92 1 Kapitel 5 · Nervensystem Patienten mit neurologischen Vorerkrankungen weisen häufig anästhesiologisch relevante Besonderheiten auf. Um eine optimale perioperative Betreuung gewährleisten zu können, muss der Anästhesist mit neurologischen Symptomen (. Tabelle 5.1) sowie den zugrunde liegenden Störungen und den daraus erwachsenden Komplikationsmöglichkeiten vertraut sein. Bei der präoperativen Untersuchung sollen neurologische Störungen und Ausfälle dokumentiert werden, um etwaige Veränderungen im Verlauf erkennen zu können. 2 3 4 5 6 7 8 9 Orientierende klinisch-neurologische Untersuchung 5.1 Um eine möglichst umfassende Untersuchung durchzuführen, sollte ein standardisiertes Schema eingehalten werden (. Tabelle 5.2). Dieses Vorgehen erlaubt eine schnelle Orientierung über den aktuellen Gesundheitsstatus des Patienten und gestattet die umfassende und individuelle Narkoseplanung. Inspektion der Augen 10 5.1.1 11 12 ! Die orientierende neurologische Beurteilung beinhaltet immer eine Untersuchung der Augen. Untersucht und dokumentiert werden: Bulbusstellung, Lichtreaktion, Pupillenweite und Kornealreflex. 13 Beim bewusstseinsgestörten Patienten ist die Stellung der Bulbi von Bedeutung: 14 . Tabelle 5.1. Leitsymptome neurologischer Störungen 15 Krampfanfälle 4 Fokal 4 Generalisiert 16 Fokale Ausfälle 4 Motorische Störung an Extremitäten 4 Hirnnervenausfälle 4 Hemiparese 17 18 Symptome eines erhöhten Hirndrucks 4 7 Kap. 5.3.2 19 Zeichen eines meningealen Reizsyndroms 4 4 4 4 Störungen des peripheren Nervensystems 4 Sensorische/motorische Bewusstseinsstörung 4 Somnolenz 4 Stupor 4 Koma Psychopathologische Befunde 4 Gedächtnisstörungen 4 Halluzinationen 4 Antriebs- und Affektstörungen 20 21 22 23 24 Kopfschmerzen Übelkeit/Erbrechen Photophobie Nackensteifigkeit Störungen an Extremitäten 4 Pathologische Reflexe Bulbusstellung 4 Divergenz und spontane Pendelbewegungen zeigen eine funktionelle oder anatomische Hirnstammschädigung in der Brücken-/Mittelhirnregion 4 Konjugierte Abweichungen der Bulbi zur Seite lassen auf eine Störung im Stammhirn oder in der Brücke schließen 4 Spontane Vertikalbewegungen sind als ein prognostisch ungünstiges Zeichen zu werten. Bei hellem Umgebungslicht stellt das Öffnen der Augenlider bereits einen adäquaten Reiz für den Pupillenreflex dar. Durch abwechselndes Abdecken der Augen wird die Beurteilung der konsensuellen Lichtreaktion ermöglicht. Wichtige Hinweise auf die Lokalisation einer Schädigung liefert die Pupillenweite Pupillenweite 4 Eine mäßige Miosis (Pupillendurchmesser: 2–3 mm) kann durch eine Läsion im Subthalamus bedingt sein. 4 Läsionen in der Brückenhaube führen wegen Unterbrechung der sympathischen Fasern zu einer bilateralen maximalen Miosis (Pupillendurchmesser: 1 mm). 4 Als Auslöser einer starken Mydriasis (Pupillendurchmesser: 7–11 mm) kommt eine subtotale Mittelhirnschädigung in Betracht. 4 Schwere Mittelhirnschädigungen sind an einer mäßigen Mydriasis (Pupillendurchmesser: 4–6 mm) mit gleichzeitig verlangsamter Lichtreaktion erkennbar. 4 Anisokorie tritt v. a. nach einer Schädigung des N. oculomotorius auf. Der Kornealreflex wird durch Berühren der Kornea mittels eines kleinen Tupfers von lateral überprüft (vgl. 7 Kap. 5.3.3 Hirnnervenausfälle). 5.1.2 Untersuchung der Extremitäten Am Ende der orientierenden neurologischen Untersuchung werden die Extremitäten untersucht. Die Oberflächensensibilität kann durch feine Berührung und Schmerzreize (z. B. . Tabelle 5.2. Orientierende klinische Untersuchung Bewusstsein 4 Ansprechen, Anfassen, ggf. Schmerzreiz 4 Glasgow Coma Scale Augen 4 Bulbusstellung 4 Pupillenreflexe (Lichtreaktion) 4 Kornealreflex Extremitäten 4 Oberflächensensibilität 4 Muskeltonus/Muskelkraft 4 Pyramidenbahnzeichen (z. B. Babinski) 93 5.2 · Anatomie und Physiologie Kneifen) geprüft werden. Häufig berichten Patienten nach gezieltem Nachfragen von Taubheitsgefühlen. Je nach Sitz der Läsion findet sich eine segmentale (sensible Hinterwurzel des Rückenmarks), periphere (peripherer Nerv) oder eine halbseitenförmige Ausbreitung (zentrale Störung). Um Störungen der motorischen Funktion zu untersuchen, sind die beiden Qualitäten Muskeltonus und Muskelkraft zu prüfen. Der Tonus von Armen und Beinen wird durch bilaterale, abwechselnde, nichtrhythmische Bewegungen überprüft. Die Muskelkraft wird durch einen beidseitigen Händedruck und durch den Armhalteversuch (der Patient hält mit geschlossenen Augen beide Arme mit gespreizten Fingern ausgestreckt vor sich) geprüft. Sowohl Dehnungszeichen (z. B. Meningismusprüfung, Lasègue-Zeichen) als auch Pyramidenbahnzeichen (z. B. Babinski-Gruppe) können untersucht werden, um Ausgangswerte für den weiteren Verlauf zu haben. 5.2 Anatomie und Physiologie 5.2.1 Zentrales Nervensystem Zur Anatomie von Hirnhäuten und Rückenmark 7 Kap. 34. Hirndurchblutung und Hirnstoffwechsel Blutversorgung Der zerebrale Blutfluss (»cerebral blood flow«, CBF) beträgt beim Erwachsenen 45–65 ml/100 g/min (12–15% des Herzzeitvolumens), das intrakranielle Blutvolumen liegt konstant bei ca. 100–150 ml. ! Die Blutversorgung des zentralen Nervensystems erfolgt über die Aa. carotis internae und die Aa. vertebrales. Diese Gefäße sind anatomisch, aber nicht immer auch funktionell über den Circulus arteriosus cerebri (Willisi) verbunden. Die beiden Aa. carotides internae sind über die Aa. communicantes posteriores mit den Aa. cerebri posteriores, die aus der A. basilaris entspringen, verbunden. Nach rostral ist die A. carotis interna der einen Seite über die A. cerebri anterior, A. cerebelli superior A. cerebelli inferior posterior A. cerebelli inferior anterior . Abb. 5.1. Arterielle Versorgung des Gehirns mit Circulus arteriosus cerebri 5