Heidegger und der Humanismus

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HJb 10/16 / p. 1 / 31.1.2017
Heidegger-Jahrbuch 10
Heidegger und der Humanismus
VERLAG KARL ALBER
A
HJb 10/16 / p. 2 / 31.1.2017
Heidegger-Jahrbuch
Herausgeber:
Alfred Denker und Holger Zaborowski
Mitglieder des wissenschaftlichen Beirates:
Pierre Aubenque (Paris)
Damir Barbarić (Zagreb)
Rudolf Bernet (Leuven)
Walter Biemel † (Aachen)
Stephanie Bohlen (Freiburg)
Thomas Buchheim (München)
Hartmut Buchner † (Grassau-Rottau)
Adrian Gabriel Cercel (Bukarest)
Chen Xiaowen (Beijing)
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Ion Copoeru (Cluj-Napoca)
Paola-Ludovika Coriando
(Innsbruck)
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Françoise Dastur (Nizza)
Pascal David (Brest)
Jacques Derrida † (Paris)
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Markus Enders (Freiburg)
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Daniel Ferrer (Mount Pleasant)
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Oudemans (Leiden)
Chan Kook Park (Seoul)
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Herman Philipse (Utrecht)
Claude Piché (Montréal)
Otto Pöggeler † (Bochum)
Manfred Riedel † (Halle / Saale)
John Sallis (Boston)
Sun Zhouxing (Shanghai)
Jacques Taminiaux (Chestnut Hill)
Rainer Thurnher (Innsbruck)
Peter Trawny (Wuppertal)
Gianni Vattimo (Turin)
Jean-Marie Vaysse (Toulouse)
Ben Vedder (Nijmegen)
Helmuth Vetter (Wien)
Franco Volpi † (Padua)
Angel Xolocotzi (Puebla)
HJb 10/16 / p. 3 / 31.1.2017
Heidegger-Jahrbuch 10
Heidegger
und der
Humanismus
Herausgegeben von
Alfred Denker
Holger Zaborowski
Verlag Karl Alber Freiburg / München
HJb 10/16 / p. 4 / 31.1.2017
Die Beiträge dieses Bandes des Heidegger-Jahrbuches gehen auf eine Konferenz
zurück, die im Dezember 2012 an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar (PTHV) stattfand. Die Herausgeber danken der PTHV für
die großzügige Förderung dieser Konferenz.
Originalausgabe
© VERLAG KARL ALBER
in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017
Alle Rechte vorbehalten
www.verlag-alber.de
Umschlagmotiv: Martin Heidegger um 1960, Martin-Heidegger-Archiv, Meßkirch
Satz: SatzWeise GmbH, Trier
Herstellung: Těšínská Tiskárna AG, Český Těšín
Printed in Czech Republic
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei)
Printed on acid-free paper
ISBN 978-3-495-45710-8
HJb 10/16 / p. 5 / 31.1.2017
5
Inhalt
Interpretationen
Alfred Denker
Martin Heideggers „Brief über den ‚Humanismus‘“.
Eine biographische und werkgeschichtliche Einordnung . . . . . . .
Eduard Zwierlein
Sinnen und Sorgen, dass der Mensch menschlich sei.
Heideggers Ansatz für die humanitas im „Wesen“ des Menschen
als Ek-sistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
20
Ralf Elm
Im Freien? – Platons Ideenoptik und Heideggers Aufenthaltsdenken.
Zur Bedeutung der Feldweg-Gespräche für den „Humanismusbrief“ . 34
Charles Bambach
Ethos – Aufenthalt.
Heideggers heraklitische Kritik an der metaphysischen Ethik . . . . 62
István M. Fehér
„Das zureichende Sagen dieser Kehre.“
Heideggers Rückblick auf Sein und Zeit in seinem
„Humanismusbrief“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
Günther Neumann
Sein des Menschen, Ethos und Freiheit in Martin Heideggers
„Brief über den ‚Humanismus‘“ und Sein und Zeit . . . . . . . . . . 102
Željko Radinković
Von der existentialen Möglichkeit zum mögenden Vermögen der
Seinsgeschichtlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
Werner Moskopp
Meta-, Post- und Neo-Ethik – Über die Aufgabe des Denkens . . . . 134
Annette Hilt
Geschichtlichkeit des Humanismus, Unergründlichkeit der
Menschen und der Takt, die Frage nach dem Humanum zu stellen . . 148
Heidegger-Jahrbuch 10
HJb 10/16 / p. 6 / 31.1.2017
Inhalt
6
Raimon Paez Blanch
Dasein und Mensch bei Heidegger.
Eine Überlegung anlässlich des „Humanismusbriefes“ . . . . . . . . 165
Tschasslaw D. Kopriwitza
Heidegger und der Anthropozentrismus . . . . . . . . . . . . . . . . 178
Ben Vedder
The Question of God in Heidegger’s “Letter on ‘Humanism’” . . . . 191
Anna Pia Ruoppo
„Wann werden Sie eine Ethik schreiben?“
Über Möglichkeiten und Grenzen einer Ethik im Denken Heideggers
Gabriel Cercel
Der andere Mensch. Zur dialogischen Wende der späten Hermeneutik
Heideggers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Jens Zimmermann
Irren ist menschlich. Heideggers Fehlinterpretation des Humanismus
Babette Babich
Heideggers „Brief über ‚Humanismus‘“.
Über die Technik, das Bösartige des Grimmes – und das Heilen . . .
198
210
223
237
Holger Zaborowski
Bedingungen und Möglichkeiten des Humanismus – heute.
Jaspers, Heidegger und Levinas zur Frage nach dem Menschen . . . 251
Vincent Blok
Denken als Handlung. Heideggers Besinnung auf das Wesen des
Menschen im Zeitalter des human enhancement . . . . . . . . . . . . 265
Abstracts
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280
Heidegger-Jahrbuch 10
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Interpretationen
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HJb 10/16 / p. 9 / 31.1.2017
9
Martin Heideggers „Brief über den ‚Humanismus‘“.
Eine biographische und werkgeschichtliche Einordnung
Von
Alfred Denker
Vallendar
Jean Beaufret schrieb am 6. November 1945 seinen ersten Brief an Martin
Heidegger. Er drückte in diesem Brief seine Bewunderung für Heideggers Denken aus und berichtete, mit welcher Erleichterung er erfahren habe, dass es Heidegger gut gehe. Sollte er Bücher brauchen, dann würde Beaufret sich bemühen,
ihm diese zukommen zu lassen. Vor allem aber hoffte er, dass bald eine persönliche Begegnung möglich sein würde. Am 12. September 1946 besuchte Jean
Beaufret Martin Heidegger zum ersten Mal auf der Hütte in Todtnauberg. Aus
dieser ersten Begegnung entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft und ein
denkerisches Gespräch.
Am 10. November 1946 schrieb Beaufret Heidegger einen Brief, in dem er
sich mit folgender Anfrage an ihn wandte:
Wie können wir dem Wort ‚Humanismus‘ wieder Sinn geben? Das, was ich schon seit
langem versuche, ist, das Verhältnis zwischen der Ontologie und einer möglichen Ethik
zu präzisieren. Wie können wir das Element des Abenteuers, das alle Forschung beflügelt, retten, ohne die Philosophie zu einer einfachen Abenteuerin zu machen?
Der Brief wurde erstmals in der niederländischen Ausgabe von Chris
Bremmers veröffentlicht. 1 Heideggers Antwort auf Beaufrets Fragen wurde
1947 unter dem Titel „Brief über den ‚Humanismus‘“ gemeinsam mit „Platons
Lehre von der Wahrheit“ im schweizerischen Verlag Francke veröffentlicht.
Ehe wir uns mit dem Inhalt des sogenannten „Humanismusbriefes“ befassen, ist es gut, kurz einen Blick auf das biographische Umfeld dieses Textes zu
werfen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kehrte Heidegger von Hausen
im Tal nach Freiburg zurück. Die philosophische Fakultät war 1945 von Freiburg auf die Burg Wildenstein an der Donau und damit in die unmittelbare
Nähe seiner Heimatstadt Meßkirch verlagert worden. Er verbrachte dort die
Frühlingsmonate mit Kollegen und Studenten und wohnte bei der Prinzessin
1
Martin Heidegger, Brief over het humanisme, Budel 2006. Die drei Fragen lauten im französischen Original: „Comment redonner un sens au mot ‚Humanisme‘ ? Ce que je cherche à faire,
depuis longtemps déjà, c’est préciser le rapport de l’ontologie avec une éthique possible? Comment sauver l’élément d’aventure que emporte toute recherche, sans faire de la philosophie une
simple aventurière?“
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Alfred Denker
10
von Sachsen Meiningen, einer ehemaligen Studentin, die im Forsthaus vom
Schloss Hausen mit ihrer Tochter und anderen Verwandten lebte. Die Liebschaft zwischen der Prinzessin und dem Denker wird später ein peinliches Ende
finden.
Die Ehe mit seiner Frau Elfride war damals in einer tiefen Krise. Dies war
einer von zwei Gründen, die zu einem Zusammenbruch Heideggers führten.
Der andere war die Entnazifizierung, der Heidegger sich aussetzen musste. Als
Rektor der Freiburger Universität vom April 1933 bis zum April 1934 war es
unvermeidbar, dass er zur Verantwortung gezogen werden würde. Der Prozess
fand erst 1947 mit seinem Lehrverbot eine Entscheidung und 1949 mit der Pensionierung und Aufhebung des Lehrverbots ein Ende. Vom Februar bis Mai
1946 wurde Heidegger in Badenweiler in der Klinik von Viktor Emil von Gebsattel behandelt. Hier kam er zur Ruhe und fand auch wieder zu seiner Arbeit.
Der erste Brief von Beaufret kam für Heidegger also zum richtigen Zeitpunkt. Seine Situation in Freiburg war sehr fraglich. Die Zahlungen der Universität wurden eingestellt, und es drohten Stafmaßnahmen wie die Beschlagnahmung seiner Bibliothek. Heidegger wird darüber überrascht gewesen sein,
wie stark die Wirkung seines Denkens und wie groß das Interesse in Frankreich
war. Hinzu kam, dass Freiburg in der französischen Besatzungszone lag und
gute Kontakte zu französichen Behörden über die Vermittlung französischer
Intellektueller nicht schaden konnten. Beaufrets Brief vom 10. November 1946
bot Heidegger eine unerwartete Möglichkeit, nach mehr als 15 Jahren des
Schweigens seine Stimme erneut hören zu lassen. Die letzte umfangreiche Veröffentlichung Kant und das Problem der Metaphysik und die beiden wichtigen
kleinen Texte, „Vom Wesen des Grundes“ und „Was ist Metaphysik?“ waren ja
bereits 1929 erschienen. Seitdem hatte Heidegger kaum noch etwas veröffentlicht.
Nun hatte er zwei Anliegen: 1. Er wollte den Lesern seinen Denkweg von
Sein und Zeit bis zu seinem damaligen Denken nachvollziehbar machen. 2. Er
wollte die Gelegenheit nutzen, in die damalige Debatte um den Humanismus
einzugreifen. Sartre hatte 1945 einen Vortrag zum Thema gehalten, der ein Jahr
später unter dem Titel „L’existentialisme est un humanisme“ in Paris veröffentlicht worden war. Heideggers „Brief über den ‚Humanismus‘“ ist teilweise eine
Kritik von Sartre.
Nach dieser kurzen Skizze von Heideggers Lebensumständen in den Jahren
1945 und 1946 können wir uns mit dem Inhalt des „Humanismusbriefes“ befassen. Auf den ersten Seiten, die wir als eine Einleitung lesen können, entfaltet
Heidegger einen entscheidenden Gedanken:
Das Denken vollbringt den Bezug des Seins zum Wesen des Menschen. Es macht und
bewirkt diesen Bezug nicht. Das Denken bringt ihn nur als das, was ihm selbst vom Sein
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Martin Heideggers „Brief über den ‚Humanismus‘“
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übergeben ist, dem Sein dar. Dieses Darbieten besteht darin, daß im Denken das Sein zur
Sprache kommt. Die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt der
Mensch. 2
Zum Wesen des Menschen gehört der Bezug zum Sein, der in der Sprache
von Sein und Zeit noch als Seinsverständnis bezeichnet wurde. 3 Jetzt aber,
20 Jahre später, wird dieser Bezug nicht mehr primär als ein Entwurf des Daseins gedacht. Das Wesen des Menschen macht und bewirkt diesen Bezug nicht,
sondern dieser lichtet sich im Denken. Erst innerhalb der Offenheit dieses Bezugs kann es das Dasein und das Sein geben. Dasein und Sein sind gleichursprünglich, obwohl das Sein das Gebende ist, das den Bezug dem Dasein
übergibt. Damit sind wir wieder am Anfang von Heideggers Denkweg, in dem
das „Es gibt“ als das eigentlich Erstaunliche herausgestellt wurde. Im Zuge seiner geschichtlichen Entfaltung ist aber das Denken selbst, vereinfachend gesagt,
so vom Seienden der Welt in Beschlag genommen worden, dass dieses Sein
selbst in seinem „Es gibt“ vergessen wurde. Das Sein gibt es nur als Sinn, und
deshalb kommt das Sein nur im Denken zur Sprache. Heidegger verwendet hier
die von ihm geprägte und dann berühmt gewordene Metapher von der Sprache
als dem „Haus des Seins“. Diese ist aber zugleich auch irreführend, weil sie den
Bezug von Sein und Zeit zum Verschwinden bringt und daher Gefahr läuft, die
Sprache zu vergegenständlichen. Daher wird Heidegger diese Metapher später
auch durch die Wendung „Die Sprache spricht“ ersetzen. 4
Heidegger greift die erste Frage von Beaufret auf:
Sie fragen: „Comment redonner un sens au mot ‚Humanisme‘ ?“ Diese Frage kommt aus
der Absicht, das Wort ‚Humanismus‘ festzuhalten. Ich frage mich, ob das nötig ist. Oder
ist das Unheil, das alle Titel dieser Art anrichten, noch nicht offenkundig genug? 5
Wie alle „-ismen-“ ist auch der Begriff „Humanismus“ ein metaphysischer
und gehört zur Geschichte der Metaphysik, die sich als Nihilismus vollendet
habe. Der Humanismus bestimme daher das Wesen des Menschen auch nicht
von seinem Bezug zum Sein, sondern von der humanitas her.
Jede Bestimmung des Wesens des Menschen, die schon die Auslegung des Seienden ohne
die Frage nach der Wahrheit des Seins voraussetzt, sei es mit Wissen, sei es ohne Wissen,
ist metaphysisch. 6
2
3
4
5
6
Martin Heidegger, Über den Humanismus, Frankfurt am Main 1949, 5.
Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 131976, 183. „Sein aber ‚ist‘ nur im Verstehen des
Seienden, zu dessen Sein so etwas wie Seinsverständnis gehört.“
Martin Heidegger, „Die Sprache“, in: Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache, Pfullingen
1959, 12.
Martin Heidegger, Über den Humanismus, 7.
Martin Heidegger, Über den Humanismus, 12
Heidegger-Jahrbuch 10
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Alfred Denker
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Jede Auslegung der humanitas des Menschen ist als solche seinsvergessen
und gehört in eine bestimmte Epoche innerhalb der Geschichte der Metaphysik.
Die verschiedenen geschichtlichen Formen des Humanismus sind Konkretisierungen von metaphysischen Grundstellungen, die alle eine gemeinsame Voraussetzung teilen: Der Mensch ist das animal rationale. Die Auslegung des
Menschen als vernunftbegabtes Tier geht nach Heidegger auf die griechische
Auslegung des Wesens des Menschen als eines Lebewesens zurück, das die Sprache hat. Auf die Problematik dieser Interpretation des Menschen hat Heidegger
bereits in Sein und Zeit ausführlich hingewiesen. 7 Die Metaphysik ist in ihrer
ganzen Geschichte humanistisch und anthropozentrisch geprägt, was nichts anderes bedeutet, als dass der Mensch als das Zentrum alles Seienden verstanden
wird, so dass dessen Bezug zum Sein vergessen bleibt.
Wie wir bereits früher gesehen haben, „stellt die Metaphysik zwar das Seiende in seinem Sein vor und denkt so das Sein des Seienden. Aber sie denkt nicht
den Unterschied beider. Die Metaphysik fragt nicht nach der Wahrheit des Seins
selbst.“ 8 Diese Wahrheit des Seins ist aber geschichtlich und deshalb zugleich
eine zeitliche. In seinem „Brief über den ‚Humanismus‘“, der noch immer in
das Projekt „Sein und Zeit“ gehört, versucht Heidegger einerseits die Grenzen
der Metaphysik (und des Humanismus) zu bestimmen, andererseits aber auch
die Sprache über diese Grenzen hinauszuführen. Dies ist ein schwieriges Unterfangen, das Heidegger nicht immer gelingt, wie man an der etwas missglückten
Metapher von der Sprache als des „Hauses des Seins“ sieht. Im folgenden Absatz aus dem „Humanismusbrief“ wählt Heidegger daher auch eine andere Metapher, die weniger missverständlich ist:
Der Mensch ist vielmehr vom Sein selbst in die Wahrheit der Seins „geworfen“, daß er,
dergestalt ek-sistierend, die Wahrheit des Seins hüte, damit im Lichte des Seins das Seiende als das Seiende, das es ist, erscheine. Ob es und wie es erscheint, ob und wie der Gott
und die Götter, die Geschichte und die Natur in die Lichtung des Seins hereinkommen,
an- und abwesen, entscheidet nicht der Mensch. Die Ankunft des Seienden beruht im
Geschick des Seins. Für den Menschen bleibt die Frage, ob er das Schickliche seines
Wesens findet, das diesem Geschick entspricht; denn diesem gemäß hat er als Ek-sistierender die Wahrheit des Seins zu hüten. Der Mensch ist der Hirt des Seins. Darauf allein
denkt „Sein und Zeit“ hinaus, wenn die ekstatische Existenz als „die Sorge“ erfahren ist. 9
Das Ur-Faktum der menschlichen Existenz ist das Geworfen-sein in die
Wahrheit des Seins, die es zu hüten gilt, weil nur dann das Seiende als das Seiende, das es selbst ist, erscheinen kann. Hier gehen, so könnte man also sagen, die
Phänomenologie – Heideggers anfängliche „Methode“ für den Zugang zu den
7
8
9
Martin Heidegger, Sein und Zeit, 44.
Martin Heidegger, Über den Humanismus, 12.
Martin Heidegger, Über den Humanismus, 19. Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, § 44 a,
226 ff.
Heidegger-Jahrbuch 10
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Martin Heideggers „Brief über den ‚Humanismus‘“
13
Dingen in ihrem Sein – und die Gelassenheit – seine spätere Haltung des besinnlichen Denkens – ineinander über. Oder anders gesagt: Die wahre Phänomenologie zeigt sich nun für Heidegger in der rechten Gelassenheit zu den Dingen
(dem Seienden) und der Offenheit für das Geheimnis (der Wahrheit des Seins).
Dies markiert auch den Punkt auf seinem Denkweg, an dem sich alles umkehrt:
die sogenannte Kehre vom Dasein zum Sein. Diese Kehre resultierte nicht zuletzt aus Heideggers Einsicht, dass Sein und Zeit selbst noch der Geschichte der
Metaphysik des Subjekts verhaftet blieb und er mit der dort verwendeten Sprache nicht zu dem durchkommen konnte, was eigentlich zu sagen war.
Nicht der Mensch ist es, der darüber entscheidet, ob etwas und wie etwas
zur Erscheinung kommt, sondern es ist das Sein selbst, das alles in seine Lichtung kommen lässt. Die Metapher der Lichtung hat Heidegger in seinem Spätwerk in einer dreifachen Bedeutungshinsicht häufig verwendet. Erstens können
wir die Lichtung des Seins entsprechend der Lichtung im Wald als einen Ort
verstehen, der allerdings ein jeweils geschichtlicher ist. Das Sein des Seienden
wird vom Sein je anders geschickt, und diese Schickungen werden in den metaphysischen Grundstellungen des abendländischen Denkens zur Sprache gebracht. Die Ortschaft der Lichtung ermöglicht es Heidegger aber auch, eine
Topologie des Seins zu entfalten, deren metaphysische Grundstellungen als
Epochen der Seinsgeschichte gedeutet werden können.
Die Lichtung des Seins meint zudem, zweitens, das Geschehen des SichLichtens. Das Sein lichtet sich, so wie der Nebel sich lichtet. Der Nebel ist die
Metaphysik und erst, wenn diese sich lichtet, können wir das Sein selbst erfahren. Wie aber lässt sich diese Erfahrung zur Sprache bringen, ohne gleich wieder
in die metaphysische Begrifflichkeit zurückzufallen, von der unser ganzes Sein
und Denken durchdrungen ist? In Aus der Erfahrung des Denkens hat Heidegger versucht, dieses Sich-Lichten des Seins anzudeuten: „Aber das denkende
Dichten ist in der Wahrheit die Topologie des Seins.“ 10 Dieser Hinweis ist aber
nicht im Sinne des propositionalen Gehalts einer Aussage zu verstehen, sondern
vielmehr als ein Wink, der uns in die Lichtung des Seins selbst weisen will. Und
jeder Versuch einer weiteren begrifflichen Bestimmung des Seins würde nur
wieder dazu führen, sich in der Sprache der Metaphysik zu verfangen.
Die Lichtung des Seins ist, drittens, die Unverborgenheit. Das Dunkel der
Verborgenheit lichtet sich. In diesem Licht kann das Seiende erst erscheinen und
den Menschen angehen. Dasein und Sein gibt es nur in gleichursprünglicher
Weise. Wahrheit und Unwahrheit, Entbergung und Verbergung ereignen sich.
Während in Sein und Zeit noch das Dasein des Menschen im Mittelpunkt
stand, wird nach der Kehre 11 die Abhängigkeit des Menschen vom Sein von
zentraler Bedeutung werden.
10
11
Martin Heidegger, Aus der Erfahrung des Denkens, Pfullingen 1954, 23.
Martin Heidegger, Über den Humanismus, 17. „Hier kehrt sich das Ganze um. Der fragliche
Heidegger-Jahrbuch 10
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Alfred Denker
14
So kommt es denn bei der Bestimmung der Menschlichkeit des Menschen als der Eksistenz darauf an, daß nicht der Mensch das Wesentliche ist, sondern das Sein als die
Dimension des Ek-statischen der Ek-sistenz. 12
Sein meint hier das Zeit-Raum-Spiel, als welches das Sein sich ereignet. Das
Sein des Menschen ist formal angezeigt die Ek-sistenz, also Ausstehen-in. Der
Mensch ek-sistiert, steht aus, in der Wahrheit des Seins, die sich geschichtlich in
der Metaphysik niedergeschlagen hat. Die Wahrheit des Seins ist metaphysisch
verstanden die Anwesenheit. In der Metaphysik wird das Zeit-Raum-Spiel als
Anwesenheit erfahren und gedacht. Was dabei allerdings verborgen bleibt, ist
das Ereignis, das darin besteht, dass sich die Wahrheit des Seins im Wechselspiel
von Sein und Dasein ereignet. Beide werden nun erst in ihr Eigenes gebracht.
„Daß aber das Da, die Lichtung als Wahrheit des Seins selbst, sich ereignet, ist
die Schickung des Sein selbst.“ 13 Die Ankunft des Seins ist ein Geschick, das es
gibt. Heidegger hätte hier besser von der Schickung des „Seyns“ gesprochen,
weil sie sich als Wahrheit des Seins metaphysisch lichtet. Da die Geschichte der
Metaphysik sich als Nihilismus vollendet hat, ist der Mensch dazu aufgerufen,
„die Wächterschaft für das Sein, also die Sorge für das Sein“ 14 zu übernehmen.
Wie aber kann der Mensch diese Sorge für das Sein übernehmen? Und wie
kann diese Sorge angesichts der allgemein herrschenden Sprachnot so zum Ausdruck kommen, dass dabei das Sein selbst noch vernehmbar bleibt? Anfang der
1930er Jahre sah Heidegger die dringlichste Herausforderung der Gegenwart
darin, den Nihilismus zu überwinden. Die Ereignisse von 1933 waren für ihn
ein Zeichen, dass das Sein sich neu zu lichten begann und dieses Seinsgeschick
zur Umwälzung des ganzen deutschen Daseins führen könnte. Nach dem Scheitern des Rektorats und der daran geknüpften Hoffnung auf eine Erneuerung der
Metaphysik sieht er nun jedoch für das Denken eine ganz neue Aufgabe. Es gilt
zunächst, die Metaphysik in ihrer ganzen Geschichte zu interpretieren und ihre
Grenzen sichtbar zu machen; in einem zweiten Schritt muss dann der in Sein
und Zeit eingeschlagene Weg, der am Ende in eine Sackgasse geführt hat, revidiert und ein anderer, neuer Weg eingeschlagen werden. Der „Humanismusbrief“ kann insofern auch als eine Selbstkritik von Sein und Zeit gelesen werden
und als der Versuch, nun über die Grenzen der Metaphysik hinauszugelangen.
Nachdem Heidegger in diesem Brief zunächst den klassischen Humanismus als einen solchen herausgestellt hat, der den Grenzen der Metaphysik ver-
12
13
14
Abschnitt wurde zurückgehalten, weil das Denken im zureichenden Sagen dieser Kehre versagte und mit Hilfe der Sprache der Metaphysik nicht durchkam. Der Vortrag ‚Vom Wesen der
Wahrheit‘, der 1930 gedacht und mitgeteilt, aber erst 1943 gedruckt wurde, gibt einen gewissen
Einblick in das Denken der Kehre von ‚Sein und Zeit‘ zu ‚Zeit und Sein‘.“
Martin Heidegger, Über den Humanismus, 22.
Martin Heidegger, Über den Humanismus, 24.
Martin Heidegger, Über den Humanismus, 29.
Heidegger-Jahrbuch 10
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Martin Heideggers „Brief über den ‚Humanismus‘“
15
haftet und damit auch der Seinsvergessenheit verfallen blieb, wendet er sich Beaufrets zweiter Frage zu:
Wenn aber die Humanitas so wesenhaft für das Denken des Seins im Blick steht, muß
dann die ‚Ontologie‘ nicht ergänzt werden durch die ‚Ethik‘ ? Ist dann nicht Ihr Bemühen
ganz wesentlich, das Sie in dem Satz aussprechen: „Ce que je cherche à faire, depuis
longtemps déjà, c’est préciser le rapport de l’ontologie avec une éthique possible?“ 15
In seiner Antwort räumt Heidegger die Dringlichkeit dieser Frage nach
einer Ethik ein, weil diese sich ja nach der Vollendung des Nihilismus und angesichts der Not und Ratlosigkeit des heutigen Menschen unweigerlich aufdränge. Und dennoch: Alle traditionellen Antworten auf Fragen nach einem
guten und richtigen Leben haben zwar für Heidegger ihre Verbindlichkeit verloren, doch sieht er auch in dem Bedürfnis nach festen Regeln für unser Handeln und Leben nichts anderes als ein weiteres Symptom des Nihilismus, der
nun neben der Natur auch noch das eigene Leben unter die Macht des Subjekts
stellen wolle. Immer mehr werde so der Mensch zum Maß aller Dinge und verliere sich damit zunehmend im Nichts. Da der Mensch aber ein geschichtliches
Wesen sei und das Sein in jeder Epoche anders erfahren werde, könne es keine
ewigen Werte geben, die ihn in seinem Wesen bestimmen.
Schon Beaufrets Frage nach dem Verhältnis von Ontologie und Metaphysik
mache, so Heidegger, deutlich, dass sein Denken noch von der Seinsvergessenheit der Metaphysik geprägt sei. Auch der Begriff „Ethik“ gehöre noch ganz
und gar in die Tradition der abendländischen Metaphysik. 16 Das Wort „Ethik“
leitet sich vom griechischen Wort ethos her, das Heidegger anhand eines Spruchs
von Heraklit erläutert: „ethos anthropo daimon“. Die gängige Übersetzung lautet: „Seine Eigenart ist dem Menschen sein Dämon.“ 17 In Heideggers Augen
denkt diese Übersetzung, die nicht falsch ist, allerdings zu modern und vor
allem nicht griechisch. Er erläutert diesen Spruch daher auf folgende Weise:
„Der Spruch sagt: der Mensch wohnt, insofern er Mensch ist, in der Nähe des
Gottes.“ 18 Ethos bedeutet „Aufenthalt, Ort des Wohnens“ und meint damit den
„offenen Bezirk“. 19 In der Sprache von Sein und Zeit bedeutet ethos das Da.
Wenn wir das Da des Menschseins bedenken, dann bedenken wir den Ort seines
Wohnens und damit seinen ethos. Wir können daher Sein und Zeit nicht nur als
eine Fundamentalontologie, welche die Möglichkeitsbedingungen jeder Ontologie entwickelt, sondern auch als eine Fundamental- oder ursprüngliche Ethik
lesen. 20 Denn so wie die Fundamentalontologie die Möglichkeitsbedingungen
15
16
17
18
19
20
Martin Heidegger, Über den Humanismus, 38.
Martin Heidegger, Über den Humanismus, 39.
Martin Heidegger, Über den Humanismus, 39.
Martin Heidegger, Über den Humanismus, 39.
Martin Heidegger, Über den Humanismus, 39.
Martin Heidegger, Über den Humanismus, 41.
Heidegger-Jahrbuch 10
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Alfred Denker
16
der Ontologie erörtert, so erläutert die ursprüngliche Ethik die Möglichkeitsbedingungen jeder Ethik.
Nur sofern der Mensch, in der Wahrheit des Seins ek-sistierend, diesem Sein gehört,
kann aus dem Sein selbst die Zuweisung derjenigen Weisungen zukommen, die für den
Menschen Gesetz und Regel werden müssen. Zuweisen heißt griechisch nemein. Der
nomos ist nicht nur Gesetz, sondern ursprünglicher, die in der Schickung des Seins geborgene Zuweisung. […] Wesentlicher als alle Aufstellung von Regeln ist, daß der
Mensch zum Aufenthalt in die Wahrheit des Seins findet. Erst dieser Aufenthalt gewährt
die Erfahrung des Haltbaren. Den Halt für alles Verhalten verschenkt die Wahrheit des
Seins. „Halt“ bedeutet in unserer Sprache „Hut“. Das Sein ist die Hut, die den Menschen
in seinem ek-sistenten Wesen dergestalt zu ihrer Wahrheit behütet, daß sie die Ek-sistenz
in der Sprache behaust. 21
Um das in diesem Zitat Gedachte verstehen zu können, müssen wir einen
Schritt zurückgehen, denn Heideggers spätes Denken birgt stets die Gefahr in
sich, dass wir uns von seiner Sprachgewalt verführen lassen. Obwohl Heidegger
nicht explizit darauf hinweist, arbeitet er auch in den späteren Jahren oft mit
formalen Anzeigen, um uns gewisse Denkerfahrungen näher zu bringen. Das
Wesen des Daseins (also der Seinsweise des Menschen) ist seine Ek-sistenz.
Der Mensch steht immer schon aus in einem Da, welches Heidegger hier sowohl
die Wahrheit des Seins als auch die Lichtung des Seins nennt. Deutlicher als
Heidegger selbst es getan hat, sollte man hierbei allerdings den Unterschied
zwischen der Wahrheit des Seins (die in der Geschichte der Metaphysik erfahren
und in ihrer Grundstellung entfaltet wurde) und der Lichtung des Seyns herausstellen. Die Wahrheit des Seins ist die Lichtung des Seyns, in der sich das „Seyn“
zwar entbirgt, sich zugleich aber auch verbirgt. Der Unterschied zwischen beiden kann daher letztlich erst am Ende der Geschichte der Metaphysik erfahren
werden. Die Geschichte der Metaphysik, die sich in der planetarischen Herrschaft der Technik vollendet, ist die Schickung des „Seyns“. Daraus ergibt sich
zunächst die Aufgabe, sich der Grenzen der Metaphysik bewusst zu werden.
Wir können nicht einfach über diese Grenzen hinausspringen, weil unsere Sprache und damit auch unser Denken ganz von dieser metaphysischen Tradition
durchdrungen sind. Vor dem Anfang der Metaphysik gab es das Dichten und
dichterische Denken der Vorsokratiker und nun, da wir am Ende der Metaphysik angelangt sind, ist es wiederum die Dichtung (aber auch die bildende Kunst,
die eine Form der Dichtung ist), die über die Grenzen der Metaphysik hinauszuweisen vermag.
Um allerdings das Andere der Dichtung überhaupt hören zu können, müssen wir uns zuerst der Geschichte der metaphysischen Grundstellungen bewusst werden oder diese bis hinab in ihre Grundstellungen ab-bauen, de-struieren. Wir müssen wieder lernen, auf das Wort des „Seyns“ selbst zu hören und
21
Martin Heidegger, Über den Humanismus, 44 f.
Heidegger-Jahrbuch 10
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Martin Heideggers „Brief über den ‚Humanismus‘“
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uns dazu zu verhelfen; darin liegt das Bestreben von Heideggers spätem Denken. Er schreibt:
Das Sein kommt, sich lichtend, zur Sprache. Es ist stets unterwegs zu ihr. Dieses Ankommende bringt das ek-sisitierende Denken seinerseits in seinem Sagen zur Sprache. Diese
wird so selbst in die Lichtung des Seins gehoben. Erst so ist die Sprache in jener geheimnisvollen und uns doch stets durchwaltenden Weise. Indem die also voll ins Wesen gebrachte Sprache geschichtlich ist, ist das Sein in das Andenken verwahrt. Die Ek-sistenz
bewohnt denkend das Haus des Seins. In all dem ist es so, als sei durch das denkende
Sagen gar nichts geschehen. 22
Auch hier könnte man die Schreibweise „Seyn“ im Sinne einer formalen
Anzeige bevorzugen, denn es ist das „Seyn“, das sich lichtend als die Wahrheit
des Seins zur Sprache bringt. Die Wahrheit des Seins wird in der Geschichte der
Metaphysik in jeder Epoche anders erfahren und gesagt. Deshalb ist die Wahrheit des Seins ein geschichtliches Phänomen. Da das Sagen der Wahrheit des
Seins das Wesen der Sprache ist, ist auch die Sprache selbst geschichtlich. Das
Sein des Seienden ist im Andenken verwahrt. Dies bedeutet, dass nur in der
Destruktion der metaphysischen Grundstellungen die ursprünglichen Seinserfahrungen erfahrbar gemacht werden können.
Gleichzeitig aber gilt es auch, sich bewusst zu machen, dass die Lichtung
des Seyns eine Schickung ist. Die Zuweisung aus dem „Seyn“ kann daher nie
absolut verbindlich sein, weil die Lichtung ein Wechselspiel von Verbergung
und Entbergung ist. Das „Seyn“ lichtet sich als die Wahrheit des Seins. Aber
Wahrheit bedeutet für Heidegger Un-verborgenheit. Die Lichtung ist, anders
gesagt, ein Spiel von Licht und Schatten. In der Lichtung des Seyns west sowohl
das Sein als auch das Nichten. „Das Sein nichtet – als das Sein.“ 23 Das Denken
kann nur das Sein denken, wenn es zugleich das Nichts denkt. In einem für seine
„Ethik“ entscheidenden Absatz schreibt Heidegger:
Mit dem Heilen zumal erscheint in der Lichtung des Seins das Böse. Dessen Wesen besteht nicht in der bloßen Schlechtigkeit des menschlichen Handelns, sondern es beruht
im Bösartigen des Grimmes. Beide, das Heile und das Grimmige können jedoch im Sein
nur wesen, insofern das Sein selber das Strittige ist. 24
Die Lichtung des Seyns ist die Un-verborgenheit des Seins und damit das
Strittige. In der Un-verborgenheit des Seins bleibt das Nichts verborgen und in
der Un-verborgenheit des Nichts das Sein. Dieser Streit zwischen Sein und
Nichts wird in der Geschichte der Metaphysik ausgetragen. Was das Böse und
was das Heile ist, können wir nur selbst entscheiden. Jürgen Habermas hat Heidegger vorgeworfen: „[S]o löst er überhaupt seine Handlungen und Aussagen
von sich als empirischer Person ab und attribuiert sie einem nicht zu verantwor22
23
24
Martin Heidegger, Über den Humanismus, 45.
Martin Heidegger, Über den Humanismus, 44.
Martin Heidegger, Über den Humanismus, 43.
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Alfred Denker
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tenden Schicksal.“ 25 Ganz so einfach ist es aber nicht, denn Heidegger denkt das
Wesen der menschlichen Freiheit in der Nachfolge Schellings als die Freiheit
zum Guten und Bösen. Und genau diese Freiheit ist es, in der die Verantwortung des Menschen für sein Handeln wurzelt. Gerade weil das Grimmige und
das Heile in der Wahrheit des Seins wesen, kann der Mensch nie, ohne selbst
nachzudenken, einfach nur die Zuweisungen des Seins übernehmen, denn diese
können sowohl gut als auch böse sein.
Gerade nach den ungeheuren Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und
des Holocausts im Besonderen soll Heideggers Metapher des Hirten des Seins
uns nicht täuschen. Heideggers Seinsdenken ist keine schöne und idyllische Hirtengeschichte. Im Sein selbst verbirgt sich der Grund von Gutem und Bösem:
Das Dasein des Menschen ist die Freiheit zum Guten und Bösen. Gerade die
Shoah hat gezeigt, wie schrecklich und unfassbar das Dasein sein kann. Das
Gute und das Böse entspringen dem Sein selbst und rufen so den Menschen
zur Verantwortung und Entscheidung.
Auf Beaufrets dritte Frage geht Heidegger am Schluss des „Humanismusbriefes“ nur noch ganz kurz ein.
Woher nimmt das Denken sein Maß? Welches ist das Gesetz seines Tuns? Hier muß die
dritte Frage Ihres Briefes gehört werden: „Comment sauver l’élement d’aventure que
comporte toute recherche sans faire de la philosophie une simple aventurière?“ 26
Nach Heidegger kommt es im Abenteuer des Denkens im offenen Meer der
Metaphysik nur dann zu einer Rettung, wenn dieses Denken letztlich auf das
Sein als Ankommendes bezogen bleibt. Er fordert daher am Ende der Geschichte der Metaphysik ein künftiges Denken, das ursprünglicher denkt als die Metaphysik und daher auch keine Philosophie mehr sein kann. Dieses andere Denken „legt mit seinem Sagen unscheinbare Furchen in der Sprache“. 27
Heideggers Grundfrage lautet, wie es möglich ist, dass das Fragen nach dem
Sinn von Sein dazu geführt hat, dass es mit dem Sein gewissermaßen nichts mehr
auf sich habe. Der Grundzug der Metaphysik ist die Seinsvergessenheit. Die
Wahrheit des Seins wird in der Metaphysik von Anfang an nicht als die Lichtung
des „Seyns“ verstanden. Und sie konnte auch nicht so erfahren werden, weil
zuerst die Erfahrung des Nihilismus gemacht werden musste. Die Geschichte
der Metaphysik ist eine „Seynsepoche“. Genau hier liegt das große und vielleicht unlösbare Problem. Wir können mit Heidegger nachvollziehen, wie das
Denken der frühen griechischen Denker (Parmenides, Heraklit und Anaximander) im Denken Platons und Aristoteles’ umschlägt in die Metaphysik, aber es
ist aus heutiger Sicht unmöglich zu sagen, was das Nicht-Metaphysische im
25
26
27
Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt am
Main 1985, 185.
Martin Heidegger, Über den Humanismus, 46.
Martin Heidegger, Über den Humanismus, 47.
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Martin Heideggers „Brief über den ‚Humanismus‘“
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Denken der frühen Griechen denn eigentlich gewesen ist, weil wir selbst ja bereits in der Sprache der Metaphysik denken und sprechen. Und dennoch versucht Heidegger immer wieder aufs Neue, über ihre Grenzen hinauszugehen –
am Ende aber doch vergebens. Seine Deutungen des frühgriechischen Denkens
und Dichtens werden immer eigen-williger und eigen-sinniger – genauso wie
seine Erläuterungen zur Dichtung von Hölderlin bis Gottfried Benn. Das Ringen mit der Sprache hört nie auf. Schließlich sucht er sogar das Gespräch mit
dem ostasiatischen Denken – in der Hoffnung, hier vielleicht noch einmal auf
eine ganz andere, neue Spracherfahrung zu stoßen.
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Sinnen und Sorgen, dass der Mensch menschlich sei.
Heideggers Ansatz für die humanitas im „Wesen“ des
Menschen als Ek-sistenz
Von
Eduard Zwierlein
Koblenz
Dem Gedankengang Heideggers im sogenannten „Humanismusbrief“
möchte ich mich so annähern, dass ich zunächst die dort mitgeteilten und für
meine Fragestellung wichtigen Überlegungen Heideggers in einer Paraphrase
rekapituliere und thesenhaft vor Augen stelle. Der zweite Schritt schließt eine
kurze erläuternde Reflexion auf den Gehalt der Paraphrase an und erweitert
bereits den Blick auf zusätzliche Gesichtspunkte aus Heideggers Denkweg. Im
dritten Schritt wird Heideggers Ansatz in seiner Grenze diskutiert und durch
eine Alternative in Frage gestellt. Ein knapper Ausblick geht der Spur der Alternative mit einigen wenigen Hinweisen erneut nach.
1. Paraphrase
Grundzug
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Menschlich wird der Mensch, wenn er sein Wesen versteht.
Er versteht sein Wesen, wenn er sich in seinem Bezug zum Sein denkt.
Indem er die Frage nach seinem Bezug zum Sein aufnimmt, ist er Dasein.
Dasein, das offen steht für das Sein, ist Ek-sistenz.
Wo die Ek-sistenz den Anspruch des Seins erfährt, ist Lichtung des Seins.
Was das Dasein in der Lichtung des Seins zu sehen vermag, ist die Geworfenheit im geschichtlichen Geschick des Seins.
Dem lichtend-verbergenden Anspruch des Seinsereignisses antwortet der
Mensch durch die Sorge für das Da als Lichtung des Seins.
In dieser Sorge ist er nicht Herr des Seienden, sondern Hüter, Hirt, Wächter, Diener des Seins.
Der Dienst, Seiendes im Licht des Seins zu denken, ist Nähe zum Sein, Ende
der Seinsvergessenheit und Rückgewinnung der herkünftigen und ursprünglichen Heimat des Menschseins.
Wohnt der Mensch in dem, was ihm das Ereignis des Seins gewährt, ist er
Existenz und findet als homo humanus in seine wahre humanitas.
Heidegger-Jahrbuch 10
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