Grundlagen der Begutachtung, Schuldfähigkeit

Werbung
Grundlagen der Begutachtung,
Schuldfähigkeit
Was ist ein Gutachten?
−
Die Beurteilung eines Sachverhaltes
−
Auf der Basis besonderer Fachkenntnisse
−
Für einen konkreten Auftraggeber
−
Zu einer von diesem festgelegten Fragestellung
−
Durch eine(n) auf dem Gebiet ausgewiesene(n) ExpertIn, der/die objektiv und
unabhängig unter Berücksichtigung der aktuellen wissenschaftlichen Lehre und der
juristischen Rahmenbedingungen zu den beantwortbaren Fragen eindeutig Stellung
nimmt
,
Rolle des Gutachters
Prinzipiell
Gutachter = Gehilfe des Gerichts
−
Gutachten (GA) soll dem Gericht die Informationen geben, die einer normativen, d. h.
wertenden, Entscheidung zugrunde gelegt werden können
−
Pflicht zur unparteiischen, fachlich fundierten Gutachtenerstattung
−
Kein Ermittlungsorgan
−
Begutachtung eigener Patienten problematisch
,
Art.19 – Schuldunfähigkeit und
verminderte Schuldfähigkeit
1. war der Täter zur Zeit der Tat nicht fähig, das
Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss
dieser Einsicht zu handeln, so ist er nicht
strafbar
2. war der Täter zur Zeit der Tat nur teilweise
fähig, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder
gemäss dieser Einsicht zu handeln, so mildert
das Gericht die Strafe
Deutschland:
§ 20 - Schuldunfähigkeit
Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung einer Tat
• wegen einer krankhaften seelischen Störung
• wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung
• wegen Schwachsinns oder
• einer schweren anderen seelische Abartigkeit
unfähig ist
 das Unrecht einer Tat einzusehen oder
 nach dieser Einsicht zu handeln
alte Begriffe
1. Geisteskrankheit
2. Schwachsinn
3. schwere Störung des Bewusstseins
bzw.
1. Beeinträchtigung der geistigen Gesundheit
2. geistig mangelhafte Entwicklung
3. Beeinträchtigung des Bewusstseins
Plan:
„schwere psychische Störung“ als Sammelbegriff
ICD-10 bzw. DSM-IV
• ohne Diagnose keine Schuldminderung
• Diagnose alleine reicht aber nicht
• Verknüpfung von Diagnose und Funktionsfähigkeit
ist sinnvoller
 diagnostische Zuordnung und Beurteilung des
Funktionsniveaus
Mögliche Störungen
• Körperlich begründbare Psychosen, incl. degenerative
Hirnerkrankungen
• Durchgangssyndrome (incl. akute Intoxikation)
• epileptische Anfälle (incl. Dämmerzustand)
• schizophrene und affektive Psychosen
• schwere Sucht
• genetische Aberrationen (z.B. Klinefelter-Syndrom)
•
•
•
•
•
•
Persönlichkeitsstörungen
neurotische Störungen
Störungen der Impulskontrolle
sexuelle Deviationen
Medikamenten- und Drogenmissbrauch
paranoide Entwicklungen
Entscheidend ist die Frage, ob die Tat überhaupt
etwas mit der Störung zu tun hat
Argumente für eine
Quantifizierung
1. Psychische Störungen sind ausgesprochen heterogen
2. Alkoholisierung: angeheitert, berauscht, psychotischer Rausch
3. Gelegentlicher Substanzkonsum, Substanzmissbrauch, psychische
Abhängigkeit, körperliche Abhängigkeit, organische
Persönlichkeitsveränderung bei Abhängigkeit, alkoholinduzierte
Demenz
4. Quantifizierung wird der Verlaufsgestaltung psychischer
Erkrankungen besser gerecht, z. B. schizophrene Erkrankungen,
akute Exazerbation einer schizophrenen Erkrankung
5. Bei einer Quantifizierung auf der diagnostischen Ebene erhält die
Tat kein quantifizierendes Gewicht
6. Dadurch kann eine wesentlich problematischere Durchmischung
verhindert werden:
Schweres, vermeintlich unverständliches Delikt  Schwere Störung
Aber nach welchen Kriterien
soll quantifiziert werden?
Kann die Organdiagnostik helfen?
Laborparameter
Versuch einer Ordnung im Bereich der Alkoholdelikte
- Werte ab 2,0 Promille relevant
- Dann auch Steuerungsfähigkeit erheblich vermindert
- Ab 3,0 Promille Steuerungsunfähigkeit
- Diese Einteilung findet keine Stütze im klinischen Arbeitsalltag
- Toleranz bleibt unberücksichtigt
- Alkoholgewöhnte Straftäter werden bevorzugt
Saß [1985]:
1. Psychopathologisches Referenzsystem
2. Hinsichtlich der
Schweregradseinschätzung bei
Persönlichkeitsstörungen wird die
Orientierung an organischen oder
endogenen Psychosen empfohlen
Intelligenzminderungen
Störungen der Intelligenz, die nicht auf
nachweisbaren organischen Grundlagen beruhen


IQ nicht allein entscheidend, meist aber
deutlich < 80
Persönlichkeit und soziales Umfeld relevant,
Beeinflussbarkeit
Bewusstseinsstörung
1. Begriff wird zumeist synonym zu affektiven
Ausnahmezuständen gebraucht, es ist aber nicht
dasselbe
2. Meist impulsive Gewaltdelikte Gesunder unter
hochgespannter affektiver Erregung
3. Affekt: reaktiv, stark, körperliche
Begleiterscheinung
4. Dynamisch hochbesetzter Konflikt, akute
Aktualisierung, stark aufschießende
Gefühlserregung mit Aspekt des Pathischen
(etwas geschieht mit dem Prob.)
Proargumente
1.
2.
3.
Spezifische Vorgeschichte: Affektspannung durch chronischen
Konflikt, Zermürbung-Labilisierung, Tatanlaufzeit mit
Erlebniseinengung, Isolierung, Selbstentfremdung
Affektive Ausgangssituation: pathischer Aspekt, „Sog der Situation“
Persönlichkeit: asthenisch-selbstunsicher, impulsiv-explosibel

Verstehenshintergrund, aber Achtung!! Entscheidend ist die
Tatzeit
4.
5.
6.
7.
8.
Konstellative Faktoren: Alkohol, Medikamente, Schlafstörung
Impulsives Tatgeschehen: abrupt, rechtwinkliger Verlauf
Affektauf- und –abbau: unvermittelter Beginn und Ende
Folgeverhalten: Erschütterung, Erstaunen, Weinen
Bewußtseinseinengung: Verblassen der randständigen
Wahrnehmung
Gegenargumente
1.
2.
3.
4.
5.
Vorgestalten
Ankündigung der Tat
Aggressive Handlungen in der Tatanlaufzeit
Vorbereitungshandlungen
Konstellierung der Tatsituation durch den Täter
 Kontinuität des Bewußtseins, aber Achtung!! Entscheidend ist die
Tatzeit
6. Fehlender Zusammenhang Provokation – Erregung – Tat
7. Zielgerichtete Gestaltung des Tatablaufs durch den Täter
8. Lang hingezogenes Tatgeschehen
9. Komplexer Handlungsablauf in Etappen
10.Erhaltene Introspektion
11.Exakte, detailreiche Erinnerung
12.Zustimmende Kommentierung
13.Fehlen von vegetativen, psychomotorischen Begleiterscheinungen
Einsichts-, Steuerungsfähigkeit
1. motivational (Einsicht):
z.B. Wahn, Halluzinationen, Ich-Störungen
 Fehlinterpretation der Realität,
abwegige Einschätzungen und Ziele,
veränderte Wertorientierung (sozialethische Komponente)
Entscheidend: Überstiegsfähigkeit, Eigenweltlichkeit
2. kognitiv (Einsichtssteuerung):
Aufmerksamkeits-, Gedächtnisstörungen, Störung der
Exekutivfunktionen
 Informationsverarbeitung gestört, Desorganisation
Entscheidend: Ausprägungsgrad
3. voluntativ (Steuerung):
z.B. Antrieb, Desaktualisierungsschwäche
 Handlungssteuerung, Hemmungsfunktionen beeinträchtigt
Entscheidend: Ausprägungsgrad
Determination des Verhaltens
forensische
Relevanz:
Verlust von
Realitätsbezügen
Grad der
Determination von
Verhalten:
Verlust von
Freiheitsgraden
Krankheitsausprägung
Alkohol
Die Sonderrolle des Alkohols ist offensichtlich:
1. Ein großer Teil der Bevölkerung konsumiert mehr oder
weniger regelmäßig Alkohol
2. Ein Grossteil der Gewaltdelikte wird unter Alkoholeinfluss
verübt
3. Alkoholkonsum hat nicht zwangsläufig eine klinische
Bedeutung (Psychosen schon)
 auf psychopathologische Veränderungen achten
 auf neurologische Symptome achten
 Größtmöglichste diagnostische Klarheit muss angestrebt
werden
Quantifizierung
1. Alkoholisierung vs. klinisch relevanter
Intoxikation
2. Verhaltensauffälligkeiten: Enthemmung,
Streitlust, affektive Labilität
3. Neurologische und vegetative Merkmale:
Lallen, Gang-, Standunsicherheit,
Gesichtsrötung, Bewußtseinsstörungen
Rasch (1999)
1. Euphorische Auflockerung
2. Depressiv-dysphore Verstimmung
3. Toxische Reizoffenheit
4. Ungerichtetes Handlungsbedürfnis
5. Rauschdämmerzustände
6. (akzentuierend katalytische Reaktion)
Fragen
1. Persönlichkeit: asthenischselbstunsicher, impulsiv, dissozial
2. Konsummuster, Alkoholgewöhnung
3. Spezifische Vorgeschichte:
Affektspannung, ZermürbungLabilisierung, Müdigkeit
4. Alkoholisierungsgrad
5. Rauschform
40jährige Frau, Anklage wegen schwerer Körperverletzung, Blutalkoholspiegel bei Begehung der Tat
3,6 Promille. Anwalt plädiert wegen Alkoholisierung für Schuldunfähigkeit.
Angaben der Prob:
Anschuldigung akzeptiert. Prob. lebt in Beziehung mit alkoholabhängigem Partner. Zunehmend Streit
mit zuletzt auch aggressiven Zuspitzungen. Wollte sich mehrfach trennen, hat es aber nicht geschafft.
Konkrete Tatsituation: Partner sitzt vorm Fernseher, isst Suppe. Sie ist verärgert, da er nichts tut und
das von ihr gekochte Essen kommentarlos konsumiert. Schüttet ihm den Rest der Suppe über den
Kopf. Er springt auf, schlägt und tritt sie. Sie greift zu einer Schußwaffe und gibt Schüsse ab.
Version des Geschädigten: Sie habe gesagt, komm wir spielen russisch Roulette und gezielt
geschossen.
Ihre Version: Mit der Waffe gedroht, um ihn von weiteren Schlägen abzuhalten. Schuß gelöst, weis
nicht genau wie, aber auf keinem Fall gezielt, sie sei sehr erschrocken. Habe die Wunde direkt
verbunden und benachbarten Sanitäter gerufen.
Zur Tatzeit sei sie betrunken gewesen, Gedächtnislücke für die Ereignisse mit dem Revolver.
Zeitraum davor und danach wird detailreich erinnert. Sie habe sich hilflos gefühlt und sei auch wütend
gewesen, habe ihm aber nichts tun wollen.
Zur Vorgeschichte: Seit 1995 vermehrter Alkoholkonsum, 1997 stat. Entwöhnung, danach keine
Abstinenz, 2 Monate vor der Tat: Führerscheinentzug wg. Trunkenheitsfahrt mit 2,6 Promille.
Befund: Ärztlicher Befund bei Blutentnahme (ca. 1,5 h nach der Tat): wach, Denkablauf sprunghaft,
Verhalten unruhig, rastlos. Stimmung aufgelöst, depressiv. Lallende Sprache, unsichere Finger-Finger
Prüfung, unsicheres Gangbild.
Bei Begutachtung: Bewußtseinsklar, konzentriert. Freundliche Kontaktaufnahme, verminderter
Ausdruck. Matte Antriebslage, Stimmung besorgt, nachdenklich. Denkprozesse geordnet, kein
psychotisches Erleben. Persönlichkeit mit selbstunsicheren, dependenten Zügen.
Diagnosen:
Alkoholabhängigkeit (ICD-10: F 10.20)
Einsichts-, Steuerungsfähigkeit
Einsichtsfähigkeit nur bei psychotischen Rauschzuständen tangiert
Steuerungsfähigkeit
1.
2.
3.
4.
Impulsives Tatgeschehen: abrupt, rechtwinkliger Verlauf
Überschießende Gewaltanwendung
Folgeverhalten: Erschütterung, Erstaunen, Weinen,
ungeordnete Flucht
Bewusstseinseinengung: Verblassen der randständigen
Wahrnehmung
Gegenargumente
1.
2.
3.
4.
6.
Vorgestalten
Ankündigung der Tat im nüchternen Zustand
Vorbereitungshandlungen
Konstellierung der Tatsituation durch den Täter
Fehlender Zusammenhang Provokation – Erregung –
Tat
7. Zielgerichtete Gestaltung des Tatablaufs durch den
Täter
8. Lang hingezogenes Tatgeschehen
9. Komplexer Handlungsablauf in Etappen
10. Erhaltene Introspektion
11. Exakte, detailreiche Erinnerung
12. Zustimmende Kommentierung
13. Vorsorge gegen Entdeckung
Definition von Persönlichkeit
Summe aller psychischen Eigenschaften und
Verhaltensbereitschaften, die dem Einzelnen
seine eigentümliche, unverwechselbare
Individualität verleihen.
Aspekte des Wahrnehmens, Denkens, Fühlens,
Wollens und der Beziehungsgestaltung.
DSM-IV-Definition der
Persönlichkeitsstörung
A. Ein überdauerndes Muster von innerem Erleben und Verhalten das zu
klinisch bedeutsamem Leid oder Funktionsbeeinträchtigungen führt.
Das Muster manifestiert sich in den Bereichen:
1) Kognition
2) Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen
3) Affektivität
4) Impulskontrolle
B. Das Muster ist unflexibel und tiefgreifend in einem weiten Bereich
persönlicher und sozialer Situationen
C. Das Muster führt zu Leiden und Beeinträchtigung
D. Das Muster ist stabil und langandauernd, d.h. es lässt sich bis in die
Adoleszenz bzw. das frühe Erwachsenenalter zurückverfolgen
E. Das Muster ist nicht Folge einer anderen psychischen Störung
F. Das Muster ist nicht Folge einer Substanzwirkung oder körperlichen
Erkrankung
Einteilung der
Persönlichkeitstörungen nach
DSM-IV
Cluster A: sonderbar-exzentrisch, affektarm, misstrauisch
paranoide [0,5-2,5%], schizoide, schizotypische PS
Cluster B: dramatisch, emotional, launisch
histrionische, narzisstische [1%], Borderline [2%])
antisoziale-PS [3% bei Männern, 1% bei Frauen]
Cluster C: ängstlich-furchtsam
vermeidend-selbstunsichere, zwanghafte, dependente PS
Psychopathy Checkliste
(PCL-R)
1. Trickreicher sprachgewandter Blender mit oberflächlichem Charme (1)
2. Erheblich übersteigertes Selbstwertgefühl (1)
3. Stimulationsbedürfnis, ständiges Gefühl der Langeweile (2)
4. Pathologisches Lügen (1)
5. Betrügerisch-manipulatives Verhalten (1)
6. Mangel an Gewissensbissen oder Schuldbewusstsein (1)
7. Oberflächliche Gefühle (1)
8. Gefühlskälte, Mangel an Empathie (1)
9. Parasitärer Lebensstil (2)
10. Unzureichende Verhaltenskontrolle (2)
11. Promiskuität
12. Frühe Verhaltensauffälligkeiten (2)
13. Fehlen von realistischen, langfristigen Zielen (2)
14. Impulsivität (2)
15. Verantwortungslosigkeit (2)
16. Mangelnde Bereitschaft und Fähigkeit, Verantwortung für eigenes Handeln zu
17. Viele kurzzeitige ehe(ähn)liche Beziehungen
18. Jugendkriminalität (2)
19. Missachtung von Weisungen und Auflagen (2)
20. Polytrope Kriminalität
(1) = Faktor 1: Affektive/interpersonelle Merkmale
(2) = Faktor 2: Antisoziale Verhaltensweisen
übernehmen (1)
2. Gesetzliche Bestimmungen
Art. 19 StGB
War der Täter zur Zeit der Tat nicht fähig, das Unrecht seiner Tat
einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, so ist er
nicht strafbar.
§ 20 StGB Deutschland:
Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung einer Tat
• wegen einer krankhaften seelischen Störung,
• wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung
• wegen Schwachsinns oder
• einer schweren anderen seelische Abartigkeit
unfähig ist,
 das Unrecht einer Tat einzusehen oder
 nach dieser Einsicht zu handeln
resultierende Probleme
Deutsche Formulierung macht deutlich, dass die
1) medizinische Diagnose „Persönlichkeitsstörung“ und
2) juristischer Begriff der „schweren anderen seelischen
Abartigkeit“
nicht deckungsgleich sind




1. Diagnostik
dann Übersetzungsarbeit mit
2. Quantifizierung: Frage der SASA
3. Quantifizierung: Erhebliche Einbußen der
Steuerungsfähigkeit
Schweizer Formulierung verführt dazu, die 2. Stufe zu
überspringen und sich zu sehr aufs Tatgeschehen zu
konzentrieren
3. Diagnostik
Die pauschale Feststellung einer
„Persönlichkeitsstörung“ reicht nicht aus
 genauere Festlegungen erforderlich
 deviante Verhaltensweisen müssen sorgfältig von
psychopathologischen Merkmalen einer
Persönlichkeitsstörung getrennt werden.
 die klinische Diagnose einer
Persönlichkeitsstörung darf nicht per se mit einer
schweren psychischen Störung oder gar
Einbussen der Steuerungsfähigkeit
gleichgesetzt werden
Diagnostische Probleme
1. Ausprägungsgrad der Symptomatik ist eng mit situativen Bedingungen verbunden
2. Unterschiedlicher Ausprägungsgrad der Merkmale über die Zeit führt zu wechselnder
Dysfunktionalität
In kritischen Lebensphasen gibt es Symptomakzentuierungen, die bei erfolgreicher
 Bewältigung der Entwicklungsschritte zurückgehen
 In kritischen Lebensphasen können Persönlichkeitsstörungen demaskiert werden
3. Die Begutachtung findet nicht im luftleeren Raum statt, sie ist eng mit der juristischen
Ausgangslage verknüpft:
a) Expl. möchte unauffällig erscheinen
b) Expl. möchte auffällig erscheinen
c) Expl. ist durch Inhaftierung belastet
4. Die Interaktion zwischen Gutachter und Expl. kann Symptome akzentuieren oder
verwischen
5. Diese Problematik lässt sich durch eine Fremdanamnese nicht wirksam bzw. vor allem
nicht valide entschärfen, da die Kontextabhängigkeit auch für Drittpersonen gilt
6. Sie lässt sich auch nicht durch standardisierte Instrumente angehen, wenn diese ohne
Kenntnis der Aktenlage eingesetzt werden.
Grundlagen der Diagnostik
1. sorgfältige Erhebung der sozialen und biographischen
Anamnese
2. altersentsprechende Entwicklung, biographische Brüche,
Tendenzen zu stereotypen Verhaltensmustern bei
Konflikten bzw. Stressoren?
3. überdauernde Schwierigkeiten: kognitiv, affektiv,
Interaktion, Impulskontrolle?
Allgemein definierende Merkmale von
Persönlichkeitsstörungen sind entscheidend
Kriterien der Antisozialen
Persönlichkeitsstörung
A.
B.
C.
D.
tief greifendes Muster von Missachtung und Verletzung der Rechte anderer, das seit dem
Alter von 15 Jahren auftritt. Mindestens 3 der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein:
1. Versagen, sich in Bezug auf gesetzmäßiges Verhalten gesellschaftlichen Normen
anzupassen, was sich in wiederholtem Begehen von Handlungen äußert, die einen Grund
für eine Festnahme darstellen.
2. Falschheit, die sich in wiederholtem Lügen, dem Gebrauch von Decknamen oder dem
Betrügen anderer zum persönlichen Vorteil oder Vergnügen äußert,
3. Impulsivität oder Versagen, vorausschauend zu planen,
4.Reizbarkeit und Aggressivität, die sich in wiederholten Schlägereien oder Überfällen
äußert,
5. rücksichtslose Missachtung der eigenen Sicherheit bzw. der Sicherheit anderer,
6. durchgängige Verantwortungslosigkeit, die sich im wiederholten Versagen zeigt, eine
dauerhafte Tätigkeit auszuüben oder finanziellen Verpflichtungen nachzukommen,
7. fehlende Reue, die sich in Gleichgültigkeit oder Rationalisierung äußert, wenn die Person
andere Menschen kränkt, misshandelt oder bestohlen hat.
Die Person ist mindestens 18 Jahre alt.
Eine Störung des Sozialverhaltens war bereits vor Vollendung des 15. Lebensjahres
erkennbar.
Das antisoziale Verhalten tritt nicht ausschließlich im Verlauf einer Schizophrenie oder einer
manischen Episode auf.
3. Beurteilung des
Schweregrads
1. Stellungnahmen zum Schweregrad der diagnostizierten
Persönlichkeitsstörung müssen von der Diskussion der
Einsichts- bzw. Steuerungsfähigkeit, die eng mit der
Analyse der Tatsituation verbunden ist, getrennt
werden.
2. Wenn die durch die Persönlichkeitsstörung
hervorgerufenen psychosozialen Leistungseinbußen
mit den Defiziten vergleichbar sind, die bei forensisch
relevanten krankhaften seelischen Verfassungen
auftreten, kann von einer forensisch relevanten
Persönlichkeitsstörung gesprochen werden.
Argumente für eine
forensische Relevanz
1. erhebliche Auffälligkeiten der affektiven Ansprechbarkeit bzw. der
Affektregulation,
2. Einengung der Lebensführung bzw. Stereotypisierung des
Verhaltens,
3. durchgängige oder wiederholte Beeinträchtigung der
Beziehungsgestaltung und psychosozialen Leistungsfähigkeit
durch affektive Auffälligkeiten, Verhaltensprobleme sowie
unflexible, unangepasste Denkstile,
4. durchgehende Störung der Selbstwertregulation,
5. deutliche Schwäche von Abwehr- und
Realitätsprüfungsmechanismen.
Gegenargumente
1. Auffälligkeiten der affektiven Ansprechbarkeit ohne
schwerwiegende Beeinträchtigung der Beziehungsgestaltung und
psychosozialen Leistungsfähigkeit
2. weitgehend erhaltene Verhaltensspielräume
3. lediglich vereinzelte, zeitlich eng umschriebene
Beeinträchtigungen der Beziehungsgestaltung und
psychosozialen Leistungsfähigkeit, die vorwiegend in
Zusammenhang mit situativen Faktoren stehen
(Anpassungsstörungen)
4. Schwierigkeiten bei der Selbstwertregulation ohne durchgängige
Auswirkungen auf die Beziehungsgestaltung und psychosozialen
Leistungsfähigkeit
5. intakte Realitätskontrolle, reife Abwehrmechanismen
4. Einsichts- bzw.
Steuerungsfähigkeit
1. Eine relevante Beeinträchtigung der Einsichtsfähigkeit allein durch die
Symptome einer Persönlichkeitsstörung kommt der Regel nicht in
Betracht.
2. In der Regel kommt allenfalls eine erhebliche Verminderung der
Steuerungsfähigkeit in Betracht.
3. Selbst wenn eine schwere Persönlichkeitsstörung vorliegt, muss geprüft
werden, ob ein Zusammenhang zwischen Tat und
Persönlichkeitsstörung besteht. Hierbei ist zu klären, ob die Tat
Symptomcharakter hat.
4. Die Beurteilung der Steuerungsfähigkeit erfordert eine detaillierte
Analyse der Tatumstände (u.a. Verhalten vor, während und nach der Tat,
Beziehung zwischen Täter und Opfer, handlungsleitende Motive).
Argumente für Einbußen
1. konflikthafte Zuspitzung und emotionale Labilisierung
in der Zeit vor dem Delikt
2. abrupter impulshafter Tatablauf,
3. relevante konstellative Faktoren (z.B.
Alkoholintoxikation)
4. enger Zusammenhang zwischen
Persönlichkeitsproblemen und Tat
Gegenargumente
1. Hervorgehen des Deliktes aus dissozialen
Verhaltensbereitschaften,
2. planmäßiges Vorgehen bei der Tat,
3. Fähigkeit, zu warten, lang hingezogenes
Tatgeschehen,
4. komplexer Handlungsablauf in Etappen,
5. Vorsorge gegen Entdeckung,
6. Möglichkeit anderen Verhaltens unter vergleichbaren
Umständen.
Einem 20-jährigen Prob. wurde eine Serie von nächtlichen
Tankstellenüberfällen (12) vorgeworfen. Trotz eines Geständnisses bei den
ersten polizeilichen Vernehmungen gab er bei der Untersuchung an, dass er
die Taten nicht begangen habe. Er sei von den Vernehmungsbeamten unter
Druck gesetzt worden. Zu den Vorwürfen werde er nichts weiter sagen.
Ansonsten sei er bereit, Angaben zu seinem bisherigen Lebensgang zu
machen:
Der Prob. hatte die Schule ohne Probleme absolviert und mit 18 Jahren
einen regelmäßigen Substanzkonsum (Cannabis, Alkohol) begonnen. Er lebt
alleine. Die Berufsausbildung wurde an zwei Arbeitsstellen wg.
Schwierigkeiten mit den Vorgesetzten beendet. Der Zivildienst im
Krankentransport ohne Probleme absolviert. Der Prob. hat einen
Bekanntenkreis ohne feste Freundschaften, seine engste Kontaktperson war
eine junge Frau, die als Mittäterin (Fahrerin des Fluchtautos) angeklagt ist.
Bei der Untersuchung fiel ein gesteigertes Mitteilungsbedürfnis auf. Er wirkte
unreif, wenig zielstrebig, in Tagträumen/Größenphantasien und Augenblicksdenken befangen, egozentrisch-selbstbezogen. Eine Psychose oder
Intelligenzminderung konnte zum Untersuchungszeitpunkt ausgeschlossen
werden.
Diagnose:
Narzistische Persönlichkeitsstörung
5. ein ganz anderes und
(unendlich) weites Problemfeld
Art. 19 StGB:
„Konnte der Täter die Schuldunfähigkeit oder die Verminderung der
Schuldfähigkeit vermeiden und die in diesem Zustand begangene Tat
voraussehen, so sind die Absätze 1-3 nicht anwendbar“
Karl Jaspers:
„das Leben ist nicht nur erlittenes Schicksal, sondern Aufgabe der Gestaltung“
Persönlichkeitsstörungen sind dieser (eigenverantwortlichen) Gestaltung
wesentlich zugänglicher als (schicksalhaft erlittene) psychische Erkrankungen im
engeren Sinne
Persönlichkeit und
Verantwortung
?
?
?
?
wenn ein Grundverständnis der eigenen Stärken und Schwächen vorhanden
ist, können Betroffene kritische Situationen durchaus voraussehen
Gutachtenqualität
Prof. Dr. med. Elmar Habermeyer
Klinik für Forensische Psychiatrie
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
,
I. Was ist Qualität?
,
Qualitätsstandards
forensisch-psychiatrischer Gutachten
Oberflächliche Ebene
−
Schnell
−
Kurz
−
Preiswert
−
Den Erwartungen entsprechend
,
Komponenten der Qualität
Struktur
Produktionsmittel
Prozess
Produktionsablauf
Ergebnis
Qualität des Produktes gemäss festgelegten Standards
,
Strukturqualität
Grundproblem
−
Die Auswahl des richtigen Gutachters
−
Fachliche Kompetenz
−
Ausreichende eigene Erfahrung mit dem konkreten Problem
−
Zugang zu den notwendigen "Produktionsmitteln"
−
Unabhängigkeit
,
Prozessqualität
Die Herstellung des Gutachtens - Sachgerechtes Vorgehen
Justiz
− Problem adäquat dargestellt?
− Angemessene Fragestellung?
Gutachter
− Qualifikation des GA?
− Zeitliche Ressourcen des GA?
,
Ergebnisqualität 1
Das Gutachten als Produkt - wichtigste Grundprinzipien
Transparenz und Nachvollziehbarkeit
−
Klare Gliederung und übersichtliche Darstellung?
−
Trennung von Befunden und Interpretation?
−
Angemessene Sprache?
−
Nachvollziehbare Inhalte?
,
Ergebnisqualität 2
−
Erkennbare Objektivität und Unabhängigkeit?
−
Transparente Zuordnung der Diagnosen zu juristischen Kriterien?
−
Darstellung der tatrelevanten Funktionsbeeinträchtigung und der erhaltenen
Leistungsfähigkeit?
−
Nachvollziehbare Quantifizierung?
−
Erkenntnisbedingte Unsicherheiten, Widersprüche und Schwierigkeiten aufgezeigt?
−
Nur auf gesichertes psychiatrisch-psychologisches Wissen bezogen?
−
Hinweis auf Alternativhypothesen und deren Wahrscheinlichkeit?
,
DFG-Studie zur Gutachtenqualität
2004-2006
GA, die in Verfahren erstattet wurden, die zwischen 1991 und 2001 zur
Anordnung einer Sicherungsverwahrung führten (n = 208)
−
−
Auswertung hinsichtlich formaler und inhaltlicher Aspekte
Gesonderte Analyse des Vorgehens bei Sexualdelinquenten
(n = 53)
E. Habermeyer, D. Passow, P. Puhlmann, K. Vohs (2008)
Fortschritte Neurologie Psychiatrie 76: 672-677
E. Habermeyer, D. Passow, P. Puhlmann, K. Vohs, S. Herpertz (2009)
International Journal of Offender Therapy and Comparative Criminology 53: 373-384
,
a) Formale Kritikpunkte
Kinzig [1997]
aktuell
36
56
Anteil der Gutachten < 10 Seiten
12,4 %
0.5 %
Einsatz standardisierter Verfahren
42,4 %
64 %
20 %
55 %
Durchschnittliche Seitenzahl
Testpsychologische
Zusatzgutachten

formale Qualität gebessert
,
Sexualstraftäter:
Praxis der Gutachtenerstellung
Pfäfflin (1978)
208
Gutachten aus Verfahren gegen Sexualstraftäter von 1964-1971
61 %
der Gutachten < 10 Seiten
29 %
mit standardisierten psychologischen Tests
38 %
"Pseudodiagnostik“ (subjektive Intelligenzmessung)
55 %
der Gutachten ohne Sexualanamnese oder < 0,5 Seiten
Aktuell (n=53):
24,5 %
< 2 Untersuchungen; Ø 2,6 Untersuchungen
(nSST: 31,9 %; Ø 2,2)
1,9 % ≤ 20 Seiten; Ø 63,8 Seiten (nSST: 6,4 %, Ø 55,6)
47,2 %
ohne standardisierte psychologische Testverfahren
(nSST: 34,4%)
15,1 %
ohne Durchführung einer körperliche Untersuchung (nSST: 19,1 %)
17 %
ohne Sexualanamnese, 19,6 % ≤ 0,5 Seiten; Ø 4 Seiten
(nicht Sexualstraftäter im Vergleich)
,
b) InhaltlicheAspekte
Pfäfflin(1978)
"Die vorhandenen Sexualanamnesen sind weitgehend unvollständig."
Beachtung der Mindeststandards [Boetticher et al. 2005, Hill et al. 2005]
Analyse der 53 Gutachten mit persönlicher Untersuchung
Ø 5,21 von 16 Punkten, 45,3% ≤ 4 Items; 20,8% ≥ 8 Items; 5,7% ≥ 10 Items
75,5%
Beziehungsanamnese
66%
52,8%
Ausgestaltung und Erleben soziosexueller Entwicklung
Rahmenbedingungen und Verlauf der (familiären) sexuellen Sozialisation
49,1%
37,7%
35,8%
34%
34%
22,6%
21%
Erleben sexueller oder anderer gewalttätiger Übergriffe
Prostituiertenkontakte
Bisherige Störungen/Behandlungen sexueller Erkrankungen
Entwicklung geschlechtlicher Identität/sexueller Orientierung
Zeitpunkt, Verlauf, Erleben der körperlichen sexuellen Entwicklung
Entwicklung/Inhalt erotisch-sexueller Phantasien
Pornographiekonsum
17%
15,1%
15,1%
11,3%
3,8%
1,9%
Ausführliche Anamnese der Sexualdelinquenz
Konsum von Alkohol im Zusammenhang mit Sexualität
Verwendung sexueller Stimulantien im Zusammenhang mit Sexualität
Differentialdiagnostische Einordnung paraphiler Neigungen
Konsum von Drogen im Zusammenhang mit Sexualität
,
Fremdanamnese
Fazit
−
−
Formale Kritikpunkte entkräftet
Inhaltliche Qualität muss weiter optimiert werden
These
Wir befinden uns evtl. in einem Zwischenstadium, in dem fortbestehende
inhaltliche Mängel von einer gestiegenen formalen Qualität kaschiert werden
(S. Nowara)
,
II. Mindeststandards
,
Hintergrund
− In Deutschland wird insbesondere seit spektakulären Sexualstraftaten mit
Todesfolge im Jahr 1996 intensiv über die Gutachtenqualität diskutiert.
− In der öffentlichen Wahrnehmung wird die Gutachtenqualität dabei
durchgehend in Frage gestellt, was durch Medienberichte angeheizt wird.
− Auch die Politik hat sich kritisch über psychiatrische Begutachtungen
geäussert. So sprach Bundeskanzler Schröder von einem "Gutachterkartell"
und forderte, dass man Sexualstraftäter für immer wegsperren sollte.
− Ungeachtet der aufgeheizten öffentlichen Diskussion wurde auch in
Fachkreisen Kritik an der Gutachtenqualität geübt. Dies betraf insbesondere
den Bereich der Begutachtung von Sexualdelinquenten, aber auch von
Probanden mit Persönlichkeitsstörungen und die Prognosebegutachtung.
− Von Seiten des Bundesgerichtshofes, der in Revisionsverfahren zu
entscheiden hat, wurde ebenfalls die unterschiedliche bis mangelhafte
Qualität psychiatrischer Gutachten bemängelt.
,
Vorgehen
− 2002 konstituierte sich auf Initiative des Richters am Bundesgerichtshofes
Bötticher erstmals eine interdisziplinäre forensisch-psychiatrische
Arbeitsgruppe.
− 2003 wurde in Untergruppen an Vorschlägen gearbeitet zur
1) Gutachtenerstellung allgemein,
2) Begutachtung von Sexualstraftätern
3) Begutachtung von Probanden mit Persönlichkeitsstörungen
− 2004 wurden diese Vorschläge im Plenum diskutiert
− 2005 bis 2007 erfolgte die Veröffentlichung der Arbeitsergebnisse in
mehreren juristischen, aber auch psychiatrischen Fachzeitschriften
,
Die von der Rechtssprechung entwickelten
Grundsätze
− Wahl der Untersuchungsmethode: Sachverständige ist bei der Auswahl der
dem aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand gerecht werdenden Methode
frei
− Klassifikationssysteme: Die Juristen gehen davon aus, dass die
Sachverständigen auf die Kriterien dieser ICD-10 bzw. DSM-IV zurückgreifen
− Ausmass der psychischen Störung: Rechtlich sagt die Zuordnung eines
Befundes zu einer ICD-10- bzw. DSM-IV-Diagnose noch nichts über das
Ausmass der psychischen Störung und insbesondere deren forensischer
Bedeutung aus
− Nachvollziehbarkeit und Transparenz: Das Gutachten muss darlegen, welche
Anknüpfungstatsachen aufgrund welcher Untersuchungsmethoden und
Denkmodelle zu den Ergebnissen geführt haben.
− Beweisgrundlagen des Gutachtens: Die Gutachtenerstattung in der
Hauptverhandlung muss auf die dort gefundenen Beweisergebnisse eingehen.
Grundlage für die richterliche Urteilsfindung ist allein das in der
Hauptverhandlung mündlich erstattete Gutachten.
,
Beratung des Tatrichters durch den
Sachverständigen
− Diagnose und Eingangsmerkmal: Die psychiatrische Diagnose ist nicht
mit einem Eingangsmerkmal der Schuldfähigkeitsparagraphen
gleichzusetzen. Die Entscheidung, ob der Sachverständigenbefund unter
dem Eingangsmerkmal zu subsumieren ist, fällt in die
Entscheidungskompetenz des Richters.
− Ausprägungsgrad der Störungen: Mit der Feststellung, dass bei dem
Beschuldigten eines der vier Merkmale des § 20 vorliegt, ist noch keine
Aussage darüber verbunden, ob die Einsichts- bzw. Steuerungsfähigkeit
erheblich vermindert ist. Zu solchen Aussagen ist der Ausprägungsgrad der
Störung und der Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit entscheidend.
,
Beurteilung der Schuldfähigkeit bei
Begehung der Tat
− Auswirkungen auf die konkrete Tat: Massgeblich kommt es auf
den Zustand bei Begehung der Tat an.
− Erheblichkeit als Rechtsfrage: Bei der Entscheidung darüber, ob
Einbussen der Steuerungs- bzw. Einsichtskräfte erheblich sind,
fliessen normative Gesichtspunkte ein. Dabei sind die
Anforderungen, die die Rechtsordnung an jedermann stellt,
entscheidend. Diese Anforderung sind umso höher, je
schwerwiegender das in Rede stehende Delikt ist.
,
Formelle Mindestanforderungen
− Dokumentation der Aufklärung
− Exakte Angabe und getrennte Wiedergabe der Erkenntnisquellen
a) Akten
b) subjektive Darstellung des Untersuchten
c) Beobachtung und Untersuchung
d) zusätzlich durchgeführte Untersuchungen
−
Eindeutige Kenntlichmachung der interpretierenden und kommentierenden
Äusserungen und Trennung von gegebenen Informationen bzw. Befund
− Offenlegen von Unklarheiten und Schwierigkeiten
− Kenntlichmachung der Aufgaben- und Verantwortungsbereiche der
beteiligten Gutachter und Mitarbeiter
,
Inhaltliche Mindestanforderungen
− Vollständigkeit der Exploration, insbesondere zu den delikt- und
diagnosespezifischen Bereichen
− Benennung der Untersuchungsmethoden
− Diagnosen nach Klassifikationssystemen
− Darlegung differentialdiagnostischer Überlegungen
− Darstellung der Funktionsbeeinträchtigungen
− Überprüfung, ob und in welchem Ausmass die
Funktionsbeeinträchtigungen bei Begehung der Tat vorlagen
− Korrekte Zuordnung der psychiatrischen Diagnose zu den
Eingangsmerkmalen
− Tatrelevante Funktionsbeeinträchtigungen unter Differenzierung zwischen
Einsichts- und Steuerungsfähigkeit
− Darstellung von alternativen Beurteilungsmöglichkeiten
,
Wann sollte gezweifelt werden?
−
−
−
−
−
−
−
−
−
−
Formale Mindestanforderungen sind nicht erfüllt:
Durchmischung von Akteninhalten, Angabe des Expl. und Schlussfolgerungen
Fehlende Objektivität?
Privatdiagnosen
unzulässige Wertungen, abqualifizierende Bemerkungen, Superlative
Verbindung zwischen Störung und Delikt überzeugend?
Gleichsetzung von Diagnose und Schuldfähigkeit
Nachvollziehbare Quantifizierung der Störung?
Orientierung am psychosozialen Leistungsvermögen, nicht am Delikt
Wurden Unsicherheiten, Widersprüche und Schwierigkeiten aufgezeigt?
100% Aussagen, absolute Wahrheiten, übereindeutige Ergebnisse, Fehlen von
Alternativhypothesen
Wurde auf gesichertes psychiatrisch-psychologisches Wissen zurückgegriffen, oder
spekuliert?
Prognoseskalen? Begründung einer Prognose vs. Bauchgefühl
,
III. Fazit
,
Fazit
− Interdisziplinäre Diskussion ertragreich
− Beschränkung auf Mindeststandards
− Keine Überregulierung
− Positive Resonanz
,
Sachgerechte Fragestellung
− Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass die zu begutachtende Person
erneut Straftaten begehen wird?
− Welcher Art werden diese Straftaten sein, welche Häufigkeit und welchen
Schweregrad werden sie haben?
− Mit welchen Massnahmen kann das Risiko zukünftiger Straftaten
beherrscht oder verringert werden?
− Welche Umstände können das Risiko von Straftaten steigern?
− Bei Massregeln ist zusätzlich eine Stellungnahme zum Zusammenhang
zwischen psychischer Störung bzw. Hang und den Delikten zu stellen.
,
Problemfelder
−
−
−
−
−
−
Inhaltliche Qualität wird kaum diskutiert
Formale Aspekte führen in der Diskussion
Prozessqualität wird zunehmend relevant bis übermächtig
Die vorab genannten Standards sind unabhängig von psychologischer/medizinischer
Ausbildung
Sie werden durch Zeitdruck in Frage gestellt
Zeitdruck wird die Qualität nicht verbessern



Ausschluss psychologisch-psychotherapeutischer Gutachter ist nicht sinnvoll
Gutachten nicht nach Zeitkriterien vergeben
Auf Struktur- und Ergebnisqualität achten
,
Was tun?
−
−
−
Kritisch prüfen
Zweifel sind erlaubt
Zweifel sind nicht zwangsläufig Zeichen einer Parteinahme




Offensiv zu den eigenen Zweifeln stehen
Dennoch nicht in fachfremdem Gebiet wildern
Methodenkritische Stellungnahme/Gutachten einholen
Obergutachten einholen
,
Danke für
Ihre
Aufmerksamkeit
[email protected]
,
Herunterladen