1 Manuelle Medizin bei Kindern – eine entwicklungsneurologische Indikation W. Coenen Die Wirbelsäule mit ihren kontraktilen und nichtkontraktilen Begleitsturkturen stellt sowohl aus neuroanatomischer als auch neurophysilogischer Sicht ein Wahrnehmungsorgan dar. Funktionelle Störungen - sogenannte Blockierungen- an bestimmten Regionen des Achsenorganes sind Quelle einer veränderten Eigenwahrnehmung und können beim Säugling die sensomotorische Entwicklung beeinträchtigen. Die Beseitigung solcher Störungen mittels manualmedizinischer Behandlungsmethoden verhindert die Ausbildung pathologischer Bewegungsmuster und ermöglicht eine normale Entwicklung der Haltungs- und Bewegungsleistung des Kindes. Schlüsselworte: Entwicklungsneurologie - manuelle Untersuchung - sensorische Schlüsselregionen - Sensorik - Atlastherapie - KISS - Tonusasymmetrie Neurophysiologisches Konzept Die Manuelle Medizin versteht sich als Methode zur Erkennung und Behandlung reversibler Funktionsstörungen am Haltungs- und Bewegungssystem. Nach heutigem Wissensstand ist die Pathophysiologie einer solchen reversiblen Funktionsstörung gekennzeichnet durch eine gelenkmechanische und eine neurologische Komponente (13) mit Auswirkung auf myofasziale, vegetative, viszerale und zentralnervöse Funktionen.( Tabelle 1 ) Solche segmentalen oder peripher - artikulären Dysfunktionen verursachen im Erwachsenenalter bekanntlich akute oder auch chronisch recidivierende Schmerzzustände am Bewegungsapparat, bevorzugt an der Wirbelsäule. Aus epidemiologischen Gründen entwickelten sich daher die manualmedizinischen Untersuchungs- und Behandlungstechniken vorwiegend aus den Erfahrungen mit adulten Patienten, die Erarbeitung der wissenschaftlichen Grundlagen erfolgte nach schmerztherapeutischen und rehabilitationsmedizinischen Gesichtspunkten. Die Entwicklung der Manuellen Medizin bei Kindern ging eigene Wege: im Vordergrund steht nicht die schmerztherapeutische Anwendung, sondern die entwicklungsneurologische Indikation, die völlig andere und grundsätzlich neue therapeutische Zielvorstellungen ermöglicht. Aus diesem Blickwinkel stellt sich das Bewegungssystem, vor allem die Wirbelsäule mit all ihren Begleitstrukturen, als Wahrnehmungsorgan dar, das für die sensomotorische Entwicklung des Kindes von elementarer Bedeutung ist. In den ersten 12 bis 15 Monaten der frühkindlichen Entwicklung besteht die Aufgabe des ZNS in der Ausbildung der Steuerungsprogramme für die Aufrichtung des Körpers gegen die Schwerkraft und die raum - zeitliche Bewegung in aufrechter Körperhaltung. Dieser Prozeß läuft immer in einer typischen Reihenfolge ab, die nicht chronologisch, sondern hierarchisch festgelgt ist und sich grob skizziert so darstellt (Abb. 1): Das Neugeborene zeigt synergistisch ablaufende globale Beuge- oder Streckmuster und tonische Primitivreflexe, entwickelt dann bis zum 3. Lebensmonat die Fähigkeit, den Kopf aus dem Unterarmstütz orthograd aufzurichten, es folgt mit 6 Monaten die zunehmende Aufrichtung des Rumpfes aus dem Handstütz, mit ca. 9 – 10 Monaten geht das Kind in den Vierfüßerstand und mit ca. 12 Monaten macht es die ersten Schritte. Parallel dazu in Rückenlage die Differenzierung der motorischen Muster von Kopf, Rumpf und Extremitäten: aus der Primitivschablone des ATNR folgt mit 3 Monaten die Medianisierung der Extremitäten, mit 6 das Überrollen vom Rücken auf den Bauch, mit 9 Monaten aus der Rückenlage über den Seitsitz 2 die Rumpfaufrichten im beidseitigen Kniestand und mit ca. 12 – 15 Monaten kann es über den Kniestand frei aufstehen und Treppen hochkrabbeln. Propriozeptive Datenverarbeitung Das Entscheidende bei diesem sensomotorischen Entwicklungsprozeß ist die permanente Verarbeitung von Informationen aus den labyrinthären und propriozeptiven Rezeptoren. Die neuromotorische Entwicklung ist das Ergebnis von Datenverarbeitung. Aus der neurophysiologischen Grundlagenforschung kennen wir die Bedeutung der labyrinthären und halspropriozeptiven Afferenzen für die Steuerung der Körperlage und der Gleichgewichtsreaktionen. Für die praktische therapeutische Anwendung sind nur die peripheren Propriozeptoren von Bedeutung: sie sind – im Gegensatz zum Labyrinth- direkt erreichbar und auch mit manuellen Techniken zu beeinflussen. An erster Stelle stehen dabei aus entwicklungsneurologischer Sicht die Rezeptoren der autochthonen Rückenmuskulatur einschließlich der suboccipitalen Muskeln: aus den Arbeiten von VOSS, ZENKER, CHRIST (11, 14, 2) u.a. ist bekannt, daß z.B. der M. multifidus, die kleinen Rotatoren, auch der Longissimus capitis bis zu 10 mal mehr Spindelrezeptoren aufweisen als die übrigen langen Rückenmuskeln: sie erfüllen die Aufgaben eines Wahrnehmungsorganes. Die größte Spindeldichte findet man allerdings in den suboccipitalen Muskeln mit bis zu 312 Muskelspindeln pro Gramm Muskel (2). Nach TAYLOR (10) kommt diesen Halspropriozeptoren eine wesentliche Rolle bei der Kontrolle sowohl der Kopfstellung, als auch der Körper-, Extremitäten- und Augenstellung zu. Vor allem sind diese Propriozeptoren bei langsamen Kopfbewegungen dem Verstibularapparat überlegen, was die Fein-Registrierung von Kopfbewegung und Kopfstellung angeht. Bedenkt man zudem die Konvergenz von zervikalen Afferenzen mit Hirnnervenafferenzen (vor allem Trigeminus und Vagus), dann wird deutlich, daß die kraniozervicale Übergangsregion als Informationslieferant von größter Wichtigkeit ist für Kopf – und Rumpfkontrolle und überhaupt für die frühkindliche posturale Entwicklung . Es besteht zudem eine enge Wechselbeziehung zwischen den Halspropriozeptoren und der übrigen autochthonen Muskulatur, dem Erector spinae. Deutlich wird dies am oben skizzierten Prozeß der Aufrichteentwicklung von cranial nach caudal. Auf eine interessante Besonderheit der tiefen Rückenmuskeln weist PUTZ (8) hin: die einzelnen Muskelzüge des Erector spinae sind nicht mit trennenden Faszien ausgestattet, d. h. : jede Tonusänderung eines einzelnen Muskels teilt sich sofort dem ganzen System mit und bewirkt über eine Neueinstellung aller Muskelzüge eine Änderung des Afferenzmusters der autochthonen Rückenmuskulatur. Über welche Steuerung diese Anpassung des Systems geschieht , ist nicht bekannt. Nozizeption und -Schleife Typisches peripheres Symptom einer segmentalen Dysfunktion ist die niedrige nozizeptive Reizschwelle im betroffenen Segment. WOLFF weist darauf hin, daß die Verknüpfung des Nozizeptorensystems eines Wirbelgelenkes mit der - Schleife (- und dadurch mit dem Propriozeptor-) für die Ausgestaltung der Klink einer segmentalen Dysfunktion von entscheidender Bedeutung ist (12,13). Abbildung 2 zeigt schematisch die Verknüpfung des Nozizeptorensystems mit der - Schleife: nozizeptive Afferenzen - z. B. aus den „Kopfgelenken“ - lassen im Rückenmarkshinterhorn die Nozireaktion entstehen, die über Aktivierung der - und - Motoneurone eine intrafusale Kontraktion des Spindelrezeptors bewirkt und damit eine Dauerkontraktion des segmentalen Muskels – diese Kontraktion ist palpabel und meist schmerzhaft. Für die Thematik von Bedeutung ist dabei, daß der Spindelrezeptor in diesem Zustand aufgrund der inadäquaten nozireaktiven Afferenzanflutung 3 nicht imstande ist, adäquate Wahrnehmungsinformationen zu verarbeiten. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes „blockiert“ und kann seinen bestimmungsgemäßen propriozeptiven Aufgaben nicht nachkommen. Angesichts der Bedeutung der Halspropriozeptoren für die Stützmotorik und Raumorientierung wird verständlich, daß eine Kopfgelenksblockierung beim Säugling nachteilige Auswirkung auf die sensomotorische Steuerung und auf die Aufrichteentwicklung hat, weil die Halspropriozeptoren verfälschte sensorische Daten liefern. Erkennbar ist das an einer Störung der Kopf- und Rumpfkontrolle, an asymmetrischen Lage- und Stellreaktionen und abnormalen statokinetischen Reaktionen (3,4,7) - und in vielen Fällen besteht auch ein Schmerzzustand, dem das Kind durch eine Schonhaltung ausweicht. Es sind aber nicht nur die Funktionsstörungen an den Kopfgelenken, die solche Symptome hervorrufen. Auch Blockierungen an anderen WS- Abschnitten verursachen Störungen der Haltungs- und Bewegungssteuerung. Besonders sind davon die Übergangsregionen der Wirbelsäule betroffen, allen voran die ISG; oft auch die Segmente, die SELL als „Bahnhöfe“ bezeichnete. Manuelle Untersuchung: Die herkömmlichen segmentalen Untersuchungstechniken, wie sie aus den Erfahrungen mit Erwachsenen bekannt sind, lassen sich nicht ohne weiteres auf Kinder übertragen. Das gilt vor allem für Cerebralparetiker und Säuglinge. Eine segmentale Bewegungsprüfung der Kopfgelenke ist im Säuglingsalter wegen fehlender Kooperation und Abwehr störanfälliger als bei älteren Kindern und Erwachsenen. Auch auf die occipitalen Irritationspunkte nach SELL kann man sich dabei leider nicht verlassen verlassen, denn die sind vor der Vertikalisierung des Kindes nicht eindeutig segmental abgrenzbar: das liegt nicht nur an den sehr engen anatomischen Verhältnissen, sondern offenbar auch an den noch nicht ausdifferenzierten posturalen Funktionen des M. semispinalis capitis und splenius capitis. Trotzdem geben diese beiden am Occiput ansetzenden Muskeln in ihrem Tonusverhalten wichtige Hinweise auf nozireaktive Veränderungen an der Halswirbelsäule. Paravertebrale Irritationspunkte sind beim Säugling durchaus zu finden, erlauben aber ebenfalls wegen der engen Verhältnisse oft keine segmentgenaue Zuordnung, eher eine annähernde Höhenbestimmung, - geben aber in der Regel Auskunft über die freie, also die therapeutische Richtung (Abbildung 3). An BWS und LWS sind paravertrebrale Irritationspunkte einfacher zu ermitteln und segmental zuzuordnen. Schwieriger wird es wieder am ISG: obligatorisch sind die seitenvergleichend durchgeführte Bewegungsprüfung der Hüftgelenke und die Stellungsdiagnostik von Ilium und Sacrum. Umschriebene nozireaktive Weichteilpunkte zur Segmentdiagnostik lassen sich hingegen nicht so ohne weiteres ausmachen. Vielmehr ist hier nach Arealen mit Tonusveränderung im Gluteus medius und maximus zu fahnden, um eine segmentale Höhenbestimmung zu ermöglichen, wie sie für eine gezielte Therapie erforderlich ist (4). (Abbildung 4a und b ) Die segmentale Diagnostik muß immer durch eine vergleichende Bewegungsprüfung der einzelnen WS- Abschnitte und der stammnahen Extremitäten-Gelenke ergänzt werden sowie durch eine ganze Reihe neurophysiologischer Reaktionen, die an anderer Stelle beschrieben wurden(3,4,6). Erst aus dem Gesamtbild läßt sich das Blockierungsmuster und das therapeutische Vorgehen ermitteln. ( Tabelle 2) Sensorische Schlüsselregionen Die Entwicklung der räumlichen Bewegung in aufrechter Körperhaltung gehört zu den bestgesicherten Funktionen des ZNS. Der Verlust oder die Beeinträchtigung dieser Funktion ist das essentielle Substrat jeder Bewegungsstörung im Kindesalter, gleich welcher Ätiologie. Es gilt also auch für Crebralparesen und neuromuskuläre Erkrankungen. Das Bewegungssystem als informationsverarbeitendes dynamisches System (13) ist ein kybernetisches Modell, in dem Sensorik und Motorik in Wechselbeziehung zueinander stehen. 4 Der therapeutische Zugriff zu diesem System gelingt nur über die Sensorik, genauer gesagt: über die Propriozeptoren und -cum grano salis- die Exterozeptoren. Über diese sensorischen Fühler läßt sich die Informationsverarbeitung beeinflussen - und damit das motorische Resultat. Kopfgelenke und ISG bilden dabei sensorische Schlüsselregionen, gefolgt vom cervico-dorsalen und dorso-lumbalen Übergang und den Segmenten Th5/6. ( Tabelle 3) ) Für die entwicklungsneurologische Indikation der MM bei Kindern sind diese WS-Regionen in der genannten Reihenfolge von eminenter Bedeutung. Das gilt für die Behandlung von bewegungsgestörten Säuglingen ebenso wie für Kinder mit sensomotorischer Integrationsstörung ( der sog.„MCD“), mit Cerebralparese oder anderen neuromotorischen Erkrankungen. Therapeutische Regeln Wegen der Besonderheit dieser Krankheitbilder muß vor allem an den Kopfgelenken eine Technik eingesetzt werden, die ohne erkennbare Risiken beim selben Patienten beliebig oft wiederholt werden kann. Eingedenk des behandlungstypischen Risikos einer VertebralisDissection und der Gefahr eines Stammhirninsultes scheidet daher die klassische HWSManipulation bei Säuglingen und Kindern von vornherein aus! Gewünscht wird für die Kopfgelenke aber eine Impulstechnik ohne behandlungstypisches Risiko, eine Technik, die nicht nur zur Behandlung von Blockierungen eingesetzt werden kann, sondern vor allem einen tiefgreifenden Einfluß auf das propriozeptive Affenrenzmuster nimmt! Die einzige Impulstechnik, die nach unserer Kenntnis diese Voraussetzung erfüllt, ist die Atlastherapie nach Arlen (3). Nach eigenen langjährigen Erfahrungen mit dieser Methode ist sie bei entsprechender Indikation allen anderen Techniken an der HWS, auch den osteopathischen, bezüglich der neurophysiologischen Wirksamkeit überlegen. Hier liegt eine weitere Besonderheit der Manuellen Medizin bei Kindern: die Bedeutung der Halspropriozeptoren für die orthograde Körperkontrolle verlangt bei Kindern mit ICP und anderen, nicht-cerebralen Entwicklungsstörungen auch dann eine Behandlung der Kopfgelenke bzw. der Nackenrezeptoren, wenn gar keine segmentale Blockierung im biomechanischen Sinne vorliegt! Bei solchen Indikationen hat sich die Atlastherapie in der Langzeitanwendung sehr bewährt.(5) Das Prinzip der Atlastherapie nach Arlen besteht in einem Dehnreiz auf die netzförmig angeordneten, dicht mit Spindelrezeptoren besetzten subokzipitalen Muskeln (Abb. 5 ) . Um den gewünschten therapeutischen Effekt zu erzielen, muß dieser Dehnreiz-Impuls über den Querfortsatz des Atlas in einer individuell exakt zu ermittelnden Richtung erfolgen und er muß aus Tiefenkontakt ultrakurz und befundgemäß dosiert appliziert werden.(Abbildung 6) Die Behandlung erfolgt aus Mittelstellung des Kopfes ohne Rotation, Extension oder Flexion der Halswirbelsäule. (Abb. 7) Nach jedem Impuls erfolgt die Überprüfung des Behandlungseffektes anhand manualmedizinischer und neurophysiologischer Tests. Die therapeutisch wirksame Impulsrichtung wird nicht nur aus dem klinisch-manualmedizinischen Befund bestimmt, sondern in erster Linie anhand der a. p. Röntgenaufnahme des cervico- okzipitalen Überganges, aus der sich die Stellung des Atlas gegenüber den Okziputkondylen und dem Axis ermitteln lässt. (Abb.8) . Wird der Impuls willkürlich gesetzt und die therapeutische Richtung verfehlt, bleibt nicht nur der gewünschte Behandlungseffekt aus, sondern es kommt auch gewöhnlich zu einer Verstärkung der Pathologie. Das atlastherapeutische Verfahren ist wesentlich komplexer und anspruchsvoller, als es sich dem unvorbereiteten Beobachter darstellen mag. Zur Ausbildung in Atlastherapie werden ausschließlich approbierte Ärzte mit Zusatzbezeichnung Chirotherapie zugelassen. An nichtärztliche Berufsgruppen wurde diese Methode nie weitergegeben. Warum gewisse staatliche Ausschüsse dennoch die Atlastherapie nach Arlen als Heilmittel einstufen, ist eines jener Geheimnisse, die wohl nie gelüftet werden, solange Bürokratie waltet. Ebenso rätselhaft ist die stupende Beharrlichkeit, mit der von anderer Stelle die Atlastherapie als riskantes Verfahren bezeichnet wird, obwohl es - im Gegensatz zur chirotherapeutischen Manipulation - noch nie 5 einen ernsthaften oder gar lebensbedrohlichen Zwischenfall durch Atlastherapie gegeben hat, was wegen der völlig andersartigen Technik auch nicht denkbar ist. Obwohl die Atlastherapie nach Arlen einen Fortschritt auch in der Behandlung neuromotorischer Störungen darstellt, ersetzt sie doch keineswegs die Therapietechniken an anderen WSAbschnitten, wie ARLEN das postulierte ( der allerdings auch nie Säuglinge oder Kleinkinder behandelt hat). Vielmehr haben sich bei bestimmten Störungsbildern säuglings- und kindgerecht modifizierten Manipulations-Techniken bewährt, allen voran die Behandlung der ISG. Bevorzugt werden im Säuglings- und Kleinkindalter Manipulationstechniken, die aus der Neutralstellung durchgeführt werden, also ohne Rotation oder Flexion bzw. Extension, von bestimmten Ausnahmen abgesehen . Die Manipulation erfolgt grundsätzlich in die freie Richtung. (Abb. 9 a und b ) Um alle dysfunktionell veränderten Strukturen zu erfassen, werden Atlastherapie und chirotherapeutische Manipulation bei komplexen Symptomenbildern ( z.B. multisegmental dysfunktionelles Syndrom des Säuglings, zerebrale Bewegungsstörungen usw.) durch „weiche“ Behandlungstechniken ergänzt (6) : dazu gehören Myofasciales Lösen, taktile Tonusführung der epicraniellen Strukturen, reziproke neuromuskuläre Steuerung an den Extremitäten (NMS) und sequentielle Fasziolyse - jeweils eingeleitet durch unspezifische propriozeptive Stimulation („packen,, pritschen, kneten“) (.Abb. 10 a – d ) Behandlungsgrundsatz Aus den Gesetzmäßigkeiten der neuromotorischen Entwicklung des Säuglings ergibt sich eine obligatorische Behandlungsstrategie bei sensomotorischen Störungen: Erstes Ziel ist die Verbesserung bzw. Normalisierung der Kopfkontrolle als fundamentale Voraussetzung für die Aufrichtung und Raumorientierung. Daraus erst ergeben sich Rumpfkontrolle und Bewegungssteuerung der Extremitäten, im Sinne einer einer hierarchischen Reihenfolge. Dies gilt für jede zentralnervöse Störung bei Kindern und für jede Altersgruppe! ( Abb. 11 ) Am deutlichsten läßt sich dieses Prinzip beim Säugling studieren, weil hier die tonischen und phasischen Reflexe noch zu sichtbaren Bewegungen führen, bevor sie später von differenzierteren Mustern verdeckt werden. Insofern ist die entwicklungsneurologischmanualmedizinische Diagnostik und Therapie beim Säugling der Schlüssel zur manuellen Kinderbehandlung überhaupt. Indikationen Auf kindliche Schmerzsyndrome wie Schulkopfschmerz, akuter Torticollis, spondylogene Thoraxschmerzen, Coxalgie und Gonalgie u.s.w. soll hier nicht eingegangen werden. Die klassischen entwicklungsneurologischen Indikationen für die manuelle Kinderbehandlung sind: Tonusasymmetriesyndrom ( TAS), auch bekannt als Schräglagesyndrom, sehr in Mode ist die Bezeichnung „KISS-Syndrom“ ( nosologisch fragwürdig, aber leicht zu merken, daher besonders für Laien geeignet). Beim TAS handelt es sich um ein peripheres dysfunktionelles Syndrom ohne hirnorganische Beteiligung, obwohl die Symptomatik des TAS so ausgeprägt sein kann, daß mitunter fälschlich der Eindruck einer cerebralen Schädigung entsteht. Das TAS ist ein typisches Beispiel für fehlerhafte Informationsverarbeitung an den Rezeptoren des dysfunktionellen Segmentes: die nach zentral weitergereichten Informationen entsprechen nicht den Daten, die im Bauplan des ZNS für die einwandfreie Progammierung von Eigenwahrnehmung und Raumorientierung vorgesehen sind. Unbehandelt kommt es aufgrund neuroplastischer Adaptation zur Entwicklung 6 abnormaler sensomotorischer Programme, was sich in einer verzögerten oder unzureichenden motorischen Reifung äußert (7). Bei entsprechendem Befund ist eine Behandlung daher medizinisch indiziert, nicht zuletzt wegen der häufig begleitenden Schmerzsymtomatik sensomotorische Dyskybernese/ Integrationsstörung. ( Mißverständlich auch „MCD“ genannt). Kennzeichnend für dieses Symptomenbild sind verzögerte motorische Entwicklung, Koordinationsstörungen, grob- und feinmotorische Auffälligkeiten, nicht selten Verhaltenstörungen und schulische Schwierigkeiten. In den meisten Fällen läßt sich anamnestisch ermitteln, daß bei diesen Kindern schon im Säuglings- oder Kleinkindalter Auffälligkeiten bestanden, die auf segmentale Störungen des Achsenorganes hinwiesen, aber als nicht behandlungsbedürftig eingeschätzt wurden. Diesen Kindern kann man mit der atlastherapeutischen Konzeption sehr gut helfen, in aller Regel besser als mit KG oder Ergotherapie. Spastische und hypotone infantile Cerebral-Parese: Werden corticospinale Strukturen geschädigt, die für die Tonusmodulation und die stütz- und zielmotorische Feinabstimmung verantwortlich sind, so entsteht das Bild der spastischen Cerebralparese. Ersatzmotorische Zentren auf mesencephaler und spinaler Ebene mischen sich ein in die Steuerung des Muskeltonus und der Bewegungsabläufe. Folge ist eine abnormale Somatosensorik, weil durch den pathologischen Muskeltonus unphysiologische Haltungsschablonen des Rumpfes und der Extremitäten hervorgerufen werden, die ein abnormales sensorisches Muster entwerfen. Dadurch wird die Entstehung peripherer segmentaler Dysfunktionen eingeleitet, die ihrerseits über die nozireaktiven Einflüsse zu einer Informationsverfälschung am Spindelrezeptor führen. Es entsteht ein circulus vitiosus. Daraus geht hervor, daß bei der ICP anatomisch intakte Funktionskreise aufgrund fehlerhafter Sensorik am pathologischen Erscheinungsbild wesentlich beteiligt sind. Die klinische Symptomatik einer ICP geht daher meist über das hinaus, was von den geschädigten Cortexarealen eigentlich an Ausfallserscheinungen zu erwarten wäre. Hier liegen die Möglichkeiten der Manuellen Medizin, die dort fortfährt, wo die Krankengymnastik an ihre Grenzen gelangt ist.(1, 4, 7) Für hypotone Bewegungsstörungen, die als Übergangsform zur cerebralen Spastik oder als eigenständige, ätiologisch unklare Krankheitbilder auftreten, gelten ähnliche Regeln, wobei hier die Behandlung der Cervicooccipitalregion zur Steuerung der Kopfkontrolle an oberster Stelle steht. Myopathien sollen der Vollständigkeit halber erwähnt werden: hier lassen sich je nach Stadium und Ätiologie mit manualmedizinischen, vor allem atlatherapeutischen Techniken oft gute symptomatische Besserungen erzielen, auch wenn die Prognose davon nicht beeinflußt wird. Dr. med. Wilfrid Coenen Facharzt für Orthopädie Institut für Manualmedizin und Entwicklungstherapie (IMMET) Waldstr. 35, D – 78048 Villingen Literatur: 7 1. Baumann, J.U. 1(1997) : Wirkungsnachweis manualmedizinischer Behandlung bei Zerebralparesen. In: H.Lohse-Busch, T.Graf-Baumann (Hrsg.): MANUELLE MEDIZINBehandlungskonzepte bei Kindern. Springer, S. 21 – 27 2. Christ,B. (1993): Anatomische Besonderheiten des Halses. Manuelle Medizin 31: 67-68 3. Coenen,W (1992): Die Behandlung der sensomotorischen Dyskybernese bei Säuglingen und Kleinkindern durch Atlastherapie nach Arlen. Orthopäd. Praxis,Heft 6, 386-392 4. Coenen,W. (1996): Manualmedizinische Diagnostik bei Säuglingen und Kleinkindern. 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