Manuelle Medizin bei bewegungsgestörten Säuglingen

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Manuelle Medizin bei bewegungsgestörten Säuglingen: kurzgefasste
Übersicht
W. Coenen
*Vortrag auf dem ÄGAMK / DGMM- Symposion in Bad Krozinger 1999
Zusammenfassung
Es wird die Bedeutung des Achsenorganes und der wirbelsäulennahen langen
Rückenmuskulatur für die Eigenwahrnehmung (Propriozeption) als Informationsbasis der
Stützmotorik erläutert. Funktionelle Störungen an Wirbelsäule und deren Begleitstrukturen
sind Quelle veränderter Propriozeption und können die Entwicklung der Körperkontrolle im
Säuglingsalter beeinträchtigen. Mit neurophysiologischen und funktionsdiagnostischen
Methoden lassen sich solche Störungen aufdecken und mit einer speziellen
manualmedizinischen Technik behandeln.
In allen Epochen der Geistes- und Kulturgeschichte haben die Denker versucht, den
Menschen in seinem Bezug zur Natur und zum Kosmos zu definieren : der Mensch als Maß
aller Dinge bei Protagoras , der Mensch als Mikrokosmos bei Paracelsus oder „der Mensch letzter Schrei der Natur , wenn auch nicht ihr letztes Wort“ bei Konrad Lorenz. Dies sind
Beispiele, die verdeutlichen, dass sich der Mensch zu allen Zeiten war seines herausragenden
Ranges unter den Lebewesen mit großer Selbstverständlichkeit bewusst war.
Es sei daran erinnert, welchen biologischen Umständen der Mensch diese Sonderstellung in
der Natur verdankt: Hier ist vor allem die Entwicklung des Neocortex zu nennen mit der
Fähigkeit zum diskursiven Denken , zur Sprache , zu gestaltendem Handeln u.s. w....
Eingeleitet aber wurde diese Entwicklung durch einen in der Phylogenese einzigartigen Akt ,
der den Menschen buchstäblich über die anderen Lebewesen erhebt : nämlich die Aufrichtung
des Körpers gegen die Schwerkraft zum zweibeinigen Stand und zur raumzeitlichen
Bewegung in dieser aufrechten Haltung . Die Raumvorstellung , die durch diese
artspezifische Körperposition ermöglicht wird , ist eine Grundvoraussetzung für das
begriffliche Denken , für die cognitiven Fähigkeiten und auch für die Entwicklung der
Wortsprache.
Diese räumliche Bewegung in orthograder Körperhaltung gehört zu den bestgesicherten
Fundamentalfunktionen des ZNS . Der Verlust oder die Beeinträchtigung dieser Funktion
ist das essentielle pathologische Substrat jeder Bewegungsstörung im Kindesalter ,
gleich welcher Ätiologie .
Eine Therapiemethode wird also umso wirksamer sein , je mehr es ihr gelingt , diese gestörte
Funktion zu verbessern oder wiederherzustellen .
Das Bewegungssystem wird neurophysiologisch als informationsverarbeitendes
dynamisches System beschrieben : ein kybernetisches Modell , in dem Sensorik und Motorik
in Wechselbeziehung zueinander stehen .
Die therapeutische Beinflussung diese Systems ist aus naheliegenden anatomische Gründen
nur über die Sensorik möglich. In der manuellen Medizin wird nun durch den Zugriff auf
propriozeptive und exterozeptive Sensoren ( mittelbar auch auf verstibuläre Rezeptoren) die
Informaionsverarbeitung beeinflußt - und damit auch das motorische Resultat .
Wie hat man sich das vorzustellen?
Die Manuelle Medizin beschäftigt sich definitionsgemäß mit der Erkennung und Behandlung
reversibler Funktionsstörungen des Bewegungssystems ; bezogen auf die Wirbelsäule spricht
man von segementaler Dysfuktion oder schlicht von „ Blockierung“ . Diese segmentalen
Dysfunktionen zeigen - neben einem gelenkmechanischen Aspekt- als wesentlichen Faktor
die neurologische Komponente : gekennzeichnet durch nozireaktive Veränderungen an den
segmentalen Strukturen und durch Störung zentraler Steuerungselemente .
Von großer Bedeutung für die klinische Ausgestaltung einer Blockierung
ist die
Verknüpfung des Nozizeptorensystems mit der Gamma-Schleife : nozizeptive Afferenzen
aus geschädigten Gewebsstrukturen lassen im Rückenmarkshinterhorn die Nozireaktion
entstehen, die über Aktivierung der
Motoneurone eine intrafusale Kontraktion des
Spindelrezeptors bewirkt und damit eine Dauerkontraktion des segmentalen Muskels - diese
Kontraktion ist als umschriebene Gewebsverhärtung palpabel und meist schmerzhaft .
Der Spindelrezeptor ist in diesem Zustand aufgrund der inadäquaten nozireaktiven
Afferenzanflutung nicht imstande, adäquate Wahrnehmungsinformationen zu verarbeiten ,
d.h., er kann seinen bestimmungsgemäßen propriozeptiven Aufgaben nicht nachkommen ! Das aber hat wegen der Verknüpfung des Gamma-Systems mit supraspinalen
Zentren nicht nur segmentale , sondern auch zentralnervöse Folgen.
Im Vordergrund steht dabei die Auswirkung einer solchen segmentalen Dysfunktion auf die
sensomotorische Entwicklung des Säuglings, auf die Aufrichteprogrammierung und die
Raumorientierung
Die Entwicklung der Kopf- und Rumpfkontrolle und die Aufrichtung zum Stand vom 1. – 12.
Lebensmonat erfolgt typischerweise von kranial nach kaudal. Diese stützmotorische Entwicklung spielt sich unter normalen Umständen immer in der dieser Reihenfolge ab , parallel
dazu die Differenzierung der Bewegungsformen von Rumpf und Extremitäten.
Bei diesem stützmotorische Programmierprozeß spielen neben dem Labyrinthorgan die
Nackenrezeptoren und das Rezeptorsystem der autochthonen Rückenmuskeln die
entscheidende Rolle. Die Bedeutung der Nackenrezeptoren für das Funktionieren von
Stellreaktionen und tonischen posturalen Leistungen ist allgemein bekannt , weniger bekannt
ist die sensorische Aufgabe der tiefen Rückenmuskeln, die - wie wir aus den Arbeiten von
ZENKER, VOSS , CHRIST u.s.w. wissen- bis zu 40 mal mehr Spindelrezeptoren aufweisen
als die übrigen Rumpfmuskeln ,
Den obersten Rang in der Hierarchie der sensorisch agierenden Muskeln nehmen allerdings
die kurzen Nackenmuskeln ein : ihre Sonderstellung verdanken sie u.a. der dichten
Besiedlung mit Spindelrezeptoren und ihrer netzförmigen, dreidimensionalen Anordnung
zwischen Occiput , Atlas und Axis. In diesen Strukturen findet ein enger Informationsaustausch mit dem Vestibularorgan statt , wobei die sensorischen Daten im Nucleus
cervicalis centralis integriert und verarbeitet werden .Es wird hierdurch die Stellung des
Kopfes im Raum und die Position zwischen Kopf u. Rumpf reguliert . Dazu wiederum ist
die enge Korrespondenz mit den autochthonen Rückenmuskeln erforderlich , die
zusammengefaßt als Erector spinae bezeichnet werden .
Von Bedeutung ist , daß die einzelnen Muskelgruppen diese erector spinae keine trennenden
Faszien aufweisen , d . h . : Jede Tonusänderung eines einzelnen Muskelzuges teilt sich sofort
dem ganzen System mit und bewirkt über die Neueinstellung aller übrigen Muskelzüge eine
Änderung des gesamten Afferenzmusters der tiefen Rückenmuskeln.
Eine Tatsache , die für manuelle Diagnostik und Therapie bei bewegungsgestörten Säuglingen
von großer Bedeutung ist.
Es läßt sich leicht vorstellen ,daß eine Dysfunktion der okzipito-atlanto-axialen Segmente
( also der sog. Kopfgelenke ) beim Säugling unmittelbare Auswirkung auf die posturale
Programmierung hat , was sich in einer gestörten Kopf- und Rumpfkontrolle äußert . Die
gleichen Symptome treten allerdings auch auf , wenn die Störung in einer anderen
Region des Achsenorganes liegt . Hier sind vor allem die obere BWS und die ISG zu
nennen. Nicht selten haben wir es mit einem multisegmental–dysfuntionellen
Symptomenkomplex zu tun, an dem in der Regel die obere Halswirbelsäule sowie die
Übergangsregionen des Achsenorganes, die sensorischen Schlüsselregionen beteiligen .
Bei Bewegungsstörungen ohne zerebrale Beteiligung ist die segmentale Dysfunktion als
Ursache der sensomotorischen Störung anzusehen . Bekanntes Beispiel ist das sog. Schräglagesyndrom mit den typische Zeichen Kopfschiefhaltung , Schädelasymmetrie ,
Rumpfskoliose , asymmetrischen Lage – und Stellreaktionen - kurz : das , was unter der
irreführenden Bezeichnung KISS –Syndrom bekannt ist, hier aber Tonusasymmetriesyndrom
(TAS) genannt wird .
Anders sieht es bei zerebralen Störungen aus ! Die Schädigung z.B. corticospinaler Strukturen
führt zu abnormalen Haltungs- und Bewegungsschablonen mit abnormalem Afferenzmuster.
Die Folge davon ist die Entstehung segmentaler Dysfunktionen, sog. Blockierungen, an den
Extremitäten und den sensorischen Schlüsselregionen der Wirbelsäule mit entsprechender
Veränderung der Propriozeption und weiterer Beeinträchtigung der stützmotorische
Entwicklung im Sinne eines Circulus vitiosus .
Sensomotorische Störungen im Säuglingsalter - ob funktioneller oder organischer Ursache zeigen zudem stets auch Veränderungen im viskoelastischen Verhalten von Muskeln,
Faszien und sonstigen Bindegewebsstrukturen. Diese Veränderungen lassen sich regelmäßig
an den metameren Strukturen funktionsgestörter Segmente finden.
Von klinischer und therapeutischer Bedeutung ist dabei die gestörte Viskoelestizität z.B. an
der Fascia thorakolumbalis oder der Fascia praetrachealis , vor allem aber auch die
Veränderungen an den muskulo-aponeurotischen Strukturen des Schädels :
Spannungsdysbalancen des facialisinnervierten M. epicranius und der trigeminusinnervierten
Kaumuskulatur sind charakteristisch für die Schädelasymmetrie beim sog. TAS, dem
Tonusasymmetriesyndrom ( im Volksmund KISS) und auch regelmäßige Begleiter zerebraler
Störungen.
Die Diagnostik soll hier nicht im einzelnen erläutert werden. Wichtig ist die Feststellung ,
daß manualmedizinische und entwicklungsneurologische Diagnostik untrennbar
zusammengehören und einander ergänzen müssen :Nur auf diese Weise läßt sich im
Säuglingsalter auch bei sehr ähnlicher Symptomatik eine reversible Störung auf spinaler
Reflexebene, also eine sog. Blockierung, von einer supraspinalen bzw. zerebralen Ursache
unterscheiden .
Die therapeutische Zielsetzung ist unabhängig von der Ursache:
Bahnung der Steuerungsprogramme für die Körperstellung im Raum durch
Beeinflussung der Informationsverarbeitung am Rezeptor.
Die therapeutische Strategie:
Gezielte Stimulation der Propriozeptoren und Beseitigung segmentaler Dysfunktionen an
den sensorischen Schlüsselregionen des Achsenorganes und der Extremitäten .
Das taktische Vorgehen besteht in der Behandlung aller dysfunktionell veränderten
Gewebsschichten ,wobei folgende Techniken eingesetzt werden können :
A ) atraumatische Impulsbehandlung des
Nackenrezeptorenfeldes ( Atlastherapie nach Arlen )
B) Segmentale Manipulation an Wirbelsäule und ISG
C) Taktile ( nozifensive ) Tonusführung
D) Mobilisierende Weichteiltechniken
E) Myofasziale Lösetechniken
G) unspezifische propriozeptive Stimulation (Extremitäten)
Punkt A) und B) sind die Kernstücke der Therapie. Die Punkte C bis F nennen die
unentbehrlichen Wegbereiter zur Erreichung des therapeutischen Zieles :
Die sog. taktile Tonusführung an hirnnerveninnervierten Strukturen des Schädels beseitigt
muskulo-aponeurotische Spannungsdysbalancen und beeinflußt auch autonome Funktionen
wie Atmung und affektives Verhalten . Die neuroanatomisch beschriebene Konvergenz von
Primärafferenzen aus zervikalen Segmenten und von Hirnnervenafferenzen läßt sich damit ex
iuvantibus bestätigen .
Es wurde hier versucht, die Ziele und Grundsätze der Manuellen Medizin bei
bewegungsgestörten Säulingen in geraffter Form darzustellen.. Die empirisch entwickelten
therapeutischen Methoden erfahren immer mehr Bestätigung durch neuroanatomische und
neurophysiologische Forschungsergebnisse der letzten Jahre .
Es hat sich ferner gezeigt, dass das therapeutische Angebot bei bewegungsgestörten
Säuglingen und Kindern durch die Atlastherapie und die Anwendung manualmedizinischer
Techniken eine vielversprechende Bereicherung erfahren hat.
Dr. med. Wilfrid Coenen
IMMET-Villingen
Waldstr. 35
D-78048 Villingen
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