Die Bedeutung der Gehirn- und Rückenmarks

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Die Bedeutung der Gehirn- und Rückenmarks-Atrophie in
MS-Betroffenen
Seit den frühesten Arbeiten im 19. Jhdt. über die Erkrankung, die wir heute
“multiple Sklerose” (MS) nennen, ist bekannt dass es bei Betroffenen sowohl im
Gehirn als auch im Rückenmark – also den beiden Komponenten des sogenannten
“zentralen Nervensystems” – zu einem “Gewebs-Schwund” kommt. Das ist die
wörtliche Bedeutung von “Atrophie” 1 - im Gegensatz zu einer krankhaften
Vergrößerung eines Organs, die Hypertrophie genannt wird.
Obwohl die
entzündlichen Läsionen auf Grund der Fehlsteuerung immunologischer Funktionen
in MS sicherlich eine ganz wichtige primäre Rolle spielen, weisen manche Aspekte –
so wie die hier zu besprechende Atrophie des Gehirns und Rückenmarks in MS –
klar darauf hin, dass es auch andere wichtige Mechanismen gibt, die in dieser
Erkrankung Probleme verursachen.
Wenn Gewebe oder Organe des menschlichen Körpers - aus welchen Gründen
immer - an Substanz verlieren, kleiner werden, und ihre Funktion dann nicht richtig
ausüben, spricht man also von “Atrophie” – es gibt Muskel-Atrophien, NierenAtrophie (“Schrumpfung”), etc. Das Gehirn wird in manchen neurologischen
Erkrankungen atrophisch – ganz besonders z.B. in der Alzheimer Krankheit, wo sich
das Gehirn markant verkleinern kann. Aber auch im Zusammenhang mit dem
normalen “Älter-Werden” eines gesunden Menschen wird das Gehirn langsam
kleiner – durchschnittlich um ca. 0.2 – 0.4% des Volumens pro Jahr – ein Aspekt des
normalen Alterungsprozesses und meist ohne klinische Bedeutung.
Nun hat man mit sehr genauen und ausgeklügelten Magnet-Resonanz-Techniken
(verbunden mit komplexen computerisierten Bildauswertungs-Verfahren)
feststellen können, dass (unbehandelte) MS-Betroffene wesentlich ausgeprägtere
Atrophie des Gehirns haben als man es vom normalen Alterungsprozess allein
erwarten würde: nämlich durchschnittlich ca. 0.5 – 1% pro Jahr, also mehr als das
Doppelte der durchschnittlichen Werte der “Gesunden” (es gibt natürlich immer ein
Spektrum: manche Betroffene haben mehr, und manche weniger, Atrophie).
Erstaunlicherweise gibt es eine zentrale Hirn-Region, den Thalamus (eine Art von
zell-reicher “Relais-Station”), bei dem sich sogar schon bei der ersten klinischen
Im Alt-Griechischen hat “Atrophie” auch einen Zusammenhang mit “nicht-ernähren” – “atrephein” – und den daraus resultierenden Folgen.
1
Manifestation der MS (also zum Zeitpunkt des sogenannten “klinisch isolierten
Syndroms” oder “CIS”) eine Atrophie nachweisen lässt – ein Hinweis darauf, dass
auch ohne weitverbreitete Belastung des Gehirns durch entzündliche Läsionen, wie
sie dann später bei MS auftreten, Atrophie schon eine Rolle ganz früh im
Krankheitsverlauf spielen kann.2
Ob dieser Schwund an Substanz im Gehirn und Rückenmark im Falle der MS als
Folge der entzündlichen MS-Läsionen oder immer auch unabhängig von diesen
auftritt, war lange Zeit umstritten. Heute scheint es sehr wahrscheinlich, dass beides
der Fall ist – einerseits tragen entzündliche MS-Läsionen (die sogenannten
“plaques”) erheblich zu späterer Atrophie bei, andererseits gibt es auch sogenannte
“degenerative” Prozesse, die für diese Krankheit von Anfang an wichtig sind und die
eine eigene, selbstständige Rolle spielen. Unumstritten ist jedenfalls, dass
zunehmende Behinderung in MS, vor allem auch im kognitiven Bereich, und
Atrophie im zentralen Nervensystem über die Jahre und Jahrzehnte miteinander
einhergehen, also “korrelieren”, und es ist sehr wahrscheinlich dass auch ein echter
kausaler Zusammenhang zwischen diesen beiden Aspekten der MS besteht. Mit
anderen Worten: es wäre auf jeden Fall gut, wenn man durch Behandlung mit MSTherapeutika die Entwicklung der Atrophie verhindern könnte – und natürlich je
früher, desto besser. Denn was einmal verloren ist an Hirnsubstanz kann nicht
ersetzt werden – zumindest nicht mit den heute verfügbaren Therapien, und das
wird höchstwahrscheinlich leider auch noch lange Zeit so bleiben.
Es gibt einige Strategien, den Verlust an Gehirnsubstanz in der MS zu messen und zu
beurteilen. Dazu gehören das Erfassen des Gesamtvolumens der Gehirnsubstanz, die
sogenannte
“Hirnparenchymfraktion”,
mittels
computerisierter
MRBildauswertung, das Schätzen des Volumens der sogenannten “schwarzen Löcher”,
welche umschriebene Areale von Substanzverlust repräsentieren, sowie die
Bestimmung des Volumens von bestimmten “Kernen” des Gehirns, wie zum Beispiel
des Thalamus, oder spezifischen Arealen der Gehirnrinde. Um ein Beispiel für
letztere zu nennen: die Dicke der Gehirn-Rinde im Parietal- (“Scheitel”) Lappen
korreliert mit MS-“fatigue” – je mehr Atrophie, desto mehr “fatigue”.3 Schwieriger zu
erfassen (aus technischen Gründen der Magnetresonanzbildgebung) sind genaue
Messungen der Rückenmarksatrophie. Diese ist jedoch eindeutig mit Behinderung
vor allem der Gehfähigkeit korreliert.
Hinweise, dass intensive MS-Therapie das Fortschreiten der Atrophie in MS generell
positiv beeinflusst, gibt es schon längere Zeit. Für mehrere der üblichen Therapien
gibt es den Nachweis, dass z.B. die Zahl und das Volumen von “schwarzen Löchern”
auf den Magnet-Resonanz-Bildern von MS-Betroffenen vermindert wird, und auch
Zum Zeitpunkt des “CIS” sind zwar oft bereits mehrere entzündliche MS-Läsionen in der
Magnetresonanz nachweisbar, aber definitionsgemäß steht die Krankheit ja noch ganz am Anfang
ihres Verlaufs – und dennoch haben fast die Hälfte der PatientInnen (ca. 43%) schon eine
Verkleinerung des Thalamus im Sinne einer Atrophie. (Zivadinov et al., Online-Ausgabe von
Radiology, 23. April 2013).
3 Pellicano et al., Archives of Neurology 2010;67:447-453.
2
ein positiver Effekt auf die “Hirnparenchymfraktion” konnte sowohl in älteren als
auch modernen, groß-angelegten Studien mit neuen MS-Medikamenten gezeigt
werden.
Die verschiedenen MS-Therapien beeinflussen höchstwahrscheinlich die diversen
Prozesse, die zum MS-Geschehen ursächlich beitragen (Entzündung,
Nervenzellschädigung, mangelnde “Reparatur” des betroffenen Myelins, etc.) in
jeweils unterschiedlichem Ausmaß, und es ist wichtig dass all diese Mechanismen in
der Beurteilung des Therapie-Effektes auf die Hirnatrophie einbezogen werden. Ein
Beispiel: “Entzündung” im akutem Stadium, ganz allgemein betrachtet, führt zu
einer vorübergehenden Volumens-zunahme des Gehirns (durch Ansammlung von
Gewebsflüssigkeit)
und
kann
so
die
Volumens-minderung
durch
Nervenzellschädigung “maskieren”. Intensive Steroid-therapie hingegen entzieht
dem Gehirn vorübergehend Flüssigkeit und kann so eine “Pseudo-atrophie”
vortäuschen. Dies sind nur einige Faktoren, die die Beurteilung von Hirnatrophie in
der MS, vor allem mittels Magnetresonanz, so kompliziert machen.
Eine vielversprechende, weil viel einfachere, Technik, den Grad der Atrophie der
Hirnrinde in Zukunft zu bestimmen, ist die “optische Kohärenz-Tomographie”
(optical coherence tomography, OCT). Statt teurer, zeitraubender, und für die
Patienten manchmal doch nicht so angenehmer Magnetresonanzverfahren wird bei
der OCT die Dicke einer bestimmten Nervenzell-Schicht der Netzhaut (Retina) des
Augenhintergrunds mit Hilfe eines relativ einfachen optischen Gerätes, das manche
Augenärzte bereits in ihrer Ordination für andere Zwecke verwenden, gemessen. Es
konnte nämlich gezeigt werden, dass die Dimensionierung dieser spezifischen
Schicht von Nervenzellen in bestimmten Retinabereichen sehr gut mit der Dicke der
Gehirnrinde in MS-Betroffenen korreliert – was eigentlich nicht überrascht, da die
Retina, histologisch und biologisch gesehen, einen Teil des Gehirns darstellt. Wenn
es sich herausstellt, dass dieses Verfahren wirklich verlässlich ist, würde dies einen
großen Fortschritt bedeuten, denn diese Untersuchung (OCT) dauert nur wenige
Minuten, ist unkompliziert, und kann beliebig oft und regelmäßig wiederholt
werden. Damit könnte man in behandelten MS-PatientInnen den Grad der
Hirnrindenatrophie sehr gut über Jahre verfolgen und die Wirksamkeit der
Therapie auf die Entwicklung der Atrophie kontrollieren. Zumindest für diesen
Aspekt der Untersuchung von MS-PatientInnen könnte die OCT die MagnetResonanz ersetzen – nicht aber für andere Zwecke!
Noch ist dieses Testverfahren nicht in allgemeinem klinischen Gebrauch bei MSPatientInnen. Es wird jedoch bereits sorgfältig in entsprechenden Studien getestet
und standardisiert. Es wird wahrscheinlich in der Zukunft in der Betreuung der MSBetroffenen eine wichtige Rolle spielen, da die Bedeutung von Gehirn-Atrophie für
den Verlauf und die Therapie der MS zunehmend erkannt wird.
Die Erforschung der Prozesse, die zu Atrophie des Gehirns und des Rückenmarks in
MS-Betroffenen führen ist also nicht nur eine theoretische Aufgabe der
medizinischen Grundlagenforschung, sondern hat zunehmend Relevanz für die
Beurteilung des Therapie-Erfolgs in MS-PatientInnen, und leistet so einen
wesentlichen Beitrag zur optimalen Behandlung von uns allen.
Informationen zum Autor des Artikels:
Dr. Karl Gross studierte Medizin in Wien, absolvierte seine
Neurologie-Ausbildung in Denver, Colorado (USA), und war
anschließend 12 Jahre lang als Neurologe in den USA tätig – bis zu
seiner eigenen MS-Diagnose 1999.
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