M E D I Z I N Lifestyle-Medikamente und körperdysmorphe Störungen Ein neues medizinisches Phänomen am Beispiel der Dermatologie Wolfgang Harth, Marcus Wendler, Ruthild Linse Zusammenfassung Eine neue Medikamentengruppe, die den psychosozialen Schönheitsidealen der westlichen Zivilisationsgesellschaft entspricht, sind die so genannten Lifestyle-Medikamente. Seit der Einführung von Lifestyle-Medikamenten wie Finasterid und Sildenafil wird eine sprunghafte Zunahme von Patienten mit körperdysmorphen Störungen in der Hautklinik Erfurt festgestellt. Hierbei erfolgt der Arzt-PatientenKontakt oftmals zwecks klarer Absicht der Verordnung einer definierten Wunschmedikation von Lifestyle-Medikamenten. Körperdysmorphe Störungen bezeichnen die übermäßige und ständige Beschäftigung mit einem minimalen oder nicht vorhandenen Mangel und beinhalten ein breit gefächertes Spektrum von eingebildeten körperlichen Erscheinungen. Patienten mit körperdysmorphen Störungen finden sich in jeder medizinischen Praxis wieder und sind schwierig zu behandeln. Bei D er verstärkte Wunsch nach Jugendlichkeit und Schönheit westlicher Gesellschaftssysteme führt aktuell besonders im Fachgebiet Dermatologie zur dramatischen Wende, hin zum Schwerpunkt dermatologische Kosmetik (22). Auch die kosmetische und pharmazeutische Industrie hat bereits frühzeitig auf diese Entwicklung mit dem Angebot einer breiten Produktpalette reagiert. Die zusätzliche Thematisierung der dermatologischen Kosmetologie in den Medien (Lifestyle-Magazine, Privat-Fernsehen und Internet) sowie die Zulassung von modeabhängigen Lebensgenussmedikamenten (LifestyleMedikamenten) für Haarwachstum, Potenz und Gewichtsreduktion hatte eine rasche und zeitlich abhängige gravierende Zunahme von Patientenvorstellungen mit kosmetischen Fragestellungen und einem schnell ansteigenden Behandlungsbedarf zur Folge. Hierbei erfolgt der Arzt-Patienten- A 128 körperdysmorphen Störungen liegt keine Therapiegrundlage für den Einsatz von Lifestyle-Medikamenten vor, und es steht eine adäquate Psychotherapie oder medikamentöse Behandlung mit Psychopharmaka im Vordergrund. Schlüsselworter: körperdysmorphe Störung, Psychosomatik, Arzneimittelmissbrauch, Lifestyle-Medikament, Dermatologie Summary Lifestyle-Drugs and Body Dysmorphic Disorder: A new Medical Phenomenon Demonstrated for Dermatology A new group of drugs which meets the lifestyle demands and fulfils ideal interpretations and beauty ideals of western society are the so-called lifestyle drugs. Following the introduction of the new lifestyle drugs finaste- Kontakt oftmals zwecks klarer Absicht der Verordung einer definierten Wunschmedikation von Lifestyle-Medikamenten. Diese Patientengruppe zeichnet sich durch einen hohen Anteil von psychischen Störungen aus. Besteht eine übermäßige Beschäftigung mit einem eingebildeten Mangel oder einer Entstellung in der äußeren Erscheinung, die Beeinträchtigungen in sozialen und beruflichen Bereichen verursacht, liegt per Definition eine körperdysmorphe Störung vor (28). Pathogenetisch spielen seelische Belastungssituationen und Konflikte eine wesentliche Rolle (14, 39). Eine Untersuchung hinsichtlich psychosomatischer Gesichtspunkte erfolgt – wenn überhaupt – erst nach mehrjährigen Verläufen und erfordert spezifische therapeutische Strategien (36). Klinik für Hautkrankheiten (Chefärztin: Prof. Dr. med. Ruthild Linse), Helios Klinikum Erfurt ride and sildenafil the authors observed a dramatic increase in the number of patients suffering from body dysmorphic disorder attending the clinic for skin diseases in Erfurt, Germany. These patients frequently contact their doctor demanding a prescription of a particular lifestyle drug. The body dysmorphic disorder is defined as the repeated preoccupation with a minimal or non-evident defect and includes a wide spectrum of imagined defects in appearance. Patients with body dysmorphic disorder are present in every clinical practice and are difficult to treat. However, there is no indication for the use of lifestyle drugs in the treatment of a body dysmorphic disorder. The appropriate treatment includes psychotherapy and psychopharmacological medication. Key words: body dysmorphic disorder, psychosomatics, drug abuse, lifestyle drug, dermatology Klassifikation und Komorbidität Körperdysmorphe Störungen (11, 28) werden im Diagnostischen und Statistischen Manual psychischer Störungen, DSM-IV, zu den somatoformen Störungen gezählt (10, 11). Im ICD 10 (F 45.2) ist diese Störung als Dysmorphophobie eine Unterform der hypochondrischen Störung. Da es sich bei den körperdysmorphen Störungen nicht um wirklich phobische Störungen handelt, ist die Dysmorphophobie als ein veralteter Begriff anzusehen. Die diagnostischen Kriterien bei körperdysmorphen Störungen sind: > A: Eine übermäßige Beschäftigung mit einem eingebildeten Mangel oder einer Entstellung in der äußeren Erscheinung.Wenn eine leichte körperliche Anomalie vorliegt, so ist die Besorgnis der betroffenen Person stark übertrieben. > B: Die übermäßige Beschäftigung verursacht in klinisch bedeutsamer Jg. 100 Heft 3 17. Januar 2003 Deutsches Ärzteblatt M E D I Z I N Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Bereichen. > C: Die übermäßige Beschäftigung wird nicht durch eine andere psychische Störung besser erklärt. Bei der Diagnosestellung muss der behandelnde Arzt bedenken, dass von dem Patienten die körperlichen Anomalien, auch wenn sie eingebildet sind, als real erlebt werden (5). Da die Störung vorrangig das Gesicht als Ort der Schamexpression sowie den Bereich der Brust und Genitalien betrifft, wird die Scham zum Leitaffekt (5), sodass auch von einer Schamkrankheit gesprochen werden kann. So kann hohes Alter, Dickleibigkeit, Unsportlichkeit und falsche Behaarung (14, 35) eher Schamgefühle auslösen, als nackt zu sein. Die Scham setzt dabei den interpersonellen Blick des Anderen voraus und kann aus Angst vor visueller Exposition zur Vermeidung von Öffentlichkeit mit Soziophobie führen. An Komorbiditäten fanden Cotteril (8), Phillips (26) und Stangier (34) bei Patienten mit körperdysmorphen Störungen insbesondere Zwangsstörungen, soziale Ängste, Depressionen, narzisstische Persönlichkeitsstörungen bis hin zu körperbezogenem Wahn (21). Zwangsgedanken beschränken sich dabei nicht nur auf die Sorgen um das Aussehen, sondern es bestehen auch andere Zwangshandlungen. Dies beinhaltet insbesondere eine ständige Kontrolle des Aussehens vor dem Spiegel, Betasten und aufwendige Pflegemaßnahmen. Klinische Befunde Das Auftreten von körperlichen Symptomen, für die sich keine ausreichenden organischen Ursachen nachweisen lassen, gehört zum ärztlichen Alltag (12, 23) und findet sich in allen medizinischen Disziplinen. Letztendlich kann jedes Organ, jede körperliche Funktion betroffen sein (20). Insbesondere das Hautorgan und die Hautanhangsgebilde sind aufgrund der visuellen Exposition ein besonderer Fokus für die Beobachtung von körperlichen Symptomen (6). Die Inzidenz der körperdysmorphen Störung liegt in der Gruppe der dermatologischen Patienten bei 11,9 Prozent bis 15,6 Prozent (26) und kann in einer dermatologischen KosmetologieSprechstunde in Abhängigkeit von der Patientenklientel 23,1 Prozent und mehr betragen (15). Die körperdysmorphe Störung ist besonders häufig bei Frauen zwischen dem 35. und 50. Lebensjahr und Männern vor dem 35. Lebensjahr (32) zu beobachten. Die Klagen zu Mängeln des äußeren Erscheinungsbildes beziehen sich insbesondere auf Schönheitsfehler im Gesicht, der Kopfbehaarung sowie auf den Brust- und Genitalbereich (8). Die angegebenen Symptome der körperdysmorphen Störungen sind sehr variabel Tabelle ´ C aufhalten. Hierbei handelt sich es um kein neues Thema. Der Traum nach Jugend und Schönheit wurde bereits 1546 von Lucas Cranach dem Älteren in seinem Gemälde Jungbrunnen dargestellt. Lifestyle-Medikamente Patienten mit körperdysmorphen Störungen suchen in erheblichem Maße nach traditionellen Behandlungsmaßnahmen. Die dermatologischen kosmetischen Therapieschwerpunkte beinhalten in den letzten Jahren ein breites Spektrum an konservativen und invasiven ´ Spezielle Lifestyle-Medikamente in der Dermatologie Medikament Medizinische Indikation Lifestyle-Verwendung Vitamin-A-Cremes Akne vulgaris Anti-Faltentherapie: Streben nach jugendlichem Aussehen (Dorian-Gray-Syndrom) Orlistat, Sibutramin Adipositas Einnahme durch Normalgewichtige zum Halten oder Erreichen eines gesellschaftlichen Schönheitsideals oder bei Anorexia nervosa Sildenafil, Phentolamine Streben nach Potenz und steuerbarer Erektion Erektile Dysfunktion Minoxidil, Finasterid Androgenetische Einnahme bei altersentsprechender Alopezie Alopezie Botulinum-Toxin Hyperhidrosis Stabilisierung der normwertigen physiologischen Hyperhidrose bei physischer oder psychischer Belastung oder im Rahmen psychischer Störungen (Soziophobie, körperdysmorphe Störung) und umfassen Haarausfall, übermäßige Gesichtsbehaarung, Akne, Falten, Pigmentstörungen, Narben, Gefäßzeichnungen, Blässe oder Rötung der Haut, Schwellungen, Gesichtsasymmetrien oder Disproportionalität der Form und Größe von Nase, Augen, Augenlidern, Augenbrauen, Ohren, Mund, Lippen, Zähnen, Kiefer, Kinn, Wangen oder Kopf. Seltener beklagen sich die Patienten über das Aussehen der Füße, der Hände, der Brust und des Rückens. Kürzlich wurde ein weiteres klinisches Konzept als Dorian-Gray-Syndrom beschrieben, wobei eine körperdysmorphe Störung mit narzisstischer Regression, Soziophobie und dem starken Wunsch nach Bewahrung der Jugendlichkeit einhergeht (4). In einigen Fällen sollen Lifestyle-Medikamente dann den natürlichen Alterungsprozess Jg. 100 Heft 3 17. Januar 2003 Deutsches Ärzteblatt Verfahren, wobei verstärkt moderne Technologien, insbesondere der Laser, angewendet und weiterentwickelt wurden. Operative Eingriffe oder lange Medikamentenanwendung können jedoch auch die Störung verstärken und weitere erfolglose Behandlungen nach sich ziehen. Betroffene Personen haben künstliche Nasen, Ohren, Brüste oder Hüften, mit denen sie nach wie vor unzufrieden sind (9). Eine neue Medikamentengruppe, die dem Lebensstil und Bedarf der westlichen Gesellschaft nach Idealvorstellungen und Schönheitsidealen entsprechen, sind Lifestyle-Medikamente. In der Literatur fehlt bisher eine allgemeingültige, verbreitete Definition für Lifestyle-Medikamente (7). Aus diesem Grund schlagen die Autoren folgende Definition vor: „Lifestyle-Medikamente sind Pharmaka, A 129 M E D I Z I N die von gesunden Menschen zur Erlangung eines aktuell psychosozialen Schönheitsideals eingenommen werden und nicht der Stabilisierung körperlicher Vitalfunktionen von Kranken dienen“. Die Zuordnung eines Medikamentes zur Kategorie der Lifestyle-Therapeutika ist dabei entscheidend von psychosozialen Aspekten des Behandlungswunsches geprägt. Die Ovulationshemmer waren die erste Medikamentengruppe, welche die Kriterien eines Lifestyle-Medikamentes erfüllte und einen ausschlaggebenden Einfluss auf die Lebensgewohnheiten, insbesondere das Sexualverhalten, Ethikdiskussion und auch die Krankheitsmorbidität von Geschlechtserkrankungen hatte (16). Die Zahl der Lifestyle-Medikamente hat sich in den letzten Jahren deutlich erhöht. Zu den Hauptgruppen gehören heute Medikamente verschiedener Gruppen beispielsweise Nootropika (Piracetam, Yohimbin, Hydergin), Psychopharmaka (Fluoxetin), Hormone (Anabolika, Melatonin, Dehydroepiandrosteron) und Eco-Drugs wie Absinth, Echinacea, Kava-Kava, und Johanniskraut. An dieser Stelle sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich bei der Anwendung von Nootropika oder Psychopharmaka als Lifestyle-Medikamente um die missbräuchliche Einnahme dieser Substanzen bei Gesunden zur Steigerung des Wohlbefindens handelt. Die Therapie mit diesen Medikamenten bei Patienten mit medizinischer Indikation soll hier nicht angezweifelt werden. In den Bereich des Strebens nach körperlicher Fitness gehören Anabolika, die auch in der nichtprofessionellen Bodybuildingszene große Verbreitung gefunden haben. Auf dem Gebiet der Psychopharmaka können Antidepressiva wie Fluoxetin, wenn diese ohne Indikation eingenommen werden, ebenso als Lifestyle-Medikamente gelten wie Präparate, denen über die eigentliche therapeutische Wirkung hinausgehende Effekte zugeschrieben werden wie beispielsweise Selegilin oder Ondansetron. Auch psychoaktive Drogen, beispielsweise Ecstasy zählen zu dieser Kategorie. Schon im Altertum gebräuchlich, haben Aphrodisiaka in neuerer Zeit wieder an Beliebtheit gewonnen. Der Dermatologe wird besonders für die rezeptpflichtigen Lifestyle-Medika- A 130 mente (Tabelle) oder aufgrund der Nebenwirkungen, wie bei der phototoxisch/photoallergischen Kontaktdermatitis nach Einnahme von Johanniskraut, konsultiert (10). Im Folgenden werden einige Substanzgruppen vorgestellt. > Vitamine (Vitamin-A-Verordnung), Nahrungsergänzungsmittel, Mineralien und Hautcremes werden als lebensverlängernd und als Jungbrunnen beworben. Neue Aspekte der Prophylaxe und Therapie des Hautalterns beziehen sich auf die Vitamin A, Vitamin E und Vitamin C (29). Die bisher in Zellkulturen und in Tiermodellen untersuchten positiven Effekte von Vitamin C und E als An- Körperdysmorphe Störung: Patient mit vermeintlichem Haarausfall tioxidanzien und partiell als Stimulatoren der Kollagensynthese konnten in klinischen Studien bisher nicht nachgewiesen werden. Beispielsweise wurde bei einer Überdosierung mit Vitamin E von mehr als 1 000 IU/Tag ein gegenteiliger Effekt mit zunehmender Mortalität beschrieben (30). > Orlistat wird zur Behandlung adipöser Patienten eingesetzt und ist ein Inhibitor gastrointestinaler Lipasen. Diese Substanz wird auch von Normalgewichtigen missbräuchlich als Lifestyle-Medikament eingenommen (13). Als Nebenwirkung können Pigmentierungsstörungen, Flatulenz, Stuhlinkontinenz und Rektumschmerzen auftreten. > Sildenafil ist ein Phosphodiesteraseinhibitor, wobei die Wirkung in einer verlängerten Verfügbarkeit des 3’5’-cGMP liegt.Als Nebenwirkung können Kopfschmerzen, Gesichtsröte sowie Störungen des Farbsehens (Blauschleier) auftreten. Nach der Einführung von Sildenafil kam es zum Anstieg der Inzidenz der Patientenvorstellungen bei Männern mit der Überweisungsdiagnose Impotentia coeundi. Die Zunahme ist durch eine Somatisierung sexueller Dysfunktionen zu erklären (17). Im Vordergrund steht der Wunsch einer somatischen Therapie der sexuellen Dysfunktion, vor dem Hintergrund des Mythos, dass nur eine perfekte Erektion im Normalbereich liegt. Dem Arzt stellte sich dabei die Frage nach der notwendigen Indikation einer Lifestyle-Medikation: Wo besteht eine normale situationsbedingte Unzulänglichkeit und wo eine schwerwiegende Erkrankung? Dies ist besonders bei Sildenafil aufgrund der möglichen Interaktion mit anderen Arzneimitteln und bei HerzKreislauf-Erkrankungen einschließlich stattgehabter Komplikationen mit Todesfolge zu beachten. > Finasterid wird zur Therapie der androgenetischen Alopezie bei Männern eingesetzt. Die Typ-II-5-Alpha-Reduktase wird in den Haarfollikeln gehemmt und die periphere Umwandlung von Testosteron in das Androgen Dihydrotestosteron (DHT) blockiert.Als Nebenwirkung wurden verminderte Libido, vermindertes Ejakulatvolumen und erektile Dysfunktion sowie eine Vergrößerung der Brust beschrieben. Nach der Einführung von Finasterid im Januar 1999 stellten sich mehr Patienten mit körperdysmorphen Störungen (Abbildung) wegen vermeintlichem Haarausfall vor. Hierbei erfolgte der Arzt-Patienten-Kontakt zwecks klarer Absicht einer definierten Wunschmedikation von Lifestyle-Medikamenten, welche von den Patienten durch Lesen und Vorlage entsprechender Fachinformationen eingefordert wird. > Botulinumtoxin ist das Neurotoxin des Anaerobiers Clostridium botulinum und hemmt die Acetylcholinausschüttung (1) an motorischen und vegetativen Nervenendigungen. 1980 wurde das Botulinum-Neurotoxin Typ A erstmals zu therapeutischen Zwecken des Strabismus eingesetzt. Seitdem wurde das In- Jg. 100 Heft 3 17. Januar 2003 Deutsches Ärzteblatt M E D I Z I N dikationsspektrum deutlich erweitert, einschließlich ästhetischer Indikationen im Gesicht und zur Behandlung der Hyperhidrose (3). Die auffälligste Entwicklung in der Dermatologie zeigt derzeit der Behandlungswunsch der Hyperhidrose auf. Seit der Einführung der Therapie der Hyperhidrose (25, 31) mit Botulinumtoxin ist auch die Schweißbildung ein besonderer Fokus für die Beobachtung von einer physiologischen Körperfunktion geworden, welche gleichzeitig von den Patienten als körperliche Anomalie wahrgenommen wird. So wünschen einige Patienten mit körperdysmorphen Störungen eine Therapie mit Botulinumtoxin als Selbstzahlerleistung. Für die neue Lifestyle-Venenophilie nach Botulinumtoxin, insbesondere bei körperdysmorphen Störungen mit normwertigem, physiologischem Schwitzen und zusätzlich hartnäckiger Forderung der Patienten nach Botulinumtoxin-Therapie trotz negativer Ergebnisse, schlagen die Autoren als neue Diagnose die Bezeichnung „Botulinophilie“ vor. In einer Untersuchung unter biopsychosozialen Gesichtspunkten lag bei 23,1 Prozent der Patienten mit Hautfacharztüberweisung wegen Hypyperhidrose an der Hautklinik Erfurt eine Botulinophilie vor. Das Durchschnittsalter der im ersten Quartal 2000 betreuten 13 Patienten betrug 28,2 Jahre, wobei es sich hauptsächlich um weibliche Patienten (84,6 Prozent) handelte. Der Therapiewunsch ist dann der Versuch, mithilfe des Botulinumtoxins ein psychisches Gleichgewicht (2, 6) zu stabilisieren und auf Organebene eine Pseudolösung zu erreichen. Therapie Das Einfordern der Therapie mit rezeptpflichtigen Lifestyle-Medikamenten setzt den Arzt unter emotionalen Druck in der Ambivalenz zwischen Drängen und nicht gegebener Indikation. Besonders aufmerksam sollte der behandelnde Arzt bei dramatisierenden und zugleich vagen Symptomschilderungen werden. Wichtig ist die adäquate Indikationsstellung im Vorfeld (3). Wenn bei relativer Indikation die psychischen und physischen Störungen gegen den Schaden der Therapie nicht sicher abgewogen werden können, muss der Arzt die Behandlung ablehnen. Dabei sollten zusätzlich zu den somatischen Gegenanzeigen auch psychosomatische Kontraindikationen in den Beipackzetteln berücksichtigt werden. Der Verzicht auf einen invasiven Eingriff, wie bei der nicht zugelassenen Therapie der Hyperhidrose mit Botulinumtoxin, kann oftmals mehr ärztliche Professionalität verlangen als eine qualitativ hochwertige Dienstleistung. Eine in jedem Fall gültige oder spezifische Therapie für körperdysmorphe Störungen gibt es bisher nicht (19, 38). Bei der wahnhaften Form steht die medikamentöse Behandlung mit Psychopharmaka und beim nicht wahnhaften Typ eine adäquate Psychotherapie im Vordergrund der Behandlungsstrategie. Das Ziel der Therapie kann weniger die vollständige Beseitigung sämtlicher Beschwerden sein. Es sollte vielmehr darin bestehen, den Patienten ernst zu nehmen, Vertrauen zu bilden und zu helfen, die Ursache und den Sinn seiner Beschwerden besser zu verstehen sowie die Konfliktsituation als kausale Grundlage zu thematisieren (33). Auch die gezielte Verringerung der Einnahme von Medikamenten und Vermeidung von Operationen sowie seltenere Inanspruchnahme medizinischer Einrichtungen sind ein relevantes Therapieziel. Eine konfrontative Überprüfung irrationaler Gedanken bezüglich des Defektes ist kontraindiziert. Mit verhaltenstherapeutischen Behandlungsansätzen (24, 37) werden insbesondere das soziale Vermeidungsverhalten und die Überbewertung des äußeren Erscheinungsbildes bearbeitet, sodass eine Umstrukturierung mit Korrektur der Überbetonung der äußeren Erscheinungsbildes erfolgen kann. Des Weiteren wurden Therapieversuche mit Antidepressiva, insbesondere SSRI (SerotoninWiederaufnahmehemmer) wie Fluvoxamin oder aber auch Anxiolytika durchgeführt (24, 37). Eine aktuelle Studie weist eine signifikant bessere Wirksamkeit von Clomipramin im Vergleich zu Desipramin bei der körperdysmorphen Störung nach (18). Im Bereich der dermatologischen Kosmetologie ist bei gesicherter psychischer Störung nur selten eine Patientenmotivation zur Einleitung einer Psychotherapie gegeben. Vorrangiges Ziel ist dann oftmals die Einleitung einer nebenwirkungsarmen Therapie und Verhinde- Jg. 100 Heft 3 17. Januar 2003 Deutsches Ärzteblatt rung nicht indizierter, komplikationsreicher Therapien. Liegt bei angebotsinduziertem Bedarf ein normwertiger Körperbefund zugrunde, muss der Behandlungswunsch bei psychosomatischen Störungen durch den Arzt korrigiert werden. Ist ein in der Praxis durchgeführtes Beratungsgespräch nicht ausreichend, kann bei diesen Patienten die Liaisonsprechstunde als adäquates Instrument eingesetzt werden. Insbesondere für jeden praktisch tätigen Kollegen als entscheidender Manager der Patienten ist es wichtig, dieses neue psychosomatische Phänomen der körperdysmorphen Störungen bei Wunsch nach Lifestyle-Medikation zu kennen und frühzeitig die Verdachtsdiagnose zu stellen. Die Prognose bei psychosomatischen beziehungsweise psychiatrischen Erkrankungen ist, wie bei anderen organischen Erkrankungen auch, umso günstiger, je früher Diagnostik und Therapie begonnen werden. Verdeckte, nicht diagnostizierte psychosomatische und psychiatrische Erkrankungen müssen als nachteilig angesehen werden, da sich ungünstige Chronifizierungsmechanismen manifestieren können. Die Verordnung von LifestyleMedikamenten wird häufig von Patienten mit körperdysmorphen Störungen eingefordert. Für den Einsatz von Lifestyle-Medikamenten gibt es bei der körperdysmorphen Störung keine Therapiegrundlage. Es steht die Therapie der psychosozialen Störung (Psychotherapie, Psychopharmaka) im Vordergrund. Manuskript eingereicht: 24. 4. 2002, revidierte Fassung angenommen: 28. 8. 2002 ❚ Zitierweise dieses Beitrags: Dtsch Arztebl 2003; 100: A 128–131 [Heft 3] Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das beim Verfasser erhältlich oder im Internet unter www.aerzteblatt.de/lit303 abrufbar ist. Anschrift der Verfasser: Dr. med. habil. Wolfgang Harth Marcus Wendler Prof. Dr. med. Ruthild Linse Klinik für Hautkrankheiten des Helios Klinikums Erfurt Nordhäuserstraße 74, 99089 Erfurt E-Mail: [email protected] A 131