Thieme: Duale Reihe – Psychiatrie, Psychosomatik

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A
rekte Krankheitskosten) im Rahmen von Arbeitsunfähigkeit, krankheitsbedingter
Berentung oder vorzeitigem Tod.
Laut Statistischem Bundesamt betrugen die direkten Krankheitskosten in Deutschland 2008 254 Mrd. Euro. Hiervon wurden für psychische Erkrankungen über 11 %
(ca. 29 Mrd. Euro) aufgebracht (Platz 3). In der Altersgruppe 15–30 Jahre stehen
psychische Störungen an 2. Stelle. Ein großer Teil der Kosten entsteht ab dem 65.
Lebensjahr. Bei Hochbetagten ist rund die Hälfte der Kosten durch die Versorgung in
Pflegeeinrichtungen verursacht.
Am kostenintensivsten sind Demenzen (Frauen), Depressionen, Schizophrenien, Abhängigkeiten (Männer) und neurotisch-psychosomatische Störungen (Abb. A-1.5).
Besonders groß ist der Anteil der psychischen Erkrankungen und damit die sozioökonomische Bedeutung, wenn die Zahl der durch Behinderung oder Arbeitsunfähigkeit beeinträchtigten Lebensjahre (DALYs = disability-adjusted life years) zum
Maßstab genommen wird. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation
(WHO) sind unter den 10 Erkrankungen, die weltweit am meisten ein beeinträchtigtes Leben verursachen, 6 Erkrankungen aus dem psychiatrischen Bereich, darunter
die depressiven Erkrankungen (Rang 1), die Alkoholerkrankung (Rang 2), die Demenzen (Rang 4) und die Schizophrenie (Rang 5) (Abb. A-1.6).
Nach Schätzungen der WHO und der Weltbank wird die Bedeutung psychischer Störungen als Hauptursache für „verlorene Lebensjahre“ durch Behinderung, Arbeitsunfähigkeit oder vorzeitigen Tod bis 2020 weiter zunehmen (Abb. A-1.7).
In Deutschland stehen psychische Störungen bei den indirekten Krankheitskosten
(„verlorene Erwerbstätigkeitsjahre“) mit über 15 % nach Verletzungen und Vergiftungen an 2. Stelle und haben in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen. Über 40 % der Krankschreibungen stehen im Zusammenhang mit psychischen Störungen, über 30 % aller Frühberentungen erfolgen infolge psychischer
Erkrankungen. Sie sind jetzt z. B. die häufigste Ursache für die krankheitsbedingte
⊙ A-1.5
19
1.3 Gesundheitsökonomie psychischer Krankheiten
Direkte Kosten für psychische Krankheiten 2008 in Milliarden Euro
(Gesundheitsberichterstattung des Bundes)
Die direkten Krankheitskosten für psychische
Erkrankungen betragen in Deutschland ca. 29
Mrd. Euro jährlich (11 % aller direkten
Krankheitskosten, Platz 3).
Am kostenintensivsten sind: Demenzen, Depressionen, Schizophrenien, Abhängigkeiten,
neurotisch-psychosomatische Störungen
(Abb. A-1.5).
Bei krankheitsbedingt beeinträchtigten Lebensjahren finden sich weltweit unter den 10
häufigsten Erkrankungen 6 aus dem psychiatrischen Bereich (Abb. A-1.6).
Über 40 % der Krankschreibungen stehen im
Zusammenhang mit psychischen Störungen,
bei Frühberentungen stehen sie inzwischen
an der Spitze.
⊙ A-1.5
3,1
9,4
8,0
2,9
⊙ A-1.6
5,2
Demenzen
Depressionen
Schizophrenien
Alkoholismus
andere psychische Störungen
„Global Burden of Disease“-Studie der WHO: Hauptursachen der durch Krankheiten beeinträchtigten Lebensjahre
mit Beeinträchtigung gelebte Jahre
10 000
8 000
6 000
4 000
2 000
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el
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us
0
nach Murray und Lopez
20
⊙ A-1.7
A
1 Einführung
⊙ A-1.7
Änderung der Rangfolge der 15 Hauptursachen für verlorene Lebensjahre
durch Behinderung oder Tod (weltweit, 1990–2020)
1990
Krankheit oder Verletzung
Infektion der unteren Atemwege 1
Durchfallerkrankungen 2
perinatale Erkrankung 3
Major Depression 4
2020
Krankheit oder Verletzung
1 ischämische Herzerkrankung
2 Major Depression
3 Verkehrsunfälle
4 zerebrovaskuläre Erkrankung
ischämische Herzerkrankung 5
5 chronisch-obstruktive
Lungenerkrankung
zerebrovaskuläre Erkrankung 6
6 Infektion der unteren Atemwege
Tuberkulose 7
Masern 8
Verkehrsunfälle 9
angeborene Fehlbildung 10
Malaria 11
chronisch-obstruktive 12
Lungenerkrankung
Stürze 13
(nicht intendierte Verletzungen)
Eisenmangelanämie 14
Unterernährung 15
7 Tuberkulose
8 Krieg
9 Durchfallerkrankungen
10 HIV
11 perinatale Erkrankung
12 Gewalt
13 angeborene Fehlbildung
14 suizidales Verhalten
15 Luftröhren-, Bronchial- und
Lungenkarzinome
Krieg 16
19 Stürze
suizidales Verhalten 17
24 Malaria
Gewalt 19
25 Masern
HIV 28
37 Unterernährung
Luftröhren-, Bronchial- 33
und Lungenkarzinome111
39 Eisenmangelanämie
nach Murray und Lopez
Die volkswirtschaftlichen Kosten für Demenzen, Depressionen, Schizophrenien und Abhängigkeiten betragen jährlich jeweils ca. 3–
10 Mrd. Euro.
Auch aus ökonomisch-volkswirtschaftlichen
Gründen ist eine Verbesserung der Versorgung psychisch Kranker dringend angezeigt.
Frühpensionierung von Lehrern. Das Durchschnittsalter der Dienstunfähigkeit liegt
hier bei rund 54 Jahren, Hauptdiagnosen sind Depressionen, Erschöpfungssyndrome („Burn out“), Belastungs- und Anpassungsstörungen.
Psychische Erkrankungen stellen bei Frauen die Hauptursache für eine Berufsunfähigkeit dar, bei Männern fungieren sie an 3. Stelle.
Die direkten Krankheitskosten für Alkoholismus betragen ca. 8 Mrd. Euro, für Schizophrenien ca. 3 Mrd. €, für Depressionen über 5 Mrd. Euro, für Demenzen ca. 10
Mrd. Euro jährlich. Unter Berücksichtigung der hohen indirekten Krankheitskosten
(Arbeitsunfähigkeit, Frühberentung) liegen die volkswirtschaftlichen Kosten für
schizophrene Psychosen bei 7–10 Mrd. Euro (durchschnittliches Verrentungsalter
40 Jahre), für Alkoholkonsum bei ca. 27 Mrd. Euro.
Eine bessere Versorgung psychisch Kranker ist also nicht nur wichtig, um subjektives Leiden der Patienten und Angehörigen zu reduzieren, sondern auch aus ökonomischen Erwägungen.
A
1.4
21
1.4 Besonderheiten der Psychiatrie
Besonderheiten der Psychiatrie
Neben der schon beschriebenen Methodenvielfalt, die der Psychiatrie eine Sonderstellung in der Medizin gibt, ist sicherlich die Tatsache, dass das Gespräch im Zentrum diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen steht, für einen in der somatischen Medizin ausgebildeten Arzt von besonderer Bedeutung und Schwierigkeit.
Der Arzt, der in der somatischen Medizin gelernt hat, objektive körperliche Befunde
zu erheben, muss umdenken, wenn er sich einem psychisch Kranken nähert. Die
Veränderungen, die er erfassen will, erfordern ein anderes Vorgehen. Er muss sich,
im Gegensatz zur somatischen Medizin, vorwiegend am gesprochenen Wort orientieren. Das Gespräch wird in seiner Bedeutung ergänzt durch die genaue Verhaltensbeobachtung.
Zugangswege zum Erleben eines anderen Menschen sind Verhaltensbeobachtung
und Gespräch. Nur so können wir eine Reihe von Krankheitssymptomen erkennen,
die als Verhaltensauffälligkeiten in Erscheinung treten. Viel schwieriger ist es,
Symptome zu erkennen, die sich vorwiegend auf der Erlebensebene abspielen. Erleben wird meist nicht unmittelbar in Verhalten umgesetzt und daher können wir aus
dem Verhalten allein das Erleben nicht beurteilen. Verhalten steht aber häufig in
einer Relation zum Erleben. Gestik, Mimik und Bewegungsabläufe sagen etwas über
das Erleben aus. Sie können jedoch auch willentlich gesteuert und aus Täuschungsabsicht bewusst verändert werden.
Das Gespräch gibt die Möglichkeit, Informationen über das Erleben eines anderen
und darüber hinausgehend über seine Motivation zu erhalten. Der Wahrheitsgehalt
solcher Mitteilungen ist jedoch unsicher. Sie können zutreffend sein, die entsprechende Person kann sich aber auch irren oder die Aussage bewusst verfälschen.
Dann bleibt nur die Orientierung an der Indikatorfunktion der Sprache und des Verhaltens. Indikatoren sind vom Sprechenden unbeabsichtigte Mitteilungen, die der
Gesprächspartner lediglich erschließen kann, z. B. aus inhaltlichen Widersprüchen
oder einer Dissoziation zwischen der sprachlichen Information und dem Verhalten
(eingeschlossen Gestik und Mimik). Wenn die sprachliche Information nicht im Einklang mit dem Verhalten steht, sondern Konträres ausdrückt, wird das über das Erleben Berichtete widersprüchlich.
Eine weitere wichtige Besonderheit der Psychiatrie: Gespräche und Verhalten werden durch die Persönlichkeit des Untersuchers und durch die emotionale Interaktion
zwischen Patient und Untersucher mitgeprägt, sodass der auf Verhaltensbeobachtung und Gespräch basierende Untersuchungsprozess in weit stärkerem Maße subjektiven Beobachtungsfehlern ausgesetzt ist als bei anderen diagnostischen Prozessen in der somatischen Medizin. Das hängt einerseits mit den Phänomenen selber
zusammen, die nicht so leicht in objektiver Weise feststellbar sind. Vor allem beruht
es aber darauf, dass durch die Art der Untersuchung (insbesondere durch emotionale Prozesse) die untersuchten Phänomene verändert werden können.
Die emotionale Ausgangsbasis der Gesprächspartner sowie die Interaktion zwischen
Arzt und Patient nehmen auf den Gesprächsablauf und die damit verbundenen
Wahrnehmungsprozesse prägenden Einfluss. So können Vertrauen, Sicherheit, Ruhe, aber auch Unbehagen, Unsicherheit oder Spannung hervorgerufen werden. Positive bzw. negative Empfindungen des Arztes können zur Akzeptanz bzw. Ablehnung
des Patienten führen und vice versa.
▶ Exkurs. Patienten mit Migrationshintergrund:
Fast ein Fünftel der Bevölkerung in Deutschland weist inzwischen einen Migrationshintergrund
auf, ca. 9 % sind Ausländer. Allein die Gruppe der Muslime macht derzeit mit ca. 4 Millionen
rund 5 % der Gesamtbevölkerung aus. Als Menschen mit Migrationshintergrund gelten in den
meisten Definitionen Personen, die keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzen oder im Ausland geboren wurden und seit 1950 zugewandert sind, oder die einen Elternteil mit ausländischer Staatsangehörigkeit haben bzw. bei denen ein Elternteil aus dem Ausland zugewandert
ist. Somit werden sowohl zugewanderte als auch in Deutschland geborene Ausländer, Aussiedler, Eingebürgerte mit persönlicher Migrationserfahrung wie auch deren Kinder in die Definition mit eingeschlossen. Es handelt sich also um keine homogene Gruppe. Unterschiede bestehen
bezüglich der Herkunftsländer, kultureller und religiöser Hintergründe, der Staatsangehörigkeit,
der Beweggründe für die Migration sowie des Aufenthaltsstatus.
Epidemiologische Studien zeigen bei fast allen Migrantengruppen erhöhte Raten für psychische
Störungen, vor allem für Belastungsstörungen, Depressionen, Angststörungen und somatoforme
Störungen, für Subgruppen auch für Alkoholabhängigkeit und Schizophrenie. Ursächlich werden
1.4
Besonderheiten der Psychiatrie
Die Tatsache, dass in der Psychiatrie das Gespräch im Zentrum diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen steht („sprechende Medizin“), ist für einen in der somatischen
Medizin ausgebildeten Arzt von besonderer
Bedeutung und Schwierigkeit. Das Gespräch
wird ergänzt durch die genaue Verhaltensbeobachtung.
Das Gespräch gibt die Möglichkeit, Informationen über das Erleben eines anderen und
über seine Motivation zu erhalten. Durch die
Beobachtung des Verhaltens können eine Reihe von Krankheitssymptomen, die als Verhaltensauffälligkeiten in Erscheinung treten, erkannt werden.
Schwierig ist es, Symptome zu erkennen, die
sich auf der Erlebensebene abspielen, wenn
der Patient darüber keine Aussagen macht.
Gestik, Mimik und Bewegungsabläufe können Hinweise über das Erleben geben.
Der Wahrheitsgehalt dieser Informationen ist
jedoch unsicher, ggf. bleibt nur die Orientierung an der Indikatorfunktion der Sprache
und des Verhaltens.
Gespräche und Verhalten werden durch die
Persönlichkeit des Untersuchers und die
emotionale Interaktion zwischen Patient
und Untersucher mitgeprägt, sodass der
Untersuchungsprozess in weit stärkerem
Maße subjektiven Beobachtungsfehlern
ausgesetzt ist als bei körperlichen Untersuchungen.
Die emotionale Ausgangsbasis der Gesprächspartner sowie die Interaktion zwischen Arzt
und Patient nehmen auf den Gesprächsablauf
und die damit verbundenen Wahrnehmungsprozesse Einfluss.
▶ Exkurs.
22
A
1 Einführung
als Faktoren Diskriminierung und Kränkungserlebnisse, Traumatisierungen im Herkunftsland,
erhöhter Drogenkonsum sowie ungünstigere psychosoziale Lebensbedingungen diskutiert. Zu
den Belastungsfaktoren zählen Erlebnisse vor, während und nach der Migration.
Menschen mit unterschiedlicher kultureller Sozialisation besitzen aufgrund ihrer soziokulturellen Prägung häufig ein anderes Krankheitsverständnis. Insbesondere zu Beginn der Akkulturation finden sich oft traditionelle magisch-religiöse Sichtweisen und wenig Vertrauen zur naturwissenschaftlichen, evidenzbasierten Medizin. So zeigen Migranten türkischer Herkunft zum
Beispiel eine verstärkte Tendenz zur Schmerzbetonung, Emotionalisierung sowie zur Identifikation externer Krankheits-ursachen wie „Gottes Wille“ oder „Schicksal“. Zu den kulturell bedingten Symptomvarianten psychischer Erkrankungen zählen leibnahe Beschwerden. So werden
psychische Symptome mit Redewendungen umschrieben wie „meine Leber/Lunge brennt“ und
blumigere, bildhafte Ausdrucksweisen gebraucht. Zu den kulturellen Krankheitskonzepten kann
Krankheit als „Strafe“ oder bedingt durch negative Einwirkungen von Mitmenschen oder Verstorbenen zählen.
Empfehlungen für die Praxis:
■ Kulturspezifische Anamnese: Eruierung der Ursprungskultur (Glaubensgemeinschaft, Riten,
religiöse Bindung und Prägung); migrationsspezifische Belastungen und Stressoren. Cave: Klischees und stereotype Vorstellungen
■ Verständigung, Untersuchungs- und Behandlungs-Setting: Zentrale Probleme sind Sprachbarrieren oder divergierende Krankheits- und Heilvorstellungen. Die Kommunikation erfordert
einen kulturangemessenen Interaktionsstil. Auch aus juristischer Sicht („informierte Einwilligung“, Aufklärung) sollten Hilfsmittel wie muttersprachliche Merkblätter und Aufklärungsbroschüren oder Piktogramme zur Verständigung eingesetzt werden. Ein Dolmetscher kann
das Arzt-Patient-Verhältnis beeinträchtigen, Angehörige können dazu tendieren, Informationen zu verschweigen, das Gespräch selbst zu übernehmen und Konflikte aus ihrer Sicht zu
interpretieren. Begleitende Familienangehörige sind oft eine wichtige Unterstützung, aber
nicht immer geeignete Übersetzer. Es sollten daher möglichst gleichgeschlechtliche, neutrale,
professionelle Dolmetscher ähnlichen Alters hinzugezogen werden, deren Kosten pflegesatzfähig sind. Der Dolmetscher sollte in der Ich-Form möglichst wortgetreu übersetzen, ein Vorund Nachgespräch mit ihm ist empfehlenswert.
■ Kultursensitive Diagnostik: Das mögliche Vorliegen eines kulturabhängigen Syndroms sollte
bedacht werden. Dazu zählen z. B. „Susto“ („Schreck – die Seele verlässt aufgrund des Schreckerlebnisses den Körper“) oder das Brain-Fag-Syndrom („Überforderung/Übermüdung des Gehirns/Kopfes“) durch „zu viel Denken“. Der behandelnde Arzt sollte versuchen zu differenzieren,
welche Probleme kultur- und migrations-spezifisch sind. Biologisch sind mögliche Stoffwechselanomalien und -varianten sowie Infektionsquellen zu beachten (z. B. Alkoholmetabolismus bei
asiatischer Bevölkerung).
■ Therapie und Versorgung: Ärzte sollten kultursensitive Kompetenz erwerben und, nach Möglichkeit, sprachkompetente Mitarbeiter und Kollegen hinzuziehen. Wichtige Bedürfnisse ausländischer Patienten sind beispielsweise der Schutz der Intimsphäre, die Möglichkeit von Gebetszeiten und die Berücksichtigung von Essenstraditionen (z. B. Fasten). Bei der Medikation
ist u. a. zu beachten, dass z. B. 20–30 % der arabischen Bevölkerung zu den raschen Metabolisierern gehören (Dosierungen!).
Ziel ist es, die vor allem durch die Sprachbarriere bestehende Benachteiligung in der Versorgung
ausländischer Patienten zu verbessern. Die Berücksichtigung kultureller und religiöser Ressourcen kann dabei ein wesentlicher Faktor für eine erfolgreiche Behandlung sein. Es empfiehlt sich
die Anwendung des Leitfadens zur Beurteilung kultureller Einflussfaktoren nach DSM-IV-TR
(Tab. A-1.3).
Internet-Link:
www.kultur-gesundheit.de, www.transkulturelle-kompetenz.ch
≡ A-1.3
≡ A-1.3
Leitfaden zur Beurteilung kultureller Einflüsse (modifiziert nach DSM-IV-TR)
kulturelle Identität
ethnologische Bezugsgruppe, (Teil-)Integration, Bi-Multikulturalität, Sprachkenntnisse, Religiosität
kulturelle Erklärungsmodelle und Vorstellungen
Ausdrucksform und Bedeutung der Störung, ethnologische
Krankheitsbezeichnung, ätiologische Modellvorstellungen, traditionelle Behandlungsformen
psychosoziale Umgebung und Funktionsfähigkeiten
kulturtypische Belastungssituation, soziale Unterstützungssysteme
(Großfamilie, Religionsgemeinschaft etc.), Funktionsniveau und
-fähigkeit
kulturelle Elemente der Kultur- und Sozialstatusunterschiede, (Gegen-)Übertragung,
Untersucher-Betroffe- sprachliche Kommunikation, Untersucher-Betroffenen-Einflüsse
nen-Interaktion
auf die Diagnostik und die therapeutische Beziehung
kulturelle Einschätzung Berücksichtigung von kulturellen Aspekten für Diagnose und
für Diagnose und Be- Behandlung
handlung
A
Das Besondere in der Psychiatrie liegt auch in der Rolle des psychisch Kranken, der
in unserer Gesellschaft noch immer ganz anders gesehen wird als der körperlich
Kranke. Symptome einer psychischen Erkrankung sind meist „unsichtbar“, für viele
schwer verständlich, werden abgelehnt, als schuldhaft interpretiert oder gar als gefährlich angesehen. Hilfe zu suchen wegen psychischer Probleme ist für einen Patienten meist viel problematischer als die Inanspruchnahme ärztlicher Beratung
wegen körperlicher Beschwerden. Insbesondere völlig vom normalen Denken und
Erleben abweichende Symptome, wie z. B. Wahnideen oder Sinnestäuschungen, versucht der Patient oft lange geheim zu halten, um die „Verrücktheit“ seines Erlebens
nicht nach außen dringen zu lassen. Je schwerer eine Person psychisch erkrankt,
umso eher vermeidet sie die Behandlung. Psychisch Kranke müssen die Sorge haben, durch Tabuisierungs- und Diskriminierungsprozesse aus den normalen gesellschaftlichen Beziehungen ausgeschlossen zu werden (Abb. A-1.8).
⊙ A-1.8
23
1.4 Besonderheiten der Psychiatrie
Rainer Schade. Aus der Mappe „Vom Behindertsein“, Isolation
Psychisch Kranke werden in unserer Gesellschaft noch immer anders gesehen als körperlich Kranke. Symptome einer psychischen
Erkrankung sind für viele Menschen schwer
verständlich, werden abgelehnt, als schuldhaft interpretiert oder gar als gefährlich angesehen. Hilfe zu suchen wegen psychischer
Probleme ist für den Patienten oft sehr problematisch. Psychisch Kranke müssen befürchten, durch Diskriminierung aus den gesellschaftlichen Beziehungen ausgeschlossen
zu werden (Abb. A-1.8).
⊙ A-1.8
Das Bild zeigt mit künstlerischen
Ausdrucksmitteln das große
Problem der Stigmatisierung,
unter dem insbesondere psychisch Kranke zu leiden haben.
© VG Bild-Kunst, Bonn 2012
Wegen dieser besonderen Ausgangssituation des psychisch Kranken muss das psychiatrische Gespräch mit besonderer Feinfühligkeit und Behutsamkeit geführt werden, um den Patienten nicht zu erschrecken, sondern ihm den Eindruck zu geben,
dass er auf einen verständnisvollen Zuhörer gestoßen ist (S. 33). Andererseits ist es
nicht ausreichend, dem Patienten nur Verständnis zu zeigen und ihm beratend und
tröstend zur Seite zu stehen. Es müssen auch die notwendigen Informationen für
die Diagnosestellung und damit für die Möglichkeit zur Einleitung adäquater Behandlungsmaßnahmen ermittelt werden. Ein alleiniges Sprechen über „Probleme“
genügt dem diagnostischen und therapeutischen Anspruch der Psychiatrie nicht.
Ziel eines psychiatrischen Gesprächs muss vielmehr sein zu klären, auf welchem Hintergrund diese Probleme auftreten, z. B. berufliche Leistungsprobleme auf der Basis
einer Depression.
▶ Merke. Trotz dieser durch Gespräch und Verhaltensbeobachtung gegebenen Be-
sonderheiten darf nicht vergessen werden, dass die Psychiatrie ein Teil der Medizin
ist. Sie als reines „Psychofach“ zu klassifizieren, wäre ein völliges Missverständnis.
Das Besondere der Psychiatrie liegt gerade darin, dass mögliche körperliche und
seelische Ursachen für psychische Veränderungen im gleichen Maße Berücksichtigung finden.
Das psychiatrische Gespräch muss mit besonderer Feinfühligkeit und Behutsamkeit
geführt werden (S. 33). Andererseits ist es
nicht ausreichend, dem Patienten nur Verständnis zu zeigen und ihm beratend zur Seite
zu stehen, sondern es müssen auch die notwendigen Informationen für die Diagnosestellung und damit für die Einleitung adäquater
Behandlungsmaßnahmen durch eine zielgerichtete Exploration ermittelt werden.
▶ Merke.
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