Lifestyle-Medikamente und körperdysmorphe Störungen

Werbung
M E D I Z I N
Lifestyle-Medikamente und
körperdysmorphe Störungen
Ein neues medizinisches Phänomen am Beispiel der Dermatologie
Wolfgang Harth, Marcus Wendler, Ruthild Linse
Zusammenfassung
Eine neue Medikamentengruppe, die den psychosozialen Schönheitsidealen der westlichen
Zivilisationsgesellschaft entspricht, sind die
so genannten Lifestyle-Medikamente. Seit der
Einführung von Lifestyle-Medikamenten wie
Finasterid und Sildenafil wird eine sprunghafte Zunahme von Patienten mit körperdysmorphen Störungen in der Hautklinik Erfurt festgestellt. Hierbei erfolgt der Arzt-PatientenKontakt oftmals zwecks klarer Absicht der
Verordnung einer definierten Wunschmedikation von Lifestyle-Medikamenten. Körperdysmorphe Störungen bezeichnen die übermäßige und ständige Beschäftigung mit einem minimalen oder nicht vorhandenen Mangel und
beinhalten ein breit gefächertes Spektrum
von eingebildeten körperlichen Erscheinungen. Patienten mit körperdysmorphen Störungen finden sich in jeder medizinischen Praxis
wieder und sind schwierig zu behandeln. Bei
D
er verstärkte Wunsch nach Jugendlichkeit und Schönheit westlicher Gesellschaftssysteme führt
aktuell besonders im Fachgebiet Dermatologie zur dramatischen Wende,
hin zum Schwerpunkt dermatologische
Kosmetik (22). Auch die kosmetische
und pharmazeutische Industrie hat bereits frühzeitig auf diese Entwicklung
mit dem Angebot einer breiten Produktpalette reagiert.
Die zusätzliche Thematisierung der
dermatologischen Kosmetologie in
den Medien (Lifestyle-Magazine, Privat-Fernsehen und Internet) sowie die
Zulassung von modeabhängigen Lebensgenussmedikamenten (LifestyleMedikamenten) für Haarwachstum,
Potenz und Gewichtsreduktion hatte
eine rasche und zeitlich abhängige
gravierende Zunahme von Patientenvorstellungen mit kosmetischen Fragestellungen und einem schnell ansteigenden Behandlungsbedarf zur Folge.
Hierbei erfolgt der Arzt-Patienten-
A 128
körperdysmorphen Störungen liegt keine
Therapiegrundlage für den Einsatz von Lifestyle-Medikamenten vor, und es steht eine
adäquate Psychotherapie oder medikamentöse Behandlung mit Psychopharmaka im Vordergrund.
Schlüsselworter: körperdysmorphe Störung,
Psychosomatik, Arzneimittelmissbrauch, Lifestyle-Medikament, Dermatologie
Summary
Lifestyle-Drugs and Body Dysmorphic
Disorder: A new Medical Phenomenon
Demonstrated for Dermatology
A new group of drugs which meets the lifestyle demands and fulfils ideal interpretations and beauty ideals of western society are
the so-called lifestyle drugs. Following the introduction of the new lifestyle drugs finaste-
Kontakt oftmals zwecks klarer Absicht der Verordung einer definierten
Wunschmedikation von Lifestyle-Medikamenten.
Diese Patientengruppe zeichnet sich
durch einen hohen Anteil von psychischen Störungen aus. Besteht eine
übermäßige Beschäftigung mit einem
eingebildeten Mangel oder einer Entstellung in der äußeren Erscheinung,
die Beeinträchtigungen in sozialen und
beruflichen Bereichen verursacht, liegt
per Definition eine körperdysmorphe
Störung vor (28). Pathogenetisch spielen seelische Belastungssituationen
und Konflikte eine wesentliche Rolle
(14, 39). Eine Untersuchung hinsichtlich psychosomatischer Gesichtspunkte erfolgt – wenn überhaupt – erst nach
mehrjährigen Verläufen und erfordert
spezifische therapeutische Strategien
(36).
Klinik für Hautkrankheiten (Chefärztin: Prof. Dr. med. Ruthild Linse), Helios Klinikum Erfurt
ride and sildenafil the authors observed a
dramatic increase in the number of patients
suffering from body dysmorphic disorder
attending the clinic for skin diseases in Erfurt,
Germany. These patients frequently contact
their doctor demanding a prescription of
a particular lifestyle drug. The body dysmorphic disorder is defined as the repeated
preoccupation with a minimal or non-evident
defect and includes a wide spectrum of imagined defects in appearance. Patients with
body dysmorphic disorder are present in
every clinical practice and are difficult to
treat. However, there is no indication for the
use of lifestyle drugs in the treatment of
a body dysmorphic disorder. The appropriate
treatment includes psychotherapy and psychopharmacological medication.
Key words: body dysmorphic disorder, psychosomatics, drug abuse, lifestyle drug, dermatology
Klassifikation und
Komorbidität
Körperdysmorphe Störungen (11, 28)
werden im Diagnostischen und Statistischen Manual psychischer Störungen,
DSM-IV, zu den somatoformen Störungen gezählt (10, 11). Im ICD 10 (F 45.2)
ist diese Störung als Dysmorphophobie
eine Unterform der hypochondrischen
Störung. Da es sich bei den körperdysmorphen Störungen nicht um wirklich
phobische Störungen handelt, ist die
Dysmorphophobie als ein veralteter Begriff anzusehen.
Die diagnostischen Kriterien bei körperdysmorphen Störungen sind:
> A: Eine übermäßige Beschäftigung
mit einem eingebildeten Mangel oder einer Entstellung in der äußeren Erscheinung.Wenn eine leichte körperliche Anomalie vorliegt, so ist die Besorgnis der
betroffenen Person stark übertrieben.
> B: Die übermäßige Beschäftigung
verursacht in klinisch bedeutsamer
 Jg. 100
 Heft 3
 17. Januar 2003
Deutsches Ärzteblatt
M E D I Z I N
Weise Leiden oder Beeinträchtigungen
in sozialen, beruflichen oder anderen
wichtigen Bereichen.
> C: Die übermäßige Beschäftigung
wird nicht durch eine andere psychische
Störung besser erklärt.
Bei der Diagnosestellung muss der
behandelnde Arzt bedenken, dass von
dem Patienten die körperlichen Anomalien, auch wenn sie eingebildet sind,
als real erlebt werden (5). Da die
Störung vorrangig das Gesicht als Ort
der Schamexpression sowie den Bereich der Brust und Genitalien betrifft,
wird die Scham zum Leitaffekt (5), sodass auch von einer Schamkrankheit
gesprochen werden kann. So kann hohes Alter, Dickleibigkeit, Unsportlichkeit und falsche Behaarung (14, 35)
eher Schamgefühle auslösen, als nackt
zu sein. Die Scham setzt dabei den interpersonellen Blick des Anderen voraus und kann aus Angst vor visueller
Exposition zur Vermeidung von Öffentlichkeit mit Soziophobie führen.
An Komorbiditäten fanden Cotteril
(8), Phillips (26) und Stangier (34) bei
Patienten mit körperdysmorphen Störungen insbesondere Zwangsstörungen,
soziale Ängste, Depressionen, narzisstische Persönlichkeitsstörungen bis hin zu
körperbezogenem Wahn (21). Zwangsgedanken beschränken sich dabei nicht
nur auf die Sorgen um das Aussehen, sondern es bestehen auch andere
Zwangshandlungen. Dies beinhaltet insbesondere eine ständige Kontrolle des
Aussehens vor dem Spiegel, Betasten
und aufwendige Pflegemaßnahmen.
Klinische Befunde
Das Auftreten von körperlichen Symptomen, für die sich keine ausreichenden
organischen Ursachen nachweisen lassen, gehört zum ärztlichen Alltag (12, 23)
und findet sich in allen medizinischen
Disziplinen. Letztendlich kann jedes Organ, jede körperliche Funktion betroffen
sein (20). Insbesondere das Hautorgan
und die Hautanhangsgebilde sind aufgrund der visuellen Exposition ein besonderer Fokus für die Beobachtung von
körperlichen Symptomen (6).
Die Inzidenz der körperdysmorphen
Störung liegt in der Gruppe der dermatologischen Patienten bei 11,9 Prozent
bis 15,6 Prozent (26) und kann in einer dermatologischen KosmetologieSprechstunde in Abhängigkeit von der
Patientenklientel 23,1 Prozent und
mehr betragen (15). Die körperdysmorphe Störung ist besonders häufig bei
Frauen zwischen dem 35. und 50. Lebensjahr und Männern vor dem 35. Lebensjahr (32) zu beobachten.
Die Klagen zu Mängeln des äußeren
Erscheinungsbildes beziehen sich insbesondere auf Schönheitsfehler im Gesicht, der Kopfbehaarung sowie auf den
Brust- und Genitalbereich (8). Die angegebenen Symptome der körperdysmorphen Störungen sind sehr variabel
Tabelle
´
C
aufhalten. Hierbei handelt sich es um
kein neues Thema. Der Traum nach Jugend und Schönheit wurde bereits 1546
von Lucas Cranach dem Älteren in seinem Gemälde Jungbrunnen dargestellt.
Lifestyle-Medikamente
Patienten mit körperdysmorphen Störungen suchen in erheblichem Maße
nach traditionellen Behandlungsmaßnahmen. Die dermatologischen kosmetischen Therapieschwerpunkte beinhalten
in den letzten Jahren ein breites Spektrum an konservativen und invasiven
´
Spezielle Lifestyle-Medikamente in der Dermatologie
Medikament
Medizinische
Indikation
Lifestyle-Verwendung
Vitamin-A-Cremes
Akne vulgaris
Anti-Faltentherapie: Streben nach jugendlichem
Aussehen (Dorian-Gray-Syndrom)
Orlistat, Sibutramin Adipositas
Einnahme durch Normalgewichtige zum Halten oder
Erreichen eines gesellschaftlichen Schönheitsideals
oder bei Anorexia nervosa
Sildenafil,
Phentolamine
Streben nach Potenz und steuerbarer Erektion
Erektile
Dysfunktion
Minoxidil, Finasterid Androgenetische Einnahme bei altersentsprechender Alopezie
Alopezie
Botulinum-Toxin
Hyperhidrosis
Stabilisierung der normwertigen physiologischen
Hyperhidrose bei physischer oder psychischer Belastung oder im Rahmen psychischer Störungen
(Soziophobie, körperdysmorphe Störung)
und umfassen Haarausfall, übermäßige
Gesichtsbehaarung, Akne, Falten, Pigmentstörungen, Narben, Gefäßzeichnungen, Blässe oder Rötung der Haut,
Schwellungen, Gesichtsasymmetrien
oder Disproportionalität der Form und
Größe von Nase, Augen, Augenlidern,
Augenbrauen, Ohren, Mund, Lippen,
Zähnen, Kiefer, Kinn, Wangen oder
Kopf. Seltener beklagen sich die Patienten über das Aussehen der Füße, der
Hände, der Brust und des Rückens.
Kürzlich wurde ein weiteres klinisches Konzept als Dorian-Gray-Syndrom beschrieben, wobei eine körperdysmorphe Störung mit narzisstischer
Regression, Soziophobie und dem starken Wunsch nach Bewahrung der Jugendlichkeit einhergeht (4). In einigen
Fällen sollen Lifestyle-Medikamente
dann den natürlichen Alterungsprozess
 Jg. 100
 Heft 3
 17. Januar 2003
Deutsches Ärzteblatt
Verfahren, wobei verstärkt moderne
Technologien, insbesondere der Laser,
angewendet und weiterentwickelt wurden. Operative Eingriffe oder lange Medikamentenanwendung können jedoch
auch die Störung verstärken und weitere
erfolglose Behandlungen nach sich ziehen. Betroffene Personen haben künstliche Nasen, Ohren, Brüste oder Hüften,
mit denen sie nach wie vor unzufrieden
sind (9).
Eine neue Medikamentengruppe, die
dem Lebensstil und Bedarf der westlichen Gesellschaft nach Idealvorstellungen und Schönheitsidealen entsprechen,
sind Lifestyle-Medikamente. In der Literatur fehlt bisher eine allgemeingültige,
verbreitete Definition für Lifestyle-Medikamente (7). Aus diesem Grund schlagen die Autoren folgende Definition vor:
„Lifestyle-Medikamente sind Pharmaka,
A 129
M E D I Z I N
die von gesunden Menschen zur Erlangung eines aktuell psychosozialen Schönheitsideals eingenommen werden und
nicht der Stabilisierung körperlicher Vitalfunktionen von Kranken dienen“. Die
Zuordnung eines Medikamentes zur Kategorie der Lifestyle-Therapeutika ist dabei entscheidend von psychosozialen
Aspekten des Behandlungswunsches geprägt. Die Ovulationshemmer waren die
erste Medikamentengruppe, welche die
Kriterien eines Lifestyle-Medikamentes
erfüllte und einen ausschlaggebenden
Einfluss auf die Lebensgewohnheiten,
insbesondere das Sexualverhalten, Ethikdiskussion und auch die Krankheitsmorbidität von Geschlechtserkrankungen
hatte (16).
Die Zahl der Lifestyle-Medikamente
hat sich in den letzten Jahren deutlich erhöht. Zu den Hauptgruppen gehören
heute Medikamente verschiedener
Gruppen beispielsweise Nootropika (Piracetam, Yohimbin, Hydergin), Psychopharmaka (Fluoxetin), Hormone (Anabolika, Melatonin, Dehydroepiandrosteron) und Eco-Drugs wie Absinth,
Echinacea, Kava-Kava, und Johanniskraut. An dieser Stelle sei ausdrücklich
darauf hingewiesen, dass es sich bei der
Anwendung von Nootropika oder Psychopharmaka als Lifestyle-Medikamente um die missbräuchliche Einnahme
dieser Substanzen bei Gesunden zur
Steigerung des Wohlbefindens handelt.
Die Therapie mit diesen Medikamenten
bei Patienten mit medizinischer Indikation soll hier nicht angezweifelt werden.
In den Bereich des Strebens nach körperlicher Fitness gehören Anabolika, die
auch in der nichtprofessionellen Bodybuildingszene große Verbreitung gefunden haben. Auf dem Gebiet der Psychopharmaka können Antidepressiva wie
Fluoxetin, wenn diese ohne Indikation
eingenommen werden, ebenso als Lifestyle-Medikamente gelten wie Präparate, denen über die eigentliche therapeutische Wirkung hinausgehende Effekte zugeschrieben werden wie beispielsweise
Selegilin oder Ondansetron. Auch psychoaktive Drogen, beispielsweise Ecstasy zählen zu dieser Kategorie. Schon im
Altertum gebräuchlich, haben Aphrodisiaka in neuerer Zeit wieder an Beliebtheit gewonnen.
Der Dermatologe wird besonders für
die rezeptpflichtigen Lifestyle-Medika-
A 130
mente (Tabelle) oder aufgrund der Nebenwirkungen, wie bei der phototoxisch/photoallergischen Kontaktdermatitis nach Einnahme von Johanniskraut,
konsultiert (10). Im Folgenden werden
einige Substanzgruppen vorgestellt.
> Vitamine (Vitamin-A-Verordnung),
Nahrungsergänzungsmittel, Mineralien
und Hautcremes werden als lebensverlängernd und als Jungbrunnen beworben. Neue Aspekte der Prophylaxe und
Therapie des Hautalterns beziehen sich
auf die Vitamin A, Vitamin E und Vitamin C (29). Die bisher in Zellkulturen
und in Tiermodellen untersuchten positiven Effekte von Vitamin C und E als An-
Körperdysmorphe Störung: Patient mit vermeintlichem Haarausfall
tioxidanzien und partiell als Stimulatoren der Kollagensynthese konnten in klinischen Studien bisher nicht nachgewiesen werden. Beispielsweise wurde bei einer Überdosierung mit Vitamin E von
mehr als 1 000 IU/Tag ein gegenteiliger
Effekt mit zunehmender Mortalität beschrieben (30).
> Orlistat wird zur Behandlung adipöser Patienten eingesetzt und ist ein Inhibitor gastrointestinaler Lipasen. Diese
Substanz wird auch von Normalgewichtigen missbräuchlich als Lifestyle-Medikament eingenommen (13). Als Nebenwirkung können Pigmentierungsstörungen,
Flatulenz, Stuhlinkontinenz und Rektumschmerzen auftreten.
> Sildenafil ist ein Phosphodiesteraseinhibitor, wobei die Wirkung in
einer verlängerten Verfügbarkeit des
3’5’-cGMP liegt.Als Nebenwirkung können Kopfschmerzen, Gesichtsröte sowie
Störungen des Farbsehens (Blauschleier)
auftreten. Nach der Einführung von Sildenafil kam es zum Anstieg der Inzidenz
der Patientenvorstellungen bei Männern
mit der Überweisungsdiagnose Impotentia coeundi. Die Zunahme ist durch eine
Somatisierung sexueller Dysfunktionen
zu erklären (17). Im Vordergrund steht
der Wunsch einer somatischen Therapie
der sexuellen Dysfunktion, vor dem Hintergrund des Mythos, dass nur eine perfekte Erektion im Normalbereich liegt.
Dem Arzt stellte sich dabei die Frage
nach der notwendigen Indikation einer
Lifestyle-Medikation: Wo besteht eine
normale situationsbedingte Unzulänglichkeit und wo eine schwerwiegende Erkrankung? Dies ist besonders bei Sildenafil aufgrund der möglichen Interaktion
mit anderen Arzneimitteln und bei HerzKreislauf-Erkrankungen einschließlich
stattgehabter Komplikationen mit Todesfolge zu beachten.
> Finasterid wird zur Therapie der
androgenetischen Alopezie bei Männern
eingesetzt. Die Typ-II-5-Alpha-Reduktase wird in den Haarfollikeln gehemmt
und die periphere Umwandlung von
Testosteron in das Androgen Dihydrotestosteron (DHT) blockiert.Als Nebenwirkung wurden verminderte Libido,
vermindertes Ejakulatvolumen und erektile Dysfunktion sowie eine Vergrößerung der Brust beschrieben.
Nach der Einführung von Finasterid
im Januar 1999 stellten sich mehr Patienten mit körperdysmorphen Störungen
(Abbildung) wegen vermeintlichem
Haarausfall vor. Hierbei erfolgte der
Arzt-Patienten-Kontakt zwecks klarer
Absicht einer definierten Wunschmedikation von Lifestyle-Medikamenten,
welche von den Patienten durch Lesen
und Vorlage entsprechender Fachinformationen eingefordert wird.
> Botulinumtoxin ist das Neurotoxin
des Anaerobiers Clostridium botulinum
und hemmt die Acetylcholinausschüttung (1) an motorischen und vegetativen
Nervenendigungen. 1980 wurde das Botulinum-Neurotoxin Typ A erstmals zu
therapeutischen Zwecken des Strabismus eingesetzt. Seitdem wurde das In-
 Jg. 100
 Heft 3
 17. Januar 2003
Deutsches Ärzteblatt
M E D I Z I N
dikationsspektrum deutlich erweitert,
einschließlich ästhetischer Indikationen
im Gesicht und zur Behandlung der Hyperhidrose (3). Die auffälligste Entwicklung in der Dermatologie zeigt derzeit
der Behandlungswunsch der Hyperhidrose auf. Seit der Einführung der Therapie der Hyperhidrose (25, 31) mit Botulinumtoxin ist auch die Schweißbildung
ein besonderer Fokus für die Beobachtung von einer physiologischen Körperfunktion geworden, welche gleichzeitig
von den Patienten als körperliche Anomalie wahrgenommen wird. So wünschen einige Patienten mit körperdysmorphen Störungen eine Therapie mit
Botulinumtoxin als Selbstzahlerleistung.
Für die neue Lifestyle-Venenophilie
nach Botulinumtoxin, insbesondere bei
körperdysmorphen Störungen mit normwertigem, physiologischem Schwitzen
und zusätzlich hartnäckiger Forderung
der Patienten nach Botulinumtoxin-Therapie trotz negativer Ergebnisse, schlagen die Autoren als neue Diagnose die
Bezeichnung „Botulinophilie“ vor. In einer Untersuchung unter biopsychosozialen Gesichtspunkten lag bei 23,1 Prozent
der Patienten mit Hautfacharztüberweisung wegen Hypyperhidrose an der
Hautklinik Erfurt eine Botulinophilie
vor. Das Durchschnittsalter der im ersten
Quartal 2000 betreuten 13 Patienten betrug 28,2 Jahre, wobei es sich hauptsächlich um weibliche Patienten (84,6 Prozent) handelte. Der Therapiewunsch ist
dann der Versuch, mithilfe des Botulinumtoxins ein psychisches Gleichgewicht
(2, 6) zu stabilisieren und auf Organebene
eine Pseudolösung zu erreichen.
Therapie
Das Einfordern der Therapie mit rezeptpflichtigen Lifestyle-Medikamenten
setzt den Arzt unter emotionalen Druck
in der Ambivalenz zwischen Drängen
und nicht gegebener Indikation. Besonders aufmerksam sollte der behandelnde
Arzt bei dramatisierenden und zugleich
vagen Symptomschilderungen werden.
Wichtig ist die adäquate Indikationsstellung im Vorfeld (3). Wenn bei relativer
Indikation die psychischen und physischen Störungen gegen den Schaden der
Therapie nicht sicher abgewogen werden
können, muss der Arzt die Behandlung
ablehnen. Dabei sollten zusätzlich zu den
somatischen Gegenanzeigen auch psychosomatische Kontraindikationen in
den Beipackzetteln berücksichtigt werden. Der Verzicht auf einen invasiven
Eingriff, wie bei der nicht zugelassenen
Therapie der Hyperhidrose mit Botulinumtoxin, kann oftmals mehr ärztliche
Professionalität verlangen als eine qualitativ hochwertige Dienstleistung.
Eine in jedem Fall gültige oder spezifische Therapie für körperdysmorphe
Störungen gibt es bisher nicht (19, 38).
Bei der wahnhaften Form steht die medikamentöse Behandlung mit Psychopharmaka und beim nicht wahnhaften Typ eine adäquate Psychotherapie im Vordergrund der Behandlungsstrategie.
Das Ziel der Therapie kann weniger
die vollständige Beseitigung sämtlicher
Beschwerden sein. Es sollte vielmehr
darin bestehen, den Patienten ernst zu
nehmen, Vertrauen zu bilden und zu helfen, die Ursache und den Sinn seiner Beschwerden besser zu verstehen sowie die
Konfliktsituation als kausale Grundlage
zu thematisieren (33). Auch die gezielte
Verringerung der Einnahme von Medikamenten und Vermeidung von Operationen sowie seltenere Inanspruchnahme
medizinischer Einrichtungen sind ein relevantes Therapieziel. Eine konfrontative Überprüfung irrationaler Gedanken
bezüglich des Defektes ist kontraindiziert. Mit verhaltenstherapeutischen Behandlungsansätzen (24, 37) werden insbesondere das soziale Vermeidungsverhalten und die Überbewertung des äußeren Erscheinungsbildes bearbeitet, sodass
eine Umstrukturierung mit Korrektur
der Überbetonung der äußeren Erscheinungsbildes erfolgen kann. Des Weiteren
wurden Therapieversuche mit Antidepressiva, insbesondere SSRI (SerotoninWiederaufnahmehemmer) wie Fluvoxamin oder aber auch Anxiolytika durchgeführt (24, 37). Eine aktuelle Studie
weist eine signifikant bessere Wirksamkeit von Clomipramin im Vergleich zu
Desipramin bei der körperdysmorphen
Störung nach (18).
Im Bereich der dermatologischen
Kosmetologie ist bei gesicherter psychischer Störung nur selten eine Patientenmotivation zur Einleitung einer Psychotherapie gegeben. Vorrangiges Ziel ist
dann oftmals die Einleitung einer nebenwirkungsarmen Therapie und Verhinde-
 Jg. 100
 Heft 3
 17. Januar 2003
Deutsches Ärzteblatt
rung nicht indizierter, komplikationsreicher Therapien. Liegt bei angebotsinduziertem Bedarf ein normwertiger Körperbefund zugrunde, muss der Behandlungswunsch bei psychosomatischen
Störungen durch den Arzt korrigiert werden. Ist ein in der Praxis durchgeführtes
Beratungsgespräch nicht ausreichend,
kann bei diesen Patienten die Liaisonsprechstunde als adäquates Instrument
eingesetzt werden. Insbesondere für jeden praktisch tätigen Kollegen als entscheidender Manager der Patienten ist es
wichtig, dieses neue psychosomatische
Phänomen der körperdysmorphen Störungen bei Wunsch nach Lifestyle-Medikation zu kennen und frühzeitig die Verdachtsdiagnose zu stellen. Die Prognose
bei psychosomatischen beziehungsweise
psychiatrischen Erkrankungen ist, wie
bei anderen organischen Erkrankungen
auch, umso günstiger, je früher Diagnostik und Therapie begonnen werden.
Verdeckte, nicht diagnostizierte psychosomatische und psychiatrische Erkrankungen müssen als nachteilig angesehen werden, da sich ungünstige Chronifizierungsmechanismen manifestieren
können. Die Verordnung von LifestyleMedikamenten wird häufig von Patienten mit körperdysmorphen Störungen
eingefordert. Für den Einsatz von Lifestyle-Medikamenten gibt es bei der körperdysmorphen Störung keine Therapiegrundlage. Es steht die Therapie der psychosozialen Störung (Psychotherapie,
Psychopharmaka) im Vordergrund.
Manuskript eingereicht: 24. 4. 2002, revidierte Fassung
angenommen: 28. 8. 2002
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2003; 100: A 128–131 [Heft 3]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das beim Verfasser erhältlich oder im Internet
unter www.aerzteblatt.de/lit303 abrufbar ist.
Anschrift der Verfasser:
Dr. med. habil. Wolfgang Harth
Marcus Wendler
Prof. Dr. med. Ruthild Linse
Klinik für Hautkrankheiten des Helios Klinikums Erfurt
Nordhäuserstraße 74, 99089 Erfurt
E-Mail: [email protected]
A 131
Herunterladen