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22 Spontanremissionen bei Krebserkrankungen
Manfred E. Heim
Einführung
Nach 30 Jahren klinischer Tätigkeit in der
internistischen Onkologie bleiben die Begegnungen mit einigen Krebspatienten besonders in der Erinnerung. Hierzu zählen
zweifellos »besondere Patientinnen und Patienten« mit ungewöhnlichem Krankheitsverlauf oder Patienten, die besonders eigenwillig ihren Weg gegangen sind und sich von
ärztlichem Rat nur bedingt haben beeinflussen lassen. Besonders beeindruckend waren
für mich die Beobachtungen von Patienten,
die trotz schlechter Prognose einen überraschend guten und langen Verlauf hatten,
oder Patienten, bei denen ohne jegliche Therapie der Tumor nicht progredient war oder
sich sogar zurückbildete. Ein Schlüsselerlebnis war für mich, einen Patienten über mehrere Jahre zu beobachten und zu betreuen,
der ohne adäquate Therapie eine Rückbildung seines metastasierenden Tumors erlebte. Dies war der Anlass, das Phänomen
Spontanremissionen weiter zu untersuchen.
Fallbeispiel: Spontanremission
Ich lernte besagten Patienten während einer stationären Behandlung in der Sonnenberg-Klinik
kennen und konnte ihn über acht Jahre medizinisch gründlich abklären und den Verlauf beobachten.
Der 57-jährige Mann aus Norddeutschland
war gelernter Maurer und selbstständiger Bauunternehmer in einem mittelständischen Unternehmen, seit 35 Jahren verheiratet und hatte
zwei erwachsene Kinder. Der Patient klagte zu-
nächst über Abgeschlagenheit, Müdigkeit und
Beinschmerzen, eine Meniskusoperation besserte die Schmerzen im Knie nicht. Nach Hustenanfällen wurden im Krankenhaus nach diagnostischer Abklärung Lungenmetastasen in beiden
Lungenflügeln festgestellt. Eine Bronchoskopie
ergab eindeutig den Gewebsbefund eines undifferenzierten epithelialen bösartigen Tumors. Einen
Monat später wurde ein hochmalignes Osteosarkom am Unterschenkelknochen durch Probeentnahme festgestellt. Der Patient war schockiert
und lehnte eine operative Sanierung sowie eine
ihm vorgeschlagene Chemotherapie ab. Er ließ
sich weiter von seinem Hausarzt, dem er vertraute, auf Naturbasis behandeln. Privat krempelte er
sein Leben um, sprach mit seiner Familie über
seine Erkrankung, fand einen Vertreter für seine
Firma, machte ein Testament und Pläne, viel Zeit
mit der Familie zu verbringen und mit seiner Frau
eine Schiffsreise zu unternehmen. Die Familie unterstütze ihn sehr, die Veränderung seines Lebensstils erlebte er als sehr positiv. Während einer Rehabilitation in unserer Klinik war es möglich, ein
Jahr nach Diagnosestellung eine Verlaufsdiagnostik vorzunehmen. Computertomografisch ließen
sich keine Lungenmetastasen mehr nachweisen,
röntgenologisch war das Osteosarkom in Kniegelenksnähe unverändert. Eine weitere Kontrolluntersuchung nach zwei Jahren zeigte eine
Rückbildung des Knochentumors bei unauffälligem Lungenbefund. Bei einer Nachbefragung
nach fünf Jahren fühlte sich der Patient weiterhin
gut, ein Tumor war röntgenologisch nicht mehr
nachweisbar. Offensichtlich handelte es sich um
eine Tumorrückbildung, ohne dass eine wirksame Therapie durchgeführt worden wäre.
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Sondersituationen der psychoonkologischen Versorgung und Forschung
Ausgehend von dieser Kasuistik und einigen
wenigen Berichten von Kollegen und in
der Literatur habe ich dann mit Reinhold
Schwarz das Phänomen spontaner Tumorrückbildungen und ungewöhnlicher Verläufe
bei Krebserkrankungen diskutiert und weiter untersucht. Dabei war unser Ziel, nicht
nur das biologische Phänomen, sondern
auch das biopsychosoziale Geschehen näher
zu untersuchen. Aus dieser Zusammenarbeit
sind mehrere Publikationen und die gemeinsame Organisation des Internationalen
Symposiums über Spontanremissionen in
Heidelberg mit Unterstützung der Deutschen Krebshilfe 1997 entstanden.
Wissenschaftlich können Spontanremissionen als Modell für eine biologische Kontrolle des Tumors angesehen werden, woraus
sich unter Umständen Rückschlüsse für neue
therapeutische Möglichkeiten ableiten ließen.
Schließlich ist es auch für die Bewertung von
Therapiestudien wichtig, die Häufigkeit von
spontanen Regressionen zu kennen, um den
Einfluss der Therapie richtig bewerten zu
können. In historischen Berichten wird immer wieder über spontane Tumorrückbildungen und Wunderheilungen berichtet.
Aber erst seit der Einführung der Mikroskopie und Histopathologie konnte die
Tumordiagnose und -rückbildung objektiv
überprüft werden. Bereits der Gründer des
Heidelberger Instituts für experimentelle
Krebsforschung, Prof. Vincenz von Czerny,
gab bei der ersten Internationalen Konferenz
für Krebsforschung 1906 folgendes Statement ab: »Ich möchte einige Beobachtungen
mitteilen, aus denen hervorgeht, dass auch
bei bösartigen Tumoren unerwartete Heilungen vorkommen, die uns zu Vorsicht
mahnen, bei der Beurteilung, ob eine Besserung oder Heilung in einem solchen Falle
allein dem angewendeten Heilmittel zuzuschreiben ist. Zweifellos sind maligne Tumo-
ren der Rückbildung fähig. Sehr selten geschieht das ohne chirurgischen Eingriff. In
anderen Fällen wird auch bei unvollständiger Entfernung des Krebses der menschliche Organismus befähigt, den Rest der Geschwulst unschädlich zu machen, ja sogar zu
vernichten. Von welchen Umständen die
Verschiedenheit des Erfolges abhängt, ist uns
noch nicht bekannt, dass die histologische
Beschaffenheit der Tumoren dabei eine große Rolle spielt, ist zweifellos.« (Czerny 1907)
Dagegen lehnte der Heidelberger Krebsforscher Prof. K. H. Bauer in seiner Monographie »Das Krebsproblem« (1949) spontane
Tumorrückbildungen durch eine körpereigene Krebsabwehr ab: »Einer der Hauptgründe für die Annahme einer ›Selbstheilung‹ bei
einem Krebskranken ist die Fehldiagnose bei
seinem Arzt. Eine natürliche Heilung gibt es
beim Krebs nicht.« (Bauer 1949)
Möglicherweise hat auch diese Lehrmeinung dazu geführt, dass Berichte über Spontanremissionen in der wissenschaftlichen
Literatur selten zu finden sind. Andere Erklärungen für das geringe Interesse an der
Publikation von Spontanremissionen sind:
쐌 Eine Spontanremission wird vom Arzt
nicht beobachtet, da dieser keine Langzeitbeobachtung durchführt.
쐌 Patienten, die zur Schulmedizin kritisch
eingestellt sind, lehnen eine Verlaufsdiagnostik ab.
쐌 Der Arzt vermutet wegen des günstigen
Verlaufs eine Fehldiagnose.
쐌 Die Remission wird als Erfolg einer früheren Therapie angesehen.
쐌 Die Remission wird als Erfolg einer unkonventionellen Therapie gewertet.
쐌 Eine vorübergehende Remission wird nicht
erfasst oder ungenügend dokumentiert.
쐌 Der Arzt scheut die Veröffentlichung.
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Auch das lang tradierte Pathogenesemodell
in der Medizin, mit der Vorstellung einer
unaufhaltsam wachsenden Krebsgeschwulst,
hat zum fehlenden Interesse an Spontanremissionen als Forschungsgegenstand beigetragen. Mit der Entwicklung neuer biologischer Kenntnisse über die Tumorkontrolle,
die Tumorentstehung und eines Salutogenesekonzeptes ist auch das Interesse am
Phänomen spontaner Rückbildungen wieder gestiegen. In der Literatur werden meist
Einzelfallberichte publiziert, in denen der
biologische Mechanismus der Regression
meist unklar bleibt.
bzw. pathologisch) lässt sich die Sicherheit
der Diagnose und Remission näher charakterisieren (Everson u. Cole 1966):
쐌 Regression des Primärtumors (histologisch verifiziert),
쐌 Regression von Metastasen histologisch
gesichert,
쐌 Regression von Metastasen ohne Histologie,
쐌 Regression von röntgenologisch diagnostizierten Metastasen,
쐌 lang anhaltender Wachstumsstillstand
eines bösartigen Tumors,
쐌 auffällig verzögerte Metastasen- oder Rezidivbildung.
Definition
Eine besondere Kategorie bilden die sogenannten Wunderheilungen, in denen sich in
verschiedenen Religionen das Wirken Gottes
zeigt. Diese Wunder vollziehen sich auf der
Ebene der Religiosität und des Glaubens
und sind von Menschen in der realen Welt
nicht erklärbar. Nach dieser Definition können Spontanremissionen als (noch) unerklärt von unerklärbaren Wunderheilungen
unterschieden werden. Die Wunderheilungen Jesu Christi im neuen Testament sind
Zeichen der wirksam werdenden Kraft
Gottes. In der Neuzeit prüft die Kirche
die »Echtheit« der medizinischen Wunder
durch die Methoden der naturwissenschaftlichen Medizin. Seit den Visionen der Bernadette Soubirous 1858 im Pyrenäenort Lourdes
wurden in diesem Wallfahrtsort zahlreiche
Heilungen angenommen. Das von Papst
Benedikt XIV 1883 eingerichtete »Bureau
des Constatations Médicales« (Ärztebüro)
und das 1947 geschaffene »Comité Médical
International Notre Dame de Lourdes« (Internationales Ärztebüro von Lourdes) prüfen, ob die fraglichen Heilungen »unerklärbar« nach heutigem wissenschaftlichem
Kenntnisstand sind (Leven 2010). Jährlich
Für die Definition von Spontanremissionen
sind grundsätzlich der Tumorrückgang und
die fehlende Therapie entscheidend. Der Begriff der Spontanheilung sollte nicht verwendet werden, da er eine komplette, dauerhafte Remission impliziert, die meist nicht
überprüft werden kann.
In Anlehnung an die Definition von Everson und
Cole (1966) kann man sagen: Eine Spontanremission ist das vollständige oder teilweise Verschwinden von Tumoren ohne medizinische Behandlung
oder ohne adäquate Behandlung.
Voraussetzung für die Falldefinition ist zunächst eine umfassende Diagnostik mit histologischer Sicherung der Tumordiagnose
des Primärtumors und möglichst auch der
vorhandenen Metastasen sowie eine aussagefähige radiologische Verlaufsdiagnostik.
Dann gilt es, die angewandten therapeutischen Methoden und den Verlauf über einen
möglichst langen Zeitraum zu überprüfen.
Wie beim Tumorstaging üblich (klinisch
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Sondersituationen der psychoonkologischen Versorgung und Forschung
pilgern etwa 4,5−5 Millionen Menschen,
darunter 70 000 Kranke, nach Lourdes. Bis
zum Jahr 2010 wurden von ca. 4 000 dokumentierten Heilungen nur 67 als Wunderheilungen kirchlich anerkannt. Trotz dieser
bekannt geringen Anzahl von Heilungen
nimmt die Zahl der Pilger nicht ab. Was sie
antreibt, ist die Wiedergewinnung der Hoffnung, der Glaube gibt den Menschen Kraft
(Theiß 1998).
Nur wenige Patienten bleiben völlig ohne
Therapie. Es sollten alle Behandlungsversuche, auch komplementärmedizinische und
psychotherapeutische Interventionen dokumentiert werden. Patienten führen häufig
Verfahren jenseits der Schulmedizin als Gründe für ihre Heilung an. Nach der Form
einer stattgehabten Therapie unterscheiden
O’Regan und Hirshberg (1993):
쐌 Remission ohne medizinische Therapie,
쐌 Remission mit inadäquater medizinischer
Therapie,
쐌 Remission mit »alternativer Therapie«,
쐌 Wunderheilung, plötzlich und komplett
ohne Therapie.
Grundsätzlich sollten auch Kasuistiken von
Spontanremissionen wie z. B. Best Cases die
folgenden Kriterien erfüllen:
쐌 Diagnose, Histopathologie und Stadium
sollten dokumentiert und überprüfbar
sein.
쐌 Remissionen können objektiv gemessen
werden und sind durch Bildmaterial dokumentiert.
쐌 Alle vorausgegangenen oder gleichzeitigen Therapien sind dokumentiert, darunter ist keine, die den Tumorrückgang verursacht haben könnte.
Epidemiologie
Über die Epidemiologie von Spontanremissionen gibt es keine verlässlichen Zahlen. Es
wurden überwiegend Kasuistiken mit sehr
unterschiedlicher Datenqualität publiziert.
In Fallsammlungen wie der Übersicht von
Challis und Stam (1990) oder der bibliografischen Übersicht von O’Regan und Hirshberg (1993) verteilten sich die beobachteten
Tumorrückbildungen ungleich auf die verschiedenen Tumorerkrankungen. Überwiegend handelt es sich um:
쐌 das maligne Melanom (geschätzte Häufigkeit: Primärtumor 1−10 %, Metastasen
0,2 %),
쐌 das Nierenzellkarzinom mit Lungenmetastasen (0,4−4 %),
쐌 die chronisch lymphatische Leukämie
(1 %).
Bei einigen Sonderfällen wie dem kindlichen
Neuroblastom im Stadium 4S oder der transienten myeloproliferativen Erkrankung bei
Trisomie 21 ist die Tumorrückbildung in hohem Prozentsatz (80 %) zu erwarten. Bei den
häufigeren Tumoren, wie Lungen-, Darm-,
Prostata- und Brustkarzinomen sind Spontanremissionen dagegen selten beobachtet
worden.
Angaben zur Häufigkeit von Spontanremissionen lassen sich aus biometrischer
Sicht kaum machen (Abel 2001). Zu erfassen
und zu untersuchen wäre die Patientengruppe, für die keine wirksame Behandlungsmöglichkeit mehr besteht und die nicht
mehr behandelt wird, oder Patienten die
eine Therapie verweigern oder auf eine Behandlung warten. Eine umfassende Dokumentation von nicht therapierten Patienten
gibt es nicht. Aus vielen Gründen ist eine
unvollständige Erfassung von Spontanremis-
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