Teilbde.,
1997, die Summe des 1998 verstorbenen Theoretikers zugänglich. - Zur damals verwendeten
Literatur im gegebenen Rahmen siehe im Literaturverzeichnis der vorliegenden Arbeit die
dort notierten Werke LUHMANNs, des weiteren HABERMAS, LUHMANN 1971 zur Frage »Was
leistet die Systemforschung?«. - Zur Einführung: JENSEN 1983, KISS 1986 und WlLLKE 1992
sowie MESSELKEN, Karlheinz: Art. »Strukturalismus«, in: Wörterbuch der Soziologie, hg.
v o n ENDRUWEIT, TROMMSDORF, B d . 3, 1989, S. 7 0 6 - 7 0 8 u n d MESSELKEN, K a r l h e i n z : A r t .
»Theorie, funktional-strukturelle«, in: ebd., S. 743-746. - Zur Vorgängertheorie: PARSONS
1951 und 1976 sowie JENSEN 1980. - Siehe zur Verbindung GeschichtswissenschaftS y s t e m t h e o r i e REUCHER 1976, SCHELER 1 9 7 8 u n d v.a. STICHWEH 1 9 9 4 , v g l . STICH WEH
1995, hier zu LUHMANN S. 398ff.
9
Einer der ersten Vorschläge, Hof als soziales System zu beschreiben, in einer Kieler
Dissertation von 1994, siehe KOLB 1999, S. 95-98. Die Andeutung dieser Richtung bereits
b e i WINTERLING 1 9 8 6 , S. 1 6 8 - 1 7 0 .
10
Wirtschaft und Gesellschaft, benutzt in der 5. Aufl.: WEBER 1980, hier v.a. S. 122-176,
541-726. Hierzu allg. einführend KAESLER 1999, zur Weber'schen Herrschaftssoziologie
HONDRICH 1973, STALLBERG 1 9 7 5 , HAFERKAMP 1 9 8 3 u n d BREUER 1 9 9 1 .
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I. Der Hof als soziales System - Versuch einer Modellbildung
113
Weber'sehen Konstrukt des Idealtypus' 11 , um unter Berücksichtigung von
Interaktionszusammenhängen12 auch die Träger von Kommunikation selbst
einbeziehen zu können. Mit der - jeweils systemtheoretisch modifizierten Institutionen-13 und Organisationstheorie14 wurden weitere einschlägige Theorieangebote bedacht.
Ausgangspunkt war hingegen Norbert Elias' Konzeption der absolutistischen höfischen Gesellschaft15 als Interdependenzgeflecht, das dahingehend kritisiert wurde, als daß dieses Konzept zwar geeignet ist, soziale
strukturelle Abhängigkeiten in einer von Elias selbst so bezeichneten Figuration abzubilden, sich aber durch den bloßen Vorbildcharakter der Figuration
»absolutistischer Hof« noch kein tragfähiges Hofmodell zu dem oben vorgetragenen Zweck ergibt16. So war zunächst eine im Sinn Max Webers idealtypisch konstruierte Definition des Hofes erstellt worden, die sich einerseits an
Webers herrschaftssoziologische Kategorien17 anlehnt, andererseits der dem
Hof von Elias zugewiesenen Staats-, Nutz- und Prestigefunktion18 gerecht
wird, und sich auf die historische Entwicklung von Hof als Herrschaftsinstrument aus dem Haus des Herrn - vom griechischen »oikodespotes« über
den römischen »pater familias« zum »pater patriae«19 - gründet20. Diese Hofdefinition war »historisches Hofstrukturmodell«21 genannt worden.
Das »systemtheoretische Hofstrukturmodell« wurde aus der Zusammenfuhrung dieser Hofdefinition mit den systemtheoretischen Kategorien der
Theorie sozialer Systeme gewonnen. Damit verbunden waren die nach diesen
11
Siehe zum Problem des Idealtypus HIRSCHBIEGEL 1992, S. 88f. mit weiteren
Nachweisen. Vgl. WINTERLING, >Hof<, wie oben S. 112, Anm. 7.
12
Vgl. auch EMPTER 1988 zur interaktionistische Grundlegung sozialer Systeme.
13
Hierzu SCHMID 1970 und SCHELSKY 1973 (zur soziologischen Theorie der Institution),
WASCHKUHN 1974 (zur Theorie politischer Institutionen) und MÜNCH 1987 (über die
systemtheoretisch begründete Analyse von Institutionen). Künftig auch EWERT, Ulf
Christian: Der Hof. Eine Skizze des Erklärungspotentials der Neuen Institutionenökonomik,
in: Höfe und Theorien, wie oben S. 111 Anm. 3.
14
Vgl. hierzu EWERT, Ulf Christian, HlLSENITZ, Sven Erik: Lediglich ein Finanzdokument? Eine organisationstheoretische Betrachtung der burgundischen Hofordnung des
Jahres 1433, in: Ordnungsformen des Hofes, hg. von EWERT, SELZER, 1997, S. 20-33.
15
ELIAS 1983 (zunächst als Habil.-Schrift 1933, zuerst erschienen 1969). Über ELIAS'
Rezeption als »>Menschenwissenschaft< und historische Sozialwissenschaft« JÄGER 1995
(ergänzend heranzuziehen ist neuerdings LAVOPA 2000). Zu ELIAS im knappen Überblick
neuerdings KÖRTE 1999. Vgl. in diesem Zusammenhang auch MARTIN 1930.
16
Siehe HIRSCHBIEGEL 1992, S. 9-11 mit weiteren Nachweisen. Zur einschlägigen Aus-
einandersetzung mit ELIAS WINTERLING 1986, S. 1 3 - 2 2 und pass., ansonsten v.a DUINDAM
1994 (siehe hier insbes. S. 13ff. »The Model«, 81ff. »At Court«, 137ff. »Hierarchy and
Conflict«), DUINDAM 1998 und WINTERLING 1999, S. 30-32.
17
18
19
20
21
Siehe
Siehe
Siehe
Siehe
Siehe
HIRSCHBIEGEL 1992, S. 34-36.
ebd., S. 40-42.
ebd., S. 32-34.
ebd., S. 30-43.
ebd., S. 42f., graphische Darstellung S. 43.
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Β. Theoretische Überlegungen
114
systemtheoretischen Kategorien (um-)definierten Begriffe »Institution« und
»Organisation«, so daß soziale Systeme als politische Systeme verstanden
werden konnten, deren Kommunikations- und Steuerungsmedium »Macht«
ist22. Im folgenden sollen diese Überlegungen kurz nachvollzogen werden,
freilich mit allen Verkürzungen in Darstellung und Nachweis, die sich aus
dem eigentlichen Zweck dieses Abschnitts, Schenken als soziales System und
Subsystem des sozialen Systems Hof einzuführen, ergeben.
Zunächst gilt, »daß ein soziales System oder ein soziales System innerhalb
eines sozialen Systems aus Systemelementen und -strukturen und aus deren
Relationierungen besteht und eine gegenüber seiner Umwelt niedrigere Komplexität aufweist. Die Komplexität der Umwelt, Bezugspunkt eines Systems,
wird vermittels kommunikativer Selektionsprozesse reduziert auf Strukturen
zur Verarbeitung dieser Umweltkomplexität, wobei Umweltkomplexität,
Reduktion und Selektion gleichzeitig für ein System konstitutiv sind. Das entstehende Komplexitätsgefalle wird durch die reduktiv-kommunikativen Selektionsprozesse sachlich (Reduktion von Komplexität), sozial (Ausschaltung von
Kontingenz) und zeitlich (Bestandserhaltung des Systems) stabilisiert zu einer
System-Umwelt-Differenz, die anhand der Konstituierung von lediglich System· und Umweltelemente, nicht aber deren Relationierungen trennenden
Systemgrenzen identifiziert werden kann.« 23 Wichtig hierbei wird sein, daß
Relationierungen erhalten bleiben: Schenken folgt bestehenden Beziehungen,
schafft keine neuen.
Ein solcherart beschriebenes soziales System bildet sich also, um kontingenten Handlungszusammenhängen in einer als komplex empfundenen Umwelt begegnen zu können. Kontingenz, das Nichtwissen um das Verhalten des
Gegenüber, »heißt praktisch Enttäuschungsgefahr und Notwendigkeit, sich auf
Risiken einzulassen«24, Komplexität als die »Gesamtheit aller möglichen Ereignisse«25 steht für die Tatsache, »daß es stets mehr Möglichkeiten gibt, als
22
Siehe HlRSCHBIEGEL 1992, S. 44-80 mit weiteren Nachweisen. Siehe neuerdings auch
REINHARD 1 9 9 9 , S. 8 0 - 8 5 (Lit. S. 5 5 4 ) , S. 1 2 5 - 1 8 2 (Lit. S. 5 6 2 - 5 6 8 ) .
23
HlRSCHBIEGEL 1992, S. 56f. Einen Überblick über die höfische Struktur geben u.a.
WALTHER 1 9 0 9 , SCHWARZKOPF 1955 u n d PARAVICINI 1977, E d . v o n H o f o r d n u n g e n B u r -
gunds: PARAVICINI 1982, 1983, Hofordnungen III, 1985, 1987 und Hofordnungen V, 1991;
Karls VI. von 1386 und 1388 durch Denys GODEFROY, Histoire de Charles VI, 1653,
S. 708-716, 716-725; Johann Ohnefurchts von 1396 durch Aziz Suryal ATIYA 1934, S. 144—
148 (grundsätzlich AHRENS, Karl-Heinz: Art. »Hofordnung«, in: LexMA, Bd. 5, 1991, Sp.
74-76 mit weiteren Nachweisen. Aktuell die Akten des 5. Symposiums der ResidenzenKommission: Höfe und Hofordnungen, hg. von KRUSE, PARAVICINI, 1999, hier v.a. die
einleitenden Bemerkungen PARAVICINI, Werner: Europäische Hofordnungen als Gattung
und Quelle, S. 14-20, und KRUSE, Holger: Die Hofordnungen Herzog Philipps des Guten
von Burgund, S. 141-165).
24
HABERMAS, LUHMANN 1 9 7 1 , S. 3 3 .
25
LUHMANN 1984, S . 115.
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I. Der Hof als soziales System - Versuch einer Modellbildung
115
aktualisiert werden können.«26 Systembildung erscheint folglich als Möglichkeit, Verhaltensunsicherheiten, Unberechenbarkeiten, Unerwartbarkeiten und
Bedrohungen entgegenzuwirken: »Erst dadurch [...] kann dem Individuum ein
relativ enttäuschungsfester Maßstab als Orientierungshilfe fur sein Verhalten
geboten werden, der ihm eine relative Erwartungsgewißheit und -Sicherheit in
seinen Beziehungen zu anderen verleihen kann.« 27 Das geschieht durch
Reduktion dieser Komplexität durch kommunikativ-selektive Strategien und
Strukturen28, wodurch ein Komplexitätsgefälle zwischen Systemumwelt und
System entsteht, das im Sinn der Bestandserhaltung des Systems stabil gehalten werden muß. Dies ist die Funktion des Systems, das in dieser Hinsicht
nicht zufallige segmentär, stratifikatorisch oder funktional ausdifferenzierte
Strukturen29 beziehungsweise (innersystemische) Relationierungen seiner Systemelemente ausbildet30, welche durch Emergenz31 sowie Multifunktionalität und Äquivalenzfunktionalismus32 gekennzeichnet sind. Realiter existieren
freilich keine rein segmentär, stratifikatorisch oder funktional ausdifferenzierten Systeme, verschiedene Binnendifferenzierungen können nebeneinander
bestehen, entscheidend sind Tendenz und Schwerpunkt. Die jeweilige Struktur
eines Systems ist also nicht beliebig, sondern Komplexität wird in spezifischer
Weise sachlich (zum Aufbau von Strukturelementen und Strukturen), zeitlich
(zur Bestandserhaltung) und sozial (zum Abbau von Kontingenz) reduziert
entsprechend dem je unterschiedlichen Sinn eines Systems als Strategie
selektiven Verhaltens33: »Sinn grenzt systemspezifisch ab, was als sinnvoll
und was als sinnlos zu gelten hat« 34 und ist damit verantwortlich fur je bestimmte systemimmanente Präferenzen, die in je unterschiedlichen Symbol-
26
LUHMANN, Rechtssoziologie, Bd. 1, 1972, S. 31.
27
Kiss 1986, S. 6.
28
Vgl. LUHMANN 1991, S. 47.
29
Zur Binnendifferenzierung sozialer Systeme siehe HIRSCHBIEGEL 1992, S. 52f. mit weiteren Nachweisen. Zusammenfassend LUHMANN, Soziologische Aufklärung 2, 1986,
S. 197ff., LUHMANN 1991, S. 256-265, Def. ebd., S. 37f., am Beispiel der Kirche LUHMANN
1982, S. 278ff.
30
Vgl. LUHMANN, Soziologische Aufklärung 2, 1986, S. 207.
'
Emergenz heißt, daß ein Gesamtsystem nicht allein durch die Summe seiner Teilsysteme, ein Teilsystem nicht allein durch die Summe seiner Strukturelemente erklärbar ist,
sondern aus deren Eigenschaften, siehe LUHMANN 1991, S. 43f., erläuternd WILLKE 1991,
S. 99f.
32
Äquivalenzfunktionalismus meint, daß ein Strukturelement mehrere Funktionen wahrnehmen kann, aber auch, daß eine Funktion von verschiedenen Strukturelementen erfüllt
werden kann, vgl. WASCHKUHN 1987, S. 25 nach LUHMANN 1968, S. 162-176. Zum Unterschied von Äquivalenzfunktionalismus und Multifunktionalität SCHMID 1970, S. 188.
33
Vgl. LUHMANN 1991, S. 92-147.
34
WILLKE 1991, S. 30.
3
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116
Β. Theoretische Überlegungen
systemen verankert sind35. Bei diesen Symbolsystemen kann es sich um
Sprache, Normen oder Ideologien handeln oder ganz allgemein um
generalisierte Steuersprachen, wozu beispielsweise Geld und Macht zu zählen
sind36. Durch ein System geleistete Reduktion von Komplexität wird als
Handeln bezeichnet im Unterschied zum Erleben, das für die Übernahme vorgegebener Reduktion steht37. Handeln als Selektionsprozeß wiederum ist
systemtheoretisch als Kommunikation definiert38. Letztlich liegen die Anstrengungen eines sozialen Systems also in der Koordination von Verhaltenserwartungen zur Absorption von Unsicherheit, die deren systemspezifische Strukturierung nach sich ziehen, bestimmt und gesteuert durch systemadäquate Kommunikationsmedien39.
In einer ersten Annäherung ergibt sich daraus für das soziale System »Hof«
als eine nach systemtheoretischen Kriterien konzipierte Institution als Aufgabe, »Verhaltenssicherheit zu bieten, und zwar nicht nur den ihr zugehörigen,
sondern insbesondere auch den ihr nicht zugehörigen Personen in der Weise,
daß Erwartungen auf unterstellbare Erwartungserwartungen Dritter gestützt
werden können, was dadurch geschieht, daß die Institution >Hof< als ein Macht
organisierendes politisches System auftritt und in allen ihren Bereichen
systemrational, also politisch, und damit letzten Endes >höfisch< handelt.«40
Der Begriff der Institution als Ergebnis eines Institutionalisierungsvorganges,
der systemtheoretisch gesehen die Institutionalisierung generalisierter Verhaltenserwartungen zum Zweck von Verhaltens- und Orientierungssicherheit
meint, bringt die »unbeteiligten Dritten« ins Spiel, deren inner- oder außersystemische Erwartungshaltungen in Entsprechung der systemischen Erwartungserfüllungsverpflichtungen wesentlich verantwortlich zeichnen können für
Fortbestand oder Untergang eines Systems41. Während Institutionalisierung
also in erster Linie der Generalisierung von Verhaltenserwartungen in der sozialen Dimension dient, leistet Organisation für eine Institution die über diese
35
Vgl. LUHMANN 1991, S. 135-141. Einschlägig HUIZINGA 1975, v.a. S. 285-303 zum
spätmittelalterlichen Symbolismus (vgl. E c o 1991, S. 79-115 zu dem Bereich von »Symbol
und Allegorie«).
36
Vgl. LUHMANN 1982, S. 91ff., LUHMANN, Soziologische Aufklärung 2, 1986, S. 170192.
37
V g l . HABERMAS, LUHMANN 1 9 7 1 , S. 7 7 .
38
V g l . LUHMANN 1991, S. 191FF.
39
Siehe HLRSCHBIEGEL 1992, S. 70ff. zunächst in allg. Hinsicht, dann aber v.a. im Hinblick auf Macht. - Vgl. LUHMANN 1982, S. 89f., 250ff. zur evolutionär begründbaren Entstehung von Kommunikationsmedien parallel zum Übergang von primär segmentär auf stratifikatorisch und funktional ausdifferenzierte Teilsysteme entspr. zunehmender gesamtgesellschaftlicher Komplexität. Grundsätzlich LUHMANN 1974, zur Definition von Kommunik a t i o n s m e d i e n LUHMANN 1991, S. 2 2 2 .
4 0
HlRSCHBIEGEL 1 9 9 2 , S. 8 1 .
41
V g l . v . a . LUHMANN 1 9 7 0 u n d LUHMANN, R e c h t s s o z i o l o g i e , B d . 1, 1 9 7 2 , S . 7 0 f .
Institution und Systemtheorie verbindet beispielhaft MÜNCH 1987.
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I. Der Hof als soziales System - Versuch einer Modellbildung
117
Dimension hinausreichende Generalisierung von Verhaltenserwartungen auch
in der Sach- und Zeitdimension42. Entscheidendes Merkmal eines Organisationssystems ist die Unterscheidung zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern, die Aufstellung von Mitgliedschaftsregeln und die Generalisierung
der Motivlage über die Mitgliedschaft43. Typisch für Organisationssysteme
sind hierarchische Ordnungen von Kompetenzen44 und die Handhabung von
Handeln als Entscheidung45. Das politische System nun ist gekennzeichnet
durch die Ausbildung von Subsystemen zur Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen (Verwaltung) und zur Erzeugung gesellschaftlicher
Macht, verstanden als Durchsetzungsqualität und Übertragungsmechanismus
systemischen Sinns46. Macht als Kommunikationsmedium zur symbolisch
generalisierten Übertragung von Selektionsleistungen soll sicherstellen, daß
die Selektionsweise der einen Seite ihre Entsprechung in der Motivstruktur der
anderen Seite findet, unterscheidet sich somit grundlegend vom Zwang, der
immer etwas Konkretes bewirken will 47 . Als Machtmittel erscheinen Eigentum und Organisation, die Personal- und Organisationsmacht begründen, also
die Beeinflussung von Karrieren oder das Fällen von Weisungen48.
Dies bedeutet, daß das soziale System »Hof« als systemtheoretisch definierte Organisation der kongruenten Generalisierung von Verhaltenserwartungen dient durch die Festlegung von Mitgliedschaften und deren Bedingungen, durch die Generalisierung von Verhaltensmotiven durch Mitgliedschaft in Form der Verknüpfung systemischer Verhaltensanforderungen und
Motivlagen, durch die Aufstellung von Mitgliedschaftsregeln zur dauerhaften
Reproduktion künstlicher, systemischer Verhaltensweisen und deren Anerkennung, durch die Ausbildung hierarchisch geordneter Ämter mit je spezifischen Kompetenzen und Programmen sowie spezifisch begrenzten Kommunikationsmöglichkeiten, schließlich durch die Herstellung von Leistungen,
die auch von Nichtmitgliedern akzeptiert und mit Prestigezuweisungen honoriert werden können, und durch das Fällen von Entscheidungen49.
Die institutionalisierte Organisation »soziales System Hof« produziert aber
nicht nur Entscheidungen, sondern sie ist funktional festgelegt auf bindende
Entscheidungen, wodurch sie sich als politisches System ausweist. Bindend
sind diese höfischen Entscheidungen, weil sie in der Lage sind, die möglichen
Entscheidungen Betroffener durch Einsatz von Macht- und Zwangsmitteln so
42
Vgl. LUHMANN 1969, S. 387f. und insbes. LUHMANN 1964, S. 54ff.
Hierzu LUHMANN, Soziologische Aufklärung 2, 1986, S. 12f., LUHMANN 1969, S. 394
zur Frage derNichtmitglieder, vgl. GRÜNBERGER 1981.
44
Siehe LUHMANN 1964, S. 394f. und LUHMANN 1991, S. 462ff.
45
Siehe LUHMANN 1982, S. 284.
46
Vgl. WASCHKUHN 1974, S. 164 bzw. LUHMANN 1984, S. 158f.
47
Hierzu grundsätzlich LUHMANN 1975.
48
Siehe LUHMANN 1987, S. 117ff., vgl. EMPTER 1988.
49
Vgl. HIRSCHBIEGEL 1992, S. 82.
43
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118
Β. Theoretische Überlegungen
zu beeinflussen, daß sich systemkonformes Verhalten anschließt50. Systemisch besteht die Leistung des politischen Systems dann darin, Macht zu erzeugen, zu verwalten und zu kontrollieren. Macht selbst wiederum ist definiert
als »Möglichkeit, durch eigene Entscheidung für andere eine Alternative auszuwählen, als Kombination von Einfluß, Autorität und Führung und als
anwendbar auf unterschiedlichste Inhalte.«51
In Zusammenführung dieser systemtheoretischen Überlegungen mit dem
»historischen Hofstrukturmodell« kann »Hof« schließlich definiert werden als
ein soziales System52, dessen Aufgabe es ist, als Institution dauerhaft Orientierungs- und Verhaltenssicherheit auch gegenüber Dritten zu bieten, um der
kontingenten Komplexität der Umwelt begegnen zu können. Diese Aufgabe
wird gelöst durch die spezifische organisatorische Ausformung des Systems
und durch die segmentäre, stratifikatorische und/oder funktionale Ausdifferenzierung von Strukturen und Strukturelementen zum Zweck der Reduktion
und Selektion von Umweltkomplexität mit dem Ziel der kongruenten Generalisierung von Verhaltenserwartungen.
Diesem Ziel gemäß erhält die Institution >Hof< ihre spezifische organisatorische Gestalt dadurch, daß die ihr eigenen Funktionsbereiche - Nutzen,
Prestige, Staat und Herrschaft - und Teilsysteme - herrschaftlicher Privathaushalt, Repräsentation und Zeremoniell, Zentralverwaltung mit hierarchisch
angeordneten Ämtern und zentrale, politische Herrschaft ausübende Mittelpunktsfigur mit der immanenten Möglichkeit aller Teilsysteme zu weiterer
Ausdifferenzierung - sowohl in der zeitlichen als auch in der sachlichen und
sozialen Dimension durch das Kommunikationsmedium Macht zusammengehalten werden. Dies deutet auf den Umstand hin, daß insbesondere das
durch das Kommunikationsmedium >Macht< konkret als politisches System
ausgewiesene Gebilde >Hof< als ein emergentes, multifunktionales und äquivalenzfunktionalistisches soziales System erscheint, so beispielsweise durch
die Verquickung von privaten und öffentlichen Bereichen und Zuständigkeiten wie herrschaftlicher Haus- und staatlicher Zentralverwaltung.
>Macht< verweist auf das allgemeine systemtheoretische Prinzip der Autopoiesis, denn der historische Hof besteht in dreifacher Hinsicht aus autopoietisch-selbstreferentiellen Komponenten: durch das Aufstellen und Bestehen von spezifischen Mitgliedschaftsregeln werden dauerhaft künstliche,
systemrationale, >höfische< Verhaltensweisen reproduziert. Ebenso konstituiert sich Macht auf Dauer immer wieder selbst in Form des Autorität, Einfluß
und Führungsqualitäten aufweisenden Machthabers als Machtzentrum, unter
anderem auf dynastische Weise. Der Hof dient in erster Linie diesem Machtzentrum zur Erlangung, Konservierung, Dokumentation und Ausübung von
50
HIRSCHBIEGEL 1992, S. 82.
51
Ebd.
Das folgende ebd., S. 84-86, graphische Darstellung S. 86.
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52
I. Der Hof als soziales System - Versuch einer Modellbildung
119
Macht, wozu es sich als Machtmittel eines Gewaltmonopols und administrativer und finanzieller Potentiale bedient und über alle politischen, sozialen,
materiellen und kulturellen Chancen verfugt und entscheidet, abgesichert
durch sakrale, rechtliche und ideelle Elemente. Erst in zweiter Linie dient der
Hof seiner Umwelt durch Bereitstellung von organisatorischen Leistungen vor
allem durch den Bereich der Administration der gesellschaftlichen (Über-)Lebensfähigkeit, welche mit Prestigezuweisungen seitens der machtunterworfenen Umwelt belohnt werden.
Dies ist auch der Sinn des Hofes: dauerhafte Stabilisierung des Systems
durch eine nach herrschaftssoziologischen Kriterien charismatisch, traditional
oder rational legitimierte Herrschaftsausübung. Hierdurch, durch korrelativen
Bezug von höfischem System und Umwelt und durch die konkrete Herrscherpersönlichkeit gewinnt das System seine Identität und seine personalen und
territorialen Grenzen, durch eigens für diesen Zweck geschaffene Symbolsysteme hebt es sich wiederum von seiner Umwelt ab.
Schließlich setzt das dahingehend als autonom zu bezeichnende System
seine selektiven Kriterien für den Umgang mit seiner Umwelt vor allem durch
Erzeugung, Verwaltung und Kontrolle von Macht selbst. Herrschaft heißt für
das politische System >Hof< Herstellung von bindenden Entscheidungen in
sämtlichen relevanten politischen, sozialen, administrativen, militärischen,
ökonomischen, finanziellen, sakralen und kulturellen Fragen und weist damit
über eine Charakterisierung von >Hof< als bloßes Organisationssystem hinaus.
Die Herstellung von bindenden Entscheidungen gelingt formal durch die
zentralisierte Anwendung von hierarchisch strukturierter Organisations- und
Personalmacht über die mit je spezifischen Programmen, Kompetenzen und
Kommunikationsbeschränkungen versehenen personengebundenen Stellen,
den Ämtern und administrativen Strukturen.
Von zentraler Bedeutung für das höfische System ist, dies sei nochmals hervorgehoben, die Existenz einer Herrschaft ausübenden Mittelpunktsfigur. Ein
Hof ohne Herrscher ist nicht denkbar, ob dieser nun stets anwesend ist oder
nicht, ob dieser selbst Entscheidungen trifft beziehungsweise treffen kann oder
nur Instrument zur Durchsetzung anderweitiger Interessenlagen ist: Das
System Hof hat ohne den Herrn keine Überlebenschancen. »Der Herr ist das
System, nicht der Hof«, formuliert Gerhard Fouquet dann auch in deutlicher
Zuspitzung53. Ein Herr ohne Hof ist allerdings in den face-to-face Herrschaftssystemen nicht nur Alteuropas ebensowenig denkbar, als die Ausübung
von Herrschaft und die damit verbundene Integrationsleistung, die höfische
Herrschaftssysteme zu erbringen hatten, notwendigerweise mit personaler
Interaktion und herrschaftlicher Präsenz verbunden waren 54 .
53
54
In einem Gespräch mit dem Verf.
Vgl. zur,Interaktion in Oberschichten" LUHMANN 1980.
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Β. Theoretische Überlegungen
Selbstverständlich kann ein theoretisches Konstrukt allein nicht beschreiben
oder erklären, was beschrieben oder erklärt werden soll. Es ist in jedem Fall
notwendig, die Theorie mit den zu beschreibenden oder zu erklärenden Phänomenen zu konfrontieren. Gerade im Fall einer derart konzipierten Großdefinition wie der vorgeschlagenen sind durch Quellen abgesicherte Einzelstudien
zur Überprüfung einerseits, zur empirischen Fundierung andererseits selbstverständlich erforderlich55.
55
Bei HlRSCHBIEGEL 1992, S. 90-162 wird der systemtheorische Ansatz vor allem am
Beispiel des spätrömischen Hofes der Kaiserzeit demonstriert, dem zum Vergleich ausgewählte Aspekte des Merowingerhofes und des Hofes Karls des Großen beigegeben sind.
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Zugehörige Unterlagen
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