AUF EINEN BLICK: KOPF- UND GESICHTSSCHMERZEN I. DIAGNOSTIK A. ANAMNESE Spezielle Kopfschmerzanamnese Beginn und Verlauf des Schmerzes Schmerzbeschreibung: besondere Charakteristika, Begleitsymptome, Auraerscheinungen, passagere Herdsymptome Dauer, Intensität, Lokalisation, Ablauf des Schmerzes Auslösende Faktoren: Alkohol, Stress, Wochenende, Medikamente (Tabelle 1), Medikamentenentzug, Fieber, Nahrungsaufnahmen, Kauen, Schlucken, Husten, Bücken, Dialyse Bisherige therapeutische Erfahrungen Hinweise zur Differenzialdiagnostik siehe ausführliche Therapieempfehlungen, Tabelle 3. Abbildung 1 fasst Diagnostik und Therapie in einer Übersicht zusammen. II. INDIKATION Allgemeine Krankheitsanamnese Frühere Krankheiten: Unfälle, entzündliche ZNS-Erkrankungen, Tumorleiden, Kopfoperationen, zerebrale Durchblutungsstörungen, psychiatrische Behandlungen Begleitkrankheiten: Erkrankungen der Augen und des HNOBereiches, Autoimmunkrankheiten, Fieberreaktionen, aktuelle Erkrankungen der inneren Organe (z. B. Dialysepflichtigkeit), metabolische Störungen Familienanamnese Migränehäufung Häufung sonstiger neurologischer Krankheiten (Epilepsie, MS, hereditäre Krankheiten) B. WEITERE DIAGNOSTIK Allgemeine körperliche Untersuchung Neurologischer Status Psychiatrisch orientierte Exploration Laboranalytische Routineuntersuchungen Migräne Spannungskopfschmerz Entzug medikamentöse Akuttherapie und evtl. Prophylaxe, Verhaltenstherapie Medikation, Verhaltenstherapie, Psychotherapie Prophylaxe, Akuttherapie nach spätestens 12 Monaten Therapieresistenz: neurologische Überprüfung der Diagnose ja symptomatisch? nein Zuweisung an interdisziplinär arbeitende Institution (Kopfschmerzambulanz oder Schmerzambulanz) multimodale Rehabilitation bei Symptomwandel erneute Diagnostik fachspezifische Therapie maximale Tagesdosierung [mg] Analgetika (Anilin-Derivate) Paracetamol 500-1000 4000 UAW: Allergische Reaktionen, toxische Hepatitis (Dos. > 100 mg/kg/Tag), bes. bei vorgeschädigter Leber (Alkohol) IA: Erhöhung der Hepatotoxizität durch Alkoholmissbrauch; Colestyramin und Kohle vermindern die Resorption; Wirkungsverstärkung von oralen Antikoagulanzien möglich (INR-Kontrolle) KI: Leberschäden; Niereninsuffizienz: Dosisreduktion Basisdiagnostik (Anamnese, klinische + neurologische Untersuchung, Kopfschmerztagebuch) SchmerzmittelAbusus Einzeldosierung [mg] Akuter Spannungskopfschmerz Abbildung 1: Synopsis zur Diagnostik und Therapie chronischer Kopfschmerzen (KS) primärer Kopfschmerz B. AKUTTHERAPIE DES MIGRÄNEANFALLS Die Intensität der Kopfschmerzen erfordert eine medikamentöse Therapie. Wirkstoff/-gruppen mehr als 20 Kopfschmerztage im Monat täglicher Kopfschmerz von mehr als 10 Stunden Einnahme von Kopfschmerzmitteln an mehr als 15 Tagen pro Monat regelmäßige Einnahme von Analgetika und/oder Ergotamin, Dihydroergotamin oder Triptanen Einnahme in Kombination mit Codein, Coffein, Antihistaminika Zunahme der Stärke und Frequenz der Kopfschmerzen bei Entzug fehlender Zusammenhang zwischen ursprünglichen Kopfschmerzen (z. B. Spannungskopfschmerzen, Migräne) und derzeitigem Kopfschmerzsyndrom symptomatischer Kopfschmerz A. SPANNUNGSKOPFSCHMERZ Die Indikation zur medikamentösen Intervention bei akutem Spannungskopfschmerz ergibt sich aus der subjektiven Schmerzintensität. Eine Indikation zur medikamentösen Langzeitprophylaxe des chronischen Spannungskopfschmerzes besteht bei täglichen oder mindestens jeden zweiten Tag auftretenden Spannungskopfschmerzen über einen Zeitraum von mehr als 3 Monaten, wenn nichtmedikamentöse Maßnahmen keinen ausreichenden Erfolg zeigen. Tabelle 2: Wirkstoffe und Dosierungen zur Behandlung des akuten oder chronischen Spannungskopfschmerzes, wichtige unerwünschte Wirkungen (UAW), Arzneimittelinteraktionen (IA) und Kontraindikationen (KI), A: absolute KI, R: relative KI Tabelle 1: Hinweise auf Ergotamin-, Triptan- und/oder Analgetikabedingte Kopfschmerzen 1 Fachspezifische Untersuchungen bei klinischer Verdachtsdiagnose (ggf. kraniales CT, EEG, Kernspintomographie, HWS-Aufnahme, Sonographie, Rheuma- und Immunserologie, Hormondiagnostik, toxikologisches Drug-Screening) Nichtsteroidale Antiphlogistika/Analgetika Acetylsalicylsäure 500-1000 3000 Ibuprofen 400-600 2400 Naproxen 500-1000 1000 UAW: Übelkeit, Erbrechen, Magen-Darm-Ulzera; allergische Reaktionen bis Bronchospasmus und anaphylakt. Schock; Transaminasenanstieg; Kreatininanstieg, Nierenversagen, insbes. bei vorgeschädigter Niere; Störungen der Blutgerinnung, bes. bei ASS IA: Risiko eines Nierenversagens durch ACE-Hemmer erhöht. Wirkung und Toxizität von oralen Antikoagulanzien, Methotrexat und Lithium verstärkt. Erhöhtes Blutungsrisiko bei gemeinsamer Gabe von ASS und Heparin oder oralen Antikoagulanzien. ASS verstärkt Toxizität von Valproinsäure. KI: Ulkus, Asthma, Blutungsneigung, Schwangerschaft; Ibuprofen und Naproxen: Blutungsneigung geringer; ASS/Naproxen bei Migräne: Ulkus, Blutungsneigung (A); Asthma bronchiale (R) Chronischer Spannungskopfschmerz Antidepressiva 1. Wahl Amitriptylin 25-75 zur Nacht 150 Amitriptylinoxid 30-90 zur Nacht 90 falls nach 6-8 Wochen ohne Erfolg 2. Wahl Doxepin 25-150 zur Nacht 150 Imipramin 25-50 zur Nacht 100 UAW: Sedierung, anticholinerge Wirkung (Mundtrockenheit, Akkomodationsstörungen, Tachyarrhythmie, cave bei Glaukom und Prostatahypertrophie), orthostatische Dysregulation, Senkung der Krampfschwelle IA: Wirkungsverstärkung von direkten Sympathomimetika, MAO-Hemmern, Verstärkung der anticholinergen Wirkung von Atropin, Antihistaminika, Neuroleptika, Parkinsontherapeutika und der sedierenden Wirkung von Alkohol und anderen sedativ-hypnotischen Wirkstoffen. Abschwächung der Wirkung von Clonidin KI: unbehandeltes Engwinkelglaukom, Prostatahypertrophie mit Restharn, Pylorusstenose, paralyt. Ileus (A); Prostatahypertrophie ohne Restharn, schwere Leber- oder Nierenschäden, Blutbildungsstörungen, erhöhte Krampfbereitschaft, Reizleitungsstörungen (R) Handlungsleitlinie Kopf- und Gesichtsschmerzen aus Empfehlungen zur Therapie chronischer Kopf- und Gesichtsschmerzen Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Arzneiverordnung in der Praxis, Sonderheft, 3. Auflage, 2001 AUF EINEN BLICK: KOPF- UND GESICHTSSCHMERZEN C. MIGRÄNEPROPHYLAXE Monatliche Anfallsfrequenz > 3 Attacken oder Versagen einer adäquaten Anfallsbehandlung Migräneattacken, die regelmäßig Arbeitsunfähigkeit bewirken Subjektiv unerträgliche Migräneattacken Häufig komplizierte Migräneattacken (neurologische Ausfälle über mehrere Stunden) Nach Schmerzmittelentzugstherapie III. THERAPIE A. SPANNUNGSKOPFSCHMERZ 1. Nichtmedikamentöse Therapie Information und Beratung des Patienten über auslösende Faktoren und Lebensführung Sporttherapie (Ausdauersportarten) Entspannungstechniken, Biofeedback, psychotherapeutische Maßnahmen Tabelle 3:Therapie des Migräneanfalls, wichtige unerwünschte Wirkungen (UAW), Arzneimittelinteraktionen (IA) und Kontraindikationen (KI), A: absolute KI, R: relative KI Leichte Migräneattacke Domperidon 20 mg p. o. oder Metoclopramid 10-20 mg p. o. oder rektal, UAW: Extrapyramidale Störungen, Schlundkrämpfe, okulogyre Krise (insbes. bei Kindern unter Metoclopramid, nur in Einzelfällen unter Domperidon): Behandlung mit Biperiden i. v. IA: Anticholinergika können die motilitätsfördernde Wirkung beeinträchtigen, Förderung extrapyramidalmotorischer UAW durch Neuroleptika KI: Kinder unter 14 (Domperidon: unter 10) Jahren, Hyperkinesien, Epilepsie, Schwangerschaft, Prolaktinom gefolgt von: Acetylsalicylsäure 500-1000 mg p. o. (Brause- oder Kautablette) oder Paracetamol 500-1000 mg p. o. oder rektal (bessere Resorption) oder Ibuprofen 400-600 oder Naproxen 500-1000 mg p. o. Schwere Migräneattacke Metoclopramid 20 mg p. o. oder rektal, gefolgt von: Ergotamintartrat 1-2 mg p. o. oder rektal (bessere Resorption) (ggf. nach 60 Min. wiederholen - max. 4 mg/Attacke und max. 6 mg/Woche) UAW: Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Angina pectoris, periphere Durchblutungsstörungen, bei Abusus bis zum Ergotismus mit Gangrän IA: Betarezeptorenblocker, Dopamin, Makrolidantibiotika erhöhen die Gefahr der Vasokonstriktion bzw. Gangrän KI: koronare Herzerkrankung, arterielle Verschlusskrankheit der Beine, Hypertonie, M. Raynaud, Schwangerschaft, Kinder unter 12 Jahren, Patienten mit multiplen vaskulären Risikofaktoren Dihydroergotamin bei Migräne: Schwangerschaft, Hypertonie, koronare Herzerkrankung, arterielle Verschlusskrankheit (A) alternativ: Sumatriptan 25-100 mg p. o. oder 10-20 mg Nasenspray oder 25 mg Supp.; bei frühem Erbrechen und Durchfall 6 mg s. c. (Autoinjektor); max. 200 mg p. o. oder 40 mg Nasenspray oder 50 mg Supp. oder 12 mg s. c. pro Attacke, Zolmitriptan 2,5 mg als Tablette oder Schmelztablette, Naratriptan 2,5 mg als Tablette, Rizatriptan 10 mg als Tablette oder Schmelztablette, Almotriptan 12,5 mg als Tablette UAW: Übelkeit, Erbrechen, Parästhesien, Vasospasmen bis zu Angina pectoris, Arrhythmie und Myokardinfarkt, epileptische Anfälle bei bestehender Epilepsie IA: Verstärkung der Wirkungen durch MAO-Hemmer, SSRI (Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin), Clomipramin und Lithium, wechselseitige Verstärkung der Vasokonstriktion mit Ergotamin/Dihydroergotamin Rizatriptan: Dosis max. 5 mg bei Einnahme von Propranolol KI: Hypertonie, koronare Herzerkrankung, Angina pectoris, Myokardinfarkt in der Vorgeschichte, M. Raynaud, arterielle Verschlusskrankheit der Beine, TIA oder Schlaganfall, Schwangerschaft, Stillzeit, Kinder, Alter > 65 Jahre, schwere Leber- oder Niereninsuffizienz, multiple vaskuläre Risikofaktoren Behandlung beim Arzt: Metoclopramid 10 mg i. m. oder i. v. sowie Lysinacetylsalicylat 500-1000 mg i. v. oder Dihydroergotamin (mesilat) 1-2 mg s. c. oder i. m. oder Sumatriptan 6 mg s. c. Verfahren zur Behandlung von Kopfschmerzen ohne Wirkung oder ohne hinreichenden Wirksamkeitsnachweis: siehe ausführliche Therapieempfehlungen, Tabelle 6. 2. Pharmakotherapie Die medikamentöse Behandlung des akuten Spannungskopfschmerzes sollte – sofern erforderlich – mit Monopräparaten, die Analgetika oder nichtsteroidale Antiphlogistika enthalten, erfolgen (s. a. Tabelle 2). Beim chronischen Spannungskopfschmerz sollten Analgetika nicht regelmäßig gegeben werden. B. MIGRÄNE 1. Nichtmedikamentöse Therapie Zur Akuttherapie Reizabschirmung (dunkler, ruhiger Raum), ausreichend Schlaf, Eisbeutel Aufklärung und Beratung des Patienten über Symptome, Pathophysiologie, mögliche Auslösefaktoren, Prophylaxe und Therapie Sporttherapie und progressive Muskelrelaxation nach Jacobsen Verfahren zur Behandlung von Kopfschmerzen ohne Wirkung oder ohne hinreichenden Wirksamkeitsnachweis: siehe ausführliche Therapieempfehlungen, Tabelle 6. 2. Pharmakotherapie Akuttherapie Zur Akuttherapie wird eine frühzeitige medikamentöse Intervention empfohlen (Tabelle 3). C. MIGRÄNEPROPHYLAXE Es müssen 6-12 Wochen vergehen, bis der Erfolg einer medikamentösen Prophylaxe beurteilt werden kann. Die Auswahl des Prophylaktikums sollte sich am Nachweis der Wirksamkeit und an den zu erwartenden Nebenwirkungen orientieren (Tabelle 4). Weitere Möglichkeiten zur medikamentösen Migräneprophylaxe siehe ausführliche Therapieempfehlungen. D. KOPFSCHMERZEN DURCH SUBSTANZ- UND (MEDIKAMENTEN-)EINWIRKUNG Siehe ausführliche Therapieempfehlungen. Tabelle 4:Medikamentöse Migräneprophylaxe mit gesicherter Wirkung (Medikamente der 1. Wahl) Betarezeptorenblocker Metoprolol (selektiver Blocker) initial 50 mg, innerhalb von 4 Wochen bis 3 x 50 mg bei Frauen und 2 x 100 mg oder 1 x 200 mg retard bei Männern zu steigern* oder Propranolol (nichtselektiver Blocker) initial 40 mg, innerhalb von 4 Wochen bis auf 80-160 mg zu steigern UAW: Bradykardie, Verzögerung der AV-Überleitung, Hypotension, Bronchokonstriktion, „kalte Extremitäten“ durch Vasokonstriktion IA: Cimetidin und Chinidin erhöhen die Wirkung lipophiler Betarezeptorenblocker (pk). Nichtsteroidale Antiphlogistika, Phenobarbital und Rifampicin vermindern die Wirkung von Betarezeptorenblockern. Betarezeptorenblocker verlängern (und maskieren) Antidiabetika-bedingte Hypoglykämien, vermindern die Wirkung von adrenergen Antiasthmatika, verzögern die kardiale Erregungsleitung bei Gabe von Substanzen mit ähnlicher Wirkung (Herzglykoside, Verapamil, Diltiazem), verstärken das ClonidinAbsetzsyndrom KI: AV-Block, Bradykardie, Herzinsuffizienz, Sick-Sinus-Syndrom, Asthma bronchiale (A); Diabetes mellitus, orthostatische Dysregulation, Depression (R) Flunarizin 5-10 mg zur Nacht UAW: Müdigkeit, Gewichtszunahme, Depression, extrapyramidalmotorische Störungen (Parkinsonismus), Galaktorrhoe IA: Wirkung von Sedativa/Hypnotika kann verstärkt werden KI: fokale Dystonie, Schwangerschaft, Stillzeit, Depression (A); M. Parkinson in der Familie (R) * Die geschlechtsspezifischen Dosierungsangaben resultieren aus ärztlicher Erfahrung zu einer unterschiedlichen Verträglichkeit Handlungsleitlinie Kopf- und Gesichtsschmerzen aus Empfehlungen zur Therapie chronischer Kopf- und Gesichtsschmerzen Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Arzneiverordnung in der Praxis, Sonderheft, 3. Auflage, 2001 2