Zwischen Politikwissenschaft und Soziologie – das Profil einer kritischen Demokratiewissenschaft. Einleitung In die Politische Soziologie einzuführen ist kein leichtes Unterfangen. Die Schwierigkeiten beginnen schon beim Begriff. Ebenso wenig wie es die Soziologie gibt, können wir von der Politischen Soziologie als einer Disziplin mit scharfem Profil sprechen, die sich auf einem klar umrissenen Forschungsgebiet bewegt und über einen verbindlichen Lehrkanon verfügt. Nach wie vor ungeklärt ist auch der Standort der Politischen Soziologie zwischen den beiden Disziplinen, die sie bereits im Namen trägt. Während Teile der Politikwissenschaft, darunter die ehemalige »Marburger Schule« (vgl. Abendroth 1967: 9 f.), ihre Wissenschaft schlechthin als Politische Soziologie begreifen, möchten sie andere gern der Soziologie überlassen (wie z. B. von Alemann 1998). Die institutionelle Anbindung der Politischen Soziologie in den Berufsverbänden beider Disziplinen – in der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft einerseits und (seit 1995) in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie andererseits – ist Ausdruck dieser bislang noch unabgeschlossenen disziplinären Selbstvergewisserung. Deren Kernfragen, was wozu wie erforscht wird, sind in einer Disziplin, die mehr als je zuvor um ihr Selbstverständnis ringt, offen (zum Stand der Debatte vgl. Bach 2004). Dies macht den besonderen Reiz der Politischen Soziologie aus, aber auch die erheblichen Probleme, in diese Disziplin einzuführen. Wissenschaftshistorische Abhandlungen, die prominente Forschungsarbeiten aus der deutschen politisch-soziologischen Tradition von Robert Michels über Max Weber bis zu Jürgen Habermas und Claus Offe vorstellen (wie Ebbighausen 1981), versuchen eine disziplinäre Ortsbestimmung durch Aufbereitung von Theoriewissen. Der wissenschaftliche Charme dieses Unterfangens liegt im Bemühen, die Zukunft der Politischen Soziologie im Rückspiegel zu erkennen. Andere Wege der Selbstvergewisserung führen dagegen eher ins Uferlose. Hierzu zählt der Versuch, Politische Soziologie als Soziologie des Politischen zu begreifen, was erheblich den Eindruck untermauert, der Gegenstand dieser Disziplin sei konturlos und dehnbar wie der Begriff des Politischen selbst. Aus diesen und anderen zum Teil weiterführenden und tragfähigen, zum Teil abwegigen und verunsichernden Selbstvergewisserungsversuchen folgt: Wer in die Politische Soziologie einführen will, kann nicht auf einen festgefügten Kanon von Wissensbeständen zurückgreifen, die die Politische Soziologie ausmachen. Vielmehr stellt sich die Aufgabe, politischsoziologische Wissensvermittlung immer auch als Reflexionsprozess über das Selbstverständnis dieser Disziplin offenzulegen und offensiv das eigene Verständnis dessen, was politisch-soziologisches Denken ausmacht und worauf es sich bezieht, darKißler, Politische Soziologie. ISBN 978-3-8252-2925-2 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2007 13 Einleitung zulegen. Mit anderen Worten: Es geht um die vorgängige Bestimmung jenes wissenschaftlich begründeten und normativ befestigten Orts, an dem der Gegenstand politisch-soziologischer Erkundungen ein klares Profil erhält. Dies ist der Standort einer praxisorientierten Demokratieforschung. Sie liefert die Grundlagen für das Verständnis von Politischer Soziologie als Demokratiewissenschaft . Aus deren Selbstverständnis, Gegenstand und Perspektiven erschließen sich Aufbau und Inhalt des folgenden Lehrtextes. Zunächst geht es um die disziplinäre »Ortsbestimmung«. Für manche gleicht die Politische Soziologie einem »weißen Schimmel«; denn im weitesten Sinne von Politik ist Soziologie immer politisch. Sie wird von Soziologinnen und Soziologen und damit – wie jede Wissenschaft – von Menschen betrieben, die in Gesellschaft leben. Soziologie als »Wissenschaft von der Gesellschaft« ist jedoch mit ihrem Erkenntnisgegenstand auf vielfältige Art und Weise verwoben – mit der Folge, dass sozialwissenschaftliche Erkenntnis von gesellschaftlichen Interessen und individuellen Bedürfnislagen nicht zu trennen ist. Diese fließen – eingestanden oder hinterrücks – in den Erkenntnisprozess mit ein und verleihen ihm dadurch politische Relevanz – ganz abgesehen von der Frage, wer mit soziologischen Forschungsergebnissen letztlich »Politik macht«. Aber weder der weite, mit der Erkenntnis-Interessen-Problematik untrennbar verbundene Politikbegriff noch gar eine parteipolitische Orientierung sind gemeint, wenn die Rede von Politischer Soziologie ist. Politische Soziologie ist zunächst einmal Soziologie. Sie trägt deshalb mit an deren historischer Hypothek, entweder affirmative Stabilisierungswissenschaft für die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse oder kritische Oppositionswissenschaft zu sein – zwei Entwicklungslinien, die das Wissenschaftsprofil der Soziologie seit ihrer Geburtsstunde als »physique sociale« maßgeblich prägen. Ebenso wenig wie es die Soziologie gibt, sondern Soziologien unterschiedlicher wissenschaftlicher Provenienz, gibt es demnach die Politische Soziologie. Für ihre Ortsbestimmung kommt Politische Soziologie ohne rückversichernde Orientierungssuche bei der Allgemeinen Soziologie nicht aus. Diese beantwortet maßgeblich die Fragen, was politisch-soziologisch erforscht werden soll, mit welchem Forschungs- und Erkenntnisinteresse und mit welchen Methoden. Politische Soziologie ist Soziologie der Politik. Ihr Gegenstand wird demnach abgesteckt durch deren Dimensionen. Dazu zählen (vgl. Lauth/Wagner 2002: 22): • die politischen Organisationsformen und Einrichtungen (Polity) • die politischen Inhalte, Werte und ihre Vermittlung (Policy) • die Interessenkonkurrenz und Konfliktaustragung (Politics) Politische Soziologie bildet demnach das Scharnier zwischen Soziologie und Politikwissenschaft. Von Ersterer holt sie sich die kritisch-theoretische Absicherung ihres Erkenntnisinteresses an Aufklärung und menschenwürdiger Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch Politik. Mit der Politikwissenschaft teilt sie ihren Gegenstand. 14 Kißler, Politische Soziologie. ISBN 978-3-8252-2925-2 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2007 Einleitung Politische Soziologie eröffnet deshalb die Chance, über interdisziplinäre Kooperation zu einer Integration von soziologischer und politikwissenschaftlicher Denkweise beizutragen. Ihr markantes Profil im Kanon der Sozialwissenschaften gewinnt Politische Soziologie als eine Wissenschaft, die den gesellschaftlichen Entstehungs- und Durchsetzungsprozess von sich politisch artikulierenden Interessen erklärt, spezifische institutionelle und rechtliche Formen dieses Prozesses kritisiert und an ihrer Veränderung mitwirkt. Kurz: Politische Soziologie hat politische Macht und Herrschaft sowie deren gesellschaftliche Legitimation zum Gegenstand. Solchermaßen als praxisbezogene Demokratieforschung verstanden, hat sie sich in Auseinandersetzung mit einem platten Empirismus der angloamerikanischen Politischen Soziologie auf der einen und mit der normativen Politischen Philosophie auf der anderen Seite behauptet und zu einer eigenständigen Disziplin entwickelt. Ihr Gegenstand ist das Verhältnis von Politik und Gesellschaft unter den Anforderungen von Demokratie. Daraus folgt zweierlei: zum einen die normative Verortung als Demokratiewissenschaft und zum anderen die Fokussierung der wissenschaftlichen Perspektive auf jenen Bereich, der Politik (i. S. v. politisch-administrativem System und seinen Einrichtungen) auf der einen und Gesellschaft (i. S. v. gesellschaftlichen Interessen) auf der anderen Seite vermittelt: das intermediäre, von Parteien, Verbänden, Bürgerinitiativen, sozialen Bewegungen und Massenmedien besetzte Feld. Die genannten Institutionen organisieren und vermitteln gesellschaftliche Interessen in das politisch-administrative System und politische Inhalte, Werte und Normen in die Gesellschaft. Interessen- und Politikvermittlung unter demokratischen Verhältnissen basiert auf der Partizipation von Bürgerinnen und Bürgern und von kollektiven Akteuren einerseits sowie auf politischer Sozialisation andererseits. Gelingende Partizipation und Sozialisation entscheiden damit ganz erheblich über die demokratische Qualität von Interessen- und Politikvermittlung und damit über die politische Kommunikationsleistung von politischen Parteien, Verbänden etc. Mit anderen Worten: Der Gegenstand von Politischer Soziologie als Demokratiewissenschaft ist die politische Kommunikationsleistung (und damit das Demokratiepotenzial) intermediärer Organisationen. Aus einem solchermaßen gehärteten Selbstverständnis der Politischen Soziologie als Demokratiewissenschaft und der Fokussierung ihres Gegenstandes auf intermediäre Einrichtungen folgt die institutionenkundliche Grundierung des vorliegenden Studienbuchs. Im Unterschied zu einer eklektizistischen Ansammlung von theoretischen Versatzstücken politisch-soziologischer Provenienz soll der Text institutionenkundliches Basiswissen vermitteln, allerdings im festen demokratietheoretischen Rahmen und mit klarer normativer Orientierung. Für eine »Ortsbestimmung« der Politischen Soziologie heute setzt die seit Ende der 1960er Jahre geführte Diskussion zum Stellenwert dieser Disziplin als Teil kritischer Gesellschaftstheorie wichtige Marken. Sie hat das Selbstverständnis der Politischen Soziologie grundlegend beeinflusst und insbesondere die ökonomischen Verhältnisse als zentralen den Gegenstand der Politischen Soziologie mit prägenden Faktor in das Kißler, Politische Soziologie. ISBN 978-3-8252-2925-2 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2007 15 Einleitung Blickfeld gerückt. Politische Soziologie heißt demnach praxisorientierte Demokratieforschung in Politik und Wirtschaft. Dieses Selbstverständnis begründet das politisch-soziologische Interesse an zwei Dimensionen ihres Gegenstandes: (1) an politischer Macht und Herrschaft, ihrer Entstehung aus gesellschaftlichen Interessen (-lagen und -gruppen) und ihrer Rückbindung an diese. Das Verhältnis von politischer Macht und gesellschaftlichen Interessen wird nach der Verfassung des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland parlamentarisch-demokratisch geregelt. Welches sind die historisch-gesellschaftlichen Grundlagen dieses Systems, wie funktioniert die parlamentarische Demokratie in der politischen Praxis, wie kann sie normativ und theoretisch verortet werden? Antworten auf diese Kernfragen werden aus zwei Perspektiven angeboten: zum einen im Hinblick auf die gesellschaftliche Außenwirkung der politisch-parlamentarischen Institutionen. Gefragt wird nach ihrer politischen Kommunikationsfunktion, aber auch nach ihrer demokratischen Legitimationsleistung, die aus einer gelingenden politischen Kommunikation resultiert. Zum anderen wird die Innenausstattung der parlamentarisch-demokratischen Herrschaftsentfaltung in den Blick genommen. Gefragt wird hier nach der Kommunikationsleistung der politischen Einrichtungen nach innen, gegenüber ihren Mitgliedern. Beide Blickrichtungen sind offenzuhalten, will man das Verhältnis von Politik und Gesellschaft, den Stellenwert alter und die Entstehung neuer gesellschaftlicher Interessen für den Bestand und die Entwicklungsfähigkeit von Institutionen politischer Machtausübung und Herrschaftsentfaltung richtig einschätzen und die Vorteile ihrer parlamentarisch-demokratischen Rückbindung an die Gesellschaft, aber auch ihre Defizite erkennen und kritisieren lernen. (2) Politische Soziologie als praxisorientierte Demokratieforschung bekommt ihren Gegenstand nur unzureichend in den Griff, wenn sie ihr Augenmerk nicht auf jenen Bereich lenkt, der das Verhältnis von Politik und Gesellschaft maßgeblich mitprägt: die Ökonomie. Gesellschaftliche Interessen, die sich in parlamentarisch-demokratischen Formen artikulieren, sind häufig ökonomisch bestimmt. Politische Machtausübung dient der gesellschaftlichen Durchsetzung und manchmal auch Beschränkung von ökonomischen Interessen und weiter, wie die Menschen arbeiten, so denken und handeln sie politisch, das heißt: Die Bedingungen der Arbeit und gesellschaftlichen Produktion entscheiden wesentlich mit über die Inhalte und Formen der alltäglichen Verkoppelung von Politik und Gesellschaft. Aber umgekehrt gilt auch: Die Arbeitsbedingungen sind Ausdruck der allgemeinen Lebensbedingungen in einer Gesellschaft. Mit ihnen verbindet sich deshalb eine zentrale politische Gestaltungsaufgabe und damit eine große Herausforderung für Politikvermittlung. Das Selbstverständnis von Politischer Soziologie als Demokratiewissenschaft, ihr Gegenstand – die demokratische Politik- und Interessenvermittlung zwischen politischem System und Gesellschaft auf der Grundlage von politischer Kommunikation – 16 Kißler, Politische Soziologie. ISBN 978-3-8252-2925-2 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2007 Einleitung und das Interesse, die politische Kommunikationsleistung intermediärer Einrichtungen nach innen, gegenüber ihren Mitgliedern, und nach außen, gegenüber einem gesellschaftlichen Publikum, erklären und kritisch bewerten zu wollen, bilden die Grundlagen dieser Wissenschaft. Sie begründen auch den Aufbau und Inhalt des vorliegenden Studienbuchs. Ausgehend von der Frage, »was ist Politische Soziologie?« werden eingangs die Schwierigkeiten einer Profilierung dieser Disziplin als »Scharnierdisziplin« zwischen Politikwissenschaft und Soziologie genannt und begründet, warum eine Standortbestimmung notwendig ist. Diese erfolgt in Kapitel 1. Neben dem Wissenschaftsbegriff, Erkenntnisinteresse und den wissenschaftshistorisch gefundenen Antworten auf die Frage, was Politische Soziologie sei, steht im Fokus dieses Kapitels die Erläuterung des Gegenstandes einer praxisorientierten Demokratieforschung: das Verhältnis von Politik und Gesellschaft, verstanden als durch intermediäre Organisationen gestalteter Prozess der Politik- und Interessenvermittlung. Selbstverständnis und Gegenstand der Politischen Soziologie als Demokratiewissenschaft begründen sich aus theoretisch gestützten und normativ geleiteten Vorstellungen von Demokratie. Deshalb werden zwei zentrale demokratietheoretische Diskurse nachgezeichnet: Demokratie als Steuerungsproblem und Demokratie als Partizipationschance (früher verkürzt als formale und materiale Demokratie bezeichnet). Als demokratietheoretisches Querschnittsthema wird die geschlechtsspezifische Perspektive von politischer Steuerung und politischer Partizipation eingeführt. Dabei wird deutlich, dass erkenntnisleitend für die politisch-soziologische Untersuchung von Politik- und Interessenvermittlung unter demokratischer Perspektive das Konzept einer partizipatorischen Demokratie sein kann, das nicht blind ist für die Genderproblematik (Geschlechterdemokratie). Demokratische Politik- und Interessenvermittlung, so wird das Eingangskapitel belegen, stützt sich auf gelingende politische Sozialisation sowie auf Bürgerbeteiligung und politische Partizipation. Gezeigt wird im Theorieteil weiterhin, dass politische Partizipation Macht ermöglicht, aber auch begrenzt und dass die demokratische Qualität von Politik- und Interessenvermittlung an die Existenz von politischer Öffentlichkeit gebunden ist. Dabei wird nachvollziehbar und demokratietheoretisch fundiert, warum es sich hierbei um Grundbegriffe der Politischen Soziologie handelt (Kap. 2). Diese bilden das Scharnier zwischen der theoretischen Rahmung (Wissenschaftsbegriff, Gegenstand und Demokratietheorie) und der Darstellung und kritischen Bewertung von empirischen Befunden der Kommunikationsleistungen des Parlaments (Kap. 3) und der intermediären Organisationen auf den Feldern der Politik- und Interessenvermittlung (Kap. 4). Insbesondere aber begründet die Behandlung der Grundbegriffe die zentrale Leitfrage einer praxisorientierten Demokratieforschung, die sich wie ein erkenntnisleitender Faden durch die Abhandlung zieht, nämlich: Was kann die Politische Soziologie zur Empirie der Politik- und Interessenvermittlung intermediärer Kißler, Politische Soziologie. ISBN 978-3-8252-2925-2 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2007 17 Einleitung Organisationen sagen? Infrage steht demnach die politische Kommunikationsleistung der maßgeblichen politischen und intermediären Akteure: des Parlaments (am Beispiel des Deutschen Bundestags), der politischen Parteien und Verbände, der Bürgerinitiativen und Neuen sozialen Bewegungen, der Massenmedien, der neuen Informationsund Kommunikationstechnologien sowie der Arbeitsorganisationen. Die Darstellung erfolgt dabei jeweils nach dem gleichen Muster: In einem ersten Schritt beleuchtet sie den normativen Horizont (wie z. B. Art. 21 GG für die politischen Parteien oder Art. 5 GG für die Massenmedien), aus dem sich die Politik- und Interessenvermittlungsaufgaben der jeweiligen intermediären Organisation als Beitrag zur politischen Öffentlichkeit ableiten, um sodann in einem zweiten Schritt die Norm mit der Wirklichkeit von politischen Kommunikationsleistungen zu konfrontieren. Dabei werden empirische Befunde der Parteien-, Verbände-, Bewegungs- und Medienforschung aufbereitet. Sie dienen der Beantwortung von drei erkenntnisleitenden und die Darstellung zu den jeweiligen Kommunikationsakteuren strukturierenden Fragen, nämlich: (1) Wie gestaltet sich das Austauschverhältnis zwischen Organisation (politischer Partei, Verband, Bürgerinitiative etc.) einerseits und der Organisationsumwelt (aus Bürgerinnen und Bürgern, Publikum und gesellschaftlichen Akteuren) andererseits? Dies ist die Frage nach der Kommunikationsleistung und öffentlichkeitsbezogenen Politik- und Interessenvermittlung nach außen hin. (2) Wie gestaltet sich die politische Kommunikation im Binnenbereich (z. B. zwischen Organisationsmanagement und Mitgliedern)? Hier geht es um die Konstitutionsbedingungen von Organisationsöffentlichkeit und damit um die Frage nach der innerorganisatorischen Demokratie. Und schließlich: (3) Wie gestaltet sich das Austauschverhältnis zwischen intermediären Organisationen und politisch-administrativem System? Hier stehen die formellen und informellen Strukturen von Macht und Einfluss des Organisationshandelns auf den politischparlamentarischen Prozess zur Diskussion und damit ein Leitthema der parlamentarischen Demokratie: die Öffentlichkeitsfunktion jener Organisation, die dem politischen System seinen Namen gibt – des Parlaments. Diese Frage wird am Beispiel des Deutschen Bundestages beantwortet. Neben der politischen Kommunikationsleistung des Parlaments, das verfassungsgemäß das zentrale politische Öffentlichkeitsorgan im Austauschverhältnis zwischen politischadministrativem System und Gesellschaft darstellt, werden vor allem jene intermediären Einrichtungen in den Blick genommen, die – wie die politischen Parteien und Verbände – zu den traditionellen oder – wie die Bürgerinitiativen und Neuen sozialen Bewegungen – zu den neueren intermediären Akteuren gehören, die Politik- und Interessenvermittlung gestalten. Bekanntlich hängt die politische Kommunikationsleistung solcher Einrichtungen von der massenmedialen Verstärkung ihrer Politik- und Interessenartikulation ab. Darüber hinaus erbringen die Massenmedien originäre Kom18 Kißler, Politische Soziologie. ISBN 978-3-8252-2925-2 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2007 Einleitung munikationsleistungen (z. B. durch Agenda-Setting). Als »Mega-Agenturen« der politischen Kommunikation stehen sie bei der Beschreibung des intermediären Feldes an prominenter Stelle. Wer die Frage nach den Befunden von politischer Öffentlichkeit auf staatliche Einrichtungen, ihre gesellschaftlichen »Vorfeldorganisationen« oder auf den parlamentarischen Raum verkürzt, greift zu kurz. Das intermediäre Feld zwischen Staat und Gesellschaft wird maßgeblich auch von Wirtschafts- und Arbeitsorganisationen besetzt. Deshalb stehen nicht nur aus normativen Erwägungen (ökonomische Rationalität versus gesellschaftliche Vernunft, Halbierung versus Qualifizierung von Demokratie etc.) neben den politischen und gesellschaftlichen Akteuren auch Arbeitsorganisationen (Unternehmen und Betriebe) im Blickpunkt der Abhandlung. Das Spektrum der behandelten intermediären Organisationen ist zwar breit, aber nicht vollständig. Es wäre zu ergänzen durch Wissenschaftsorganisationen, religiöse und kulturelle Organisationen u. a. m., die ebenfalls Politik- und Interessenvermittlung betreiben. Die Begrenzung des Gegenstandes auf die genannten Organisationen ist jedoch nicht nur dem begrenzten Raum geschuldet, sondern auch inhaltlich begründet. Im Zentrum stehen jene Einrichtungen, die in der wissenschaftlichen Wahrnehmung das intermediäre Feld nachhaltig bearbeiten und zu deren Vermittlungsleistung quantitativ umfangreiche und qualitativ bedeutende forschungsgestützte Aussagen vorliegen, die eine politisch-soziologische Einführung hinreichend untermauern können. Die behandelten intermediären Organisationen gehören zum Traditionsbestand der empirischen politikwissenschaftlichen und soziologischen Forschung (z. B. Parteienforschung, Mediensoziologie etc.). Neben dieser Fokussierung auf der horizontalen Ebene wird der Gegenstand auch in der Vertikalen begrenzt. Seine europäische Dimension bleibt weitgehend außen vor, das Mehrebenensystem der Politik- und Interessenvermittlung wird ausschließlich in seinem deutschen national-spezifischen Raum ausgeleuchtet. Neben diesen sachlichen Begrenzungen des Gegenstandes wird die Darstellung einer weiteren thematischen Konzentration unterzogen. Diese ist der im Theoriekapitel dargelegten demokratiewissenschaftlichen Perspektive geschuldet. Behandelt werden nicht sämtliche Facetten der jeweiligen Organisation (z. B. Genese, Struktur, Programmatik und Strategien), sondern nur jene Bereiche, die empirisch begründete Antworten auf die oben dargelegten Leitfragen liefern. Hierzu zählen vor allem Herrschaftsstruktur und Sozialprofil (des Parlaments), Oligarchisierungstendenzen, Mitgliederpartizipation (in Parteien und Verbänden), Interessenselektion und Kompetenzerwerb (durch und in Bürgerinitiativen und Neue(n) soziale(n) Bewegungen), innere und äußere Pressefreiheit, Öffentlichkeitsproduktion und Rezeption sowie Mediatisierungsprozesse (im Bereich der Massenkommunikation), Segmentierung und Polarisierungstendenzen der politischen Kommunikation (im Internet) sowie Entwicklung und Zerfall neuer Formen von Organisations- und gesellschaftlicher Produktionsöffentlichkeit durch Beschäftigtenpartizipation (in Wirtschaftsunternehmen und Verwaltungseinrichtungen). Kißler, Politische Soziologie. ISBN 978-3-8252-2925-2 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2007 19 Einleitung Die Abhandlung der einzelnen Abschnitte konfrontiert jeweils die normativen Grundlagen mit den empirischen Befunden. Dabei werden Widersprüche zwischen Norm und Wirklichkeit der politischen Kommunikationsleistung intermediärer Organisationen deutlich und Defizite, aber auch Chancen für eine institutionell erneuerte und kommunikativ gestärkte Praxis demokratischer Politik- und Interessenvermittlung erkennbar. Aus der Diskrepanz zwischen Norm und Wirklichkeit bezieht die Darstellung ihre kritische Dimension. Kritik heißt dabei Konfrontation der Praxis mit dem (z. B. in einer Parteiprogrammatik) selbstgesteckten oder von der Verfassung formulierten Anspruch auf Mitwirkung an der demokratischen Politik- und Interessenvermittlung. Die Konfrontation von Norm und Wirklichkeit öffnet darüber hinaus aber auch Quellen, aus denen sich die weitere Argumentation speist (vgl. Kap. 5). Sie richtet den Blick auf die soziale Verortung demokratischer Politik- und Interessenvermittlung und damit auf die (zivil-)gesellschaftlichen Grundlagen einer qualifizierten Demokratie. Diese hat zivilgesellschaftliche Voraussetzungen im bürgerschaftlichen Engagement und in der Partizipation von politisch bewussten und beteiligungskompetenten Bürgerinnen und Bürgern. Sie sind Gegenstand der abschließenden Erörterung, mit der die Darstellung auf den weiten Horizont von Politischer Soziologie als Demokratiewissenschaft verweist und bislang unbestellte oder unzureichend bearbeitete Forschungsfelder markiert (vgl. Kap. 6). Zur Textgestaltung Ein Studienbuch richtet sich vornehmlich – wie der Name schon sagt – an Studierende. Diese sind gemeinhin interessiert an einer ihrer Vorbildung gemäßen und der Alltagspraxis entlehnten sprachlichen Textabfassung. Eine als »Soziologiechinesisch« etikettierte Fachsprache wird da leicht zum Ärgernis. Gleichwohl ist sie unvermeidlich; denn Fachbegriffe sind häufig Theoriebegriffe und als solche »Werkzeuge« zur wissenschaftlichen Erkundung der sozialen Wirklichkeit. Adressatenbewusste Textgestaltung erfordert hier Augenmaß und ein ständiges Bemühen um Verständlichkeit, indem unvermeidbare Fachbegriffe erklärt und unnötige vermieden werden. Darüber hinaus schließt jedes Kapitel mit einer Zusammenfassung. Schaubilder, Tabellen und Übersichten visualisieren wesentliche inhaltliche Aussagen. Politische Soziologie als Demokratiewissenschaft interessiert Studierende aus Politikwissenschaft und Soziologie, aber auch aus sozialwissenschaftlichen Lehramtsstudiengängen. Diese nutzen ein Studienbuch, dessen Gegenstand disziplinenübergreifend angelegt ist, vor allem dann mit Gewinn, wenn die disziplinären Wurzeln der einzelnen Sichtweisen auf den Gegenstand offengelegt werden und gezeigt wird, wo die dargestellten Ergebnisse in der eigenen Disziplin anschlussfähig sind. So dürften Soziologiestudierende vor allem an den Befunden der Parlamentssoziologie, Studie20 Kißler, Politische Soziologie. ISBN 978-3-8252-2925-2 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2007 Einleitung rende aus der Politikwissenschaft zum Beispiel an den Erkenntnissen der politischen Parteienforschung, andere wiederum an Inhalten, die der Mediensoziologie entlehnt sind, interessiert sein und jeweils für Lehrveranstaltungen in ihrem Fach nutzen wollen. Mit Hinweisen auf die disziplinären Quellen und »strategischen Koppelungen« zwischen politisch-soziologischer Forschung und disziplinenorientierter Lehre versucht die Abhandlung, dem Rechnung zu tragen. Der Text richtet sich auch an Lehrende der sozialwissenschaftlichen Disziplinen. Er bereitet deshalb die Ergebnisse von Forschungsvorhaben aus Parlaments-, Parteien-, Medienwissenschaft sowie arbeits- und verwaltungssoziologischer Provenienz auf, greift auf Befunde der Sozialisations- und Partizipationsforschung zurück und markiert vor allem auch Forschungsdesiderate. Damit ist der Anspruch verbunden, Hinweise auf offene Forschungsfragen und mögliche -themen im sozialwissenschaftlichen Umfeld der Politischen Soziologie zu geben, aber auch den dargelegten Stoff als »Steinbruch« zu öffnen, aus dem für andere thematisch verwandte Lehrvorhaben jeweils geeignete Bausteine gewonnen werden können. Vor allem der Hauptteil des Textes (Kap. 4) soll den Anspruch auf disziplinenübergreifende Anschlussfähigkeit einlösen. Hierzu dienen u. a. »Literaturempfehlungen«, mit denen jedes Kapitel schließt. Diese Literaturhinweise werden so gewählt, dass sie jeweils den dargelegten Stoff in einen disziplinären Bezug stellen und dadurch Wege zum vertiefenden Weiterstudium im eigenen Fach öffnen. Literaturempfehlung Bach, Maurizio (2004): Denken Soziologen anders über Politik als Politikwissenschaftler? Zur Eigenständigkeit der politischen Soziologie. In: Soziologie, 33. Jg., H. 2, S. 17–34 Kißler, Politische Soziologie. ISBN 978-3-8252-2925-2 © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2007 21