Schuldenbremse - Fiskalpakt – Investitionen Von Hilde Mattheis, MdB Am 12.05.2012 hat der Bundesrat neue Vorbehalte gegen den Fiskalpakt vorgebracht und sich dafür ausgesprochen, die Entscheidung über den Fiskalpakt nicht „unter Zeitdruck“ zu fällen. Diese Haltung wird von der Parteispitze und der SPD-Bundestagsfraktion unterstützt. Unabhängig davon ist eine Verschiebung eine wichtige Unterstützung für den französischen Präsidenten Hollande. Die DL 21 hat sich mit dem Papier „Der Fiskalpakt gefährdet Recht, Demokratie, politischen Zusammenhalt und sozialen Frieden in der Europäischen Union und seinen Mitgliedsstaaten“ positioniert. Kernaussage ist „Der Fiskalpakt muss neu verhandelt werden“. Hierzu sollen in diesem Papier Erläuterungen abgegeben und Zusammenhänge dargestellt werden. 1. Vorbemerkung Die hohe Verschuldung der europäischen Mitgliedstaaten ist vor allem eine Folge der Finanzmarktkrise. Die Finanz- und Bankenkrise hat die Staatsschulden in Irland um 83 Prozent, in Griechenland um 55 Prozent, in Spanien und Portugal um 33 Prozent und in der EURO-Zone insgesamt um 21 Prozent in die Höhe getrieben. Und auch für Deutschland ist der Schuldenstand von 64 Prozent um fast 20 Prozent auf fast 84 Prozent angewachsen. Diese extreme Neuverschuldung wurde durch die Folgekosten für die Bankenrettung, die Bekämpfung der realwirtschaftlichen Krise und durch den Rückgang der Steuereinnahmen verursacht. Dadurch haben viele Staatshaushalte der EU-Staaten ein großes Refinanzierungsproblem. Statt die Refinanzierung der Mitgliedstaaten von dem Renditedruck der Finanzmärkte zu befreien und deren weitere Verschuldung mit Hilfe der Europäischen Zentralbank (EZB) und möglicher gemeinsamer Instrumente (wie etwa „Eurobonds“ oder eine „Bank für öffentliche Anleihen“) zu stoppen, wurden unbegrenzt Rettungsschirme „aufgespannt“. Damit wurde das Gegenteil bewirkt: Die Staaten sind überschuldeter als je zuvor und sollen nun mit Hilfe des Fiskalpakts zu einem harten Sparkurs verpflichtet werden. Vorbild für diesen harten Sparkurs ist die in Deutschland im Krisenjahr 2009 eingeführte Schuldenbremse und der Glaube, dass nur eine europaweite strikte Schuldenbremse die überschuldeten Staatshaushalte konsolidieren würde. Außerdem wird angenommen, dass es durch die Einführung strenger Regeln für die Staatsverschuldung zu einem Glaubwürdigkeitsgewinn an den Finanzmärkten komme und die Staatsfinanzierung wiederum erleichtere. Hilde Mattheis, MdB, 14. Mai 2012 1 Bislang wurden allerdings die schon bei der Einführung der deutschen Schuldenbremse vorgebrachten Kritikpunkte eher bestätigt als widerlegt. Schon 2009 wurden alternative Strategien zur Haushaltskonsolidierung vorgebracht, die vor allem darauf abzielten, mittels Stärkung der Steuereinnahmen und Zukunftsinvestitionen für künftige Generationen vorzusorgen. Auch in der SPD gab es heftigen Widerstand gegen die Schuldenbremse. Dass die kritischen Stimmen sich nicht durchsetzen könnten, lag hauptsächlich 1. an den Konjunkturpaketen I und II (80 Mrd. Euro), die zur Krisenbewältigung beschlossen wurden und 2. an der Zeitschiene für die Einhaltung der Schuldenbremse (2016 für den Bund und 2020 für die Länder). Der Stadtkämmerer von München Dr. Ernst Wolowicz hat die politische Situation im April 2009 – in der Diskussion vor Einführung der Schuldenbremse - so beschrieben: „Sich in einer Situation, wo nur durch massive neue Staatsverschuldung und Staatseingriffe in die Wirtschaft der Kollaps der Weltwirtschaft zunächst und hoffentlich auch nachhaltig verhindert werden konnte und in einer Zeit, die empirisch zeigt, wie wenig vorhersagbar wirtschaftliche Entwicklungen sind, sich den Kopf über die Staatsverschuldung in den Jahren ab 2016 bzw. 2020 zu zerbrechen, mag zwar ehrenwert sein, aber wenig zielführend zur Lösung aktueller und zukünftiger Probleme der Finanzierbarkeit der Aufgaben der öffentlichen Hand.“ Durch den Fiskalpakt würde eine Schuldenbremse für Bund und Länder schon 2014 greifen. Und wie vor Verabschiedung der nationalen Schuldenbremse wird in der aktuellen wirtschaftspolitischen Diskussion ganz selbstverständlich von der Notwendigkeit eines Fiskalpaktes ausgegangen. Umso dringlicher müssen wir dazu eine öffentliche Auseinandersetzung und Diskussion anstoßen und führen. 2. Zu den Ursachen der deutschen Staatsverschuldung Die Gründe für den Anstieg der Staatsschulden in Deutschland liegen auf der Hand: Die finanziellen Lasten im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung, umfangreiche Steuersenkungen sowie riesige konjunktur- und wachstumsbedingte Steuerausfälle. Abgesehen von der Steigerung des Schuldenstands um fast 20 Prozent in Folge der Finanzmarktkrise, waren es in Deutschland vor allem die wiederholten Steuersenkungen der letzten Jahrzehnte sowie eine massive Lohnzurückhaltung, die den Staat in eine strukturelle Unterfinanzierung geführt haben. Einnahmen und notwendige Ausgaben stehen seit Jahren in einem krassen Missverhältnis. Hilde Mattheis, MdB, 14. Mai 2012 2 Insgesamt haben die Steuerrechtsänderungen seit 2000 dem Staat rund 350 Milliarden Euro entzogen. Ohne die Erhöhung der Mehrwertsteuer ab 2007 würden seither jährlich weitere 20 Milliarden Euro an Einnahmen fehlen. Berücksichtigt man auch noch die schon seit 1997 nicht mehr erhobene Vermögensteuer, kämen als Minimum jährlich nochmals 4,6 Mrd. Euro hinzu (das ist der Betrag, der im letzten Jahr ihrer Erhebung eingebracht wurde). Ver.di rechnet heute sogar mit 20 Milliarden Euro jährlich, die eine ein-prozentige Vermögensteuer mit großzügigen Freibeträgen einbringen könnte. In den letzten zehn bis zwölf Jahren hätte der Staat somit eine halbe Billion Euro zusätzlich einnehmen können. Das ist immerhin fast ein Viertel der gegenwärtigen Schulden von Bund, Ländern und Gemeinden. Die Steuerquote ist im Zeitraum von 1975 bis 2011 von 24% auf 21% gesunken. Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate der Staatsausgaben lag in Deutschland zwischen 1998 und 2008 bei nominal 1,4 Prozent, d.h. die Inflation ist nicht berücksichtigt. Der Durchschnitt in der alten EU lag mit 3,9 Prozent fast drei Mal so hoch. Hinzukommen langfristig schwerwiegende Investitionslücken in den Bereichen Infrastruktur und Bildung. Im Ländervergleich liegt Deutschland mit Bildungsinvestitionen von lediglich 4,7% des BIP um rund einen Punkt unter dem OECD-Durchschnitt von 5,7%. Und trotz dieser „Sparpolitik“ hatte die Staatsverschuldung der Bundesrepublik Deutschland vor Beginn der Krise 2008 einen Betrag von rund 1,6 Billionen Euro erreicht. Die Zinsausgaben beliefen sich 2008 auf 15% des Bundeshaushaltes. Aber anstatt das Ruder herumzureißen und für eine gerechte Steuerpolitik zu sorgen, wurde die Schuldenbremse durchgepaukt. 3. Die deutsche Schuldenbremse und der Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt Die Schuldenbremse ist eine verfassungsrechtliche Regelung, die Anfang 2009 beschlossen wurde. Sie soll die Staatsverschuldung Deutschlands begrenzen. Der Deutsche Bundestag hat der Regelung der Schuldenbremse am 29. Mai 2009 zugestimmt und mehrere dafür notwendige Verfassungsänderungen in die Wege geleitet. Für die Verfassungsänderung votierte am 12. Juni 2009 auch der Bundesrat mit Zwei-DrittelMehrheit. Die Länder Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein stimmten der Regelung nicht zu. Nach der Verkündung ist das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 91c, Art. 91d, Art. 104b, Art. 109, Art. 109a, Art. 115, Art. 143d) am 1. August 2009 in Kraft getreten. Hilde Mattheis, MdB, 14. Mai 2012 3 Entsprechend der Regelung der deutschen Schuldenbreme soll die strukturelle, also nicht konjunkturbedingte, jährliche Nettokreditaufnahme des Bundes maximal 0,35 % des Bruttoinlandsproduktes betragen. Den Bundesländern ist die Nettokreditaufnahme ganz verboten. Ausnahmen sind bei Naturkatastrophen oder schweren Rezessionen gestattet. Die Einhaltung der 0,35 % Grenze ist für den Bund ab dem Jahr 2016 zwingend vorgesehen, das Verbot der Nettokreditaufnahme der Länder tritt ab dem Jahr 2020 in Kraft. Ein Stabilitätsrat aus Vertreterinnen und Vertretern des Bundes und der Länder soll die Einhaltung der Konsolidierungsregeln überwachen. Die Schuldenbremse macht Bund und Ländern seit 2011 verbindliche Vorgaben zur Reduzierung des Haushaltsdefizits: Grundsätzlich sind die Haushalte von Bund und Ländern ohne Kredite auszugleichen. Diese Vorgabe aus dem Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt orientiert sich am mittelfristigen Ziel des strukturell ausgeglichenen Haushalts. Wesentliche Rechtsgrundlage des Stabilitäts- und Wachstumspakts ist Art. 126 des AEUVertrags, der festlegt: „(1) Die Mitgliedstaaten vermeiden übermäßige öffentliche Defizite. (2) Die Kommission überwacht die Entwicklung der Haushaltslage und der Höhe des öffentlichen Schuldenstands in den Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Feststellung schwerwiegender Fehler.“ Die Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion haben sich im Rahmen des Stabilitätsund Wachstumspaktes auf die Einhaltung der gemeinsamen Regeln zur nachhaltigen Sicherung einer stabilitätskonformen Fiskalpolitik verpflichtet. Die fiskalpolitischen Konvergenzkriterien für den Eintritt in die Währungsunion – ein Haushaltsdefizit von nicht mehr als 3 % und eine Schuldenstandsquote von höchstens 60 % des nominalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) – sind dauerhaft als Obergrenze festgeschrieben. Die Mitgliedstaaten haben außerdem vereinbart, einen ausgeglichenen oder überschüssigen Gesamthaushalt anzustreben. Jährliche „Stabilitätsprogramme“ sollen zeigen, in welchem Zeitrahmen und auf welche Weise das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts erreicht werden kann. Für die Einhaltung dieser Vorgaben sind zunächst die Mitgliedstaaten als Gesamtstaat verantwortlich. Deshalb sollen innerstaatliche Regelungen in föderal strukturierten Mitgliedstaaten sicherstellen, dass die jeweiligen Gliedstaaten gemeinsam die Einhaltung der Stabilitätskriterien gewährleisten. Hatten sich bis zum Ausbruch der Finanzkrise die EU-Mitgliedstaaten mit Ausnahmen von Griechenland zwar nicht rigoros, aber in der Tendenz an die Einhaltung bzw. Erreichung dieser Zielvorgaben gehalten bzw. erfüllt, so wurde diese Politik für ein langfristig sicherzustellendes Haushaltsgleichgewicht durch die Kosten einer zum Teil völlig kontraproduktiven Krisenbekämpfung völlig zurückgeworfen. Hilde Mattheis, MdB, 14. Mai 2012 4 Anstatt an die erfolgreiche Krisenbekämpfung in Deutschland mittels der Konjunkturpakete anzuknüpfen und diese in anderen Mitgliedstaaten anzuwenden bzw. europaweite Investitionsprogramme und etwa einen Marschallplan für Griechenland aufzulegen, wurden die tief von der Krise getroffenen Staaten zu Sparmaßnahmen mit schuldenverschärfenden Wirkungen gezwungen. Und - obwohl diese politische Medizin für die Wirtschaft der Krisenländer wie lähmendes Gift wirkte, soll sie nun mit Hilfe des sogenannten Fiskalpakts europaweit verabreicht werden. 4. Der Fiskalpakt verschärft die Vorgaben der deutschen Schuldenbremse Der Fiskalpakt verschärft für die Vertragsparteien auch das „traditionelle“ Defizitverfahren nach den Verträgen der Europäischen Union. Auf dem EU-Gipfel am 2. März 2012 unterzeichneten 25 der 27 EU-Mitgliedsstaaten (ohne Tschechien und Großbritannien) den europäischen Fiskalpakt (Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion - SKSV-Vertrag). Eine Änderung der EU-Verträge wurde von der britischen Regierung abgelehnt. Deshalb wurde der Fiskalpakt als ein völkerrechtlicher Vertrag beschlossen, der Anfang 2013 in Kraft treten soll. Der Vertrag beinhaltet eine verpflichtende Schuldenbremse (0,5% des BIP), den mittelfristigen Schuldenabbau (überschreiten die Gesamtschulden 60% des BIP, muss jährlich ein Zwanzigstel des Schuldenanteils oberhalb der 60% abgebaut werden), die Einführung neuer Institutionen (Euro-Gipfel, bestehend aus Staats- und Regierungschefs der Euro-Länder, dem Präsidenten der Europäischen Kommission; der EZB-Präsident wird eingeladen) und regelt darüber hinaus das Sanktionsverfahren bei Nicht-Einhaltung der Regelungen (automatischer Korrekturmechanismus, finanzielle Sanktionen, Berichtspflicht gegenüber und Überwachung durch Rat und Europäische Kommission). Während bisher ein Staat, der sich im Defizitverfahren befindet, eigenständig darüber entscheiden kann, durch welche Maßnahmen er das Defizit abbauen will, muss er künftig ein „Haushaltsprogramm“ aufstellen, in dem im Einzelnen die Strukturreformen beschrieben sind, die zu einer wirksamen und dauerhaften Korrektur des übermäßigen Defizits auf den Weg gebracht und umgesetzt werden müssen. Das Haushaltsprogramm ist der EUKommission und dem Rat zur Genehmigung vorzulegen und wird von ihnen überwacht. Beschlossen wurde der Fiskalpakt ohne Rücksicht auf die realen Fähigkeiten der Mitgliedstaaten, die neuen Haushaltsziele erreichen zu können. Schon vor der Einführung der nationalen Schuldenbremse gab es erhebliche Vorbehalte, ob – vor allem die Bundesländer – die Haushaltsziele erreichen können. So hat Gustav Horn (IMK) vorgerechnet: „Selbst bei einer solchen Konjunkturentwicklung – das entspräche einer Hilde Mattheis, MdB, 14. Mai 2012 5 Wachstumsrate des realen Bruttoinlandsprodukts von im Schnitt 1,5 Prozent bis 2020 – ist die Schuldenbremse für das Saarland nicht einzuhalten.“ und das Gleiche gilt, wenn nicht für eine Reihe weiterer Bundesländer zumindest auch für Bremen und Schleswig-Holstein. Umso unwahrscheinlicher wird die Einhaltung des Fiskalpakts: Entgegen der Behauptung, dass der Fiskalpakt „keine zusätzlichen finanziellen Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte haben wird“ (BT-Drs. 17/9046) werden die bisher in Deutschland gültigen Schuldenregeln verschärft. Bereits ab 2014 und nicht erst 2016 (für den Bund) bzw. 2020 (für die Länder) würden sie rechtsgültig, wenn der Fiskalpakt zeitlich wie vorgegeben umgesetzt würde. Erschwerend kommt hinzu: Die Verschuldungsgrenze des Fiskalpaktes umfasst alle öffentlichen Schulden auch die der Kommunen und der Sozialversicherungssysteme. Vor Ausbruch der Finanzkrise lag die Schuldenquote Deutschlands lediglich bei 64,9 Prozent. Mittlerweile belasten die Hilfen für die Krisenstaaten den deutschen Haushalt bis 2013 mit mittlerweile 85 Milliarden Euro, wie das Kieler IfW-Institut errechnet hat, und ein Ende des Anstieges ist nicht abzusehen. Insgesamt dürften die Staatsschulden dieses Jahr um 57 Milliarden auf 2,137 Billionen steigen und damit die Schuldenquote von 80,9 auf 81,6 Prozent erhöhen. „Die Bundesrepublik hat Schulden in Höhe von rund 82 Prozent des BIP – also 22 Prozentpunkte zu viel. Davon muss laut Fiskalpakt jedes Jahr 5 Prozent abgebaut werden. Der Pakt verpflichtet Deutschland also zu jährlichen Extra-Einsparungen von mehr als einem Prozent des BIP. Das sind 25 bis 30 Mrd. Euro und damit 2,5 Prozent der Staatsausgaben – mehr, als der Bund im Jahr für Hartz IV ausgibt.. (…) Italien muss im Jahr nach Einführung der neuen Regel 48 Milliarden Euro, also fast 7 Prozent der gesamten Staatsausgaben einsparen, Griechenland sogar fast 12 Prozent.“ (DGB) „Sparen, sparen, sparen ist das Mantra mit dem Angela Merkel von EU-Gipfel zu EU-Gipfel reist. Im eigenen Land nimmt die Kanzlerin es damit aber offenbar nicht so genau: So hat die Regierung … ihre Sparziele für den eigenen Bundeshaushalt im vergangenen Jahr nicht einmal zur Hälfte erreicht. Nur 42 Prozent der Summe, die Union und FDP im Bundeshaushalt 2011 einsparen wollten, wurden tatsächlich nicht ausgegeben. (…) Auch für dieses Jahr liegt die Regierung hinter ihrem Plan zurück: Von den ursprünglich vorgesehenen Einsparungen in Höhe von 19,1 Milliarden Euro ist nicht einmal die Hälfte umgesetzt. Für das kommende Jahr decken die konkreten Maßnahmen, die bisher beschlossen wurden, sogar nur ein Drittel des avisierten Sparvolumens ab.“ (Spiegelonline.de, 11.3.2012) 5. Perspektive: aktive Zukunftsvorsorge in Form öffentlicher Investitionen Die Befürworter der Schuldenbremse führen immer wieder die Behauptung ins Feld, dass Staatsschulden künftige Generationen belasten. Diese Sichtweise lässt die Tatsache außer Hilde Mattheis, MdB, 14. Mai 2012 6 Acht, dass diese Belastung von dann vorhandenen Voraussetzungen für ein nachhaltiges Wachstum abhängig ist. Dazu gehören ohne Wenn und Aber öffentliche Investitionen in die Infrastruktur, in das Bildungssystem und in die Forschung. Nur damit lässt sich Wohlstand in die Zukunft und für die nächsten Genrationen übertragen. Eine Volkswirtschaft vererbt der nächsten Generation nicht nur Schulden und Notwendigkeiten, sondern auch gesicherte und nachhaltige Grundlagen und Wahlmöglichkeiten für künftige Entwicklungspfade. Die Schuldenbremse bzw. der Fiskalpakt sind unzweifelhaft verbunden mit erheblichen Einbußen bei der Versorgung der Bevölkerung mit öffentlichen Gütern, Dienstleistungen und sozialer Sicherheit. Wenn dabei fast zwangsläufig notwendige zentrale Zukunftsinvestitionen unterbleiben, dann ist zudem der viel beschworenen Generationengerechtigkeit nicht gedient. Aber auch wenn man sich bei dieser Debatte auf die pure ökonomische Sichtweise reduzieren will, muss man zur Kenntnis nehmen, dass z.B. Bildungsinvestitionen eine überdurchschnittliche volkswirtschaftliche Rendite zwischen 8 und 12% ausweisen. Deshalb wäre - auch rein ökonomisch gedacht - zur Erhaltung und Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit zumindest eine Anhebung der Bildungsinvestitionsquote auf den Durchschnitt der OECD erforderlich. Deshalb kann von einem Verteilungskonflikt zwischen den Generationen keine Rede sein, sondern allenfalls von einem Konflikt zwischen gegenwärtigen und künftigen Steuerzahlern über die Begleichung der Staatsschulden. Ein Lösungsansatz liegt in einer gerechteren Besteuerung für die Ermöglichung von Zukunftsprogrammen. Vor dem Beschluss der Schuldenbremse hatten u.a. auch Prof. Dr. Peter Bofinger und Prof. Dr. Gustav Horn auf die Gefahren der Schuldenbremse aufmerksam gemacht. Die Entwicklung seither hat ihre Warnungen mehr als bestätigt. Sie haben aber auch ein Alternativkonzept und eine alternative Lösungsstrategie vorgeschlagen, auf die es jetzt zurückzugreifen und sie weiterzuentwickeln gilt - sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene. „Die Schuldenbremse verkürzt das zentrale Ziel der Zukunftsvorsorge einer Volkswirtschaft auf die Stabilisierung des Schuldenstandes der öffentlichen Hand. Mit dieser eindimensionalen Sichtweise fällt sie konzeptionell weit hinter die von den meisten Finanzwissenschaftlern und auch vom Sachverständigenrat befürwortete „goldene Regel“ zurück. Diese sieht vor, dass öffentliche Investitionen durch Kredite finanziert werden können. Die „goldene Regel“ erkennt also an, dass es neben der passiven Zukunftsvorsorge, die in einer Hilde Mattheis, MdB, 14. Mai 2012 7 Begrenzung der Verschuldung besteht, auch eine aktive Zukunftsvorsorge in der Form öffentlichen Investitionen geben muss.“ In der Fassung des Artikels 115 GG vor der Schuldenbremse wurden mit der „goldenen Regel“ unter Investitionen nur Sachinvestitionen definiert. „Es wäre deshalb zweckmäßig, einen neuen Investitionsbegriff zu definieren, der vor allem Ausgaben für Bildung, Forschung und Entwicklung sowie den Umweltschutz einschließt.“ Jetzt hat auch der italienische Ministerpräsident Mario Monti vorgeschlagen, dass Ausnahmen vom Fiskalpakt beschlossen und die Vorschriften des Fiskalpakts gelockert werden. Die europäischen Haushaltsgrenzen sollen durch eine "goldene Regel" ersetzen werden, die Schulden nur für Investitionen erlaubt: „Monti schlägt vor, dass für die kommenden drei Jahre Ausgaben für bestimmte öffentliche Investitionen von den Begrenzungen des Fiskalpakts ausgenommen werden. Als Beispiele für solche Projekte nannte Monti die Erneuerung der Netze für Breitbandverbindungen oder grenzüberschreitende Energienetze.“ (Frankfurter Allgemeine, 14.05.2012) Andere Konzepte für „wachstums- und nachhaltigkeitswirksamen Ausgaben“ liegen schon länger vor. Es gilt sie aufzugreifen, in die öffentliche Diskussion einzubringen und sie politisch zu befördern und durchzusetzen. Einen Vorschlag, der eine Tür in diese Richtung öffnen kann, haben Achim Truger und Henner Will aufgezeigt. Sie weisen darauf hin, dass es bei den noch ausstehenden Regelungen für die Umsetzung der Schuldenbremse auf Länderebene „grundsätzlich sinnvoll sein (kann), wesentliche Investitionsbereiche in Sondervermögen mit eigener Verschuldungsmöglichkeit auszulagern, um so die Wirkungsweise der Goldenen Regel zum Wohle zukünftiger Generationen wiederherzustellen.“ Sollte der Fiskalpakt gegen alle Bedenken beschlossen werden, muss eine solche Tür bei der Umsetzung des Fiskalpakts in nationale Gesetzgebung aufgemacht und offen gehalten werden. Mit dem Verbot der Nettokreditaufnahme für die Länder wird es zu einer „strukturellen Einnahmenlücke“ kommen, wie Truger und Will warnen: Sie belastet die (Länder-)Haushalte und „muss daher durch entsprechendes Handeln auf der Bundesebene geschlossen werden. Wenn es ein Interesse an einer wirksamen Begrenzung der Staatsverschuldung und an Zukunftsinvestitionen vor allem in die Bildung gibt, dann müssen die Länder und ihre Kommunen auch mit den notwendigen Einnahmen ausgestattet werden, um diese Ziele erreichen zu können. Weitere Steuersenkungen, wie sie die Bundesregierung immer noch plant, wären dagegen vollkommen kontraproduktiv. Wenn der Bund ein Interesse an einer bundesweit möglichst einheitlichen und reibungslosen Umsetzung der Schuldenbremse und der Reduktion der strukturellen Defizite hat, dann sollte er den Ländern im Gegenzug für ihre Kooperation höhere Einnahmen zubilligen. (…) es Hilde Mattheis, MdB, 14. Mai 2012 8 kann nicht in seinem Interesse sein, wenn in Deutschland ab dem Jahr 2020 möglicherweise 17 unterschiedliche Schuldenbremsen nebeneinander existieren.“ Dazu und aus Gründen einer größeren Steuergerechtigkeit muss es eine deutlich spürbare Beteiligung der großen Vermögen und Einkommen am Steueraufkommen geben, also einen höheren Spitzensteuersatz, eine Vermögenssteuer, eine gerechte Erbschaftsteuer, eine zeitlich begrenzte Vermögensabgabe und eine Finanztransaktionssteuer zum Ausgleich der Bankenrettungskosten. Hilde Mattheis, MdB, 14. Mai 2012 9