Anwendungsgebiete der Manuellen Medizin bei Kindern

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Manuelle Medizin bei Kindern
Eine Übersicht
W. Coenen
Zusammenfassung
Die Behandlung von Kindern nimmt im Gesamtkonzept der Manuellen Medizin eine
Sonderstellung ein. Beim Kind variieren diagnostisches und therapeutisches Vorgehen in
Abhängigkeit von Alter, Reifezustand und mentaler Entwicklung, was spezielle Kenntnisse
sowie spezifischen Untersuchungs- und Behandlungstechniken erfordert. Die wichtigsten
Aspekte der kindlichen Entwicklung werden skizziert und die Voraussetzungen zum
manualmedizinischen Vorgehen sowie die diagnostischen und therapeutischen Grundsätze
kurz erläutert.
Schlüsselworte: kindliche Entwicklung - Gestaltwandel - entwicklungsneurologische Indikation Prävention- Rehabilitation - ICP -- Tonusasymmetrie - KISS
Organreifung und Gestaltwandel
Das ausdifferenzierte Bewegungssystem des Erwachsenen unterscheidet sich in wesentlichen
Merkmalen von denen des Kindes. Bis zum Wachstumsabschluss erlebt das Kind einen
gesetzmäßig ablaufenden Gestaltwandel, in dem sich Fülleperioden mit Streckphasen
abwechseln:
o 1. bis 4. Lebensjahr: erste Fülleperiode
o 5. bis 7. Lebensjahr: erste Streckphase
o 8. bis 10. Lebensjahr: zweite Fülleperiode
o 11. bis 15. Lebensjahr: zweite Streckphase
o 15. bis 20. Lebensjahr: dritte Fülleperiode
Dieser Reifungsprozess des Bewegungssystems mit den sich stetig ändernden Größen- und
Belastungsverhältnissen erfordert eine genaue funktionelle Abstimmung zwischen
Muskulatur, Bindegewebe, Gelenkverbindungen und Skelettstrukturen, wodurch das System
in besonderer Weise störanfällig wird.
Sensomotorische Programmierung
Gestaltwandel und Organreifung gehen einher mit der Differenzierung sensomotorischer
Programme für die Stütz- und Zielmotorik, also für Körperkontrolle und Handgeschick; ein
Prozess, der sich die enorme Neuroplastizität des kindlichen ZNS zunutze macht und in
bestimmten Phasen seine Entsprechung in der Änderung der Körperproportionen findet:
o
Die frühkindliche Phase der ZNS-Entwicklung, die Markreifung, ist mit 4 Jahren
abgeschlossen. Gleichzeitig endet die erste Fülleperiode.
o
In der Mitte der ersten Streckphase mit 6 Jahren sind die Basisprogramme für die
Grob- und Feinmotorik ausgebildet, das Kind ist schulreif.
o
Die zweite Fülleperiode zwischen achtem und zehntem Lebensjahr ist
gekennzeichnet durch die zunehmende Komplexität und Variabilität der grob- und
feinmotorischen Bewegungssteuerung vor allem in qualitativer Hinsicht.
o
Präpubertät und Pubertät entsprechen der zweiten Streckphase. Die Bildung
körpereigener Hormone bestimmt zunehmend die geschlechtsspezifischen
1
Merkmale der Körperproportionen und des motorischen Verhaltens. Mit der
zweiten Streckphase endet die Kindheit.
Mentalität und Psyche
Grundlegende Unterschiede zeigen sich auch in Mentalität und Psyche:
Der determinierten Persönlichkeit des seelisch, geistig und körperlich ausgereiften
Erwachsenen mit seiner Lebenserfahrung setzt das Kind eine rückhaltlose Offenheit
gegenüber der Umwelt entgegen, die es als grundsätzlich wohlgesonnen ansieht.. Hinzu
kommt eine enorme Aufnahmebereitschaft für Entfaltungs- und Lernimpulse, aber auch „eine
ungeschützte Beeinflussbarkeit und große Verletzlichkeit“ (J. Lutz)
Aus all diesen Gründen verlangt die manuelle Behandlung eines Kindes vom Arzt ein
außerordentliches Maß an Einfühlungsvermögen, Verantwortungsbewusstsein und
fachlichem Können.
Voraussetzungen für Manuelle Medizin bei Kindern
Die Manuelle Medizin entwickelte sich aus den Erfahrungen mit erwachsenen Patienten,
deren physische und psychische Voraussetzungen mit denen des Kindes nicht vergleichbar
sind. Es lassen sich daher die klassischen manualmedizinischen Behandlungstechniken nicht
ohne weiteres auf Kinder übertragen, auch wenn Kind und Erwachsener vergleichbaren
anatomischen und neurophysiologischen Gesetzmäßigkeiten unterliegen.
Die diagnostische und therapeutische Vorgehensweise bei Kindern erfordert eine sorgsame
Anpassung an Alter und Entwicklungsstand. So unterscheidet sich beispielsweise die
neurophysiologische und funktionsdiagnostische Beurteilung eines Säuglings und auch dessen
Behandlung grundlegend von der des Vorschulkindes oder Schulkindes
Unverzichtbare Voraussetzungen für die manualmedizinische Therapie bei Kindern sind:
1.
Kenntnis der altersphysiologischen Merkmale und Normvarianten des Bewegungssystems und der pathologischen Abweichnungen
2.
Kenntnis des altersbezogenen neurophysiologischen Entwicklungsstandes und der
pathologischen Abweichungen
3.
Große Sicherheit in der Anwendung chirotherapeutischer Griffe durch Erfahrungen,
die an erwachsenen Patienten erworben wurden
4.
Beherrschen kindgerechter atraumatischer Behandlungstechniken
5.
Berücksichtigung der altersentsprechenden Mentalität und Psyche
Die hierzu erforderlichen Kenntnisse können nicht in den Weiterbildungskursen zur
Erlangung der Zusatzbezeichnung „Chirotherapie“ vermittelt werden.
Die Ausbildung in Manueller Medizin bei Kindern ist vielmehr einem gesonderten
Kurscurriculum vorbehalten, das die abgeschlossene manualmedizinische Weiterbildung mit
Zusatzbezeichnung „Chirotherapie“ zur Voraussetzung hat (Sonderkurse „MM bei Kindern“
der ÄGAMK in Kooperation mit der MWE).
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Anwendungsgebiete der Manuellen Medizin bei Kindern
Schmerztherapie
2. Traumatologie
3. Prävention und Rehabilitation
4. Entwicklungsneurologie
1.
Schmerztherapie, Traumatologie sowie Prävention und Rehabilitation sind die klassischen
Indikationsgebiete der Manuellen Medizin. Die entwicklungsneurologische Indikation
hingegen steht nicht in der manualmedizinischen Tradition, sondern stellt eine
Neuentwicklung im Gesamtkonzept der Manuellen Medizin dar und eröffnet den Zugang zur
Behandlung von Kindern mit sensomotorischen Störungen verschiedener Ursache.
Die folgenden Beispiele geben eine Übersicht über häufige im Kindesalter auftretende
Krankheitsbilder, die manualmedizinisch behandelt werden können.
Muskuloskelettale Schmerzen:
Segmentale Blockierungen der WS mit Nacken- und Rückenschmerzen
Akuter Torticollis
Funktionelle Kopfschmerzen bei Dysfunktion der Kopfgelenke und/oder HWS
Sog. Schulkopfschmerz
Komplementär bei kindlicher Migräne
Brachialgie bei Blockierung der unteren HWS, der 1. Rippe oder oberen BWS
Coxalgie (SIG- Blockierung bei Beckenfehlstatik, symptomatische SIG-Blockierung bei
Coxitis fugax, M. Perthes, Hüftdysplasie )
Gonalgie (reflektorisch bei Blockierung der mittleren LWS mit peripatellärem
Schmerzsyndrom, tibiofibulare Blockierung)
Posttraumatische Zustände mit funktionell bedingten neurologischen Symptomen:
Posttraumatische Blockierungen an Wirbelsäule und Extremitäten
Vertebrobasiläre Symptome ohne Organbefund
Schwindel, Übelkeit, Ohrgeräusche bei zervikookzipitaler Dysfunktion
Konzentrationsstörung, Schlafstörung nach HWS-Trauma
Gangstörung bei Kopfgelenks- oder SIG-Blockierungen
Sekundäre funktionelle Symptome bei Armplexusparese u.s.w.
Prävention und Rehabilitation:
Haltungsfehler
Adoleszentenkyphose
Beckenfehlstatik
Symptomatische Skoliose (z.B. bei pelviner Dysfunktion, juveniler Ossifikationsstörung
u.s.w.)
Idiopathische Skoliose
Craniomandibuläre Dysfunktion u.s.w
Entwicklungsneurologische Indikation:
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Infantile Cerebralparesen
(Spastische Paresen ,Athetose, Ataxie, hypotone Paresen)
Sensomotorische Integrationsstörung
( „ADS, ADHS“, Störung der Körperkontrolle und der Feinmotorik, Störung der
Bewegungskoordination, Konzentrationsstörung, Lernstörung, Verhaltensauffälligkeit)
Sensomotorische Entwicklungsstörung im Säuglingsalter
(Bewegungsstörung aufgrund eines dysfunktionellen Tonusasymmetriesyndroms (TAS,
„KISS“) oder bei cerebraler Läsion. Sensomotorische Entwicklungsstörungen anderer
Ursache (Myopathie, Stoffwechselerkrankung u.s.w.)
Richtlinien der Manualmedizinischen Diagnostik bei Kindern
Die Angaben eines Kindes über körperliche Symptome oder subjektive Beschwerden sind
umso ungenauer, je jünger das Kind ist. Dies betrifft sowohl die Lokalisation der Symptome
als auch die Angaben über Schmerzqualität, Dauer und Häufigkeit. Mitunter deutet lediglich
ein verändertes Bewegungsverhalten auf ein pathologisches Geschehen hin. Daher ist nach
eingehender Befragung der Bezugsperson und Ausschluss organischer oder systemischer
Ursachen ein systematisches manualdiagnostisches Vorgehen in drei Stufen erforderlich:
1.
Untersuchung der sensorischen Schlüsselregionen
2.
Funktionsprüfung der Extremitätengelenke
3.
Orientierende neurologische Untersuchung
Sensorische Schlüsselregionen (Coenen) sind die Übergangszonen des Achsenorganes. Sie
spielen in der sensomotorischen Entwicklung und Körperkontrolle als Vernetzungsorte
propriozeptiver Informationen eine wichtige Rolle und sind bei Schmerzzuständen regelmäßig
am pathologischen Geschehen beteiligt.
Sensorische Schlüsselregionen:
o
o
o
o
o
Zervikookzipitaler Übergang ( Kopfgelenke) und craniomandibuläres System
zervikodorsaler Übergang mit 1. Rippe und oberer Thoraxapertur
die Segmente Th4/Th5 (Übergang Lordose/Kyphose)
dorsolumbaler Übergang mit Diaphragma abdominalis
Beckenring mit Beckenboden und Sacroiliakalgelenken
Die Behandlung dieser Regionen mit manuellen Techniken ist besonders wirkungsvoll, selbst
wenn der Ort der Behandlung nicht identisch ist mit der ursächlichen oder primären
pathologischen Lokalisation. Daher ist die funktionelle und manualmedizinische
Untersuchung dieser sensorischen Schlüsselregionen sowie deren Behandlung bei Kindern
unverzichtbar.
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Manualmedizinisches Untersuchungsschema (Vorschul- und Schulalter):






Beurteilung von Kopf- und Körperhaltung, Schulterkulisse, Taillendreieck,
Beckenstellung, Beinachsen
Prüfen der Kiblerfalten zur orientierenden segmentalen Untersuchung an BWS und
LWS
Segmentale Beweglichkeitsprüfung der Übergangsregionen
Vorlaufphänomene (Rippen, LWS, SIG) und Spine-Test (SIG)
Dreischrittdiagnostik (siehe 1.5.2.)
Beweglichkeitsprüfung der Extremitätengelenke (einschließlich Tibiofibulargelenke
und Fußwurzelgelenke)
Orientierende neurologische Untersuchung:






Zehen-Hackengang
Einbeinstand
Einbeinhüpfen
Langsitz
Muskeleigenreflexe, Bauchhautreflexe
Pyramidenzeichen
Manualmedizinische Behandlungsmethoden im Kindesalter
Die einzelnen Behandlungsmethoden der Manuellen Medizin lassen sich in abgewandelter
Form auch bei Kindern und Säuglingen einsetzen, wobei Auswahl und Durchführung der
Technik vom Alter und Reifezustand des Kindes bestimmt werden. Vor allem bei
Säuglingen und Kleinkindern weicht die Durchführung dieser Grifftechniken deutlich von
der bekannten Vorgehensweise ab, weswegen sie den Sonderkursen vorbehalten sind.
Folgende kindgerecht modifizierte Methoden kommen zum Einsatz:



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

Segmentale chirotherapeutische Manipulation
Weiche Mobilisationstechniken
Myofasziales Lösen
Osteopathie einschl. Craniosacral-Therapie
Strain-Counter-Strain (bei kooperationsfähigen Kindern)
Muskelenergietechnik (bei kooperationsfähigen Kindern)

Als Sonderform:
Atlastherapie nach ARLEN
Zur Beachtung: die Atlastherapie nach ARLEN ist eine der wirksamsten Methoden in der
Behandlung funktioneller und neuromotorischer Störungen im Kindesalter. Keines der
bekannten anderen Therapieverfahren hat einen vergleichbaren Einfluss auf das
propriozeptive Afferenzmuster und damit auf zentralnervöse Vorgänge wie die Atlastherapie
nach ARLEN. Zur kunstgerechten Anwendung bedarf die Atlastherapie jedoch ebenfalls einer
speziellen Ausbildung und ist keinesfalls mit der vereinfachten Einfingertechnik am ersten
Halswirbelkörper zu verwechseln oder gleichzusetzen. Ein ungezielter, inadäquat gesetzter
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Atlasimpuls kann eine rasche Verschlechterung der klinischen Symptomatik bewirken und
massive vegetative Reaktionen hervorrufen. Der häufigste Fehler von Anfängern und
Autodidakten ist die Ermittlung der therapeutischen Impulsrichtung über die Palpation des
Atlasquerfortsatzes. Die Fehlerquote beträgt über 70 Prozent : zum einen wegen der
zahlreichen anatomischen Varianten des Processus transversus atlantis, zum anderen wegen
der Vielzahl denkbarer Kombinationen von therapeutisch wirksamen Impulsrichtungen, die
für jeden Patienten individuell zu ermitteln sind.
Diagnostik und Impulstechnik der Atlastherapie werden im Rahmen der Sonderkurse
„ Manuelle Medizin bei Kindern“ gelehrt.
Praktische Empfehlungen zur therapeutischen Vorgehensweise bei Kindern:
Ausgehend von der Tatsache, dass jede Dysfunktion in der Peripherie eine Quelle
pathologischer Propriozeption darstellt, hat sich folgendes Procedere bewährt:



Manuelle Behandlung der primären segmentalen Dysfunktionen und der
Schlüsselregionen mit kindgerechten, schonenden Techniken
Behandlung funktionsgestörter Extremitätengelenke
Behandlung der Tender- und Trigger-Points ( z.B. Strain-Counter-Strain,
Muskelenergietechnik)
Es sollten nach Möglichkeit Behandlungstechniken aus der Mittelstellung der Wirbelsäule
angewendet werden ohne Endrotation oder Enflexion, um Gewebsverletzungen zu vermeiden.
Dies gilt besonders für jüngere Kinder.
Hinweise für Manualmediziner ohne Zusatzausbildung in Manueller Medizin bei
Kindern:
Größte Vorsicht ist geboten bei der Behandlung der HWS und der Kopfgelenke mit
klassischen chirotherapeutischen Griffen. Unterhalb des 14. Lebensjahres sollten
weiche Techniken eingesetzt werden.
Ausdrücklich sei gewarnt vor der Behandlung von Kindern mit neurologischen
Symptomen. Dies gilt ebenso für die Behandlung von Kleinkindern und Säuglingen.
Hierzu ist die Ausbildung in Atlastherapie und Manueller Medizin bei Kindern
unverzichtbar.
Grundsätze:
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o
o
o
Die Behandlung von Kindern erfordert ein hohes Maß an Geduld und
Einfühlungsvermögen
Kinder sind verletzlich, seelisch wie körperlich
Chirotherapie lässt sich an Kindern nicht üben, man muss die Methode
beherrschen
Jeder verantwortungsbewusste Manualmediziner wird daher seine
technische Fertigkeit zuerst durch die Behandlung von Erwachsenen
vervollständigen
o
Dr. med. Wilfrid Coenen
Waldstr. 35
D-78048 Villingen
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