Fortbildung | „Artikel des Monats“ Genetische Diagnostik bei ­Entwicklungsstörungen und s­ eltenen syndromalen Erkrankungen Birgit Zirn | Abt. Pädiatrie II mit Schwerpunkt Neuropädiatrie, Universitätsmedizin Göttingen Einleitung Etwa 2 – 3 % aller Kinder sind von einer Entwicklungsstörung oder geistigen Behinderung betroffen [5]. Liegen zusätzlich körperliche Auffälligkeiten (z. B. faziale Dysmorphien) und Fehlbildungen (z. B. Herzfehler) vor, so spricht man von Dysmorphie- bzw. Fehlbildungs-Syndromen. Entwicklungsstörungen, geistige Behinderung und syndromale Erkrankungen können genetische Ursachen (Chromosomen- oder Genmutationen) haben oder nicht genetisch (z. B. mütterliche Infektionen, Medikamenteneinnahme oder Drogenkonsum während der Schwangerschaft) bedingt sein. Der Anteil genetischer Ursachen wird auf über 50 % geschätzt. Aufgrund der rasanten Entwicklung neuer genetischer Diagnoseverfahren kann mittlerweile bei einem wachsenden Anteil betroffener Kinder eine ursächliche genetische Mutation nachgewiesen werden. In diesem Fortbildungsartikel sollen die wichtigsten genetischen Untersuchungsmethoden anhand von klinischen Beispielen vorgestellt werden. Allgemeines Vorgehen in der klinisch-genetischen Abklärung Bei jedem Kind mit einer unklaren Entwicklungsstörung oder einer geistigen Behinderung muss zunächst eine sorgfältige klinische Untersuchung erfolgen. Hierbei wird nach wegweisenden Dysmorphien oder Fehlbildungen gesucht, die die Zuordnung zu einem übergeordneten Dys- 272 morphie- oder Fehlbildungs-Syndrom erlauben (vgl. „Der diagnostische Blick“). Liegt eine spezifische klinische Verdachtsdiagnose mit bekannter genetischer Ursache vor, dann kann eine gezielte genetische Untersuchung veranlasst werden. Hierzu zählen die konventionelle Chromosomenanalyse, die Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH) sowie die Genanalyse (Abb. 1, „oberer Weg“). Oftmals kann das klinische Erscheinungsbild (Phänotyp) jedoch keinem be- stimmten Syndrom zugeordnet werden. In diesem Fall kommen genetische Screening-Verfahren zum Einsatz, um nach einem kausalen Genotyp, also einer ursächlichen Gen- oder Chromosomenveränderung, zu suchen (Abb. 1, „unterer Weg“). Das derzeit meist angewendete ScreeningVerfahren ist die Array-CGH („hochauflösende Chromosomenanalyse“). Als Revolution in der genetischen Diagnostik ist zudem die Hochdurchsatz-Sequenzierung zu bewerten, die bereits zur Aufdeckung Welche Vorteile hat eine genetische Ursachenklärung für das Kind und seine Familie? ◾◾ Die Eltern können bezüglich der Prognose, der Therapie- und Fördermöglichkeiten der Erkrankung genauer beraten werden. ◾◾ Aus manchen genetischen Befunden ergibt sich ein spezifisches Präventionsprogramm, z. B. werden beim Beckwith-Wiedemann-Syndrom Vorsorgeuntersuchungen aufgrund des erhöhten Risikos für das Auftreten eines Wilms-Tumors (Nephroblastom) durchgeführt. ◾◾ Dem Kind werden weitere, zum Teil invasive Untersuchungen zur Diagnosefindung erspart. ◾◾ Die Familien können bezüglich eines etwaigen Wiederholungsrisikos für dieselbe syndromale Erkrankung bei weiteren Kindern genetisch beraten werden, und es kann ggf. eine gezielte Pränataldiagnostik in weiteren Schwangerschaften angeboten werden. Bei neu aufgetretenen (de novo) Mutationen ist das Wiederholungsrisiko für dieselbe Erkrankung bei weiteren Kindern eines Paares meist sehr gering. ◾◾ Die genetische Diagnosesicherung bedeutet für viele Eltern eine große Entlastung. Die Entwicklungsstörung oder syndromale Erkrankung hat dann „einen Namen“ und somit eine klare Ursache, die gegenüber weiteren Familienangehörigen, Erziehern, Lehrern und Krankenkassen benannt werden kann. ◾◾ Eltern und betroffene Kinder können sich Selbsthilfegruppen anschließen. Kinderärztliche Praxis 83, 272 – 278 (2012) Nr. 5 www.kinderaerztliche-praxis.de Fortbildung | „Artikel des Monats“ Abb. 1: „Vom Phänotyp zum Genotyp und zurück“ – Vorgehen bei der genetischen Diagnostik. Bei klinischem Verdacht auf eine spezifische syndromale Erkrankung kann eine gezielte genetische Untersuchung veranlasst werden („oberer Weg“). Liegt eine Entwicklungsstörung oder geistige Behinderung mit unspezifischem Phänotyp vor, dann kommen genetische Screening-Verfahren zum Einsatz („unterer Weg“). Die Interpretation der Ergebnisse von Screening-Verfahren bedeutet eine besondere Herausforderung. Dabei muss unter Einsatz von Datenbanken geklärt werden, ob ein aufgefundener Genotyp (Veränderung der Chromosomen oder Gene) kausal für den Phänotyp ist oder eine (familiäre) Normvariante darstellt. Dieses Vorgehen, zunächst den Genotyp zu erfassen und anschließend seine Pathogenität für den vorliegenden Phänotyp zu bewerten, wird als „Reverse Genetik“ bezeichnet. vieler neuer Krankheitsgene bei bislang ausschließlich klinisch definierten Phänotypen geführt hat. Chromosomenanalyse und Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH) Die Chromosomenanalyse war die erste Methode, die die ätiologische Abklärung syndromaler Erkrankungen erlaubte. 1959 wurde die Trisomie 21 als ursächliche Chromosomenstörung des DownSyndroms entdeckt. Kurze Zeit später wurden die Trisomie 18 beim Edwards-Syndrom sowie die Trisomie 13 als Ursache des Pätau-Syndroms beschrieben. Zudem wurden Veränderungen der Geschlechtschromosomen beim Turner-Syndrom (45,X) und beim Klinefelter-Syndrom (47,XXY) entdeckt (Überblick in [8]). Mit der Entwicklung der Bandentechnik in der Chromosomenanalyse konnten ab den 1970er Jahren zudem strukturelle Chromosomenstörungen erfasst werden. Heute kommt die Chromosomenanalyse vor allem zur genetischen Bestätigung dieser „klassischen“ Chromosomen-Syndrome zum Einsatz. Die meisten Chromosomenstörungen treten infolge von Chromosomenfehlverteilungen neu beim Kind auf und gehen mit einer sehr niedrigen Wiederholungswahrscheinlichkeit einher. Bei Trisomien handelt es sich meist um sog. freie Trisomien mit einem zusätzlich („frei“) vorliegenden Chromosom beim betroffenen Kind. Die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von freien Trisomien und vom KlinefelterSyndrom (47,XXY) nimmt mit dem mütterlichen Alter zu. Beispielsweise hat eine 28-jährige Frau eine 0,1 %ige Wahrschein- Kinderärztliche Praxis 83, 272 – 278 (2012) Nr. 5 www.kinderaerztliche-praxis.de lichkeit, dass beim Kind eine freie Trisomie 21 und somit ein Down-Syndrom auftritt; bei einer 40-jährigen Frau liegt diese Wahrscheinlichkeit bei 1 %. Als Ursache von Trisomien können jedoch auch Translokationen (Chromosomenumlagerungen) in der Chromosomenanalyse festgestellt werden, die sich phänotypisch nicht von freien Trisomien unterscheiden. Translokations-Trisomien können durch ein gesundes Elternteil vererbt werden, so dass ein erheblich erhöhtes Wiederholungsrisiko (bis 100 % im Falle eines Isochromosoms 21 bei einem Elternteil) für eine Trisomie bei weiteren Kindern eines Paares bestehen kann. Die Chromosomenanalyse ist demnach nicht nur zur Bestätigung der klinischen Diagnose, sondern auch zur Abschätzung des Wiederholungsrisikos für dieselbe syndro- 273 Fortbildung | „Artikel des Monats“ Abb. 2: Fazialer Phänotyp des DiGeorge-Syndroms und Nachweis der ursächlichen Mikrodeletion 22q11 in der FISH (= Fluoreszenzin-situ-Hybridisierung)-Analyse. Die Chromosomen erscheinen unter dem Fluoreszenzmikroskop hellblau. Die rote Farbsonde bindet an die Chromosomenregion 22q11 (rotes Signal), die grüne Farbsonde bindet an eine Kontrollregion auf demselben Chromosom (grünes Signal). Auf dem unteren der beiden Chromosomen 22 bindet ausschließlich die grüne Kontrollsonde. Es liegt ein Chromosomenstückverlust (Mikrodeletion) des Bereichs 22q11 vor, so dass die rote Farbsonde nicht binden kann (FISH-Abbildung modifiziert nach [9]). Bei gesunden Personen würden sich 2 rote und 2 grüne Farbsignale auf den beiden Chromosomen 22 finden. Eine Mikrodeletion 22q11 kann zudem über eine ArrayCGH erfasst werden. male Erkrankung bei weiteren Kindern eines Paares und anderer Familienmitglieder von entscheidender Bedeutung! Ein weiterer Meilenstein in der genetischen Diagnostik war die Einführung der Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH) zum Nachweis kleinerer Chromosomenstückverluste (Mikrodeletionen). Solche Mikrodeletionen können zum Auftreten klinisch abgrenzbarer Syndrome führen, zum Beispiel: ◾◾ Mikrodeletion 22q11.2: DiGeorge- bzw. velokardiofaziales Syndrom (Abb. 2; Herzfehler, v. a. unterbrochener Aortenbogen, Thymushypoplasie, Hypoparathyreoidismus, faziale Dysmorphien, Gaumenspalte, psychomotorische Entwicklungsverzögerung) ◾◾ Mikrodeletion 17q12: Smith-MagenisSyndrom (Wachstums- und Entwicklungsstörung, Schlafstörung, Herzfehler, Strabismus, Brachydaktylie, faziale Dysmorphien) ◾◾ Mikrodeletion 7q11.23: Williams-BeurenSyndrom (Abb. 3; Herzfehler, v. a. Aorten- und Pulmonalstenosen, Kleinwuchs, Hyperkalziämie in den ersten Lebensjahren, gute Sprachentwicklung, kontaktfreudige Persönlichkeit, Lernbehinderung oder geistige Behinderung, typische faziale Dysmorphien). Ergibt sich klinisch der Verdacht auf ein solches Mikrodeletions-Syndrom, dann kann eine gezielte FISH-Untersuchung veranlasst werden (vgl. Abb. 2). Da Mik- 274 rodeletionen meist 1 – 5 Megabasen umfassen, sind sie in der konventionellen Chromosomenanalyse mit einer maximalen Auflösung von 5 – 10 Megabasen nicht sichtbar! Mikrodeletions-Syndrome werden auch durch die Array-CGH erfasst (s. u.). Genanalysen 1854 begann der Mönch Gregor Mendel in seinem Klostergarten die Vererbung von Merkmalen bei Erbsen zu untersuchen. Bei seinen Kreuzungsversuchen beschrieb er, dass Merkmale unabhängig voneinander vererbt werden können und sich in domi- nante und rezessive Merkmale unterschieden lassen. Er legte somit die Grundlage für die Beschreibung der „mendelschen Erbgänge“ (autosomal-dominante, autosomal-rezessive sowie X-chromosomale Vererbung) und unterschied erstmals zwischen Phänotyp (Erscheinungsbild) und Genotyp (Erbbild). Mittlerweile ist bekannt, dass das menschliche Genom etwa 22.500 Gene umfasst. Für über die Hälfte dieser Gene ist bereits ein entsprechender Phänotyp, d. h. eine Erkrankung oder ein Syndrom, beschrieben. Eine Zusammenstellung aller Gene mit bekanntem mendelschem Erbgang und entsprechendem Abb. 3: Fazialer Phänotyp des WilliamsBeuren-Syndroms. Typisch sind die faziale Hypotonie, die kurze Nase mit den ausladenden Nasenflügeln sowie den nach vorne gerichteten Nasenlöchern, das lange Philtrum mit deutlich reduzierter Modellierung, die vollen Lippen, die kleinen Zähne und das kleine Kinn. Zudem sind die für das Williams-Beuren-Syndrom typischen kurzen Finger zu erkennen (Brachydaktylie). Kinderärztliche Praxis 83, 272 – 278 (2012) Nr. 5 www.kinderaerztliche-praxis.de Fortbildung | „Artikel des Monats“ Phänotyp findet sich in der frei zugänglichen Datenbank OMIM (Online Mendelian Inheritance in Man, http://www.ncbi. nlm.nih.gov/omim). Die Untersuchung einzelner Gene wird veranlasst, wenn sich in der klinischen Untersuchung der Verdacht auf ein monogenes Syndrom ergibt, als dessen Ursache Mutationen in einem bestimmten Gen bekannt sind. Mithilfe molekulargenetischer Methoden wird ein entsprechendes Gen auf Fehler in der Basenabfolge (durch Sequenzierung) und kleinste Deletionen innerhalb des Gens (meist durch multiplex ligation-dependent probe amplification = MLPA-Analyse) untersucht. Ein Beispiel für ein monogenes Syndrom findet sich im folgenden Artikel „Der diagnostische Blick“ in diesem Heft. Array-CGH In den letzten Jahren haben genetische Screening-Verfahren, insbesondere die Array-CGH, einen bedeutenden Fortschritt in der Diagnostik bislang unklarer Dysmorphie- und Retardierungs-Syndrome gebracht. Bei der Array-CGH (Array comparative genomic hybridisation = chipbasierte vergleichende genomweite Bindung) handelt es sich um ein molekulargenetisches Verfahren, mit dem genomweit nach kleinen chromosomalen Veränderungen (Mikrodeletionen und Mikroduplikatio- Abb. 4: Mikroduplikations-Syndrom 7q11.23: fazialer Phänotyp und Array-CGH-Befund. Der abgebildete Junge fiel durch eine globale Entwicklungsverzögerung mit ausgeprägter Sprachentwicklungsstörung auf. Sein fazialer Phänotyp ist durch gerade verlaufende Augenbrauen, einen Hypertelorismus, ein kurzes Philtrum und schmale Lippen gekennzeichnet (Array-CGH-Abbildung von Dr. M. Shoukier, Institut für Humangenetik, Universitätsmedizin Göttingen). nen) gesucht wird. Im Vergleich zur konventionellen Chromosomenanalyse (Auflösung 5 – 10 Megabasen) ist die Auflösung der Array-CGH mit 50 – 100 Kilobasen etwa 100-mal besser, so dass die Array-CGH auch als „hochauflösende Chromosomenanalyse“ bezeichnet wird. Durch die Array-CGH kann bei 10 – 15 % aller Kinder mit bislang unklarer Entwicklungsstörung oder einem Dysmorphie-/ Fehlbildungs-Syndrom eine ursächliche Chromosomenstörung aufgedeckt werden [6, 7]. Aufgrund dieser hohen Detektionsrate hat sich die Array-CGH als primärer genetischer Screening-Test bei Kin- Wesentliches für die Praxis . . . ◾◾ Die Entwicklung der modernen Genetik ermöglicht bei immer mehr Kindern mit bislang unklarer Entwicklungsverzögerung, geistiger Behinderung oder syndromaler Erkrankung das Auffinden einer ursächlichen Chromosomen- oder Genmutation. ◾◾ Die körperliche Untersuchung mit Dokumentation von Dysmorphien und Fehlbildungen ist von entscheidender Bedeutung bei der klinischen Syndromeinordnung. ◾◾ Bei klinischem Verdacht auf eine spezifische syndromale Erkrankung kann eine gezielte genetische Untersuchung mittels Chromosomenanalyse, Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung oder Genanalyse veranlasst werden (Abb. 1, „oberer Weg“). ◾◾ Bei einem unspezifischen Phänotyp oder bei bislang ausschließlich klinisch charakterisierten Syndromen kann mittels genetischer Screening-Verfahren (Array-CGH und Hochdurchsatz/Exom-Sequenzierung) nach einer ursächlichen Chromosomenstörung oder Genmutation gesucht werden (Abb. 1, „unterer Weg“). 276 dern mit unklaren Dysmorphie- und Retardierungs-Syndromen durchgesetzt [3]. Auch im Rahmen der Pränataldiagnostik erlangt die Array-CGH eine zunehmende Bedeutung. Mittels Array-CGH wurden kürzlich neue Syndrome mit rekurrenten Bruchpunkten beschrieben, z. B. das Mikroduplikations-Syndrom 7q11.23 ([1], Abb. 4). Hierbei ist ein Abschnitt des langen Arms von Chromosoms 7 verdoppelt. Betroffene Kinder fallen meist durch eine Entwicklungsverzögerung mit ausgeprägter Sprachentwicklungsstörung sowie fazialen Dysmorphien auf. Interessanterweise führt eine Deletion derselben Region zum Williams-BeurenSyndrom, das mit Herzfehlern (v. a. Aorten- und Pulmonalstenosen), einer Entwicklungsstörung und charakteristischen fazialen Dysmorphien einhergeht (Abb. 3). Die Sprachentwicklung von Kindern mit Williams-Beuren-Syndrom ist meist gut, die Kinder sind häufig sehr sprachgewandt und mitteilsam, so dass sie im Alltag überschätzt werden können. In der Chromosomenregion 7q11.23 liegen demnach Gene, die dosisabhängig Einfluss auf die Sprachentwicklung haben: Im Falle einer Deletion tritt eine eher gute und differenzierte, im Falle einer Duplikation tritt eine verzögerte Sprachentwicklung auf. Das Williams-Beuren-Syndrom zählt zu den „klassischen“ Mikrodeletions-Syn- Kinderärztliche Praxis 83, 272 – 278 (2012) Nr. 5 www.kinderaerztliche-praxis.de Fortbildung | „Artikel des Monats“ dromen mit einem klinisch wiedererkennbaren Phänotyp (Abb. 3) und wurde bislang durch eine gezielte FISH-Analyse bestätigt. Allerdings wird die für das Williams-Beuren-Syndrom typische Mikrodeletion 7q11.23 bei manchen Kindern auch „zufällig“ ohne vorherigen klinischen Verdacht im Rahmen einer Array-CGH gefunden. Dies ist auch bei anderen Mikrodeletions-Syndromen (z. B. DiGeorge-Syndrom bei Mikrodeletion 22q11.2, Abb. 2) der Fall, die ebenfalls klinisch variabel sein können und daher selbst für erfahrene Kliniker, insbesondere bei atypischer oder milder Ausprägung, nicht immer als „wiedererkennbares Syndrom“ erfassbar sind. Auch bei Säuglingen und Kleinkindern kann eine Diagnosestellung schwierig sein, denn teilweise entwickelt sich ein „klassischer“ Phänotyp erst nach einigen Jahren. Die Array-CGH fördert somit bei einigen Kindern eine frühe Diagnosestellung bei noch nicht „klassischer“ Syndrom-Symptomatik. Etwa zwei Drittel aller Chromosomenveränderungen, die durch eine Array-CGH festgestellt werden, sind kausal für den Phänotyp des untersuchten Kindes. Dies sind vor allem bekannte Mikrodeletions- und Mikroduplikations-Syndrome sowie unbalancierte Translokationen [7]. Dahingegen gestaltet sich die Bewertung von etwa einem Drittel der in der Array-CGH gefundenen Chromosomenveränderungen aus folgenden Gründen schwierig: ◾◾ Es besteht keine Überlappung mit bekannten Chromosomenaberrationen. ◾◾ Die Chromosomenveränderung wurde von einem gesunden Elternteil vererbt. ◾◾ Es handelt sich um eine sehr kleine Veränderung (typischerweise < 1 Mb), in der Gene ohne bislang bekannte Krankheitsrelevanz liegen. Vermutlich kann die Krankheitsrelevanz solcher bislang unklarer Befunde in einigen Jahren deutlich besser bewertet werden, da Array-CGH-Befunde und die entsprechenden klinischen Phänotypen in Datenbanken gesammelt werden (z. B. ECARUCA, http://umcecaruca01.extern.umcn.nl:8080/ecaruca/ecaruca.jsp). Hochdurchsatz-Sequenzierung Eine neue Ära der Sequenzierung (Ablesen der Basenabfolge in der DNA) wurde durch die Entwicklung der Hochdurchsatz-Sequenzierung („next generation sequencing“., NGS) eingeläutet. Während es früher oft Monate bis Jahre dauerte, ein neues Gen mittels der „Sanger-Sequenzierung“ (jede Base wird nacheinander gelesen) zu identifizieren, erlaubt die Hochdurchsatz-Sequenzierung die parallele Sequenzierung des gesamten humanen Genoms (3 x 109 Basen) in wenigen Wochen für mittlerweile weniger als 5.000 Euro. Bei medizinischen Fragestellungen wird die Hochdurchsatz-Sequenzierung vor allem folgendermaßen angewandt: 1. Gen-Panel: Es werden alle für einen Phänotyp bekannten Gene parallel sequenziert. Beispielsweise liegen dem Noonan-Syndrom (Herzfehler, Ptosis, Pterygium colli, Entwicklungsverzögerung, Kleinwuchs) in nur 50 % Mutationen im PTPN11-Gen zugrunde. Zudem können Mutationen in den Genen KRAS, Kinderärztliche Praxis 83, 272 – 278 (2012) Nr. 5 www.kinderaerztliche-praxis.de 277 Fortbildung | „Artikel des Monats“ Abb. 5: 12-jähriger Junge mit ProteusSyndrom (OMIM 176920). Klinisch wegweisend sind eine Hemihyperplasie des rechten Beines sowie eine Hypertrophie der vierten Zehe rechts und der Kleinzehe links. Als Ursache des Proteus-Syndroms wurde bei diesem Jungen mittels ExomSequenzierung eine neu aufgetretene Mutation im AKT1-Gen nachgewiesen [2] (Fotos von Prof. Dr. K. Brockmann, SPZ, Universitätsmedizin Göttingen). SOS1 und RAF1 krankheitsauslösend sein, so dass eine parallele Sequenzierung dieser Gene als „Noonan-GenPanel“ zu einer höherer „Trefferquote“ für Mutationen in kürzerer Zeit führt. 2. Exom-Sequenzierung: Es werden alle kodierenden Bereiche (Exone) des menschlichen Genoms (ca. 23.000 Gene) parallel sequenziert. Die Interpretation der Daten ist derzeit noch sehr schwierig und erfolgt schrittweise [4]. Zunächst werden von den üblicherweise über 10.000 aufgefundenen Varianten all solche ausgeschlossen, die bereits als Varianten bei gesunden Personen bekannt sind. Hierzu werden interne und externe Datenbanken herangezogen (z. B. dbSNP, http://www.ncbi.nlm. nih.gov/projects/SNP/). Die krankheitsrelevante Mutation wird anschließend unter den verbleibenden nicht-synonymen (Aminosäure verändernden) Varianten innerhalb des kodierenden Bereiches sowie unter den Varianten innerhalb von Spleißstellen gesucht. Triplett-Repeat-Erkrankungen (z. B. CGGTrinukleotid-Expansion im FMR1-Gen beim Fragilen-X-Syndrom) können durch die Exom-Sequenzierung nicht erkannt werden. Die Exom-Sequenzierung hat bereits zur Identifikation der krankheitsauslösenden Gene bei diversen Erkrankungen geführt (z. B. Proteus-Syndrom [2], vgl. Abb. 5). Der Einsatz genetischer Screening-Verfahren entspricht einem „umgekehrten“ 278 diagnostischen Vorgehen, das als „reverse Genetik“ bezeichnet wird: islang wurde ausgehend von einem spezifischen Phänotyp eine gezielte genetische Diagnostik veranlasst. Mit Screening-Verfahren wird dagegen bei einem unspezifischen Phänotyp (z. B. Dysmorphie- und RetardierungsSyndrom unklarer Ursache) zunächst genomweit nach Chromosomen- und Genvarianten gesucht, deren Bedeutung für den Phänotyp anschließend bewertet wird (Abb. 1). Diese Genotyp-Phänotyp-Korrelation stellt derzeit häufig noch eine große Herausforderung dar. Die Interpretation genetischer Daten wird jedoch in den kommenden Jahren durch die Erweiterung klinisch-genetischer Datenbanken entscheidend erleichtert werden. thogenic copy number variants? Clin Genet, Epub ahead of print, doi: 10.1111/j.1399-0004.2012.01850.x 8. Trask BJ (2002) Human cytogenetics: 46 chromosomes, 46 years and counting. Nat Rev Genet 3: 769 – 78 9. Zirn B (2009) Die Genetische Sprechstunde. SteinkopffVerlag, Springer Science und Business Media, Heidelberg, 93 – 98 Korrespondenzadresse PD Dr. med. Dr. rer. nat. Birgit Zirn Sozialpädiatrisches Zentrum Abt. Pädiatrie II mit Schwerpunkt Neuropädiatrie Universitätsmedizin Göttingen Robert-Koch-Straße 40 37075 Göttingen Tel.: 05 51/3 91 32 41 Fax: 05 51/39 62 52 E-Mail: [email protected] Literatur 1. Dixit A, McKee S, Mansour S, Mehta S, Tanteles G et al. (2012) 7q11.23 Microduplication: a recognizable phenotype. Clin Genet, Epub ahead of print, doi: 10.1111/j.13990004.2012.01862.x 2. Lindhurst MJ, Sapp JC, Teer JK, Johnston JJ, Finn EM et al. (2011) A mosaic activating mutation in AKT1 associated with the Proteus syndrome. N Engl J Med 365: 611 – 9 3. Miller DT, Adam MP, Aradhya S, Biesecker LG, Brothman AR et al. (2010) Consensus statement: chromosomal microarray is a first-tier clinical diagnostic test for individuals with developmental disabilities or congenital anomalies. Am J Hum Genet 86: 749 – 64 4. Neveling K, Hoischen A (2012) Exom-Sequenzierung zur Identifizierung von Krankheitsgenen. Medgen 24: 4 – 11 5. 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