Lebenszeichen

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Luthers
östliche
Protestanten
im
Elite
–
Polnische
Jubiläumsjahr
der
Reformation
Lebenszeichen
Von Martha Kupiec
17.09.2017
O-Ton Patrycja Prostak (Übersetzung):
Die Eltern meines Ehemannes brauchten etwas Zeit, um zu akzeptieren, dass ich evangelisch
bin. Aber es soll niemanden wundern, denn Polen ist ein überwiegend katholisches Land.
O-Ton Karol Modellmog (Übersetzung):
Es gibt viele deutschstämmige Menschen in Polen, die zu der Entwicklung dieses Landes
beigetragen haben, z.B. unser Bischof, Juliusz Bursche. Auch ich könnte eine deutsche
Abstammung nachweisen, doch ich habe längst eine polnische Mentalität.
O-Ton Prof. Dorothea Wendebourg:
Wir denken ja heute: Polen ganz und gar katholisch, aber das stimmt für das 16./17 Jh. nicht.
Da gab es eine Vielfalt an Konfessionen und Religionen, viel mehr als in Deutschland. Es
waren überwiegend Polen, religiös interessierte, intellektuell lebendige Polen: Adlige, aber
auch Bürger, die evangelische Strömungen aufsogen - die verschiedensten.
Sprecherin:
Jeden Sonntag strömen in die sonst stille Krakauer St. Martins-Kirche über 500 Gläubige. Für Pfarrer
Roman Pracki gibt es wie immer viel zu tun. Drei Gottesdienste, Seelsorge-Gespräche und eine
besondere Zeremonie stehen auf dem Programm: Die Aufnahme zweier katholischer Konvertiten in
die evangelische Gemeinschaft, die ihren Übertritts-Willen öffentlich bekunden. Über 70.000
Mitglieder in sechs Diözesen zählt die drittgrößte religiöse Gemeinschaft in Polen. Die Mehrheit sind
Akademiker - Rechtsanwälte, Ärzte, Politiker. Fast 30 Prozent seiner Gemeindemitglieder besuchen
jede Woche einen Gottesdienst, sagt der lutherische Geistliche, der statt mit Pastor mit Priester
angesprochen wird, was für deutsche Ohren etwas befremdlich klingt. Auch das Abendmahl heißt
wie bei Katholiken „Kommunion“:
O-Ton Roman Pracki (Übersetzung):
Die Liturgie ist bei uns altpreußisch. Wir stehen viel, singen alte Choräle, die Kommunion
empfangen wir kniend. Unsere Kirche ist der alten lutherischen Kirche in Deutschland ähnlich.
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2017
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenz en des
Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des W DR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch
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Luthers östliche Elite – Polnische Protestanten im Jubiläumsjahr der Reformation
Von Martha Kupiec
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17.09.2017
Sprecherin:
Die Evangelisch-Lutherische Kirche Augsburger Konfession in Polen geht auf die „Confessio
Augustana“ zurück, mit dem die lutherischen Reichsstände in Deutschland 1530 auf dem Reichstag
zu Augsburg ihren Glauben bekundeten. Die ersten Reformationsströmungen in Krakau gab es
schon kurze Zeit nach dem Auftreten von Martin Luther. An deren Verbreitung waren Kaufleute,
Studenten und Wissenschaftler beteiligt, die zwischen dem damaligen Sitz des Königshauses und
Kursachsen hin und her pendelten. Doch es waren überwiegend kirchenkritische, weltoffene Polen Krakauer Adelige, Theologen und berühmte Schriftsteller, die die Gemeinde aus der Taufe gehoben
haben:
O-Ton Roman Pracki (Übersetzung):
Unsere Gemeinde wurde 1572 gegründet. Bereits ein Jahr nach der Veröffentlichung der
Thesen von Martin Luther gab es darüber eine Debatte an der Krakauer Universität. Viele
waren begeistert. /Während der Gegenreformation war damit aber Schluss. Es gab Tumulte,
folglich wurde die evangelische Gemeinde mehrmals zerstört.
Sprecherin:
Deshalb mussten sich die Krakauer Gemeindemitglieder außerhalb der Stadt treffen. 1816 übergab
der Senat der freien Stadt Krakau den Gläubigen, zu denen Deutsche, Polen und sogar einige
Schotten gehörten, die St. Martins-Kirche. Es war ein Versöhnungszeichen nach der Zeit der
Verfolgung und der Beginn einer eher ruhigen Phase, in der die Lutheraner polenweit an Stärke
gewannen.
O-Ton Roman Pracki (Übersetzung):
1918, als Polen die Unabhängigkeit wiedererlangte, funktionierten fünf evangelische
Organisationen. Manche von ihnen waren administrativ und rechtlich mit Berlin verbunden,
andere wiederum mit Königsberg oder Wien. Es gab zwar eine polnische Reformation im 16.
Jh. und polnische Protestanten, doch wegen der Migration vom Westen in den Osten hielt
man diese Kirche für eine deutsche Kirche. Vor dem zweiten Weltkrieg waren 80 Prozent der
Mitglieder deutscher Abstammung.
Sprecherin:
In Krakau kam es in dieser Zeit zu Spannungen zwischen den deutschen und polnischen Gläubigen.
Als Hitlers Soldaten einmarschierten, brachen für die polnischen Lutheraner schwere Zeiten an, sagt
der Pfarrer:
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17.09.2017
O-Ton Roman Pracki (Übersetzung):
1940, während der Nazibesatzung erlebte die Gemeinde eine tiefe Spaltung. Polnischstämmige Mitglieder mussten das Gotteshaus verlassen, aber dank eines katholischen
Priesters haben sie in der St. Agnes-Kirche weiter beten können. St. Martin wurde in eine
deutsche Garnisonkirche umgewandelt.
Sprecherin:
„Evangelisch“ heißt nicht automatisch „deutsch“, doch jahrzehntelang wurde dazwischen ein
Gleichheitszeichen gesetzt. Während diese Bezeichnung auf die Bewohner der ehemaligen
Reichsprovinzen zutraf, war sie in Bezug auf viele andere Gläubige einfach falsch. Trotzdem wollte
man im kommunistischen Nachkriegspolen diesen gravierenden Unterschied nicht sehen. Mit schwer
wiegenden
Folgen
–
gesellschaftlichem
Druck,
Schuldzuweisungen,
Enteignungen
und
Vertreibungen der Deutschen aus den ehemaligen deutschen Gebieten, erklärt Dorothea
Wendebourg, Professorin für Reformations-geschichte an der Theologischen Fakultät der Berliner
Humboldtuniversität.
O-Ton Dorothea Wendebourg:
Wurden sie verfolgt als Evangelische oder als Deutsche? Für viele stark katholisch Geprägte
war das gleich. Ein richtiger Pole ist katholisch, da hat es eine Menge an ungerechten
Behandlungen gegeben. Denn natürlich war der Verdacht groß, Protestanten sind Deutsche,
die in Schlesien, Ostpreußen oder Pommern gesessen haben und die jetzt weg müssen.
Oder solche, die kollaboriert haben - das war schwer.
Sprecherin
Nach 1945 schrumpften die evangelischen Gemeinden in Polen massiv. Immerhin zählten sie bis
dahin eine halbe Million Menschen. Viele evangelische Kirchen mutierten zu katholischen
Gotteshäusern. Zahlreiche Pastoren wurden beschattet, kirchliche Einrichtungen zu denen Waisenoder Krankenhäuser gehörten, zweckentfremdet – z.B. in die Geschäftsstellen der Kommunistischen
Partei umgewandelt. Von einer Hetzjagd auf die Protestanten zu sprechen, wäre aber zu weit
hergeholt, meint Dorothea Wendebourg.
O-Ton Dorothea Wendebourg:
Die Deutschen sind natürlich verfolgt worden, vertrieben worden. In einzelnen Fällen wusste
man nicht, ist er eher Protestant oder Deutscher. Und da hat er eins auf den Kopf gekriegt.
Das hat es gegeben, aber man kann nicht sagen, dass es eine Verfolgung durch den
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polnischen Staat als solchen gegeben hatte. Es gab schon Benachteiligung, also so etwas
Kulturelles an Druck. Es gab die Behandlung als Bürger zweiter oder dritter Klasse. Das
haben evangelische, polnische Bürger durchaus erfahren. Ich habe den Eindruck, das ist
heute besser.
Sprecherin:
Trotz landesweiten Drucks und Schikanen, hielt sich die lutherische Gemeinschaft
der
Nachkriegszeit, auch andere protestantische Gruppen, in einem Landstrich besonders tapfer. In dem
geschichtsträchtigem Schmelztiegel, wo Polen, Deutsche und Tschechien zusammen wohnten, steht
bis heute das einzige, fast drei Meter hohe Denkmal von Martin Luther.
O-Ton Dorothea Wendebourg:
Diese von den Deutschen her geprägten Gemeinden sind nach 1945 praktisch
verschwunden. Mit einer großen Ausnahme - das Gebiet um Teschen, also im Südosten von
Schlesien. Schlesien war ohnehin über 50 Prozent evangelisch. Dort unten waren viele Polen,
die den Protestantismus pflegten, die sind geblieben. Das ist bis heute das Herz des pol.
Protestantismus. So wie in Teschen ist es nirgendwo sonst in Polen.
Sprecherin:
Glücklicherweise gab es aber lutherische Theologen, wie Dietrich Bonhöffer oder Juliusz Bursche, an
deren Erbe die verbliebenen Protestanten anknüpfen konnten. Der erste Landesbischof der
evangelisch-augsburgischen Kirche bemühte sich bereits vor dem 2. Weltkrieg um ein friedliches
Nebeneinander zwischen deutschen und polnischen Lutheranern. Er wollte alle dahin führen, dass
sie sich, unabhängig von ihrer Nationalität, als bekennende Protestanten fühlten. Den Nazis war die
polenfreundliche Haltung des deutschstämmigen Geistlichen ein Dorn im Auge.
O-Ton Dorothea Wendebourg:
Also Julius Bursche als Anführer der evangelischen Kirche Polens – deutschstämmig aber
bewusst für Polen optierend, auch seinen Namen anpassend. Der hat ein tragisches
Schicksal. Als die Deutschen Polen erobert haben, haben sie ihn als Verräter betrachtet. Der
ist dann elend umgekommen unter den Deutschen.
Sprecherin:
Erst wurde er als Häftling ins KZ Sachsenhausen verbracht, dann nach Berlin ins Gefängnis Moabit,
wo er 1942 im Alter von 80 Jahren starb. Stets bemüht, den gemeinsamen Glauben über nationale
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Interessen zu stellen, zählt der perfekt zweisprachige Juliusz Bursche zu den Wegbereitern des
deutsch-polnischen Dialogs. Als die Kommunisten an die Macht kamen, war man davon weit entfernt
und das gegenseitige Vertrauen mächtig getrübt, erklärt der pensionierte Landwirtschaftsingenieur,
Karol Modellmog.
O-Ton Karol Modellmog (Übersetzung):
Viele riefen mir Schwabe, also Deutscher nach - allein mein deutscher Nachname weckte
schon Misstrauen/ In Pommern, in meinem Wohnort, war ich der einzige Protestant auf der
Schule. Für die katholische Mehrheit waren wir Menschen zweiter Klasse. An Fronleichnam
mussten wir einen Altar vorbereiten, sonst wurden die Fensterscheiben eingeworfen. Die
ganze Klasse nahm am Religionsunterricht teil, nur ich nicht. Meine Mitschüler haben das
nicht verstanden. Ich fühlte oft ein Unbehagen, musste mich sogar mit anderen Jungs prügeln
- das Thema Religion war gefährlich.
Sprecherin:
Aufgrund von Schikanen und Ausgrenzungen emigrierten auch noch lange nach dem Zweiten
Weltkrieg deutschstämmige Protestanten aus Polen. 1989 wurden die Kommunisten mit
überwältigender Mehrheit von der Solidarność abgelöst. Mit der Wende verbesserte sich auch der
Status der Evangelisch-Augsburgischen Kirche Polens. Sie baute das Diakonische Werk auf, bekam
einen eigenen Militär-Seelsorger und das Recht, eigenen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen
zu organisieren. Auch Karol Modellmog musste seine konfessionelle Zugehörigkeit nicht mehr
rechtfertigen. Trotz aller Differenzen plädiert der Lutheraner für eine verstärkte
Annäherung
zwischen katholischer und evangelischer Kirche:
O-Ton Karol Modellmog (Übersetzung):
Johannes Paul der II., der polnische Papst, hat diesbezüglich sehr viel bewegt. Er war der
erste Papst, der bei einer Pilgerreise nach Polen eine evangelische Kirche besuchte. Es ist
wichtig, dass wir bei all den Unterschieden unsere Kräfte bündeln. Das Christentum ist
gerade im Rückzug. Muslimische Frauen haben drei, vier Kinder. Christinnen viel weniger.
Sprecherin:
Dass sich Europa von seinen christlichen Wurzeln immer weiter entfernt, führe zu einer Stärkung des
Islam, meint der Rentner. Damit es nicht so weit komme, müssten die Katholiken mehr mit der Zeit
gehen:
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O-Ton Karol Modellmog (Übersetzung):
Wir glauben an denselben Gott, doch bei uns ist vieles weniger theatralisch als in der
katholischen Kirche. Die katholische Kirche hat Probleme mit den Geschiedenen, daran muss
sie arbeiten. So wie ich es gelesen habe, wird derzeit in Polen die Hälfte der Ehepaare bereits
drei Jahre nach der Eheschließung geschieden.
O-Ton Roman Pracki (Übersetzung):
Ein ausgezeichneter katholischer Theologe, Prof. Wacław Hryniewicz, schrieb, dass die
Kirche mehrstimmig sei. Für die Ablehnung oder sogar eine Spaltung gibt es keinen Platz.
Auch für mich ist die Kirche eins. Katholiken und Protestanten wohnen nicht in getrennten
Häusern. Höchstens in getrennten Zimmern.
Sprecherin:
Sagt der Pfarrer der Krakauer St. Martinsgemeinde, Roman Pracki. Und groß sind die Unterschiede
nicht: In puncto Frauenordination ist die evangelische Kirche in Polen genauso konservativ wie die
Katholiken: Eine Pfarrerin oder gar Bischöfin? Das bleibt Zukunftsmusik.
O-Ton Roman Pracki (Übersetzung):
Schon vor 25 Jahren wollte der Bischof, Jan Szarek, die Frauen ordinieren, doch die Synode
sagte „nein“. Um ein Haar wäre es letztes Jahr eingeführt worden, doch 8 Stimmen fehlten,
um eine qualifizierte Mehrheit zu erreichen. Dass Frauen zum Abendmahl einladen, ist bereits
Tatsache.
Sprecherin:
Es sei überwiegend kulturell bedingt, dass Frauen, die sonst vielerorts predigen, das Abendmahl
zelebrieren und Kinder taufen, noch nicht zum geistlichen Amt ordiniert werden und selten
Führungsposten übernehmen, meint der smarte Geistliche im schwarzen Talar mit dem weißen
Beffchen, aber Jesus werde schon alle Hürden aus dem Weg räumen. Zwischen den christlichen
Konfessionen ist ihm das offenbar schon weitgehend gelungen: Jedes Jahr nehmen Lutheraner und
Katholiken an der Gebetswoche für die Einheit der Christen teil. Es gibt einen gemeinsamen BibelMarathon und ökumenische Kreuzwegandachten. Oder Charity-Aktionen, wie den Verkauf von
Adventskerzen oder das Engagement für Flüchtlinge, sagt die Pressesprecherin der EvangelischAugsburgischen Kirche in Polen, Agnieszka Godfrejów–Tarnogórska.
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Luthers östliche Elite – Polnische Protestanten im Jubiläumsjahr der Reformation
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17.09.2017
O-Ton Agnieszka Godfrejów–Tarnogórska (Übersetzung):
Wir bemühen uns in erster Linie um eine Hilfe vor Ort, also im Ausland. Die Lutheraner
sammelten Geld für das jordanische Flüchtlingslager in Zaatari. Wir unterstützen dort
Bildungsprojekte, die den Menschen helfen, sich zu integrieren und eine Arbeit zu finden.
Außerdem betreuen wir eine christliche Familie aus Syrien, die nach einem Aufenthalt in
Polen nach Deutschland ausgewandert ist. Mittlerweile sind die Angehörigen wieder bei uns.
Oft erleben wir, dass die Öffentlichkeit über solche Aktionen einzelner Gemeinden nichts
erfährt, da es keine Zustimmung unserer Regierung zu der Aufnahme von Flüchtlingen gibt.
Sprecherin:
Bei vielen ökumenischen Initiativen steht die Familie im Mittelpunkt. Im Krakauer Johannes Paul II.Sanktuarium treffen sich interkonfessionelle Ehepaare, deren Zahl von Jahr zu Jahr steigt. In einer
Ehe, die auf gegenseitigem Respekt und Christus baut, schaut man über theologische Differenzen
hinweg, sagt Patrycja Prostak. Bis auf einen Punkt, der der fünffachen Mutter schwer zu schaffen
macht:
O-Ton Patrycja Prostak (Übersetzung):
Wir preisen gemeinsam Gott, lesen aus der Bibel und beten. Das Einzige, was wir nicht
gemeinsam machen, ist die Kommunion. Das tut weh. Oft empfinde ich es als schmerzhaft,
wenn einer von uns auf der Bank bleiben muss. Eine Änderung, was das betrifft, werde ich
sicherlich nicht erleben, aber vielleicht meine Kinder.
Sprecherin:
Dass sie evangelisch und ihr Mann katholisch ist, hält Patrycja Prostak für eine Bereicherung. In der
Sonntagsschule ihrer Gemeinde, wo sie mit Vorschulkindern spielerisch mehr über den
evangelischen Glauben lernt, steht sie mit dieser Meinung nicht alleine da. Doch ihr sonntäglicher
Kirchgang ähnelt oft einem Hindernislauf.
O-Ton Patrycja Prostak (Übersetzung):
Sonntags gehen wir gemeinsam in die evangelische Kirche. Sobald der erste Teil des
Gottesdienstes zu Ende ist, nehme ich die Kinder zur Sonntagsschule mit. Zur gleichen Zeit
geht mein Mann ins Dominikanerkloster, wo eine katholische Messe beginnt. Wenn wir
dorthin verreisen, wo keine evangelische Kirche ist, gehen wir selbstverständlich in eine
katholische Kirche. Für mich steht das nicht zur Debatte – jeder Sonntag wird bei uns gefeiert.
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Luthers östliche Elite – Polnische Protestanten im Jubiläumsjahr der Reformation
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17.09.2017
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Sprecherin:
Auch das diesjährige Reformationsjubiläum wird in Polen begangen. Ende Juni feierte die
Lutherische Kirche Polens ihren Kirchentag, der alle vier Jahre stattfindet. Zu den Veranstaltungen
unter dem Motto. „Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit“ im Teschener
Land kamen dreitausend Menschen. Der Kirchentag begann mit einem Waldgottesdienst auf dem
Berg Równica. Der abgelegene Ort hatte in der Zeit der Gegenreformation den Protestanten Schutz
geboten. Mehr als die Hälfte aller Lutheraner wohnen in diesem Gebiet im Südosten Oberschlesiens.
Der berühmte Skispringer Adam Małysz und der ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments
Jerzy Buzek sind die prominentesten. In der überwiegend protestantischen polnisch-tschechischen
Doppelstadt Cieszyn steht die größte evangelische Kirche Polens. Bei den Konzerten und Bibelforen
waren Jugendliche nicht zu übersehen.
O-Ton zwei Jugendliche (Übersetzung):
Junge 1 Es ist eine tolle Möglichkeit, sich auszutauschen und neue, gleichgesinnte
Menschen kennen zu lernen. Hier muss ich meinen Glauben vor niemandem rechtfertigen.
Junge 2 Ich bin erstaunt, wie toll die Gemeinschaft der lutherischen Jugend ist, wie gut wir
miteinander kommunizieren.
Sprecherin:
Bei dem Kirchentag überraschte Polens protestantische Minderheit mit ihrem Ideenreichtum. Auf
dem Marktplatz von Ustroń wurde ein Wagen der Marke Wartburg aufgestellt – in Erinnerung an
Luthers
Aufenthalt
auf
der
Wartburg,
wo
er
das
Neue
Testament
übersetzte.
Zum
Reformationsjubiläum sind weitere Highlights geplant, bei denen es nicht nur um religiöse oder
historische
Aspekte
geht.
Man
wolle
Flagge
zeigen
–
sowohl
vor
der
katholischen
Mehrheitsgesellschaft als auch vor der protestantischen Kirchengemeinschaft weltweit, betont die
Pressesprecherin der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen, Agnieszka Godfrejów–
Tarnogórska.
O-Ton Agnieszka Godfrejów-Tarnogórska (Übersetzung):
Wir möchten ein Signal senden, dass wir seit 500 Jahren Bestandteil der polnischen
Gesellschaft sind, dass es einen polnischen Protestantismus gibt und dass man hier den
eigenen Weg geht. Wir zeigen, dass reformatorische Strömungen deutschen Ursprungs auch
bei uns auf fruchtbaren Boden fielen, die polnische Gesellschaft sowie die Kirche verändert
haben. Viele Initiativen haben einen ökumenischen Charakter. Zu der Eröffnungsfeier des
Jubiläumsjahres haben wir den Primas von Polen, Wojciech Polak eingeladen.
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Luthers östliche Elite – Polnische Protestanten im Jubiläumsjahr der Reformation
Von Martha Kupiec
17.09.2017
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Sprecherin:
Netzwerke bilden, international agieren - polnische Lutheraner sind Globalplayer. Viele der 130
Gemeinden pflegen bis zu fünf internationale Partnerschaften, zu denen auch deutsche Gemeinden
in Hessen, Nordrhein-Westfalen und Bayern gehören. Bereits nach dem Ende des 2. Weltkrieges
wurden die ersten Kontakte geknüpft, sagt Anna Wrzesińska, die in Warschau, dem Hauptsitz der
evangelisch-augsburgischen Kirche, die Zusammenarbeit koordiniert.
O-Ton Anna Wrzesińska (Übersetzung):
Evangelische Kirchen gehörten zu den Pionieren der Versöhnungsarbeit zwischen Deutschen
und Polen. Durch Grenzverschiebungen wurden Millionen von Menschen gezwungen, ihren
Wohnort zu verlassen. Ein Kontakt zu Polen war ihnen wichtig, man suchte danach. In der
schwierigen Nachkriegs- oder kommunistischen Zeit stand die humanitäre Hilfe im
Vordergrund der Zusammenarbeit. Heute geht es vielmehr um eine gleichberechtigte
Beziehung. Das bedeutet, dass beide Seiten bemüht sind, etwas gemeinsam zu bewegen.
Sprecherin:
So trifft man sich etwa zu gemeinsamen Bibelarbeiten. Und immer wieder schöpfen polnische
Lutheraner aus der Erfahrung der deutschen Mutterkirche, besonders wenn es um die Seelsorge
oder Medienarbeit, Mediation oder Konfliktlösung geht:
O-Ton Anna Wrzesińska (Übersetzung):
An Deutschland bewundere ich die Dialogbereitschaft. Beim deutschen Kirchentag
beobachtete ich oft, wie offen die Menschen miteinander reden. Aus ihrem Glauben schöpfen
sie die Kraft für das gesellschaftliche Engagement. Das wünschte ich mir auch für unsere
Kirche.
Sprecherin:
Man müsse von dem hohen Ross herunterkommen, wenn es um die Gestaltung der deutschpolnischen
Zusammenarbeit
in
der
Zukunft
geht,
meint
die
Berliner
Professorin
für
Reformationsgeschichte, Dorothea Wendebourg. Die gute Kooperation auf der offiziellen Ebene
muss die Basis erreichen. Von gemeinsamen Aktivitäten, Bibel- und Bildungsprojekten müssen auch
Gläubige profitieren, die bislang nicht im Vordergrund des Austausches standen.
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O-Ton Dorothea Wendebourg:
Wenn polnische, deutsche, französische Bischöfe miteinander reden oder Papiere machen,
dann zieht das nicht notwendigerweise deren Gemeindemitglieder mit. Vermutlich müssen wir
uns wie in der Politik auch in der Kirche mehr Mühe geben, ganz normale Leute in diese
Projekte mithineinzuziehen. Aber das ist schwierig und zeitaufwendig. Was wir haben, sind
sehr starke Verbindungen zw. deutschen Gemeinden und den evangelischen Gemeinden in
früheren deutschen Gebieten. Ich mache vieles mit Schlesien und Ostpreußen. Weniger
Kontakt ist mit den evangelischen Gemeinden, die außerhalb der früheren deutschen
Gebiete bestehen.
Sprecherin:
Die zentralen Feierlichkeiten im Jubiläumsjahr finden im Herbst statt. Ein Staffellauf zwischen
Wittenberg und Cieszyn, bei dem der Gedanke der Zusammenarbeit und der Weitergabe des
Glaubens sehr wichtig ist, soll den Auftakt bilden. Besonders auf Kirchenferne soll dabei ein Funke
überspringen. In der säkularisierten Welt kann sich die lutherische Kirche nicht in Sicherheit wiegen.
Auch in Polen ist sie von Überalterung und Nachwuchssorgen betroffen. Viele Geistliche müssen
mehrere Gemeinden betreuen. Und die Jugend sei schwer zu motivieren, meint die Theologin
Agnieszka Godfrejów–Tarnogórska.
O-Ton Agnieszka Godfrejów–Tarnogórska:
Es ist kein Idealzustand. Außerhalb der Kirche gibt es so viele Angebote, umso wichtiger ist
es, die jungen Menschen an die Kirche zu binden und ihnen das Gefühl der Verantwortung für
die Gemeinschaft zu vermitteln. Wir begleiten die jungen Menschen bei all dem was in der
Kirche und außerhalb stattfindet. „Ich glaube, also bin ich“ – heißt eins unserer Projekte.
Jugendliche sollen eine Chance bekommen, sich für die Gemeinde und die Gemeinschaft an
ihrem Wohnort einzusetzen, sei es bei der Organisation von Seniorentreffen oder beim
Vorbereiten von Hilfspaketen für Kinder.
Sprecherin:
Jahr für Jahr treffen sich junge Gläubige beim evangelischen Jugendtreffen. Alle sechs Diözesen
organisieren auch Sommercamps oder Exerzitien. Immer mehr setzt man auf die Medien, um die
frohe Botschaft zu verbreiten. Die lutherische Kirche ist auch in sozialen Netzwerken wie twitter oder
facebook vertreten. Einen eigenen Fernseh- oder Radiokanal wie das katholische „Radio Maryja“ hat
sie nicht, aber dafür jede Menge Sendungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Vor allem die
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Gottesdienst-Übertragungen sind wichtig – denn sie erreichen Gläubige selbst dort, wo akuter
Priestermangel herrscht. Die Lutherische Kirche Polens entsendet auch Seelsorger ins Ausland. In
Irland, Großbritannien und Holland, auch in Essen und in Düsseldorf können Arbeitsmigranten und
Auswanderer polnisch sprachige evangelische Gottesdienste besuchen. Zunehmend muss sich die
Kirche auch um die Konvertiten kümmern, von denen viele der katholischen Kirche den Rücken
kehren, sagt Anna Wrzesińska, die rechte Hand des Landesbischofs.
O-Ton Anna Wrzesińska (Übersetzung):
Die Zahl von 250-300 Personen jährlich ist seit einigen Jahren konstant geblieben. Für uns ist
das eine Gemeinde mittlerer Größe. 90 Prozent Gemeindemitglieder in Lublin sind ehemalige
Angehörige der römisch-katholischen Kirche. Viele Gemeinden betreuen recht lange
Konvertiten – manchmal dauert dieser Prozess einige Monate oder sogar mehr als ein Jahr.
Wir wollen, dass es eine durchdachte Entscheidung ist. Denn leicht ist es nicht, ein guter
evangelischer Christ zu sein, in einem durch den Katholizismus dominierten Land.
Sprecherin:
Einer dieser Konvertiten ist Piotr Dyrda. Mit seiner Entscheidung habe er niemanden vor den Kopf
gestoßen, sagt der Informatiker. Vom Denken her sei er schon immer „protestantisch“ gewesen und
einen Mittler zwischen Mensch und Gott brauche er nicht. Bei der katholischen Kirche habe er vor
allem ein stärkeres Mitbestimmungsrecht der Gläubigen vermisst.
O-Ton Piotr Dyrda (Übersetzung):
Die katholische Kirche ist durch ihr hierarchisches Denken rückwärtsgewandt.// Zur Zeit des
2. Vatikanischen Konzils gab es den Spruch: „ecclesia semper reformanda“, was so viel
bedeutet, wie „eine sich ständig reformierende Kirche“. Das ist für mich das Vorbild einer
christlichen Kirche // Ich wünsche mir, das sich die katholische Kirche das „nationale Denken“
abgewöhnt, sich mehr auf die Hilfe für die Armen und Bedürftigen konzentriert. Die Bibel
muss stets im Zentrum stehen und nicht etwa die Vorstellung, dass ein Pole zwingend ein
Katholik sein muss.
Sprecherin:
Mehr reformatorischen Geist wünscht sich Piotr Dyrda, der auch Theologie studierte, sogar in den
eigenen Kirchenstrukturen. Vorbilder gäbe es mehr als genug.
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O-Ton Piotr Dyrda (Übersetzung):
Die evangelische Kirche in Deutschland ist sehr liberal, ähnlich wie der Staat. Im Vergleich
dazu ist unsere Kirche ziemlich konservativ. Wir sind die Bewahrer. Da geht es nicht nur um
die Frauenordination, sondern auch um die kirchliche Demokratie. Aber alles geht in die
richtige Richtung, würde ich sagen.
Sprecherin:
Im Jubiläumsjahr der Reformation stellt sich die evangelische Kirche Polens als eine stets kleine,
aber feine Gemeinschaft dar, die teilweise noch an alten Riten hängt. Eine Aussage, die die
Wirklichkeit nicht treffender wiedergeben könnte, sagt die Reformationsexpertin aus Berlin, Prof.
Dorothea Wendebourg.
O-Ton Dorothea Wendebourg:
Es ist deutlich konservativer, es ist oft so bei kleinen Kirchen, aber nicht immer. Sie sind
vorsichtiger, die nehmen auch mehr Rücksicht auf die Älteren, in größeren Kirchen läuft es
mehr pluralistisch. Was die Frauenordination betrifft, ja da ist man noch zurückhaltend. Und
wenn ich etwa an die kleine evangelische Kirche in Italien denke, die haben eine große
katholische Kirche und sogar den Papst im Land, aber sie haben selbstverständlich die
Frauenordination. Und da zeigt sich auch, die Pastorinnen arbeiten wunderbar mit
katholischen Priestern zusammen. Wir sind verschieden, wir haben unterschiedliche
Auffassungen, aber wir können an vielen Punkten vieles zusammen machen und gemeinsam
in Europa dafür sorgen, dass das Christentum eine prägende Kraft in Europa bleibt.
Sprecherin:
Ein Anhängsel der deutschen Mutterkirche will Polen‘s Lutherische Kirche nicht sein.
Auf die Fahne schreibt sie sich seit Jahrhunderten die Menschennähe und Caritas, die christliche
Nächstenliebe. Deshalb steht nicht ohne Grund über dem Eingang der Krakauer St. Martin’s Kirche
die lateinische Aufschrift: „Frustra vivit, qui nemini prodest". Auf Deutsch heißt das so viel wie: "Der
lebt umsonst, der niemandem nützt".
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